Kirchen

"Team-Geist" gesucht


Pfarrer Andres Michael Kuhn und Frauke Linke von "Team-Geist"
epd-West/Fritz Stark
Die Evangelische Kirche von Westfalen will mit einem Innovationsfonds neue Formen christlichen Engagements anstoßen. Unter dem Motto "Team-Geist - Start-Ups für die Kirche von morgen" stehen dafür bis 2025 insgesamt drei Millionen Euro bereit.

Kirchengemeinden möchten ein Café für Familien mit kleinen Kindern einrichten, ein Bildungshaus will sich zum regionalen Nachhaltigkeitszentrum entwickeln, ein Kirchenkreis erkundet, wie Digitalisierung christliche Gemeinschaft stiften kann: Das sind nur drei von über 30 Projekten, die sich für eine Förderung durch den neuen Fonds "Team-Geist" der Evangelischen Kirche von Westfalen beworben haben. "Wir sind überrascht, dass trotz der Pandemie so viele Leute an zukunftsweisenden Konzepten für das kirchliche Leben arbeiten", freut sich der Geschäftsführer des Innovationsfonds, Pfarrer Andres Michael Kuhn.

Dabei war der Start von "Team-Geist" alles andere als leicht. Gleich das Auftakttreffen für die "Start-ups für die Kirche von morgen" musste im März coronabedingt abgesagt werden. Kuhn und sein Team sattelten von analog auf digital um. Bei einem eintägigen Online-Workshop im Mai informierten sich rund 100 Interessenten unter anderem über Konzeptentwicklung, Sozialraum-Projekte und Fundraising. Infolge gingen bis Anfang Juni rund 30 Projektideen und -überlegungen in der Dortmunder Geschäftsstelle ein, wie Kuhn erzählt. Die Konzepte werden nun mit den Antragstellern überarbeitet.

Rheinische und lippische Kirche schieben "Erprobungsräume" an

Mit dem Förderprogramm reiht sich die westfälische Kirche in die Suche nach innovativen Konzepten für das Gemeindeleben ein. Die benachbarte Landeskirche Hannovers hatte bereit 2015 einen Fonds "Missionarische Chancen" aufgelegt, ebenso lange gibt es die "Erprobungsräume" zur Förderung anderer Gemeindeformen in Mitteldeutschland. Auch die Lippische Landeskirche und die rheinische Kirche haben erste "Erprobungsräume" gestartet. Zu den bisher ausgewählten Initiativen im Rheinland gehören unter anderem eine virtuelle Kirche, eine Kindergemeinde und ökumenische Segensfeiern.

Die Evangelische von Westfalen stellt den Angaben nach für "Team-Geist" drei Millionen Euro bereit, die bis 2025 ausgeschüttet werden können. Erstmals ist das in diesem Jahr zum Reformationstag am 31. Oktober der Fall, ab 2021 wird es jeweils zwei Vergabe-Termine geben. Ein wichtiges Förderkriterium sei etwa, ob die Projekte mit neuen überzeugenden Formen die christliche Botschaft unter die Menschen bringen, erläutert Kuhn. Chancen haben demnach auch Konzepte, die traditionelle kirchliche Strukturen zukunftsfähig umgestalten.

Große Bandbreite an Ideen

Pfarrer Kuhn lobt die thematische Bandbreite der eingereichten Ideen: "Es geht um Jugendarbeit und Familien, um Gemeinwesenarbeit und Musikprojekte, um Nachhaltigkeit und Digitalisierung." Zwei Initiativen wollen etwa neue Apps entwickeln, je eine digitale Datenbank für christliche Musik und ein evangelisches Informationsangebot. Eine andere Gruppe möchte ein christliches Netzwerk für Computerfans ("Nerds") ins Leben rufen. Anderswo soll der Klettergarten in einer Kirche dauerhaft finanziell gesichert oder ein weiteres Gotteshaus zu einer interaktiven Lernwerkstatt entwickelt werden.

Kleinere Projekte können nach den Regeln von "Team-Geist" mit höchstens 25.000 Euro gefördert werden, mittlere und größere Vorhaben mit maximal 200.000 Euro, verteilt auf bis zu drei Jahre. "Ab einer bestimmten Intensität der Arbeit geht es nicht mehr ohne Personalmittel", weiß Kuhn. Einige der Antragsteller bäten deshalb um Gelder für zusätzliche Stellen, zumeist im pädagogischen Bereich. Natürlich werde sich nicht alles realisieren lassen und Zuschüsse könnten auch unter der beantragten Summe liegen, räumt der Pfarrer ein.

Ohnehin sei der Fonds nicht primär als Fördermittelgeber gedacht, betont Kuhn: "Wir möchten Haupt- und Ehrenamtliche bei ihren Vorhaben beraten und begleiten - thematisch, spirituell, juristisch - und ihnen Kontakte vermitteln." Die Antragsteller sollten sich von vornherein überlegen, Kooperationen einzugehen, und sich Gedanken machen, wer ihr Projekt sonst noch finanziell fördern könne, heißt es bei "Team-Geist".

Die rund 30 Anträge für den diesjährigen Vergabe-Termin kommen aus allen Regionen der westfälischen Kirche: Aus Bochum im Ruhrgebiet werden gleich drei christliche Projektideen Rennen schickt. Drei Anträge kommen aus dem Münsterland, fünf aus Ostwestfalen und sieben aus dem südlichen Westfalen. Jugendreferate sind laut Kuhn ebenso unter den Antragstellern wie Frauenhilfe und Männerarbeit, Kirchenkreise und Kirchengemeinden, die zum Teil mit Diakonischen Werken oder kommunalen Einrichtungen kooperieren.

Thomas Krüger (epd)


Pfefferminztee und hitzige Debatten


Die sieben Sprecher des neu berufenen Rates der EKD bei der Kirchenkonferenz 1945 (v.l.): Der stellvertretende Ratsvorsitzende Martin Niemöller, Wilhelm Niesel, der Ratsvorsitzende Theophil Wurm, Hans Meiser, Heinrich Held, Hanns Lilje und Otto Dibelius.
epd-bild/Hephata-Archiv
Im nordhessischen Treysa kamen im August 1945 rund 120 protestantische Kirchenvertreter zusammen, um über einen Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg zu beraten. Trotz heftigster Gegensätze gelang ihnen ein Kompromiss.

Mit einem leisen Klick öffnet Direktor Maik Dietrich-Gibhardt die schwere Holztür zu dem historischen Ort. Eine Metalltafel gleich links davor erläutert, was hier im Saal der Hephata-Kirche im nordhessischen Treysa vor genau 75 Jahren geschah: 120 Männer aus 28 Landeskirchen wagten drei Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen Neuanfang und gründeten mitten in einem zertrümmerten Land die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). "Das macht uns schon stolz", sagt Dietrich-Gibhardt (55), seit sechs Jahren Leiter des hessischen Diakoniezentrums "Hephata": "Als Gründungsort der EKD hat Treysa eine bleibende Bedeutung."

Die Chronik des Zentrums gibt noch Einblick in die Ereignisse von damals. "Die Zahl der Teilnehmer wuchs ständig", notierte der frühere Hephata-Direktor Friedrich Happich (1883-1951) in kursiver Schreibmaschinenschrift. Nur 47 Teilnehmer hatte der württembergische Landesbischof Theophil Wurm (1868-1953) für die Konferenz vom 27. bis 31. August angemeldet - am Ende musste die Einrichtung einschließlich der Tagesgäste bis zu 140 Herren in abgenutzten Anzügen beherbergen und verköstigen.

Unterschiedliche Konzepte im Gepäck

"Es gab gekochte Kartoffeln mit einer dünnen Fleischsoße, dazu eingelegte rote Beete und Pfefferminztee", notierte der amerikanische Pastor Stewart Herman (1909-2006), der als Beobachter teilnahm. "Viele Delegierte brachten Rucksäcke voller Kartoffeln und Wurststücke mit."

Alle Teilnehmer waren sich einig, dass nach der NS-Zeit eine neue Dachorganisation an die Stelle der 1933 gegründeten, staatsfixierten "Deutschen Evangelischen Kirche" treten musste. Doch sie trugen Konzepte im Gepäck, die unterschiedlicher kaum sein konnten, wie der Münchner Kirchenhistoriker Harry Oelke erläutert.

So strebte Bischof Hans Meiser (1881-1956) aus München eine Konfessionskirche der Lutheraner an, in der die reformierten und unierten Protestanten nur am Rande vorkommen sollten. Martin Niemöller (1892-1984) dagegen, in der NS-Zeit Symbolfigur der kirchlichen Opposition gegen Hitler, plädierte für eine "Kirche von unten": Von den Gemeinden her sollte sie sich aufbauen und ihre Schuld am Nazi-Unheil bekennen.

Immer wieder gerieten der "Vulkan" genannte Niemöller und der "Eisberg" Meiser im Kirchsaal von "Hephata" aneinander. "Sie haben es kaum zusammen in einem Raum ausgehalten", sagt Oelke. Die Konferenz drohte zeitweilig zu platzen.

Wurm moralische Autorität

Dass es nicht dazu kam, ist zum großen Teil dem Stuttgarter Bischof Wurm zu verdanken. Wurm galt wegen seines Protests gegen das Euthanasie-Programm der Nazis zur Tötung geistig behinderter Menschen als moralische Autorität. Seit 1941 verfolgte er ein kirchliches Einigungswerk: Er wollte die zerstrittenen Gruppen der kirchlichen Opposition zusammenführen. "Er hatte Charisma, ihm traute man das zu."

Nach hitzigen Diskussionen einigten sich die Kirchenvertreter in Treysa auf einen Kompromiss: die Vorläufige Ordnung für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Darin wird die Eigenständigkeit der Landeskirchen betont. Auch auf ein eigenes Bekenntnis verzichtet die EKD. Sie soll in erster Linie die Interessen der Kirche nach außen vertreten und ihre politische und soziale Verantwortung wahrnehmen - unter anderem durch das neu gegründete Evangelische Hilfswerk, das sich um Flüchtlinge und Vertriebene kümmern sollte.

Eine Lektion aus den Erfahrungen der NS-Zeit war die neue Leitungsstruktur mit einem zunächst zwölf Personen umfassenden Rat aus Theologen und Laien an der Spitze. Erster EKD-Ratsvorsitzender wurde Wurm, sein Stellvertreter Niemöller. In den Rat rückte auch der Jurist und spätere Bundespräsident Gustav Heinemann (1899-1976).

"Wetterfeste Baracke"

Die Debatten in Treysa sollen so turbulent verlaufen sein, dass einige Delegierte zwischendurch den Saal verließen. Der sonst so besonnene Wurm soll mit der Faust auf den Tisch geschlagen haben. Keiner war mit dem Ergebnis zufrieden, alle Lager mussten Federn lassen. Doch die Einigung stand. Beobachter haben es als "Wunder" gewertet, dass sie überhaupt zustande kam. "Es war eine sehr pragmatische Entscheidung, die der Situation gerecht wurde", bilanziert Oelke. Der heutige EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm sagte über die Gründung: "Errichtet wurde kein stolzer Dom, sondern eher eine Baracke - aber eine erstaunlich wetterfeste."

Die Konferenz hatte weitreichende Folgen: Im Oktober 1945 bekannten die Protestanten in der Stuttgarter Erklärung ihre Mitschuld am Nazi-Unheil: "Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." Dieses Bekenntnis ebnete dem deutschen Protestantismus den Weg zurück in die weltweite Gemeinschaft der Kirchen. 1948 entfaltete die junge EKD in Eisenach die Ergebnisse von Treysa in ihrer Grundordnung und nahm endgültig Gestalt an.

Heute gehören der EKD mit ihrem Kirchenamt in Hannover 20 Landeskirchen mit insgesamt rund 20,7 Millionen Protestanten an. Doch sie verliert seit Jahren an Mitgliedern. Bedford-Strohm betont daher: "Wir müssen raus - dahin, wo sich der Alltag der Menschen abspielt. Und müssen hören, was die Menschen wirklich suchen und brauchen, um Kraft und Orientierung in ihrem Leben zu bekommen."

Von Michael Grau (epd)


"Es war der Versuch, den Reset-Knopf zu drücken"

Der Historiker Harry Oelke im epd-Interview zur Gründung der EKD vor 75 Jahren - über die nicht wahrgenommene Rolle der Kirche als Wächterin des NS-Staats, die Schuldfrage und den Neuanfang der evangelischen Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg.

Vor 75 Jahren gründeten 120 Männer aus 28 Landeskirchen die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Die Kirchenkonferenz tagte vom 27. bis 31. August 1945 im nordhessischen Treysa - nur drei Monate nach Kriegsende. Im epd-Gespräch erläutert der Münchner Kirchenhistoriker Harry Oelke die Schwierigkeiten des Neuanfangs.

epd: Herr Professor Oelke, gab es eine "Stunde Null" für die evangelische Kirche nach der NS-Zeit und dem Zweiten Weltkrieg?

Harry Oelke: "Stunde Null" halte ich für keinen angemessenen Begriff. Als Historiker achtet man immer auch auf Kontinuitäten, man kann bei keinem Umbruch eine Stunde Null identifizieren. Aber das Jahr 1945 markierte schon so etwas wie einen Neustart für den Protestantismus. Es ist der Versuch, den Reset-Knopf zu drücken. Gleichwohl ist dieser Neuanfang bestimmt von Belastungen aus der NS-Zeit. Die Anhaftungen an der Vergangenheit waren noch stark.

epd: Welche sind das?

Oelke: Die evangelische Kirche ist im NS-Staat der kritischen Wächterfunktion für das öffentliche Lebens nicht nachgekommen. Gott in bestimmten Dingen mehr zu gehorchen als den Menschen, ist ja auch ein Aufruf zu kritischer Wachsamkeit. Der Protestantismus hat sich stattdessen stärker der Obrigkeit untergeordnet. Man hat Martin Luthers "Zwei-Reiche-Lehre" zu einseitig im Blick auf die Trennungsimpulse zwischen geistlichem und weltlichem Reich, also zwischen Kirche und Staat, interpretiert und damit eine Kontrollfunktion gegenüber dem Nationalsozialismus gar nicht erst aufgebaut.

Das hing der Kirche noch lange nach, denn damit verknüpfte sich die Schuldfrage. Sie hat den Nationalsozialismus im Blick auf die Staatsverbrechen, die dann spätestens ab 1939 insbesondere durch die Ermordung der europäischen Juden erschreckende Ausmaße annahmen, nicht kritisch beobachtet und nicht eingegriffen, etwa durch Verlautbarungen. Sie hat sich nur auf das Überleben der Kirche konzentriert. Das war zwar nicht unwichtig, aber anderes blieb ausgeblendet. Hinzu kommt, dass die kirchliche Opposition gegen die NS-Kirchenpolitik, die "Bekennende Kirche", zerstritten war und uneinheitlich auftrat.

epd: Wie hat sich das auf die Gründung der EKD ausgewirkt?

Oelke: Die versäumte Wächterfunktion hat sich sofort in Treysa bemerkbar gemacht. Dort wurde eine Verlautbarung mit dem Titel "Verantwortung der Kirche für das öffentliche Leben" aus der Feder des Historikers Gerhard Ritter vorgelegt. Das Thema kam nicht von ungefähr. Die Kirche griff genau dasjenige Defizit auf, das sie spürte und von dem sie wusste: Zwölf Jahre haben wir diese Funktion nicht wahrgenommen. Indirekt war das eine Anerkenntnis eines historischen Versagens. Die Verlautbarung bedient sich zum Teil noch rückwärtsgewandter Denkformen. Das Vorwärtsgewandte ist aber, dass man fortan im Grundsatz öffentliche Verantwortung für die Gesellschaft wahrnehmen will.

epd: In welchem Punkt war die Gründung wirklich ein Neuanfang?

Oelke: Man erkannte die Notwendigkeit einer Reflexion über das Verhältnis von Religion, Kirche und Politik. Die wird jetzt zumindest eingefordert. Das hatte man vorher in der NS-Zeit nicht gemacht, damals wurde höchstens andeutungsweise hinter verschlossenen Türen darüber gesprochen. Aber jetzt will sich die Kirche explizit um dieses Thema kümmern. Das war zunächst eine Absichtserklärung, aber daraus konnte sich dann in den 1970er Jahren die protestantische Sozialethik entwickeln.

Auch wurden jetzt erstmals Laien neben Theologen in ein kirchliches Beratungsgremium gewählt. Bis 1945 waren die Theologen dabei unter sich geblieben. Und noch ein Punkt: Es wurde in Treysa eine wahrhaftige Presse gefordert. Hier wurde die Bedeutung der Presse erkannt für eine Kirche, die in einem demokratischen Staat leben und ihn fördern will. Das bewusste Generieren einer Öffentlichkeit über die Kirchenmauern hinaus war weitsichtig und verglichen mit der Publizistik vor 1945 etwas Neues für den Protestantismus.

epd-Gespräch: Michael Grau


Bedford-Strohm verteidigt EKD-Zukunftspapier


Heinrich Bedford-Strohm
epd-bild/Philipp Reiss

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, hat das Zukunftspapier der evangelischen Kirche gegen Kritik verteidigt. Darin gehe es etwa nicht um die Aufgabe der ortskirchlichen Gemeindestruktur der Kirche, sagte Bedford-Strohm dem evangelischen Magazin "zeitzeichen". Das Zukunftspapier hatte eine Debatte unter Theologen ausgelöst. Die Autoren des Papiers wollten die Ortskirchengemeinden schwächen, hieß es unter anderem. Die Leitsätze sollen im November auf der EKD-Synode diskutiert werden.

Nicht nur Menschen wie er, "die geprägt sind von der Erfahrung des Gemeindepfarramts, sehen natürlich genau, welche Bedeutung ein weit verzweigtes Netz aus ortsnahen Gemeinschaften besitzt, in denen jeder weiß, dass da jemand ist, an den man sich wenden kann", fügte Bedford-Strohm hinzu, der auch bayerischer Landesbischof ist. Das stehe aus seiner Sicht nicht infrage. Aber dennoch müssten auch diese "parochialen Strukturen auf den Prüfstand". Parochie meint die regionale Struktur einer Kirche, im engeren Sinn die Gliederung in Gemeinden.

"Jetzt das Neue machen"

Bedford-Strohm warb für eine stärkere Verknüpfung der kirchlichen Angebote: "Sie alle müssen sich vernetzen, noch viel mehr, als sie es jetzt schon tun. Wir müssen an diesem Punkt viel mehr Dynamik entwickeln und endlich damit aufhören, in zwei oder mehr benachbarten Parochien etwas parallel zu machen, was man auch gut gemeinsam machen könnte." Die neuen digitalen Medien seien dabei eine große Hilfe. Die digitalen Vernetzungsmöglichkeiten könnten auch die Pfarrerinnen und Pfarrer entlasten. Das schaffe mehr Raum, mehr Zeit für die Seelsorge.

Die Kirche müsse mit Blick auf ihre Zukunft zudem fragen, "was die Menschen brauchen und ersehnen und welche Institution Kirche es dazu braucht, um die gute Botschaft des Evangeliums da hineinzusprechen". "Wenn man diese Frage so radikal stellt, dann ist alles auf dem Prüfstand", sagte Bedford-Strohm. Dann gebe es keine Dinge mehr, die nicht antastbar sind. "Wir neigen dazu, Dinge fortzuführen, die ihre Zeit eigentlich schon gehabt hatten, und fügen dann neue Dinge hinzu", erklärte er. "Das geht nicht mehr, auch deshalb nicht, weil wir das Geld dazu nicht mehr haben. Wir müssen jetzt das Neue machen."

Unter dem Titel "Kirche auf gutem Grund" hat die EKD Ende Juni elf Leitsätze veröffentlicht. Angesichts schwindender wirtschaftlicher Ressourcen und zunehmender gesellschaftlicher Säkularisierung soll das Papier die Basis der Diskussion und Entscheidungsfindung für die Zukunft der evangelischen Kirche sein. In dem Dokument heißt es wörtlich: "Parochiale Strukturen werden sich wandeln weg vom flächendeckenden Handeln hin zu einem dynamischen und vielgestaltigen Miteinander wechselseitiger Ergänzung."



Anerkennungsquote im Kirchenasyl weiter gering



epd-bild/Christian Ditsch
Die Zahl der Kirchenasyle geht weiter zurück. Der Erfolg für die Betroffenen auch: Nur drei Prozent der Überprüfungen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge endeten in diesem Jahr mit der Anerkennung eines Härtefalls.

Kirchenasyle haben auch in diesem Jahr bislang selten mit der Anerkennung eines Härtefalls geendet. Wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) auf Nachfrage mitteilte, wurde in rund drei Prozent der von Januar bis Ende Juli entschiedenen Fälle eine "außergewöhnliche Härte" festgestellt. Diese Verfahren endeten mit dem sogenannten Selbsteintrittsrecht. Das bedeutet, dass die Betroffenen in Deutschland bleiben können. Inhaltlich entschieden wurde den Angaben zufolge bis Ende Juli über 108 Kirchenasyle.

Dem Bundesamt wurden nach eigenen Angaben in diesem Jahr 169 Fälle von Kirchenasyl mit insgesamt 241 Personen gemeldet, die einen sogenannten Dublin-Bezug hatten. Das bedeutet, dass ein anderer EU-Staat eigentlich zuständig wäre. Hinzu kamen laut Bamf acht weitere Kirchenasyle, die keinen Dublin-Bezug hatten.

Neue Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts

Für 125 der Dublin-Fälle seien von den Kirchengemeinden Dossiers eingereicht worden, wie es zwischen dem Staat und den Kirchen vereinbart wurde. Neben den Selbsteintritten in rund drei Prozent der Fälle haben sich laut Bundesamt weitere drei Prozent der Fälle auf andere Art erledigt, etwa weil die sogenannte Überstellungsfrist abgelaufen ist.

Nach dieser Frist kann ein Asylsuchender nicht mehr in den anderen EU-Staat zurückgeschickt werden. Diese Frist liegt regulär bei sechs Monaten. Die Innenminister von Bund und Ländern hatten allerdings 2018 beschlossen, dass die Frist für Dublin-Fälle im Kirchenasyl auf 18 Monate heraufgesetzt werden kann. Möglich ist das nach EU-Recht, wenn ein Flüchtling als "flüchtig" gilt.

Inzwischen steht allerdings infrage, ob das bei Fällen von Kirchenasylen so definiert werden kann. Das Bundesverwaltungsgericht veröffentlichte am 8. Juni einen Beschluss, wonach jemand nur dann "flüchtig" sei, wenn er sich den Behörden entziehe. Daran fehle es, wenn im offenen Kirchenasyl die Adresse des Asylbewerbers bekannt sei, heißt es im Beschluss.

Zahl der Kirchenasyle rückläufig

Das Bundesamt prüft nach eigenen Angaben gemeinsam mit dem Bundesinnenministerium, welcher Handlungsbedarf sich aus dem Beschluss ergibt. Für wie viele der derzeit bekannten Kirchenasyle die 18- statt der 6-Monatsfrist gilt, konnte die Behörde nach eigenen Angaben nicht sagen.

Es gebe keine tagesaktuelle Übersicht über Kirchenasyle, da nicht alle Gemeinden dies meldeten, sagte der Bamf-Sprecher. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche meldete am 11. August 354 zu diesem Zeitpunkt aktive Kirchenasyle mit 543 Menschen, 117 davon Kinder - insgesamt also mehr als dem Bamf bekannt.

Die Zahl der Kirchenasyle war in den vergangenen zwei Jahren stark zurückgegangen. Gleichzeitig sank die Quote nachträglicher Anerkennungen. Das Bamf begründet den Rückgang der Zahl anerkannter Härtefälle damit, dass die Behörde solche Fälle inzwischen selbst besser erkennt. Bei Kirchen und Flüchtlingsorganisationen gibt es daran Zweifel.

Abschiebungen in einen anderen EU-Staat, sogenannte Überstellungen, waren wegen der Corona-Pandemie im Frühjahr zeitweise ausgesetzt. Seit dem 15. Juni würden sie schrittweise wieder aufgenommen, sagte ein Sprecher des Bundesamts.



Aktionsbündnis fordert Aufnahme verfolgter Christen im Saarland


Flüchtlingsunterkunft
epd-bild / Jens Schulze

Das Aktionsbündnis für verfolgte Christen Saar fordert von der saarländischen Landesregierung ein Landesaufnahmeprogramm für verfolgte Christen. Das Aktionsbündnis, zu dem auch Vertreter der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen Saar und des saarländischen Flüchtlingsrats gehören, hat sich in einem offenen Brief unter anderen an Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) und seine Stellvertreterin Anke Rehlinger (SPD) gewandt, wie das Bündnis am 24. August mitteilte. Das Schreiben richtet sich auch an die Fraktionsvorsitzenden von CDU, SPD und Linke sowie die Stadt Saarbrücken.

Nachdem das Saarland im vergangenen Jahr die Bitte des Assyrischen Kulturvereins zur Aufnahme von 400 verfolgten Christen aus Syrien abgelehnt und eine Bundesaufnahmeprogramm beim Bundesinnenministerium vorgeschlagen habe, sei bisher nichts geschehen. Bis heute sei weder von Bund noch Land bekannt, "dass eine überzeugende Bereitschaft zur konkreten Mitwirkung bei der Lösung der humanitären Katastrophe" bestehe. "Das unsägliche Leid und die Verfolgung der assyrischen Christen sowie der anderen Christen in Syrien bestehen jedoch weiterhin fort", erklärte das Bündnis.

Das Saarland würde mit einem Landesaufnahmeprogramm keinen Sonderweg beschreiten, sondern sich etwa am Beispiel Brandenburgs orientieren, hieß es. Jährlich sollen dort laut Koalitionsvertrag 200 besonders schutzbedürftige Flüchtlinge zusätzlich aufgenommen werden, darunter auch explizit verfolgte Christen. Am 18. August hatten die Brandenburger Koalitionsfraktionen von SPD, CDU und Grünen einen Antrag in den Landtag eingebracht, der den Start des neuen humanitären Aufnahmeprogramms im kommenden Jahr zum Ziel hat.



Gundlach: Seenotrettung ist Teil des diakonischen Auftrages


Thies Gundlach (r.) und der zweite Vorsitzende von United4Rescue, Michael Schwickart, im Januar vor der "Poseidon", die später zur "Sea Watch 4" umgebaut wurde.
epd-bild/Sven Janssen

Der Cheftheologe der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Thies Gundlach, hat die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer als eine Aufgabe der Kirche bezeichnet. "Letztendlich ist Seenotrettung ein Teil unseres diakonischen Auftrages", sagte der Vizepräsident im EKD-Kirchenamt der "Welt" (29. August). Indem die evangelische Kirche das Rettungsschiff "Sea-Watch 4" unterstütze, reagiere sie auf einen Missstand der Europäischen Union. "Wir sind eine Notlösung. Als Christ kann man nicht billigend in Kauf nehmen, dass Menschen ertrinken."

In der Flüchtlingsdebatte sieht Gundlach einen Mangel an Empathie. Menschen, die ihre Heimat verließen, "haben ja Beweggründe, sind oft verzweifelt", sagte der Theologe. Er betonte, dass Asylverfahren fair sein müssten. Das könne auch bedeuten, dass jemand im Verfahren abgelehnt werden könne. "Unsere Seenotrettung ist kein Freifahrtschein nach Europa. Aber an unserer Arbeit auf dem Meer ändert das nichts. Wir retten jeden, den wir retten können."

Vorsitzender von United4Rescue

Gundlach ist neben seinem Amt in der EKD auch Vorsitzender des Bündnisses United4Rescue, zu dem sich die Kirche mit anderen Unterstützern zusammengeschlossen hat, um den Einsatz der "Sea-Watch 4" zu ermöglichen. Das Schiff wurde unter anderem mit kirchlichen Spenden gekauft. In den vergangenen Tagen nahm die "Sea-Watch 4" mehr als 200 Menschen auf.



Düsseldorfer Aktion "Respekt und Mut" besteht seit 20 Jahren


Demonstration gegen Fremdenfeindlichkeit (Archivbild)
epd-bild / Andreas Fischer

Der Koordinator und Mitbegründer der Düsseldorfer Aktion "Respekt und Mut", Volker Neupert, hält es auch 20 Jahre nach der Gründung der Aktion für "immer noch unerlässlich, vor den Folgen von Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu warnen". Es sei "nach wie vor sehr wichtig, Respekt und Mut dagegen einzufordern", sagte Neupert dem Evangelischen Pressedienst (epd) am 26. August in Düsseldorf. Er verwies auf ein "Wiedererstarken des Antisemitismus, zunehmende rechtsterroristische Umtriebe und Anschläge sowie die gleichzeitig bestehende Gefahr durch islamistischen Terror".

"Respekt und Mut" wurde Ende 2000, einem Jahr mit besonders vielen rechtsextremen Gewalttaten, als Allianz verschiedener Düsseldorfer Institutionen, Vereine und Verbände ins Leben gerufen, die nach Neuperts Worten in NRW einmalig ist. Beteiligt sind unter anderem die evangelische Kirche und die Düsseldorfer Diakonie, Gewerkschaften, Polizei, Volkshochschule und der Integrationsrat der Stadt. "Wir sind in den 20 Jahren seit unserer Gründung eine wachsende, freiwillige, politische Allianz vieler geworden."

Gemeinsam für Demokratie, Solidarität und Vielfalt

Der Aktion sei es gelungen, "aus dem früher oft kurzatmigen Reagieren auf extremistische Gefährdungslagen eine neue Form des stetigen gemeinschaftlichen Handelns für Demokratie, Solidarität und Vielfalt zu schaffen", sagte Neupert weiter. Das Ziel von Respekt und Mut sei auch heute, "der Vielfalt der Menschen in unserer Stadt eine Stimme zu geben". Dabei sollten auch bestehende Probleme nicht verschwiegen werden. "Wir wissen nicht alles besser, sondern versuchen zu verstehen, zu differenzieren und neue Einsichten zu gewinnen." Die Treffen und Veranstaltungen der Aktion setzten deshalb auf "Aufklärung, Begegnung und Auseinandersetzung".

Zwischen 3.000 und 5.000 Menschen erreicht die Aktion "Respekt und Mut" jährlich mit ihren vielfältigen Veranstaltungen wie Ausstellungen, Konzerte und Diskussionen. Dazu setzt Neupert nach wie vor auch auf eine intensive Vernetzung mit der Stadtgesellschaft. "Mir sind dabei alle recht, die guten Willens sind", ergänzt der Koordinator, der von seinem Büro im Haus der evangelischen Kirche in der Düsseldorfer Altstadt aus agiert. Im kommenden Frühjahr soll nach seinen Worten - wenn möglich - das Jubiläumsfest zum 20. Geburtstag nachgeholt werden.

epd-Gespräch: Andreas Rehnolt


Martin Hein: Ökumene-Abendmahl auf Kirchentag 2021 denkbar


Martin Hein
epd-bild/Andreas Fischer

Der Ökumene-Experte und frühere Kasseler Bischof Martin Hein hofft auf eine wechselseitige eucharistische Gastfreundschaft auf dem 3. Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt am Main 2021. "Ich hatte diese Hoffnung schon beim Frankfurter Kirchentag 2001 geäußert, bald 20 Jahre danach ist nichts passiert", sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Er rede nicht von einem "gemeinsamen Abendmahl", also einer sogenannten Interzelebration, es sei auch keine Preisgabe des eigenen Kirchenverständnisses, es wäre "einfach ein Akt gegenseitiger Gastbereitschaft".

"Jetzt ist der Zeitpunkt für die gegenseitige Zulassung da", so Hein, der von 2000 bis 2019 Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck war. Anfang September scheidet er aus dem Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) aus.

Sieht Kritiker in der Pflicht

Die Befürworter einer gegenseitigen Einladung von Protestanten und Katholiken zu Abendmahl und Eucharistiefeier hätten in den vergangenen Jahrzehnten ihre Position hinlänglich begründet, fügte Hein hinzu. Nun sei es an der Zeit, dass die Kritiker einer solchen Praxis auf katholischer Seite ihren Standpunkt "in der gleichen theologischen Intensität begründen". Er hoffe auch weiterhin auf ein entsprechendes ökumenisches Signal der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, "und darüber hinaus", so Hein.

Hein war bis zum Frühjahr 2020 evangelischer Leiter des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen, der im September 2019 eine Studie zur wechselseitigen Abendmahlsteilnahme vorgelegt hatte. Danach soll eine Teilnahme an der Feier der jeweils anderen Konfession möglich sein, ohne die bestehenden Unterschiede zu leugnen.

epd-Gespräch: Stephan Cezanne


"Hohler Zahn" und "Eierkarton"


Berliner Gedächtniskirche
epd-bild/Rolf Zöllner
Wenn ihre fünf schweren Glocken über den Ku'damm dröhnten, begannen im benachbarten Zoo die Wölfe zu heulen. Die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche war einst ein monumentaler Prachtbau. Vor 125 Jahren wurde sie eingeweiht.

Das Kaiserpaar wollte nicht nur eine bloße Kirche. Nein, es sollte nach dem Willen von Kaiser Wilhelm II. und Gattin Auguste Viktoria auch eine Gedenkstätte für den Großvater des Regenten, Kaiser Wilhelm I., werden. Wilhelm I. galt aufgrund des unter preußischer Führung 25 Jahre zuvor errungenen Sieges über Frankreich im deutsch-französischen Krieg als "Friedenskaiser". Die Einweihung der Kirche nach nur vierjähriger Bauzeit fand deshalb am 25. Jahrestag der Entscheidungsschlacht von Sedan statt.

Wie das neue Bauwerk am Berliner Tauentzien war auch die Einweihung am 1. September 1895 monumental: Beteiligt waren 5.000 Kriegsveteranen, 4.000 Schulkinder, 2.300 Ehrengäste, 1.000 Soldaten und 200 Musikanten. In Berlin und Umgebung läuteten alle Glocken. Die Kirche galt als neues Nationaldenkmal.

Im Krieg ausgebrannt

Der Architekt Franz Schwechten hatte für 6,8 Millionen Goldmark den wuchtigen Kirchbau im neoromanischen Stil in den eleganten Berliner Westen gesetzt. Das Gebäude hatte fünf Türme, der Hauptturm maß 113 Meter. Die Fassade bestand aus einem in der Eifel gebrochenen Kalksandstein. Ein Bildzyklus in der Eingangshalle zeigte das Leben Wilhelms I. und Schlachtszenen von 1870/71.

Die fünf Glocken wogen zwischen drei und 13 Tonnen und waren aus im Deutsch-Französischen Krieg erbeuteten Bronzegeschützen gegossen. An Größe und Gewicht wurden sie damals nur von dem Geläut des Kölner Doms übertroffen. Der Niedergang der Kirche kündigte sich im Januar 1943 an, als die vier größten Glocken zu Kriegszwecken eingeschmolzen wurden. Elf Monate später wurde der wuchtige Kirchenbau Opfer des bis dahin schwersten alliierten Bombenangriffs auf die Reichshauptstadt am 22. November 1943. Die Kirche geriet wie viele Gebäude im Berliner Westen in Brand, bis der Dachstuhl über dem Kirchenschiff zusammenbrach und die Spitze des Hauptturms abknickte.

Turm als Mahnmal

Nach dem Krieg taten sich die Alliierten schwer, dieses Symbol wilhelminisch-deutschen Nationalstolzes wieder aufzubauen. Im Jahr 1956 wurden schließlich die verbliebenen Mauern des Gebäudes abgetragen, nur die noch 71 Meter hohe Turmruine blieb übrig.

Gleichzeitig wurde ein Architektenwettbewerb für einen Kirchenneubau ausgeschrieben, den 1957 der Karlsruher Architekt Egon Eiermann gewann. Eiermann wollte die radikale Lösung und auch noch mit der Turmruine das letzte Stück der alten Gedächtniskirche abreißen.

Damit löste er im Nachkriegs-West-Berlin eine heftige Kontroverse aus. Allein bei einer einzigen Tageszeitung gingen 47.000 Protestbriefe ein, der Regierende Bürgermeister Otto Suhr (SPD) hielt gar eine Rundfunkansprache. Am Ende gab es einen Kompromiss.

Der Turm blieb als Antikriegs- und Friedensmahnmal stehen. Daneben setzte Eiermann den Betonbau der neuen Gedächtniskirche mit modernem Glockenturm und ihrer charakteristischen Wabenfassade und den Glasbausteinen, deren Lichteinfall dem Inneren eine mystische Aura verleiht. Der Architekt selbst resümierte resigniert: "Ich lasse den alten Turm stehen, wie er ist; ich tue nichts an ihm. Ich erwecke ihn nicht zu neuem Leben. Er ist tot..."

Wichtiger Bau der Nachkriegsmoderne

Der achteckige Neubau wurde am 17. Dezember 1961 durch den damaligen evangelischen Bischof Otto Dibelius eingeweiht. Er gilt heute als wichtiges Bauwerk der Nachkriegsmoderne.

Der alte Turm beschäftigt die Gemeinde aber immer wieder - vor allem finanziell. Die Ruine musste schon mehrmals saniert werden, zuletzt für 4,2 Millionen Euro zwischen 2011 und 2014.

Die ehemalige Eingangshalle in der Turmruine wurde zur 750-Jahr-Feier Berlins im Jahr 1987 in einen Raum des Gedenkens an die Geschehnisse und die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg umgewandelt. Eines der zentralen Exponate ist das Nagelkreuz von Coventry als Zeichen der Versöhnung. Traurige Bekanntheit weltweit erlangte die Kirche durch den Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016.

Der historisch-sperrige Name Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ist in den vergangenen 125 Jahren durch alle Epochen beibehalten worden. Aber natürlich wurden alte und neue Kirche auch mit vielen Spitznamen bedacht: "Taufhaus des Westens", "Hohler Zahn", "Eierkarton". Andere sprechen einfach kurz und knapp von der KWG.

Markus Geiler (epd)


Ostdeutsche Landeskirchen beraten über zukünftige Herausforderungen

Im Osten Deutschlands zeigen sich nach Einschätzung evangelischer Bischöfe die zukünftigen Herausforderungen der kirchlichen Arbeit als erstes. Die ohnehin schon großflächigen evangelischen Gemeinden mit ihren vielen Kirchen würden künftig noch größer, sagte der Greifswalder Bischof Tilman Jeremias am 27. August bei einem Treffen der fünf leitenden Geistlichen der ostdeutschen Landeskirchen in Greifswald. Dies sei für Ehren- und Hauptamtliche eine "gewaltige Herausforderung". Die Gestaltung der Gottesdienste und der Seelsorge werde sich rasant verändern, und es gebe dazu keine fertigen Konzepte.

Viele ostdeutsche Gemeinden hätten mit Beginn der Corona-Krise digitale Konzepte erarbeitet, sagte der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Friedrich Kramer. Damit könnten auch Menschen in Gottesdienste eingebunden werden, die keine Kirche besuchen können. Nach den Worten des Berliner Bischofs Christian Stäblein führt die Digitalisierung dazu, dass die Grenzen der Landeskirchen an Bedeutung verlieren.

Eigene Mentalität

Nach Ansicht der Bischöfe verbindet die ostdeutschen Landeskirchen eine eigene Mentalität. Ziel müsse es sein, dieses Lebensgefühl zu berücksichtigen, ohne sich damit von den westdeutschen Landeskirchen abzugrenzen. Die Kirchen im Osten arbeiteten unter besonderen Bedingungen, erklärte der Bischof der sächsischen Landeskirche, Tobias Bilz.

Jeremias verwies darauf, dass die Ortsgemeinden in Ostdeutschland traditionell einen höheren Stellenwert hätten als die überregionalen Dienste und Werke. Die Stärke dieser Basisarbeit habe sich in der Corona-Krise darin gezeigt, dass die Mitarbeiter schnell Kontakte zu den Mitgliedern herstellen konnten.

Bei dem zweitägigen Treffen in Greifswald sind der Sprengel Mecklenburg und Pommern der Nordkirche, die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, die sächsische Landeskirche, die Evangelische Landeskirche Anhalts und die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland vertreten.



Landsberg: Kirchen für Sozialstrukturen in Kommunen unverzichtbar

Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes (DStGB), Gerd Landsberg, hat sich besorgt über den Mitgliederschwund der Kirchen geäußert. "Die Kirchen und ihre Organisationen wie Diakonie und Caritas sind für die Sozialstrukturen in den Kommunen unverzichtbar", sagte Landsberg am 27. August bei einer Podiumsdiskussion mit Vertretern aus Kirchen und Wirtschaft in Bonn. Die Kirchen betrieben nicht nur viele soziale und Bildungseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen oder Pflegeheime. Sie hätten darüber hinaus eine wichtige befriedende Funktion in der Stadtgesellschaft, indem sie sich für Toleranz, Nächstenliebe und das Zugehen auf Fremde einsetzten.

Vor diesem Hintergrund könnten die steigenden Austrittszahlen aus der evangelischen und katholischen Kirche - 500.000 allein im vergangenen Jahr - zu sozialen Verwerfungen in den Städten und Gemeinden führen, warnte Landsberg. Er appellierte an die Kirchen, mehr auf die Menschen zuzugehen. "Kirche hat eine Bringschuld. Sie muss die schweigende Mehrheit der noch nicht Ausgetretenen erreichen und das tut sie nicht." Notwendig sei eine viel engmaschigere Mitgliederpflege.

Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche räumten Versäumnisse ein. "Wir haben unsere Hausaufgaben nicht gemacht, wir haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt, wir haben gepennt", sagte der Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Bonn, Dietmar Pistorius. Die Kirche habe sich zu lange in ihren gut etablierten Zirkeln und Kreisen eingenistet und nicht gemerkt, dass eine Erosion stattfinde. In der Folge wendeten sich vor allem junge Menschen im Alter zwischen 21 und 35 Jahren von der Kirche ab.

Stadtdechant: Kirche ist erstarrt

"Die Kirchen sind so in tiefer Depression und Selbstbeschäftigung gefangen, dass sie den Beitrag, den sie für die Gesellschaft leisten können, kaum mehr erbringen", sagte der Bonner Stadtdechant Wolfgang Picken. Die Kirche sei erstarrt. Das mache Aufbruchsbewegungen schwierig.

Dennoch gebe es in der derzeitigen Situation Chancen, stellten die Kirchenvertreter fest. "Wir müssen wieder rausgehen zu den Menschen, müssen sie in ihren Lebensbezügen aufsuchen", sagte Pistorius. Er beobachte auch bei jungen Menschen, die nicht kirchlich gebunden seien, ein hohes religiöses Interesse. "Wir müssen Erfahrungsräume schaffen, im denen Menschen Gott begegnen können." Denkbar sei es etwa, kirchliche Räume stärker für die Stadtgesellschaft zu öffnen.

"Die Kirche hat in Zukunft eine Chance, wenn sie ein alternativer Lebensraum wird", sagte Picken. Dazu müsse Kirche glaubwürdig Gemeinschaft leben. "Kirche könnte Impulsgeber für ein neues Wir-Gefühl sein." Dazu müsse sie aber bereit sein, mit anderen gesellschaftlichen Kräften integrativ zusammen zu arbeiten. "Auch die Kirchen müssen von ihrem hohen Ross herunter und nach Schnittmengen mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen suchen", forderte der Stadtdechant.



Missbrauchvorwürfe: Kirche in Lüdenscheid will Fälle aufarbeiten

Der Fall des mutmaßlichen Missbrauchs in einer Jugendgruppe im Evangelischen Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg ist nach dem Suizid des Beschuldigten nicht beendet. "Es gibt zwar nun keinen Verdächtigen mehr, aber es gibt weiterhin diesen Fall", sagte der Leiter des eingerichteten Krisenstabes, Pastor Alfred Hammer, am 30. August in Lüdenscheid. Nach seinen Worten wird das kirchliche Krisengremium mehrere Monate mit der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle beschäftigt sein.

Es gelte Hilfsangebote für die Betroffenen, aber auch für besorgte Eltern und andere Ratsuchende in der ehrenamtlichen Jugendarbeit der Kirchengemeinde in Lüdenscheid-Brügge zu organisieren und zu koordinieren, erklärte der frühere Superintendent. "Aufklärung und Zuwendung sollen in den nächsten Monaten im Fokus stehen", betonte Hammer.

Der Krisenstab wurde bereits am 23. Juli eingesetzt, nachdem sich die fünf betroffenen Männer an die Bielefelder Landeskirchenrätin Daniele Fricke gewandt hatten. Die Theologin ist landeskirchliche Beauftragte für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung.

Leiter des Krisenstabs schließt weitere Betroffene nicht aus

Die Vorfälle liegen demnach fast drei Jahrzehnten zurück. Der Angeschuldigte war nach Angaben des Kirchenkreises ein ehrenamtlicher Mitarbeiter, der in einer Jugendgruppe der evangelischen Kirchengemeinde Brügge und zuvor im CVJM Lüdenscheid-West tätig war. Bis zum 23. Juli, als er von allen ehrenamtlichen Tätigkeiten entbunden und ihm ein Hausverbot erteilt worden war, hatte er sich in der Gemeinde engagiert. Angehörige fanden ihn am D27. August tot in seinem Wohnhaus. Die Polizei des Märkischen Kreises geht von einem Suizid aus.

Dass es mehr Missbrauchsopfer in diesem Fall geben kann, hält Alfred Hammer zum jetzigen Zeitpunkt für möglich: "Daher werden wir uns als Krisenstab natürlich auch mit der Frage beschäftigen müssen, ob oder welche Versäumnisse in der gemeindlichen Jugendarbeit, etwa sogar durch bewusstes Wegschauen, zu beklagen sind und wie man dies in Zukunft strukturell und sicher ausschließen kann." Das nächsten Treffen des Krisenstabes ist am Dienstag.

Zu einer außerordentlichen Versammlung trafen sich bereits am Sonntag rund 100 Gemeindemitglieder unter Ausschluss der Presse. Hammer sprach hinterher von einer "sachorientierten" Atmosphäre, die gleichzeitig jedoch auch von einer "gewissen Schockstarre" geprägt war. Die Arbeit der Jungenschaft im CVJM Lüdenscheid-Brügge, bei der der Beschuldigte ehrenamtlich tätig war, ruht demnach zurzeit.



Orden um Aufklärung bei Missbrauch bemüht

Die katholischen Ordensgemeinschaften hatten sich nicht an der im September 2018 veröffentlichten Missbrauchsstudie der katholischen Deutschen Bischofskonferenz beteiligt. Nun haben die Gemeinschaften eigene Zahlen vorgelegt.

Im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche bemühen sich nun die deutschen Ordensgemeinschaften auch um Aufklärung. Wie eine am 26. August in Bonn veröffentlichte Umfrage unter den Mitgliedern der Deutschen Ordensobernkonferenz (DOK) zeigt, haben sich 1.412 Betroffene bis 2019 bei den Ordensgemeinschaften gemeldet. 654 Ordensmitglieder seien beschuldigt worden. Knapp 80 Prozent aller Beschuldigten sei bereits verstorben. 95 Beschuldigte seien bis heute Mitglied einer der Ordensgemeinschaften. 37 seien nicht mehr in einer der Gemeinschaften.

Der Missbrauchsbeauftragte der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, der Trierer Bischof Stephan Ackermann, begrüßte die Veröffentlichung der Befragung. Deren Anliegen sei es gewesen, "eine differenzierte Kenntnis zu gewinnen, wie sich die Situation in den Ordensgemeinschaften darstellt, zumal diese von der MHG-Studie 2018 nicht berücksichtigt wird". Betroffene in der katholischen Kirche in Deutschland erwarteten einen einheitlichen Umgang mit diesen Fragen. Die Ergebnisse zeigten eine "ausgeprägte Ungleichzeitigkeit" im Umgang mit sexuellem Missbrauch, fügte Ackermann hinzu: "Ich bin dankbar für die insgesamt selbstkritische Auswertung der Befragung."

Entschädigung gefordert

Die Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch" forderte, alle Aktenbestände der Ordensgemeinschaften zu sichern und den Staatsanwaltschaften zur Verfügung zu stellen, sofern es einen Verdacht auf sexuellen Kindesmissbrauch durch Angehörige dieser Gemeinschaften gibt. "Sofern dann eine Verjährung festgestellt ist, was in vielen Fällen zu erwarten ist, müssen die so gesicherten Unterlagen, einer baldigst einzurichtenden zentralen Aufarbeitungskommission zugeleitet werden", erklärte deren Sprecher Matthias Katsch.

"Die Orden müssen sich bereit erklären, an der Aufklärung und Aufarbeitung der dunklen Aspekte ihrer Vergangenheit mitzuwirken. Sollten sie sich einer Aufklärung verweigern, müsste ihnen der Status von Körperschaften öffentlichen Rechts entzogen werden", sagte Katsch. Er forderte zudem die Ordensgemeinschaften zur Entschädigung der Opfer auf.

Die Ergebnisse der Mitgliederbefragung bestätigten, dass der in den vergangenen Jahren offenbar gewordene Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche nicht nur die diözesan verfasste Kirche, sondern in erheblichem Ausmaß auch die Ordensgemeinschaften betreffe, teilte die DOK mit. Die DOK bekenne sich in diesem Zusammenhang erneut zu ihrer Verantwortung. "Brüder und Schwestern unserer Gemeinschaften haben sexuellen Missbrauch in seinen verschiedenen Formen verübt. Nicht nur diese Taten haben unsägliches Leid über die Betroffenen gebracht. Auch der Umgang von Leitungsverantwortlichen und anderen Ordensmitgliedern mit Betroffenen und ihren Berichten haben Menschen erneut verletzt, die sich durch ihre mutige Öffnung einen gemeinsamen Schritt auf ihrem Weg der Heilung erhofft hatten", sagte die DOK-Vorsitzende Katharina Kluitmann.

Drei Viertel Rücklauf

Der Bericht spricht den Angaben zufolge - auch mit Verweis auf die Ergebnisse der im Jahr 2018 von der Deutschen Bischofskonferenz veröffentlichten MHG-Studie - von deutlichen Schwachstellen bei den bisher getroffenen Maßnahmen und von weiterem Handlungsbedarf. Die Mitgliederbefragung richtete sich an 392 Ordensobere, von denen drei Viertel den Fragebogen zurücksandten. Die Teilnahme sei freiwillig gewesen.

Im Fokus der Befragung standen laut DOK unterschiedslos alle bei Ordensgemeinschaften eingegangenen Meldungen zu Grenzverletzungen, Übergriffen und sexuellem Missbrauch ohne Einschränkung auf einen bestimmten Zeitraum. Der Anteil der mit Missbrauchsvorwürfen konfrontierten Gemeinschaften liegt laut Bericht bei den Frauengemeinschaften bei knapp einem Viertel (22 Prozent) und bei den Männergemeinschaften rund zwei Drittel (68 Prozent).



Erzbistum Köln will Zahl seiner Pfarreien massiv abbauen


Erzbischof Rainer Maria Woelki (Archivbild)
epd-bild/Guido Schiefer

Das Erzbistum Köln hat eine weitreichende Strukturreform angekündigt. Nach derzeitigem Beratungsstand zum "Zielbild 2030" sollen die derzeit 525 Pfarreien in 180 Seelsorgebereichen künftig aus etwa 50 bis 60 Pfarreien und einer Vielzahl von Gemeinden bestehen, wie der Diözesanpastoralrat des Erzbistums am Wochenende mitteilte. Sogenannte Teams von Verantwortlichen sollten dann die Mitverantwortung für die Seelsorge in den Gemeinden übernehmen. Schon im September starteten Pilotprojekte in fünf unterschiedlichen Seelsorgebereichen, hieß es.

Während "Pfarrei" und "Gemeinde" sonst oft synonym gebraucht werden, soll im Erzbistum zukünftig klar unterschieden werden, wie es weiter hieß. Demnach sind Gemeinden bestimmte Orte, an denen Menschen sich als eine Gemeinschaft im Geiste Jesu Christi zusammenfinden. Die Pfarreien bildeten als pastorale Einheit und zugleich Körperschaft des öffentlichen Rechts das "strukturelle Dach". Die Gemeinden könnten sowohl territorial "um einen Kirchturm herum" (örtliche Gemeinden), als auch nach Kategorien organisiert sein und etwa eine Schule, ein Krankenhaus oder eine andere kirchliche Einrichtung enthalten.

"Teams von Verantwortlichen"

Grundlegend für die Pfarrei sei die Leitung durch einen Pfarrer, betonte der Diözesanpastoralrat. Unterstützt werde der Priester in Zukunft von multiprofessionellen Pastoralteams, die unter anderem aus Pastoral- und Gemeindereferenten, Diakonen, Kirchenmusikern, Krankenhaus- oder Schulseelsorgern zusammengesetzt seien, so die Planung. Die neu gebildeten Gemeinden innerhalb einer Pfarrei würden von den Mitgliedern bestätigten "Teams von Verantwortlichen" koordiniert.

Durch die geplanten Umstrukturierungen würden die Gemeinden wesentlich pluraler ausgerichtet, erklärte Generalvikar Markus Hofmann auf der Sitzung des Diözesanpastoralrats, die am 28. und 29. August stattfand. "Ziel ist eine integrierte Seelsorge mit einem vielfältigen, den jeweiligen örtlichen Erfordernissen und Möglichkeiten entsprechenden pastoralen Angebot."

Woelki wirbt um Dialogbereitschaft und Mut

Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki warb im Reformprozess um ein "hohes Maß an Dialogbereitschaft" und Mut. "Wir müssen als Kirche von Köln eine ehrliche Antwort finden auf die anstehenden Fragen und Veränderungen", sagte der Kardinal. Dazu gehöre auch, sich von manchem zu verabschieden.

Das Erzbistum Köln ist mit rund 1,9 Millionen Katholiken die mitgliederstärkste der 27 Diözesen in Deutschland, gefolgt von Münster und Freiburg. Rund 710 Priester, 170 Ordenspriester, 290 Diakone sowie insgesamt über 400 Pastoral- und Gemeindereferenten und -referentinnen engagieren sich den Angaben nach in Seelsorgeteams im Erzbistum.



Pfarrer in Berlin während der Messe niedergeschlagen

In Berlin ist am 30. August ein katholischer Pfarrer während der Messe von einem unbekannten Mann niedergeschlagen worden. Wie die Polizei unter Berufung auf Zeugenaussagen mitteilte, stand der Mann während des Gottesdienstes von seinem Sitzplatz auf, spuckte in die Kirche und ging zum Altarraum, wo er den 61-jährigen Seelsorger mit der Faust niederschlug. Dabei habe er sich religionsfeindlich geäußert. Die Hintergründe der Tat soll der polizeiliche Staatsschutz ermitteln.

Nach dem Faustschlag gegen den Pfarrer hat der Angreifer den Angaben zufolge mehrere Seiten aus der Bibel gerissen, die auf dem Altar lag. Der Bruder des Pfarrers wollte dem Verletzten den Schilderungen nach helfen. Daraufhin schlug der Angreifer ihn mit der Bibel. Danach sei der Täter unerkannt aus der Kirche geflüchtet. Der Pfarrer und sein 56-jähriger Bruder sind laut Polizei ambulant vor Ort von Rettungskräften behandelt worden. Beide hätten nur leichte Verletzungen erlitten.



Friedensdekade legt zum 40-jährigen Bestehen neues Liederbuch vor

Anlässlich des 40-jährigen Bestehens der Ökumenischen Friedensdekade ist das Buch "100 Friedenslieder" erschienen. Das Liederbuch ist knapp 150 Seiten dick und umfasst internationale Friedenslieder, christliche Friedenslieder sowie Lieder, die über die Jahre eigens für die Friedensdekade komponiert und getextet wurden, wie der Trägerverein in Buch (Rhein-Hunsrück-Kreis) am 28. August mitteilte. Alle Lieder sind mit Noten und Akkordsymbolen abgedruckt und erleichtern das Singen und Musizieren.

In diesem Jahr steht die Friedensdekade unter dem Motto "Umkehr zum Frieden". Damit solle die Kritik an den geplanten Erhöhungen des Militärhaushaltes durch die Bundesregierung oder dem Ausbau der militärischen Kapazitäten der Europäischen Union zum Ausdruck gebracht werden, hieß es. "Was wir dringend benötigen, ist ein Umdenken weg von einer reinen Sicherheitspolitik hin zu einer zivilen Friedenspolitik, also eine 'Umkehr zum Frieden', wollen wir die globalen Konflikte und Probleme nachhaltig lösen", sagte der Vorsitzende der Ökumenischen Friedensdekade, Jan Gildemeister.

Das Liederbuch gehört zu den Arbeitsmaterialien, die in diesem Jahr für die Durchführung und Gestaltung der Tage für den Frieden erarbeitet wurden. Sie finden vom 8. bis 18. November in den Kirchengemeinden statt.

Trägerorganisationen der Ökumenischen Friedensdekade sind die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) in Bonn und die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland mit Sitz in Frankfurt am Main. Außerdem arbeiten an der Planung Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der evangelischen Landeskirchen und der katholischen Kirche sowie von Pax Christi, der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend (AEJ), Pro Asyl, der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste und des Internationalen Versöhnungsbundes mit.



Anke Engelke schwärmt für Psalm 23

Anke Engelke ist Fan des Psalms vom guten Hirten. Schon als Schülerin habe sie sich geborgen gefühlt, wenn sie mit dem Schulchor "Der Herr ist mein Hirt" gesungen habe, schreibt die Kölner Schauspielerin und Entertainerin in einem Beitrag für das evangelische Monatsmagazin "chrismon" (September-Ausgabe). "Der Text schob Bilder in meinen Kopf, die mir gefielen: grüne Wiesen, klar, Ruhe, Stille, aber auch: beschützt werden", erklärt die 54-Jährige. "In Sicherheit sein. 'Zuversicht' hätte ich falsch buchstabiert, aber das war das Gefühl, das mir der Text vermittelte." Wenn der Chor "Der Herr ist mein Hirt" in der Kirche gesungen habe, habe sie sich "trotz der uncoolen Choruniform" gut gefühlt.

Wenn sie heute mit dem Rad durch Köln fahre, singe sie leise und habe den Mut zum Improvisieren, schreibt Engelke ("Ladykracher"). "'Der Herr ist mein Hirt' mit Improvisationen. Wenn das einer hört: puh." Wegen des Zustands der Erde und anderer Missstände auf der Welt sei bei ihr als Erwachsene heute aber die Unbeschwertheit beim Singen futsch.




Gesellschaft

"Sea-Watch 4" übernimmt 150 Menschen von der "Louise Michel"


Hilfe für die "Louise Michel"
epd-bild/Thomas Lohnes
Der Hilferuf der "Louise Michel" wurde von den Behörden lange ignoriert, doch schließlich erreichten die italienische Küstenwache und auch die "Sea-Watch 4" das Seenotrettungsschiff. Doch das Bangen ist noch nicht vorbei.

Der Hilferuf des Seenotrettungsschiffs "Louise Michel" im Mittelmeer wurde erhört: Nachdem die italienische Küstenwache am Abend des 29. August 49 Menschen von dem Rettungsschiff übernahm, wechselten später rund 150 weitere Gerettete auf die "Sea-Watch 4". "Wir haben nun rund 350 Personen an Bord, die so schnell wie möglich in einem sicheren Hafen an Land gelassen werden müssen", twitterte Sea-Watch.

UN-Organisationen forderten eine sichere Ausschiffung aller auf dem Mittelmeer festsitzenden Flüchtlinge und Migranten. Anrainerstaaten müssten ihre Häfen öffnen und die Menschen an Land gehen lassen, verlangten das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und die Internationale Organisation für Migration (IOM) in Genf.

Der humanitäre Imperativ, Leben zu retten, dürfe nicht bestraft werden, hielten die Hilfswerke fest. Das UNHCR und die IOM nannten die "Sea-Watch 4", die "Louise Michel" sowie den Tanker "Maersk Etienne", auf dem sich 27 Hilfsbedürftige befänden, darunter Kinder und eine schwangere Frau. Die Menschen harrten seit dem 5. August auf dem Tanker aus, hieß es. Zum Schutz vor der Corona-Pandemie hatten Anrainerstaaten des Mittelmeers die ohnehin restriktive Flüchtlings- und Migrationspolitik weiter verschärft. Häfen wurden selbst für Seenotrettungsschiffe gesperrt.

"Auf See gestrandet"

Hannah Wallace Bowman, Sprecherin von "Ärzte ohne Grenzen" und auf der "Sea-Watch 4" im Einsatz, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), Besatzung und Überlebende an Bord des Schiffes seien völlig erschöpft. "Ärzte ohne Grenzen" und Sea-Watch leisteten Nothilfe, wenn Staaten dies nicht tun. "Jetzt sind wir auf See gestrandet. Wir werden dafür bestraft, dass wir die Lücke gefüllt haben, welche die EU-Regierungen an der tödlichsten Seegrenze der Welt hinterlassen haben."

Sea-Watch-Sprecher Chris Gordotzki sagte dem epd, zwei Crew-Mitglieder der "Louise Michel" seien auf die "Sea-Watch 4" gewechselt und würden dort aushelfen. Zum Schutz vor Corona seien die Menschen von der "Louise Michel" auf einem separatem Deck untergebracht. Inzwischen verfüge das Schiff nicht mehr über ausreichend Kleidung für die geretteten Menschen.

Die zehn Besatzungsmitglieder der "Louise Michel" kümmerten sich nach mehreren Rettungsaktionen vorübergehend um mehr als 200 Menschen, auch ein Toter wurde geborgen. Das Schiff war nach eigenen Angaben manövrierunfähig und setzte einen Hilferuf ab, der zunächst verhallte. Die italienische Küstenwache übernahm nach Angaben von Sea-Watch schließlich vor allem Frauen und Familien mit Kindern.

"Louise Michel" assistierte "Sea Watch 4"

Die "Louise Michel" hatte bei den zurückliegenden Rettungsaktionen der "Sea-Watch 4" assistiert. Das Sea-Watch-Schiff wurde vom Bündnis "United4Rescue" finanziert, das maßgeblich von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) initiiert wurde, und ist seit Mitte August auf seiner ersten Rettungsmission im Mittelmeer unterwegs. Die zivile Seenotrettungsorganisation Sea-Watch betreibt das Schiff gemeinsam mit "Ärzte ohne Grenzen" im Auftrag des Bündnisses.

Die "Louise Michel" wird von dem britischen Street-Art-Künstler Banksy unterstützt. Er kaufte das frühere Schiff der französischen Marine für die Seenotrettung im Mittelmeer und bemalte es. Kapitänin der "Louise Michel" ist Pia Klemp, die auch schon für Sea-Watch im Einsatz war.

Banksy veröffentlichte auf Instagram ein kurzes Video, in dem er die Situation der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer anprangert. "Wie die meisten Leute, die es in der Kunstwelt geschafft haben, habe ich eine Yacht gekauft, um auf dem Mittelmeer herumzufahren", heißt es im Untertitel. Das Schiff sei in eine Rettungsboot umgebaut worden, weil die EU-Behörden die Notrufe von "Nicht-Europäern" vorsätzlich ignorierten.



Gegner von Corona-Politik demonstrieren mit Rechtsextremen in Berlin


Auf der Kundgebung in Berlin
epd-bild/Christian Ditsch
Zehntausende haben gegen die Corona-Schutzmaßnahmen in Berlin demonstriert. Rechtsextreme durchbrachen Sperren zum Bundestag und schwenkten dort Reichsflaggen.

Der Einfluss Rechtsextremer auf die Proteste von Gegnern der Corona-Schutzmaßnahmen hat in der Politik Sorge und Kritik ausgelöst. Seite an Seite demonstrierten am 29. August in Berlin Kritiker der Corona-Politik unter anderem mit Friedens- und Regenbogenfahnen neben Rechtsextremen mit Reichsflaggen und Neonazi-Symbolen bei Aufzügen und Kundgebungen von der Friedrichstraße bis zur Siegessäule. Die teils sehr emotionale Stimmung entlud sich am Abend auch in Gewalt. Rechtsextreme griffen Polizisten an und stürmten auf die Treppen des Reichstagsgebäudes.

Die Teilnehmer der Versammlung vor dem Bundestag, die dominiert war von sogenannten Reichsbürgern und Neonazis, durchbrachen am Samstagabend die Absperrungen zum Parlamentsgebäude. Sie stürmten die Treppen und schwenkten vor dem symbolträchtigen Gebäude die Flagge des Kaiserreichs, deren Farben schwarz, weiß und rot auch in der Flagge der Nationalsozialisten verwendet wurden.

Steinmeier: "Angriff auf das Herz unserer Demokratie"

"Reichsflaggen und rechtsextreme Pöbeleien vor dem Deutschen Bundestag sind ein unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie", schrieb Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf Facebook. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sagte der "Bild am Sonntag", es sei unerträglich, dass "Chaoten und Extremisten" die Wirkungsstätte des Parlaments für ihre Zwecke missbrauchten.

Vize-Kanzler und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz (SPD) sagte am 30. August in Berlin, solche Bilder vom Gebäude des Bundestags dürften nicht mehr entstehen. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, gegen "diese Feinde unserer Demokratie" müsse man sich mit aller Konsequenz zur Wehr setzen. CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak forderte in der "Welt", die Schutzkonzepte staatlicher Gebäude zu prüfen.

Laschet zu Krawallen: "Das lässt mich erschaudern"

Auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) verurteilte die rechten Demonstranten vor dem Bundestag scharf. Das frühere Reichstagsgebäude habe all den Schrecken, Terror und Krieg überlebt, den die Nationalsozialisten entfacht hätten, sagte Laschet am 30. August "nw.de", Online-Ausgabe der in Bielefeld erscheinenden "Neuen Westfälischen". "Dass ausgerechnet an diesem Ort Rechtsextremisten die Reichskriegsflagge zeigen, lässt mich erschaudern." Er forderte eine "klare Bannmeile, die unser Parlament vor den rechten Feinden der Demokratie schützt".

"Wir brauchen auch für die gesellschaftliche Debatte Hygieneregeln", sagte der Präsident des Düsseldorfer Landtags, André Kuper: "Respekt vor der Meinungsfreiheit - statt in sozialen Medien die Meinungen anderer niederzubrüllen. Respekt vor politischem Engagement - statt politisch Tätige anzugreifen. Respekt vor politischen Institutionen - statt leichtfertig die demokratischen Grundpfeiler zu gefährden."

Schon vor der Eskalation am Reichstagsgebäude hatte es Gewaltszenen an der russischen Botschaft in der Nähe des Brandenburger Tors gegeben. Rechtsextreme wehrten sich mit Flaschenwürfen gegen die Auflösung der dortigen Versammlung durch die Polizei. Die Beamten setzten Pfefferspray ein.

2.900 Polizisten waren nach Angaben von Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) am 29. August in Berlin im Einsatz. Am Sonntag wurde die Polizei von einer erneuten, offenbar spontanen Versammlung von Gegnern der Corona-Politik an der Siegessäule überrascht. Rund 2.000 Menschen versammelten sich dort nach Angaben eines Polizeisprechers. Abstände seien nicht eingehalten worden. Die Polizei habe daraufhin Platzverweise ausgesprochen, sagte der Sprecher.

Kritik an mangelnder Abgrenzung

Geisel verteidigte am 30. August das Vorgehen der Polizei, das von mancher Seite als zu zögerlich gewertet wurde. Sie sei konsequent für die freiheitlich demokratische Grundordnung eingeschritten, sagte Geisel. Auch Scholz würdigte die Beamten. Bundespräsident Steinmeier will sich nach Angaben seiner Sprecherin am 31. August mit Polizistinnen und Polizisten, die am Wochenende im Einsatz waren, im Schloss Bellevue in Berlin treffen.

Steinmeier kritisierte die mangelnde Abgrenzung der Kritiker der Corona-Politik von Rechtsextremen: "Mein Verständnis endet da, wo Demonstranten sich vor den Karren von Demokratiefeinden und politischen Hetzern spannen lassen."

Unter die Demonstrationen, zu denen die Stuttgarter Initiative "Querdenken 711" aufgerufen hatte, mischten sich an der Siegessäule und auf der Friedrichstraße offensichtliche Sympathisanten der rechtsextremen Szene. Erkennbar waren sie etwa durch Symbole und Zahlencodes, die auf den Nationalsozialismus anspielen. Der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Jörg Radek, sagte, eine klare Distanzierung der Demo-Teilnehmer von Rechtsextremen habe er nicht wahrnehmen können.



Merkel: Die Pandemie darf die Gesellschaft nicht spalten

Die Corona-Lage bleibe ernst, sagt Kanzlerin Merkel und schwört das Land auf einen schwierigen Herbst ein. Im letzten Jahr ihrer Kanzlerschaft will sie die Gesellschaft in der Krise zusammenzuhalten, Bildung sichern und die Wirtschaft stabilisieren.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) rechnet trotz der gegenwärtigen Zunahme der Corona-Infektionen nicht mit einem zweiten Lockdown wie im Frühjahr. Man habe inzwischen viel über das Virus und seine Verbreitung gelernt, sagte Merkel am 28. August in der Bundespressekonferenz in Berlin. Sie appellierte, vor allem verletzliche Gruppen im Blick zu behalten. Es sei ihr Ziel, "den gesellschaftlichen Zusammenhalt so weit wie möglich zu bewahren", sagte die Kanzlerin.

Die Pandemie belaste die Menschen sehr ungleich, bilanzierte Merkel. Sie versicherte, die Bundesregierung stehe an ihrer Seite. Dazu müsse man mit diesen Gruppen im Gespräch bleiben, sagte die Kanzlerin. Das empfehle sie auch immer wieder ihren Ministerinnen und Ministern.

Merkel verwies auf Pflegebedürftige, die lange keinen Kontakt zu Angehörigen haben konnten, Arbeitslose, Familien in beengten Wohnungen und Kleinunternehmer, die um ihre Existenz bangen. "Auf sie alle müssen wir besonders achten", sagte Merkel.

Isolierung von Pflegeheimen nicht mehr zu erwarten

Sie gehe nicht davon aus, dass es erneut zu einer Isolierung von alten Menschen in den Pflegeheimen komme. Man habe inzwischen genug gelernt, "um sicherzustellen, dass es so wie es war in den ersten Wochen nicht wieder vorkommt". Sie mache sich aber Sorgen, dass sich ganze Gruppen aus der Öffentlichkeit zurückziehen, Menschen weiterhin mit wenigen Kontaktpersonen klarkommen müssten und wenig rausgehen könnten.

Gleichzeitig betonte Merkel, die Lage sei noch immer ernst. Es sei damit zu rechnen, dass die Situation im Herbst und Winter durch den Aufenthalt in geschlossenen Räumen sogar wieder schwieriger werde. Auf Abstands- und Hygieneregeln könne daher nicht verzichtet werden. "Es wird nicht so wie früher, solange wir keinen Impfstoff und kein Medikament haben", sagte Merkel.

Als zwei weitere zentrale Ziele ihrer Corona-Politik für den Herbst und Winter bezeichnete Merkel, die Bildung zu sichern und die Wirtschaft "am Laufen zu halten oder wieder zum Laufen zu bringen". Schulen und Kitas müssten geöffnet bleiben. Man müsse alles dafür tun, "dass unsere Kinder nicht die Verlierer der Pandemie sind", sagte Merkel. Für die Zukunft der deutschen Wirtschaft müsse es darum gehen, gerade in der Krise die Innovationskraft Deutschlands zu stärken und beispielsweise klimafreundliche Technologien und die Digitalisierung voranzutreiben.

"Nie dagewesene Herausforderung"

Die Pandemie sei eine nie dagewesene Herausforderung, sagte Merkel. Die Unterstützungsmaßnahmen, die den Staat viel Geld kosten, seien daher notwendig gewesen. Deutschland könne sich das auch leisten. Keiner wisse aber, wie lange die Situation andauere. Auch für die finanzielle Kraft des Landes sei es damit eine nie dagewesene Herausforderung.

Die Kanzlerin kam wie inzwischen traditionell jeden Sommer einer Einladung in die Bundespressekonferenz, dem Verein der Hauptstadtjournalisten, nach. Die Kanzlerin stellt sich dabei Fragen zu allen Themen, die für die Korrespondenten von Interesse sind. Es war der 26. Besuch von Merkel in der Bundespressekonferenz seit ihrer ersten Wahl zur Kanzlerin im Jahr 2005. Wegen der Abstandsregeln konnten in diesem Jahr nur 40 Korrespondenten vor Ort sein, die per Los ausgewählt wurden.



IW-Chef Hüther kritisiert "Identitätsegoismus" in Corona-Krise

Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, macht einen "Identitätsegoismus" für die zunehmende Spaltung der deutschen Gesellschaft in der Corona-Krise verantwortlich. Der öffentliche Raum sei Grundelement einer demokratischen Gesellschaft, in dem die Menschen ihre Alltagsprobleme erörtern und Lösungen aushandeln könnten, sagte der IW-Chef am 26. August in Münster. Das Funktionieren einer öffentlich geführten Debatte hänge aber entscheidend davon ab, dass die Akteure Verantwortung tragen. Das bedeutet seiner Ansicht auch, angesichts der Pandemie Einschränkungen zu akzeptieren und zum Beispiel Masken zu tragen. "Sicherheit im öffentlichen Raum ist elementar", betonte Hüther.

Der Wirtschaftsexperte ist zuversichtlich, dass die Bundesrepublik gut aus der Corona-Krise kommen wird. Deutschland verfüge wirtschaftlich über gute Voraussetzungen, die durch den Lockdown entstandene schwierige Situation zu meistern, sagte er. Dagegen fehle es in der Bevölkerung an "institutionellem Vertrauen", beklagte Hüther. Die Regierung habe in der Krise Handlungsfähigkeit bewiesen und "vieles richtig gemacht". Aber der Staat könne nur begrenzt Sicherheit geben, sagte er. Er plädierte er insgesamt für mehr Demut beim Umgang mit bedrohlichen Krankheiten und zitierte den Reformator Martin Luther: "Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben."

Der IW-Chef sprach im Rahmen der "Domgedanken" im St.-Paulus-Dom in Münster. Die Vortragsreihe des Bistums Münster steht in diesem Jahr unter dem Motto "Zurück zum Leben mit Corona - Fünf Abende der Hoffnung" und findet noch bis zum 9. September jeweils mittwochs statt. Als Referenten werden bei den letzten beiden Terminen die Kölner Medizinethikerin Christiane Woopen und das Vorstandsmitglied für Innovation und Technologie bei der Deutschen Telekom, Claudia Nemat, erwartet.



Stamp: Flüchtlingszuzug 2015 war Merkel "kommunikativ entglitten"


Joachim Stamp
epd-bild/Hans-Jürgen Bauer

Fünf Jahre nach dem Satz "Wir schaffen das" von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat der nordrhein-westfälische Flüchtlingsminister Joachim Stamp (FDP) die damalige Entscheidung zur Aufnahme syrischer Flüchtlinge verteidigt. Er habe die Aufnahme der Menschen, die im Sommer 2015 in Ungarn gestrandet waren, "damals als richtige und notwendige humanitäre Maßnahme wahrgenommen", sagte Stamp dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Anders als von rechten Kreisen behauptet war das ja auch keine Grenzöffnung, sondern ein Selbsteintrittsrecht nach der Dublin-III-Regelung."

Allerdings seien kommunikative Fehler gemacht worden, kritisierte Stamp. Dazu zählten auch die Selfies, die Merkel mit Flüchtlingen gemacht habe. In vielen Ländern sei dies von Schleppern als Propaganda-Instrument missbraucht und als Generaleinladung verkauft worden: "Das ist der Kanzlerin kommunikativ völlig entglitten."

Zum großen Flüchtlingszuzug habe jedoch ein anderer Fehler geführt, der bereits ein Jahr zuvor begangen worden sei, betonte der FDP-Politiker: "Zugesagte Hilfsgelder für die Anrainerstaaten Syriens, die große Mengen von Flüchtlingen versorgt haben, wurden nicht wie vereinbart ausgezahlt." Dadurch sei es zu drastischen Kürzungen bei der Versorgung der Flüchtlinge gekommen, die sich deswegen dann auf den Weg nach Europa gemacht hätten.

Minister erwartet baldige Lösung für Moria

Der Flüchtlingsminister erwartet eine baldige Verbesserung der katastrophalen Zustände im griechischen Flüchtlingslager Moria. "Die Bundesregierung sollte den Anspruch haben, unter der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands das wilde Camp um Moria, den sogenannten Dschungel, aufzulösen", sagte Stamp. Bis Ende des Jahres hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft inne.

Er habe die griechische Regierung bei einem Besuch mit Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) Anfang August als sehr lösungsorientiert erlebt, sagte Stamp. "Wir müssen jetzt sehen, dass ein bestimmtes Kontingent - das muss man aushandeln - von der EU aufgenommen wird und der andere Teil in eine neue Einrichtung auf dem griechischen Festland kommt." Dann könnten die Menschen so verteilt werden, "dass anständige Verhältnisse herrschen". Eine europäische Einigung werde "nicht daran scheitern, dass Nordrhein-Westfalen noch einige Menschen mehr in einem geordneten und gut organisierten Prozess aufnimmt", versicherte der FDP-Politiker.

Über die Bereitschaft einiger Städte und Kommunen zur Aufnahme Geflüchteter über die festgelegten Quoten hinaus sagte Stamp, er erwarte von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) eine Videokonferenz mit den Bundesländern zum Austausch über eine gemeinsame Bereitschaft zur Aufnahme. Seehofer und Außenminister Heiko Maas (SPD) hätten dann die Möglichkeit, in Europa zu verhandeln, welche anderen Ländern "mitgehen". So könnte europaweit ein zweiter Umverteilungsprozess von besonders Schutzbedürftigen in Gang kommen. Das Bundesinnenministerium hatte im Juli angekündigt, rund tausend Kinder und ihre Familie aus dem überfüllten Lager Moria aufzunehmen, 220 von ihnen kommen nach NRW.

"Es kann aber dabei nicht richtig sein, dass Einzelkommunen glauben, sie könnten eine eigene Aufnahmepolitik machen", kritisierte Stamp. Er habe "auch ein Stück Bigotterie" in diesem Zusammenhang erlebt. So hätten Kommunen teilweise im Zusammenhang mit Moria oder Seenotrettung öffentlich zugesichert, dass sie bereit seien, zusätzlich Menschen aufzunehmen. "Gleichzeitig habe ich aber auch Zuschriften aus eben jenen Kommunen bekommen, in denen darum gebeten wurde, dass ihnen nicht so viele Personen aus den zentralen Unterbringungseinrichtungen zugewiesen werden sollten", sagte der Integrationsminister.

epd-Gespräch: Nora Frerichmann


Debatte über Kopftuch-Urteil des Bundesarbeitsgerichts

Ist das islamische Kopftuch ein religiöses oder ein politisches Symbol? Die Debatte darüber geht nach dem Kopftuch-Urteil des Bundesarbeitsgerichts weiter. In Berlin wird die Neufassung des Neutralitätsgesetzes für den Öffentlichen Dienst diskutiert.

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Kopftuch-Verbot im Berliner Neutralitätsgesetz hat eine Debatte über mögliche Neuregelungen ausgelöst. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) kündigte an, eine Verfassungsbeschwerde zu prüfen. "Der Rechtsweg ist noch nicht abschließend beschritten", sagte Scheeres dem Evangelischen Pressedienst (epd) am 28. August in Berlin. Zunächst werde die schriftliche Urteilsbegründung abgewartet.

Das Bundesarbeitsgericht hatte am Vortag in einer Revisionsverhandlung entschieden, dass das Land Berlin einer muslimischen Bewerberin für eine Lehrerinnenstelle nicht pauschal das Tragen eines Kopftuchs verbieten darf. Das im Berliner Neutralitätsgesetz für den Öffentlichen Dienst enthaltene Verbot des Tragens religiöser oder anderer weltanschaulicher Symbole im Schulunterricht stelle eine nicht hinzunehmende Diskriminierung wegen der Religion dar, urteilten die Richter. (AZ: 8 AZR 62/19)

Forderung nach Gesetzesreform

"Das Gericht hat keineswegs festgestellt, dass das Neutralitätsgesetz an sich verfassungswidrig ist", sagte Scheeres: "Gleichwohl hätten wir uns eine andere Entscheidung gewünscht." Rückmeldungen von Schulleitungen machten deutlich, dass es in einer auch religiös so vielfältigen Metropole wie Berlin wichtig sei, dass die Lehrkräfte neutral auftreten, damit keine Konflikte in die Schulen hineingetragen werden.

Die Berliner CDU forderte, das Neutralitätsgesetz zu reformieren. Die Gefahr für Schulbetrieb und staatliche Neutralität, die von religiösen Symbolen ausgehe, müsse künftig im Gesetz klar benannt werden, erklärte der stellvertretende CDU-Landesvorsitzende Falko Liecke. Die Stadt dürfe gegenüber dem politischen Islam "nicht aus falsch verstandener Toleranz einknicken".

Von Grünen und Linken kamen überwiegend positive Reaktionen. Die Linke stehe "gegen das Verbot religiöser Kleidung" und lehne "jede Einschränkung von Beschäftigtenrechten auf dieser Grundlage ab", erklärte die religionspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Christine Buchholz, am Freitag.

Evangelische Kirche begrüßt das Urteil

Aus den Kirchen kamen unterschiedliche Stimmen. Die Berliner evangelische Kirche begrüßte das Urteil. Als Konsequenz daraus müsse im Berliner Neutralitätsgesetz dem Grundrecht der Religionsfreiheit mehr Beachtung geschenkt werden, erklärte der Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), Jörg Antoine. Er hoffe nach dem Urteil "auf mehr Toleranz und Gelassenheit im Umgang mit religiösen Symbolen in Berlin".

Das katholische Erzbistum äußerte sich nicht direkt zum Urteil und rief zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte über religiöse Symbole in der Öffentlichkeit auf. "Zu diesen für unser friedliches Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft entscheidenden Fragen werden wir wie bisher auch künftig das Gespräch mit staatlichen Stellen suchen", erklärte Erzbischof Heiner Koch. Er nehme das Urteil "zum Anlass diese Einladung zu erneuern, denn das Thema geht uns alle an".



Abtreibungsgegner zu Unterlassung und Entschädigung verurteilt


Kristina Hänel
epd-bild / Stephan Wallocha
Die Ärztin Kristina Hänel hat sich vor Gericht gegen einen radikalen Abtreibungsgegner durchgesetzt: Die Richter untersagten dem Mann Holocaustvergleiche. Hänel begrüßte das Urteil.

Der Betreiber der Internetseite babykaust.de darf die Schwangerschaftsabbrüche der Gießener Ärztin Kristina Hänel nicht mit dem Holocaust vergleichen. Außerdem muss er der Allgemeinmedizinerin 6.000 Euro Entschädigung zahlen. Ein entsprechendes Urteil verkündete am 24. August die Pressekammer des Landgerichts Hamburg. (AZ: 324 O 290/19) Richterin Simone Käfer hatte während der Verhandlung am Freitag eine solche Entscheidung bereits angekündigt. Hänel hatte gegen den Betreiber von babykaust.de geklagt.

Weder der Abtreibungsgegner Klaus Günter Annen aus Weinheim noch sein Anwalt waren zur Verhandlung erschienen. Daher erging ein sogenanntes Versäumnisurteil ohne schriftliche Entscheidungsgründe. Annen kann dagegen innerhalb von zwei Wochen Einspruch einlegen.

Behauptet wurde auf babykaust.de unter anderem, dass Hänel mit ihren Abtreibungen das "Tor von Auschwitz" aufgestoßen habe. Auch wurde sie als "Entartete" diffamiert. Derartige Vergleiche sind laut Urteil unzulässig. Hinnehmen müsse Hänel als Meinungsäußerung allerdings Aussagen, dass an "ihren Händen Blut klebt" und Abtreibung ein "verabscheuungswürdiges Verbrechen" sei.

Hänel dankbar für "deutliche Grenze"

Der Vergleich von Schwangerschaftsabbrüchen mit dem Holocaust sei unzumutbar - sowohl für die betroffenen Frauen als auch für die Ärztinnen und Ärzte, sagte die Klägerin Kristina Hänel. Der Vergleich verhöhne die Holocaustopfer und deren Angehörige und sei nicht hinnehmbar. Die Ärztin begrüßte das Urteil auch im Zusammenhang mit ihrer Kritik am Paragrafen 219a ("Werbeverbot" zu Schwangerschaftsabbrüchen): "Es geht nicht, dass ein Staat sachliche Informationen von Fachleuten verbietet, die dringend benötigt werden, aber Fehlinformation, Hass und Hetze mit unzulässigen Holocaustvergleichen zulässt. Hier hat das Gericht heute eine deutliche Grenze gezeigt. Dafür bin ich dankbar."

Die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main begrüßte das Urteil gegen den Macher des Holocaust-relativierenden Internetprangers. "Wer Schwangerschaftsabbrüche mit der systematischen Verfolgung und Vernichtung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus gleichsetzt und Ärztinnen und Ärzte mit faschistischen Mördern, muss gestoppt werden", sagte Direktor Meron Mendel. In der Szene der Abtreibungsgegner seien Geschichtsrevisionismus und Holocaust-Vergleiche beliebt, um Schwangerschaftsabbrüche zu skandalisieren, ungewollt Schwangere einzuschüchtern und Ärztinnen zu diffamieren. "Der Holocaust-Vergleich wird als kalkulierter Tabubruch kampagnenstrategisch eingesetzt - von Empathie mit den NS-Opfern keine Spur", sagte Mendel.

Der Abtreibungsgegner Annen hatte in der Vergangenheit mehrere Hundert Strafanzeigen nach Paragraf 219a gegen Ärzte gestellt, weil diese auf ihrer Internetseite über Schwangerschaftsabbrüche informierten. Auf babykaust.de hat er eine Liste mit 1.200 Abtreibungsärzten und -kliniken gestellt. Hänel war wegen Werbung für den Abbruch einer Schwangerschaft nach Paragraf 219a Strafgesetzbuch angeklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt worden.



Tödliche Gleis-Attacke: Täter muss in Psychiatrie


Blumen an Gleis 7 zum Gedenken an den getöteten Jungen: Der Frankfurter Hauptbahnhof Ende Juli 2019.
epd-bild/Heike Lyding

Rund ein Jahr nach der tödlichen Gleis-Attacke im Frankfurter Hauptbahnhof ist der Täter zu einer dauerhaften Unterbringung in der Psychiatrie verurteilt worden. Das Landgericht Frankfurt habe es als erwiesen angesehen, dass der 41-Jährige wegen seiner paranoiden Schizophrenie zum Tatzeitpunkt nicht schuldfähig gewesen sei, sagte Pressesprecher Christian Annen am 28. August dem Evangelischen Pressedienst (epd). Sein Zustand lasse künftig allerdings weitere Straftaten erwarten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Der Mann hatte Ende Juli 2019 im Frankfurter Hauptbahnhof eine am Bahnsteig stehende Frau und ihren achtjährigen Jungen vor einen einfahrenden ICE gestoßen. Der Junge wurde tödlich verletzt, die Mutter überlebte. Eine ebenfalls von ihm attackierte 78-jährige Frau stürzte auf den Bahnsteig und brach sich den Arm. Der Täter floh, wurde aber von Passanten und Polizisten verfolgt und wenig später gefasst.

In den Attacken habe das Gericht einen Mord an dem Jungen und einen Mordversuch an der Mutter gesehen, sagte Annen. Den Stoß gegen die Seniorin habe es als Körperverletzung gewertet. Sowohl die Seniorin als auch die Familie des toten Jungen traten bei dem Prozess als Nebenkläger auf. Mit dem Urteil folgten die Richter den übereinstimmenden Anträgen von Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Nebenklage.

Schon vor der Tat in Behandlung

Der Angreifer, ein anerkannter Flüchtling aus Eritrea, hatte jahrelang in der Schweiz gelebt und war erst wenige Tage zuvor nach Frankfurt gekommen. Der Mann war bereits an seinem Wohnort in psychiatrischer Behandlung gewesen. Zum Tatzeitpunkt wurde er per Haftbefehl gesucht, weil er eine Woche zuvor seine Frau und seine drei Kinder in der Wohnung eingesperrt und eine Nachbarin mit einem Messer bedroht hatte.

Vor Prozessbeginn hatte die Familie über den evangelischen Propst für Rhein-Main, Oliver Albrecht, mitteilen lassen, dass es ihr seit dem tragischen Verlust des Sohnes und Bruders nicht gut gehe und sie weiter psychologisch und seelsorglich betreut werde. In den vergangenen Monaten habe "einzig die Erinnerung und Trauer um unseren kleinen Leo im Vordergrund" gestanden. Albrecht hatte die Trauerfeier zur Beerdigung des Jungen geleitet.

Die Tat hatte bundesweit Entsetzen und Trauer ausgelöst. Wochenlang legten Passanten Kerzen, Blumen und Stofftiere am Ende von Gleis sieben ab. An einer ökumenischen Andacht auf dem Bahnhofsvorplatz nahmen mehrere Hundert Menschen teil.



Synagogen-Attentäter: Voller Hass im Internet

Der Angeklagte beschäftigte sich intensiv mit Gewalt, Hass, dem Nationalsozialismus. Dazu wurden am siebten Prozesstag mehrere Ermittlungsbeamte des Bundeskriminalamts befragt. In anonymen Internetforen soll Stephan B. den Anschlag beworben haben.

Das Online-Verhalten und diverse Dokumente des Synagogen-Attentäters von Halle offenbaren erneut dessen tiefe antisemitische und rechtsextremistische Gesinnung. Mehrere Ermittler des Bundeskriminalamtes (BKA) sagten am 26. August vor dem in Magdeburg tagenden Oberlandesgericht Naumburg aus, dass die ausgewerteten Dateien voll mit nationalsozialistischen, antisemitischen, homophoben und frauenfeindlichen Inhalten waren. Zudem soll Stephan B. Internetforen genutzt haben, in denen anonym derartige Inhalte geteilt werden. In einem dieser sogenannten Imageboards soll auch der Attentäter von Christchurch (Neuseeland) glorifiziert worden sein, den Stephan B. offenbar nachahmen wollte.

Eine weitere Zeugin, die Schulleiterin der Grundschule, an der die Mutter von B. als Ethiklehrerin gearbeitet hatte, berichtete von Hinweisen, die erst im Nachhinein ein erschreckendes Bild ergeben hätten. Sie habe nach dem Anschlag erfahren, dass die Mutter zu einer Kollegin gesagt haben soll: "Ich habe große Angst, dass bald etwas Schlimmes passiert." Aus Äußerungen der Mutter habe sie geschlossen, dass B. eher rechtsextremistisch eingestellt sei.

Bezüge zu Christchurch

Zwei BKA-Beamte berichteten über die Auswertung von Dateien, die sich unter anderem auf dem Computer und einem USB-Stick des Angeklagten befanden. Die Dokumente enthielten klare Bezüge zum Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch am 15. März 2019 mit 51 Toten, Bezüge zum Nationalsozialismus, Bilder mit drastischen Gewaltdarstellungen, von Deportierten, die in Gaskammern geführt werden sowie von japanischen Comic-Figuren mit NS-Hintergrund. Zudem wurde Musik mit antisemitischen, gewaltverherrlichenden und rassistischen Texten gefunden.

In der zuständigen Ermittlungsgruppe beim BKA waren zeitweise bis zu 270 Beamte eingesetzt, erklärte ein Vertreter der Bundesanwaltschaft. Nebenklagevertreter beklagten indes Wissenslücken bei den Zeugen vom BKA oder fehlende Zuständigkeiten, die sich in den Befragungen offenbarten. So verwies ein Ermittler im Zeugenstand mehrfach auf seinen begrenzten Aufgabenbereich. Eine andere BKA-Beschäftigte, die einen Bericht zum Gaming-Verhalten von Stephan B. anfertigen sollte, konnte nur wenige Aussagen zum Inhalt der Videospiele machen, da sie selbst "keine Gamerin" sei.

"Wenig Sachkenntnis"

Ein Zwischenruf der Nebenklagevertreterin Kati Lang sorgte für lauten Applaus im Saal. Sie plädierte dafür, damit aufzuhören, den Anschlag als wirre Einzeltat darzustellen. Es sei auch Aufgabe des Gerichts, über die Hintergründe des Antisemitismus in Deutschland aufzuklären. Die Aussagen der BKA-Zeugen bewertete sie anschließend als von "erschreckend wenig Sachkenntnis geprägt".

Stephan B. hatte am 9. Oktober 2019 einen Anschlag auf die Synagoge in Halle verübt, zwei Menschen erschossen und weitere verletzt. Die Bundesanwaltschaft hat ihn wegen Mordes in zwei Fällen und versuchten Mordes in mehreren Fällen sowie weiteren Straftaten angeklagt. Mit Sprengsätzen und Schusswaffen wollte er in die abgeschlossene Synagoge gelangen, um möglichst viele Juden zu töten. Zum höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur hielten sich dort 52 Gläubige auf. B. droht bei einer Verurteilung eine lebenslange Freiheitsstrafe. Zudem kommt eine anschließende Sicherungsverwahrung in Betracht.



Auto-Zulieferer "Continental" eng mit NS-Regime verstrickt

Der Autozulieferer "Continental" in Hannover hat erstmals umfassend seine NS-Geschichte aufarbeiten lassen. "Continental war demnach Stützpfeiler der nationalsozialistischen Rüstungs- und Kriegswirtschaft", teilte das Unternehmen am 27. August mit. Eine vom Konzern in Auftrag gegebene unabhängige Studie des Münchner Historikers Paul Erker zeige zudem auf, wie der damals größte deutsche Gummi-Hersteller von der Mobilisierungs- und Aufrüstungspolitik des Regimes wirtschaftlich profitierte. Zuerst hatte "Spiegel Online" darüber berichtet.

"Die Studie zeigt: Continental war ein wichtiger Bestandteil von Hitlers Kriegsmaschinerie", sagte Elmar Degenhart, Vorstandsvorsitzender von Continental. "Wir haben die Studie in Auftrag gegeben, um über dieses dunkelste Kapitel unserer Unternehmensgeschichte noch mehr Klarheit zu gewinnen als bisher." Unter die Verantwortung solle kein Schlussstrich gezogen werden.

Zwangsarbeiter eingesetzt

Continental setzte nach der Studie im Zweiten Weltkrieg insgesamt rund 10.000 Zwangsarbeiter ein. Darunter seien italienische "Jungfaschisten" ebenso gewesen wie Leiharbeiter aus dem besetzten Belgien oder französische und russische Kriegsgefangene. Auch KZ-Häftlinge seien zum Beispiel in der Produktion von Gasmasken und bei der Verlagerung der Produktion unter Tage eingesetzt worden - unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Laut dem am Donnerstag vorab veröffentlichten "Spiegel"-Bericht stieß Erker auf Belege, dass Continental Aufträge an das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin für Tests auf der berüchtigten "Schuhprüfstrecke" vergab. Dort mussten Häftlinge täglich 30 bis 40 Kilometer um den Appellplatz am Galgen herum laufen, um den Verschleiß von Schuhsohlen und Absätzen zu testen. Wer hinfiel, wurde von SS-Leuten erschossen. Continental sei damals auch Marktführer für Schuhsohlen und Absätze gewesen.

Aus der Studie geht laut "Spiegel" hervor, dass Continental-Techniker speziell Laufversuche bei Schnee und Eis einforderten und manche der Sohlen in kurzer Zeit bis zu 2.200 Kilometer weit getragen wurden. Der damalige Unternehmensvorstand Hans Odenwald wird in der Studie im Blick auf russische Zwangsarbeiter außerdem mit den Worten zitiert: "Wenn sie tot sind, gibt's neue."

Archiv soll geöffnet werden

Continental hat die Studie eigenen Angaben zufolge vor vier Jahren selbst auf den Weg gebracht. Sie bezieht auch diejenigen Unternehmen mit ein, die damals noch nicht Teil des heutigen Continental-Konzerns waren. Sie beleuchtet auch etwa die Firmen Teves, VDO, Phoenix und Semperit. Als Folge der Studie habe Continental das Programm "Verantwortung und Zukunft" ins Leben gerufen, hieß es. Die Studienergebnisse sollten in die Aus- und Weiterbildung einfließen und das Unternehmensarchiv anlässlich des 150. Firmenjubiläums im Herbst 2021 für die Wissenschaft geöffnet werden.

Zudem stifte Continental das neue Siegmund-Seligmann-Stipendium, mit dem die wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Forschung zur NS-Zeit und zur Unternehmensgeschichte der Continental gefördert werde. Der jüdische Unternehmer Siegmund Seligmann (1853-1925) war der erste Generaldirektor von Continental. Das Unternehmen wolle auch die Namen seiner früheren Zwangsarbeiter, soweit sie überliefert sind, auf einer Gedenktafel öffentlich präsentieren, hieß es.



Aktionen und Mahnwachen zum Antikriegstag


Symbol der Friedensbewegung: die Taube
epd-bild/Christian Ditsch

Gewerkschaften, Friedensgruppen und Kirchen erinnern am Antikriegstag am 1. September an die Schrecken der beiden Weltkriege und die Folgen von Krieg, Gewalt und Faschismus. "Wir müssen die Erinnerung an das unermessliche Leid und die unzähligen Toten wachhalten, so etwas darf nie wieder geschehen!", sagte Anja Weber, Vorsitzende des Deutsche Gewerkschaftsbunds NRW in Düsseldorf. Der Antikriegstag am 1. September wird seit 1957 mit Mahnwachen, Kundgebungen, Diskussionsrunden und Gedenkveranstaltungen begangen und erinnert an den deutschen Überfall auf Polen vor nunmehr 81 Jahren.

Der DGB hat die diesjährigen Aktionen unter das Motto "Nie wieder Krieg! In die Zukunft investieren statt aufrüsten!" gestellt. Nun sei es wichtig, in eine Wirtschaft zu investieren, die den Frieden stärkt und sich für Demokratie zu engagieren, sagte Weber. Das Netzwerk Friedenskooperative in Bonn kritisierte eine Erhöhung der deutschen Militärausgaben, nukleares Wettrüsten und die Weigerung der Bundesregierung, dem Atomwaffenverbots-Vertrag der Vereinten Nationen beizutreten.

180 Veranstaltungen bundesweit

Deutschlandweit finden mehr als 180 Veranstaltungen zum Antikriegstag statt. In Düsseldorf sprechen etwa Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) und der Leiter der Mahn- und Gedenkstätte der Stadt, Bastian Fleermann, bei einer Gedenkveranstaltung um 17 Uhr. In Köln veranstaltet die Melanchthon-Akademie um 18 Uhr eine Lesung in die Kartäuserkirche mit Briefen von politischen Häftlingen wie Dietrich Bonhoeffer und Nasrin Sotudeh, die sich gegen Diktatur und Autokratie stellten.

Zudem ist in Mülheim an der Ruhr ist ab 11 Uhr am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus eine Gedenkveranstaltung geplant. In Duisburg gibt es am DGB-Haus um 16.30 Uhr eine Kranzniederlegung mit anschließendem Spaziergang zu Gedenk- und Mahnmalen in der Stadt. In Aachen startet um 17 Uhr eine Friedensdemonstration am Elisenbrunnen.

In Hattingen wird gegen 17 Uhr am Mahnmal für die russischen Zwangsarbeiter auf dem Ehrenfriedhof im Ludwigstal ein Kranz niedergelegt. Auch in Münster, Krefeld, Wuppertal, Siegen, Bergisch-Gladbach mahnen Veranstaltungen zum Antikriegstag zur Senkung der Rüstungsausgaben, Abschaffung von Atomwaffen und zur Beseitigung von Fluchtursachen.

Drewermann spricht auf sowjetischen Soldatenfriedhof Stukenbrock

Am Ehrenfriedhof sowjetischer Kriegsgefangener in Schloss Holte-Stukenbrock gibt es zudem am 5. September um 15 Uhr eine Gedenkveranstaltung mit Kranzniederlegung, bei der der kirchenkritische Theologe Eugen Drewermann sprechen wird.

Die Idee zu einem Weltfeiertag für den Frieden war schon im Jahr 1845 in England aufgekommen. In Deutschland erklärten nach dem Ersten Weltkrieg sowohl Sozialdemokraten, als auch Gewerkschaften und Friedensgruppen zunächst den 1. August - als Erinnerung an den Kriegsbeginn 1914 - zum Friedenstag. Dies griff der DGB nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem Datum 1. September wieder auf.



Wieder Proteste am Braunkohle-Tagebau Garzweiler


Tagebau Garzweiler im Rheinischen Braunkohlerevier
epd-bild / Stefan Arend
Rund 3.000 Menschen schlossen sich am 30. August nach Angaben der Veranstalter dem Protest gegen die Abbaggerung der Dörfer am Tagebau Garzweiler an. Die Versammlung verlief ohne Zwischenfälle. Im Vorfeld hatten Aktivisten einen Bagger besetzt.

Bis zu 3.000 Menschen haben nach Veranstalterangaben am 30. August am Braunkohle-Tagebau Garzweiler II gegen die Abbaggerung der angrenzenden Dörfer und für einen schnelleren Ausstieg aus der Kohleverstromung demonstriert. Die Demo unter dem Motto "Alle Dörfer bleiben! Jetzt erst recht!" führte durch die Dörfer Keyenberg, Immerath und Lützerath, wie das Organisationsbündnis mitteilte. Die Teilnehmer bildeten einen schützenden Ring um das Dorf Lützerath, das den Angaben zufolge noch in diesem Jahr dem Tagebau zum Opfer fallen soll. Nach Angaben der Polizei in Aachen verlief die Versammlung ohne Zwischenfälle. Allerdings schätzten die Beamten die Zahl der Teilnehmer auf lediglich etwa 1.000.

Zu einem Polizeieinsatz kam es am frühen Morgen: Etwa ein Dutzend Aktivisten von "Extinction Rebellion" waren demnach auf das Gelände des Tagebaus Garzweiler II vorgedrungen und hatten einen Schaufelradbagger besetzt. Damit sollte auf die lebensbedrohlichen Folgen der Braunkohleverstromung aufmerksam machen, wie die Klimainitiative mitteilte.

Aktion mit Kunstblut

Mehrere Beteiligte stiegen auf den Bagger. Einige Aktivisten ketteten sich an, teilweise übergossen sie sich auch mit Kunstblut. Die Aktion stehe sinnbildlich für den Tod von Millionen von Menschen, der durch die klimatischen Folgen der Braunkohleverstromung verursacht werde, hieß es. Die Polizei stellte die Personalien der Teilnehmer fest oder hielt sie zunächst fest, weil sich einige Aktivisten weigerten, ihre Daten anzugeben. Das Bündnis "Alle Dörfer bleiben!" begrüßte die Aktion von "Extinction Rebellion" grundsätzlich, wies jedoch darauf hin, dass diese nicht Teil ihrer Kundgebungen sei.

Auf der späteren Demonstration wurde denn auch der beschlossene Ausstieg aus der Kohleverstromung als zu zögerlich kritisiert. "Während uns die Nachrichten von Arktisschmelze und sterbenden Wäldern erschüttern, fällt der Bundesregierung nichts anderes ein, als den klimafeindlichen Kohleabbau für 18 weitere Jahre festzuschreiben", sagte Alexandra Brüne vom Bündnis auf der Kundgebung.

Dorfbewohnerin spricht von "Zwangsumsiedlungen"

Mit Aktionen wie die Menschenkette am 30. August will das Bündnis von Tagebaubetroffenen sowie Umwelt- und Klimaschützern die geplante Abbaggerung der Dörfer am Tagebau verhindern. Laut Bündnissprecher Christopher Laumanns sind im Bereich von Garzweiler II derzeit noch sechs Dörfer bedroht. In ihnen lebten momentan noch "mehrere Hundert" Menschen, ursprünglich seien es einmal rund 1.500 gewesen.

Britta Kox aus dem betroffenen Dorf Berverath erklärte, sie werde als Mutter von vier Kindern die "Zwangsumsiedlungen" der Anwohner nicht zulassen: "Der heutige Tag zeigt, dass die Klimabewegung sich mit uns den Baggern entgegenstellt!"

Der Tagebau Garzweiler II gehört zu den Abbaugebieten des Rheinischen Braunkohlereviers. Ursprünglich war ein Betrieb bis 2045 geplant. Trotz des inzwischen beschlossenen Kohleausstiegs bis spätestens 2038 sollen die verbleibenden Orte noch im Laufe der kommenden Jahre abgebaggert und die Bewohner umgesiedelt werden.



Finanzierung erster Strukturprojekte für Kohleausstieg beschlossen

Der Bund und die Braunkohleländer Nordrhein-Westfalen, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt haben die ersten Projekte zur Gestaltung des Kohleausstiegs beschlossen. Die Vereinbarung dazu wurde am 27. August in Berlin unterzeichnet. Für die ersten Strukturwandel-Projekte stünden 2020 und 2021 insgesamt rund zwei Milliarden Euro zur Verfügung, sagte der Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Ulrich Nußbaum (parteilos): "Das ist eine stolze Summe."

Bislang seien 80 konkrete Projekte für die beiden Jahre angemeldet worden, sagte Nußbaum. Das Land begebe sich damit auf einen Marathon bis 2038. Zu dem Zeitpunkt soll der Kohleausstieg spätestens abgeschlossen sein. Bis dahin sollen insgesamt 40 Milliarden Euro Bundesmittel in den Kohle-Strukturwandel fließen.

Rund 30 Millionen Euro sollen 2020 und 2021 in die Erforschung emissionsärmerer Flugtriebwerke in Cottbus gehen, hieß es. 20 Millionen Euro fließen in die Erforschung alternativer Brennstoffe in Jülich. Weitere Projekte dienen der Entwicklung einer nachhaltigen Nachnutzung von Bergbauregionen.

Der Kohleausstieg sei ein "gesamtdeutsches Projekt", betonte Sachsens Staatsminister Thomas Schmidt (CDU). Prioritäten in Brandenburg seien unter anderem eine bessere Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaft, sagte Staatskanzleichefin Kathrin Schneider (SPD). Die Projekte müssten nun "mit großer Vernunft" beginnen, sagte Sachsen-Anhalts Staatsminister Rainer Robra (CDU). NRW-Staatssekretär Nathanael Liminski (CDU) betonte, die Weichen seien gestellt, um "die Zeit nach der Kohle vorzubereiten".



Urteil: E-Scooter zählen als Kraftfahrzeuge

Das Bayerische Oberste Landesgericht hat sogenannte E-Scooter in einem aktuellen Urteil als Kraftfahrzeuge eingestuft. Damit gelten für die Lenker der kleinen Elektroroller dieselben Promillegrenzen wie etwa für Autofahrer, wie ein Sprecher des Gerichts am 26. August dem Evangelischen Pressedienst (epd) sagte und damit einen Bericht der "Süddeutschen Zeitung" bestätigte. Das heißt es, wer mit mehr als 1,1 Promille einen E-Roller lenkt, ist absolut fahruntauglich, begeht eine Straftat und muss Geldstrafen, Fahrverboten und Führerscheinentzug rechnen.

Im konkreten Fall ging es um einen Mann aus dem Landkreis Kleve in Nordrhein-Westfalen, der beim Oktoberfest 2019 mit 1,35 Promille auf einem E-Roller zwischen S-Bahn-Station und Hotel unterwegs war und von der Polizei angehalten wurde. Die Verurteilung zu einer Geldstrafe, Führerscheinentzug und Fahrverbot durch das Amtsgericht München akzeptierte der 31-Jährige nicht und legte eine Sprungrevision ein. Der Sachverhalt, also betrunken gefahren zu sein, wurde nicht bestritten, er war nur mit der rechtlichen Beurteilung nicht einverstanden.

Das Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts ist nach Angaben des Gerichtssprechers mit großer Wahrscheinlichkeit bislang die erste höchstrichterliche Rechtssprechung zum Thema Promillegrenzen beim E-Scooter.



Klage gegen Atomwaffen in Karlsruhe eingereicht

Atomwaffengegner haben am 24. August in Karlsruhe eine Verfassungsbeschwerde gegen die mutmaßliche Stationierung von 20 Atomwaffen im rheinland-pfälzischen Büchel eingereicht. Die vier Beschwerdeführer waren wegen Hausfriedensbruchs verurteilt worden, nachdem sie im Juli 2018 auf dem Luftwaffenstützpunkt Büchel für die Beseitigung der ihrer Auffassung nach dort stationierten US-Atombomben und für das Verbot aller Atomwaffen protestiert hatten. Vor dem höchsten deutschen Gericht gedachten rund 30 Atomwaffengegner in einer Schweigeminute der Opfer von Atomwaffen und hielten eine Mahnwache ab.

Die zwischen 67 und 79 Jahre alten Beschwerdeführer nennen sich "Widerständige Alte" und klagen nach eigenen Angaben vor dem Bundesverfassungsgericht, weil sich die vorinstanzlichen Gerichte in Cochem und Koblenz bislang nicht "mit dem Unrecht beschäftigt haben, das von der Existenz der US-Atombomben in Deutschland ausgeht". Ihrer Ansicht nach ist die Stationierung von Atomwaffen völkerrechts- und verfassungswidrig. Sie verletze zudem "unser Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit", sagte die Beschwerdeführerin Ariane Dettloff aus Köln am Montag dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Karlsruhe.

Ferner hätten die Gerichte bislang auch die Frage nicht beantwortet, inwieweit die Bundeswehr in Büchel überhaupt Übungen mit atomaren Massenvernichtungswaffen durchführen dürfe, erklärte Dettloff. Die Kläger sind der Auffassung, dass ihr Recht auf Protest schwerer wiegt als das Recht der Bundeswehr auf solche Übungen. Die Journalistin legte die Beschwerde gemeinsam mit der Grundschullehrerin Susanne Großmann aus Erlangen, der Ärztin Brigitte Janus aus Nürnberg und dem evangelischen Diakon Herbert Römpp aus Hilpoltstein ein.



Gericht kippt coronabedingte Sonntagsöffnungen

Der Einzelhandel in Lemgo und Bad Salzuflen darf nach einer Gerichtsentscheidung nicht an mehreren Sonntagen öffnen, um coronabedingte Verluste auszugleichen. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster setzte am 28. August auf Antrage der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di entsprechende Verordnungen der beiden Städte außer Kraft (AZ: 4 B 1260/20.NE und 4 B 1261/20.NE). Die Verordnungen seien offensichtlich rechtswidrig, erklärte das Gericht in einem unanfechtbaren Beschluss. Sie würden dem verfassungsrechtlichen Schutzauftrag zum Sonn- und Feiertagsschutz nicht gerecht.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dürften Ausnahmen von der regelmäßigen Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen nur dann zugelassen werden, wenn ein gewichtiger Ausnahmegrund vorliege und für das Publikum die Ausnahme von der sonntäglichen Arbeitsruhe erkennbar sei, erläuterte das Gericht. Ein Erhalt eines vielfältigen Einzelhandelsangebots sowie die Belebung der Innenstädte hätten nur dann das verfassungsrechtlich erforderliche Gewicht, wenn aus anderen Gründen ohnehin mit einem besonderen Besucherinteresse zu rechnen sei.

Die Sonntagsöffnungen dienten jedoch vor allem dazu, an den Sonntagen Kaufkundschaft in die Innenstadt zu locken und den Ladeninhabern die Möglichkeit zu bieten, ausgefallene Umsätze nachzuholen, heißt es in der Begründung des Oberverwaltungsgerichts weiter. Von den geplanten Öffnungen würde eine für jedermann wahrnehmbare Geschäftigkeit ausgehen, die typischerweise den Werktagen zugeordnet werde.

Zudem seien für die zusätzlichen Sonntagsöffnungen Gründe angeführt worden, die bis Ende des Jahres "praktisch überall für jeden Sonntag angeführt werden könnten". Daher entspreche das nicht der verfassungsrechtlich erforderlichen Regel-Ausnahme für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen.

Beide Städte hatten sich nach Gerichtsangaben eng an einem Erlass des NRW-Wirtschaftsministeriums orientiert, nach dem solche Verordnungen wegen der landesweiten gravierenden Auswirkungen der Pandemie auf den stationären Einzelhandel nach örtlicher Prüfung für zulässig gehalten worden seien. Die Entscheidungen betreffen in Bad Salzuflen die Sonntage am 30. August, 13. und 27. September sowie 11. Oktober. In Lemgo sind es die Sonntage 30. August, 18. Oktober sowie 6. und 27. Dezember.




Soziales

Koalitionsbeschluss: Kurzarbeitergeld wird länger gezahlt


Stechuhr im Betrieb
epd-bild/Jens Schulze
Die Spitzen von Union und SPD wollen weiter einer massiv steigenden Arbeitslosigkeit als Folge der Corona-Krise und einer möglichen zweiten Welle vorbeugen. Dazu haben sie sich auf eine Verlängerung des Kurzarbeitergeldes geeinigt. Derzeit sind rund fünf Millionen Menschen in Kurzarbeit.

Der Koalitionsausschuss hat sich angesichts der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise auf eine Verlängerung des Kurzarbeitergeldes verständigt. Es soll statt einem Jahr bis zu zwei Jahre gezahlt werden können, wie die Parteivorsitzenden von CDU, SPD und CSU am 25. August nach einer Sitzung des Koalitionsausschusses in Berlin mitteilten. Die Einigung wurde überwiegend positiv aufgenommen. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer sprach von "wertvoller Planungssicherheit". Es werde nun auch Unternehmen geholfen, bei denen die Krise erst jetzt durchschlage.

Erstattung von Sozialbeiträgen

Die Koalitionspartner einigten sich weiter darauf, die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes und den erleichterten Zugang zur Kurzarbeit bis Ende kommenden Jahres zu verlängern. Die Arbeitgeber bekommen bis Juni 2021 die Sozialbeiträge auf das Kurzarbeitergeld weiterhin vollständig und von Juli bis Ende 2021 zur Hälfte erstattet.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) unterstrich die Notwendigkeit der Maßnahmen: "Kurzarbeit ist im Moment die stabilste Brücke über ein tiefes wirtschaftliches Tal", sagte er am 26. August. Sie beizubehalten sei nötig, um Arbeitsplätze zu sichern. Erst im Verlauf des kommenden Jahres sei mit einer schrittweisen Erholung der deutschen Wirtschaft zu rechnen, "und dann kann man irgendwann auch Kurzarbeit zurückfahren", sagte Heil.

Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) sagte, die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes könne "im nächsten Jahr noch mal zusätzlich zehn Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt kosten". Bundeswirtschaftminister Peter Altmaier (CDU) erklärte, die Koalition helfe Arbeitnehmern und dem Mittelstand, eine "ernste Krise zu überstehen".

Erleichterter Zugang zur Grundsicherung

CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, die SPD-Vorsitzenden Norbert-Walter Borjans und Saskia Esken sowie CSU-Chef Markus Söder hatten nach der Einigung im ersten Koalitionsausschuss nach der Sommerpause betont, die Corona-Krise sei nicht vorbei. Unternehmen und Arbeitnehmer müssten weiterhin unterstützt werden. Dafür sei die Kurzarbeit eines der wirksamsten Instrumente, erklärten Borjans und Söder.

Ebenfalls bis zum Jahresende und damit um weitere drei Monate soll der erleichterte Zugang zur Grundsicherung gewährt werden. Kramp-Karrenbauer sagte, besonders für Künstler und Solo-Selbstständige werde es noch Verbesserungen geben. Auch die Überbrückungshilfen für Betriebe enden nun erst im Dezember.

Die Union setzte durch, dass das Kurzarbeitgeld Ende 2021 ausläuft und nicht erst im Frühjahr 2022, wie es die SPD vorgeschlagen hatte. Die SPD konnte erreichen, dass die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes von 60 Prozent des ausfallenden Nettolohns auf bis zu 87 Prozent verlängert wird, was in der Union wegen der zusätzlichen Ausgaben auf Skepsis gestoßen war.

Fünf bezahlte Krankheitstage mehr

Neben der Verlängerung der Wirtschaftshilfen beschlossen die Koalitionspartner eine stärkere Unterstützung der Schulen bei der Digitalisierung. 500 Millionen Euro sollen für die Beschaffung von Laptops für Lehrer zur Verfügung gestellt werden. Berufstätige Eltern erhalten mit Blick auf die bevorstehende Erkältungssaison und Corona in diesem Jahr fünf bezahlte Tage mehr (Alleinerziehende: zehn Tage), an denen sie zu Hause bei erkrankten Kindern bleiben können. Auch die Verdopplung bezahlter Pflegetage für Angehörige gilt bis Ende des Jahres.

Hauptziel sei, das Land gut und sicher durch die Krise zu bringen, sagte die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), in Schwerin. Die Linke kritisierte eine ungerechte Lastenverteilung. Die Arbeitgeber erhielten mehr Finanzhilfen als die Kurzarbeiter, insbesondere jene mit Niedriglöhnen, sagte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Susanne Ferschl.

Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, bescheinigte der Politik, "frühzeitig und klug" zu handeln. Vom verlängerten Kurzarbeitergeld profitierten Millionen Menschen. Die Sicherung von Beschäftigung sei eines der wichtigsten Ziele in einer solchen Krise, sagte Fratzscher.

Bettina Markmeyer (epd)


Arbeitsgericht: Keine Zeiterfassung per Fingerabdruck

Die Zeiterfassung eines Arbeitgebers per Fingerabdruck-Scanner muss laut Gericht von Arbeitnehmern nicht akzeptiert werden. Laut einer am 25. August veröffentlichten Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg handelt es sich dabei um die Verarbeitung biometrischer Daten, die nur in Ausnahmefällen erlaubt sei. Arbeitnehmer müssten deshalb dieses Zeiterfassungssystem nicht nutzen. (AZ: 10 Sa 2130/19)

Geklagt hatte ein Mitarbeiter einer radiologischen Praxis. Der vom Arbeitgeber eingeführte Fingerabdruck-Scanner zur Arbeitszeiterfassung verarbeite zwar nicht den Fingerabdruck als Ganzes, sondern nur die Fingerlinienverzweigungen, sogenannte Minutien, hieß es. Dennoch lehnte der Kläger eine Benutzung dieses Systems ab. Daraufhin erteilte der Arbeitgeber ihm eine Abmahnung, wogegen der Mitarbeiter klagte.

Laut Landesarbeitsgericht handelt es sich auch bei der Verarbeitung von Fingerlinienverzweigungen um biometrische Daten gemäß Datenschutzgrundverordnung. Zudem habe im vorliegenden Fall nicht festgestellt werden können, dass eine Zeiterfassung unter Einsatz biometrischer Daten erforderlich sei. Die Weigerung der Nutzung durch den Arbeitnehmer stelle deshalb keine Pflichtverletzung dar, der Kläger könne die Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte verlangen. Eine Revision zum Bundesarbeitsgericht wurde nicht zugelassen.



Meister: Sterbehilfe in kirchlichen Einrichtungen denkbar


Ralf Meister
epd-bild/Matthias Rietschel

Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister kann sich Sterbehilfe auch in kirchlichen Einrichtungen vorstellen. "Wir diskutieren diese Ausnahmesituation zurzeit innerhalb der Kirche. Auch strittig", sagte der evangelische Bischof dem Magazin "Christ & Welt", das der Wochenzeitung "Die Zeit" beiliegt. Wenn ein Mensch sterben wolle und die Unterstützung von Dritten wünsche, müsse das ernst genommen werden. "Natürlich wünsche ich mir, dass er von seinem Vorhaben Abstand nimmt. Aber wenn das nicht geschieht, muss ich ihm beistehen, auch in der Phase des Suizids. Warum sollte die Kirche das einem Sterbehilfeverein überlassen?"

Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar das seit 2015 geltende Verbot organisierter Hilfe beim Suizid gekippt. Das Gesetz sei verfassungswidrig, weil es das allgemeine Persönlichkeitsrecht einschränke, urteilten die Karlsruher Richter. Entgegen einer gemeinsamen kritischen Stellungnahme der Spitzen der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hatte Meister das Urteil begrüßt, weil es zeige, dass die Würde des Menschen auch dessen Selbstbestimmungsrecht beinhalte.

"Nicht alleine lassen"

"Es gibt eine Spannung zwischen der Pflicht des Staates, das Leben zu schützen, und dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben", sagte Meister. Er wünsche sich, dass Menschen nicht um jeden Preis die Mitsprache über ihr Lebensende entzogen werde. "Ich werde nicht gestorben. Ich sterbe." Die Palliativversorgung und das Hospizwesen stünden für eine barmherzige und liebevolle Begleitung im Sterben. Doch manche schwerstkranke Menschen wollten sterben. "Wir dürfen sie damit nicht alleine lassen." Der Theologe sagte weiter: "Unter bestimmten Bedingungen kann der assistierte Suizid ein Akt der Barmherzigkeit sein."

Nach Auffassung des Bischofs sollten Ärzte grundsätzlich Sterbehilfe leisten dürfen. "Allerdings kann ich mir das nur am Ende eines längeren Prozesses denken, in dem trotz vieler Schritte der Begleitung dieser Wunsch des Patienten unverändert bestehen bleibt", sagte er. Jegliche kommerzialisierte Form der Sterbehilfe lehne er ab. Zudem müssten gesellschaftlicher Druck und psychische Erkrankungen, insbesondere Depressionen, ausgeschlossen sein. "Es muss sichergestellt sein, dass die sterbende Person selbst im Vollbesitz ihrer geistigen und emotionalen Kräfte die letzte Entscheidung trifft, und niemals Mitmenschen darüber entscheiden oder eine die Menschen von sich selbst entfremdende Krankheit."



Soziale Teilhabe Pflegebedürftiger in Corona-Zeiten: Uni gibt Tipps

Gleich in zwei Forschungsprojekten haben sich Wissenschaftler der Privat-Universität Witten/Herdecke mit der Verbesserung der Lebensqualität pflegebedürftiger Menschen während der Corona-Quarantäne befasst. Dabei erarbeiteten sie zum einen eine Leitlinie für das Personal in Altenpflegeeinrichtungen, mit der die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner bei bestmöglichem Infektionsschutz gesichert werden soll, wie die Hochschule am 27. August mitteilte. Im zweiten Projekt wurde eine Internetseite erstellt, auf der Mitarbeitende von Pflegeeinrichtungen praktische Tipps zur Förderung der sozialen Teilhabe der Bewohner finden.

Die neue Leitlinie umfasst 22 Handlungsempfehlungen, die im Zeichen der Corona-Pandemie dafür sorgen sollen, dass auch Bewohner mit Verdacht auf eine Corona-Infektion nicht komplett vereinsamen. "Es war uns besonders wichtig, dass auch in dieser herausfordernden Zeit soziale Teilhabe und Lebensqualität im Zentrum der pflegerischen Arbeit stehen", betonte die Pflegewissenschaftlerin Margareta Halek. Die Autoren der Leitlinie empfehlen unter anderem die Erstellung eines Pandemieplans, der die Wahrung der Würde der Bewohnerinnen und Bewohner mit Pflegebedarf in den Mittelpunkt stellen soll.

Auf der im Rahmen des zweiten Projekts erstellten Internetseite www.gemeinschaft-gestalten.de können Mitarbeiter in den Pflegeeinrichtungen Informationen über die Verbesserung der soziale Teilhabe unter den Bewohnern abrufen. So sei zum Beispiel deutlich geworden, dass Videotelefonie ein wichtiger Baustein zum Erhalten von Kontakten sei, dafür zugleich aber neue Kompetenzen bei den Pflegenden notwendig sind, hieß es.



Hartz IV: 42.000 Sanktionen gegen Familien im Frühjahr


Auch in der Coronakrise gab es Tausende Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher.
epd-bild/Jens Schulze
Das Bundesverfassungsgericht hat Totalsanktionen für Hartz-IV-Bezieher untersagt. Doch im März wurden bei 850 familiären Bedarfsgemeinschaften Leistungen komplett gekürzt. Das ergab eine Kleine Anfrage der Grünen an das Bundesarbeitsministerium.

Zu Beginn der Corona-Krise im Frühjahr wurden Tausenden Familien mit Arbeitslosengeld-II-Bezug die Leistungen gekürzt. Im März hat es rund 42.000 Hartz-IV-Sanktionen gegen sogenannte Bedarfsgemeinschaften mit Kindern gegeben, wie aus einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Kleine Anfrage der Grünen hervorgeht, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt. In rund 850 Fällen wurden demnach die Leistungen für eine Person im Haushalt komplett gekürzt. Bedarfsgemeinschaften sind Haushalte mit Kindern, in denen mindestens ein Elternteil staatliche Leistungen bezieht. Zuerst hatten die Zeitungen des Essener Funke Mediengruppe (31. August) darüber berichtet.

ALG II darf maximal um 30 Prozent gekürzt werden

Das Bundesverfassungsgericht hatte im November mögliche Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger erheblich eingeschränkt. Nach der Entscheidung der Karlsruher Richter darf das Arbeitslosengeld II nicht mehr um mehr als 30 Prozent gekürzt werden, um das Existenzminimum der Bezieher zu sichern. Davor gab es drei Sanktionsstufen, wenn Hartz-IV-Empfänger etwa eine als zumutbar eingestufte Arbeit ablehnen. Zunächst wurde der Regelsatz um 30 Prozent gekürzt, bei einer Wiederholung bereits um 60 Prozent. Bei jeder weiteren Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres entfiel das Arbeitslosengeld II komplett.

Bei den betroffenen 850 Familien handelt es sich laut dem Bundesarbeitsministeriums nicht um "Vollsanktionierte im eigentlichen Sinn". Vielmehr gehe es um sogenannte "Aufstocker", die ergänzend zu ihrem Einkommen Grundsicherung beziehen, sagte eine Ministeriumssprecherin den Funke-Zeitungen. Eine Sanktion könne dazu führen, dass ein Zahlungsanspruch erlischt. "So führt beispielsweise bei Leistungsberechtigten der Regelbedarfsstufe 1, deren Leistungsanspruch im SGB II aufgrund von Einkommen bei 100 Euro liegt, eine Minderung in Höhe von 30 Prozent des Regelbedarfs dazu, dass kein Zahlungsanspruch mehr besteht", erläuterte sie.

2019 gab es rund 2,9 Millionen Bedarfsgemeinschaften in Deutschland

Wie aus dem Schreiben der Bundesregierung weiter hervorgeht, gab es im Jahresdurchschnitt 2019 insgesamt rund 2,9 Millionen Bedarfsgemeinschaften bundesweit. In mehr als 999.000 und somit in rund jeder dritten Bedarfsgemeinschaft lebten Kinder unter 18 Jahren, davon mehr 761.000 in West- und knapp 238.000 in Ostdeutschland. Fast jedes zweite Kind (44,6 Prozent) lebte demnach in einer Alleinerziehenden-Bedarfsgemeinschaft.

Junge Erwachsene in Hartz-IV-Familien haben der Antwort zufolge sich im vergangenen Jahr etwas dazuverdient. Im Jahresdurchschnitt 2019 gab es rund 109.000 erwerbstätige Leistungsberechtigte unter 25 Jahre, ihre Einkünfte lagen bei rund 576 Millionen Euro.

Insgesamt belief sich das Einkommen von Kindern und jungen Erwachsenen in Hartz IV-Bedarfsgemeinschaften 2019 auf rund 6,46 Milliarden Euro. 4,5 Milliarden Euro entfielen dabei auf das Kindergeld, 1,05 Milliarden Euro resultierten aus Unterhaltszahlungen. Einkommen aus Sozialleistungen beliefen sich den Angaben zufolge auf 72,5 Millionen Euro. Innerhalb von zehn Jahren hat sich das Einkommen aus Sozialleistungen laut Statistik fast halbiert: 2010 lag es noch bei rund 130,63 Millionen Euro.

Grüne fordern Systemwechsel

Der sozialpolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Sven Lehmann, mahnte einen Systemwechsel an. "Während Gleichaltrige den Nettobetrag im Portemonnaie haben, den sie sich erarbeitet haben, müssen rund 109.000 junge Erwachsenen im SGB II-Bezug Abzüge hinnehmen, weil das erzielte Einkommen auf die Grundsicherung angerechnet und der Leistungsanspruch gemindert wird", kritisierte er und forderte die Einführung einer Kindergrundsicherung. "Wir können es uns nicht länger leisten, dass sich das Ausmaß der Kinderarmut angesichts der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise zu verschärfen droht."



Jugendämter melden Anstieg bei Kindeswohlgefährdungen


Familiärer Streit
epd-bild / Steffen Schellhorn
Die Jugendämter melden bei den Kindeswohgefährdungen einen Höchststand: Im Jahr 2019 stellten sie in 55.000 Fällen Anzeichen von Vernachlässigung, Misshandlungen und sexueller Gewalt fest.

Rund 55.000 Mal haben Jugendämter in Deutschland im vergangenen Jahr Kindeswohlgefährdung festgestellt - ein erneuter Anstieg der Zahlen. Das geht aus am 27. August veröffentlichten Daten des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden hervor. Demnach gab es 2019 rund 5.100 mehr Fälle als 2018. Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen sei damit das zweite Jahr in Folge um etwa zehn Prozent und damit auf einen neuen Höchststand gestiegen.

Ein Grund dafür könnte den Statistikern zufolge die umfangreiche Berichterstattung über Missbrauchsfälle in den vergangenen beiden Jahren sein, die zu einer weiteren Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der Behörden geführt haben dürfte. Gleichzeitig könnten aber auch die tatsächlichen Fallzahlen gestiegen sein. Bundesweit hatten die Jugendämter nach Angaben der Bundesbehörde im vergangenen Jahr mehr als 173.000 Verdachtsfälle geprüft. Das seien rund 15.800 mehr als 2018 gewesen.

Emotionale Kälte

Jedes zweite gefährdete Kind war den Daten zufolge jünger als acht Jahre. Im Alter bis 13 Jahre seien Jungen etwas häufiger betroffen gewesen, ab dem 14. Lebensjahr Mädchen. Mehr als die Hälfte der rund 55.000 betroffenen Kinder, nämlich 58 Prozent, hätten Anzeichen von Vernachlässigung aufgewiesen. Bei rund einem Drittel aller Fälle (32 Prozent) seien Hinweise auf psychische Misshandlungen gefunden worden. Dazu zählten beispielsweise Einschüchterungen, Demütigungen, Isolierung und emotionale Kälte. In weiteren 27 Prozent der Fälle habe es Indizien für körperliche Misshandlungen und bei fünf Prozent Anzeichen für sexuelle Gewalt gegeben. Mehrfachnennungen waren möglich.

Auch wenn Kindeswohlgefährdungen durch sexuelle Gewalt mit rund 3.000 Fällen am seltensten festgestellt worden seien, sei hier ein besonders starker Anstieg zu beobachten, meldet das Bundesamt: Von 2018 auf 2019 hätten die Fälle durch sexuelle Gewalt um 22 Prozent zugenommen (536 Fälle mehr). Damit habe sich der Trend aus dem Jahr 2018 fortgesetzt. Etwa zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen, bei denen 2019 eine Kindeswohlgefährdung durch sexuelle Gewalt festgestellt wurde, waren weiblich.

Kinderschutzbund sieht Warnsignal

In rund 28.000 Fällen stuften die Jugendämter die Kindeswohlgefährdung als eindeutig ein - das waren zwölf Prozent mehr als im Jahr zuvor. In rund 27.500 weiteren Fällen habe es zwar ernstzunehmende Hinweise auf eine Gefährdung gegeben, der Verdacht habe aber nicht endgültig bestätigt werden können - bei diesen sogenannten latenten Fällen gab es einen Anstieg von acht Prozent. Damit habe die Zahl der eindeutigen Fälle die Zahl der latenten Fälle seit Einführung der Statistik im Jahr 2012 erstmals überschritten, fügten die Statistiker hinzu. In beiden Fällen sind die Jugendämter dazu verpflichtet, das Familiengericht einzuschalten oder die Kinder zu ihrem Schutz vorübergehend in Obhut zu nehmen.

Für den Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, ist der Anstieg der amtlich festgestellten Kindeswohlgefährdungen ein Warnsignal. "Das sind mindestens 55.000 Kinder in unserem Land, die schlimmer Vernachlässigung und physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind und deren Rechte damit massiv verletzt werden", sagte Hilgers. Er sieht die Bundesregierung in der Pflicht, die präventiven Netzwerke aus Jugendhilfe, Gesundheitsvorsorge und Bildungsinstitutionen auszubauen.



Schlechte Rahmenbedingungen erschweren Arbeit in Kitas


Kindertagesstätte
epd-bild / Markus Palzer
Mehr Kinder werden in Kitas betreut, auch die Personalzahl steigt. Doch ist der Betreuungsschlüssel noch nicht zufriedenstellend, wie eine Studie zeigt. Verbände und Kinderärzte fordern eine Fachkräfteoffensive und einheitliche Qualitätsstandards.

Die Gruppen zu groß, zu wenig Fachkräfte: Drei Viertel der Kinder in den bundesweiten Krippen und Kindertagestätten werden einer aktuellen Studie zufolge nicht kindgerecht betreut. Der Personalschlüssel sei für rund 1,7 Millionen Kita-Kinder (74 Prozent) nicht auf deren Bedürfnisse zugeschnitten, heißt es im am 25. August veröffentlichten "Ländermonitor Frühkindliche Bildungssysteme" der Bertelsmann Stiftung. Zum 1. März 2019 kam demnach rein rechnerisch eine pädagogische Fachkraft auf 4,2 ganztags betreute Krippenkinder oder 8,8 ältere Kindergartenkinder. Laut wissenschaftlichen Empfehlungen solle sie aber für höchstens drei Kleinkinder oder 7,5 Kinder über drei Jahren zuständig sein.

Auch die Gruppengröße entspricht laut Studie oftmals nicht den Empfehlungen. Sie sollte im U3-Bereich nicht mehr als zwölf Kinder und bei den Älteren nicht mehr als 18 umfassen. Über die Hälfte (54 Prozent) der in Deutschland amtlich erfassten Kita-Gruppen lägen darüber, hieß es. Angesichts der schlechten Rahmenbedingungen fühlten sich die Kita-Teams überfordert. Gewerkschaften und Verbände forderten eine gemeinsame Initiative von Bund, Ländern und Kommunen zur Verbesserung der Erzieherausbildung, Fachkräftesicherung und Qualität der Arbeit. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) erklärte indessen, das "Gute-Kita-Gesetz" für die frühkindliche Bildung zeige Wirkung.

Große Gruppen in NRW und Niedersachsen

Denn der bundesweite Vergleich zeigt ein großes Gefälle zwischen den Bundesländern. So war laut Studie 2019 in Bremen (1 zu 3) eine Fachkraft im Schnitt für drei Krippenkinder weniger verantwortlich als in Mecklenburg-Vorpommern (1 zu 6). In Nordrhein-Westfalen seien 70 Prozent der Kita-Gruppen zu groß, hieß es weiter. Schlechter schneidet nur Niedersachsen (78 Prozent) ab. In den fünf ostdeutschen Bundesländern ist das durchschnittlich nur bei einem Drittel (32 Prozent) der Kita-Gruppen der Fall.

Die Studie offenbart zudem qualitative Unterschiede beim Kita-Personal in Ost- und Westdeutschland: In den neuen Bundesländern ist der Anteil der ausgebildeten Erzieherinnen und Erzieher mit 82 Prozent um 16 Prozentpunkte höher als im Westen (66 Prozent). Grundlage des jährlich aktualisierten Ländermonitors sind Auswertungen von Daten der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder.

Eine bundesweite Umfrage der Fern-Universität in Hagen im Auftrag der Stiftung gibt die aktuelle Stimmung unter den Kita-Beschäftigten wieder. Demnach sehen sie insgesamt die Umsetzung ihres Bildungsauftrages gefährdet, weil sie bei Personalmangel weniger auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen könnten und damit eine individuelle Förderung oft in den Hintergrund trete.

Für Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, sind die Ergebnisse ein "Appell, den Ausbau der frühkindlichen Bildung nicht schleifen zu lassen". Nötig seien mehr zusätzliche Mittel sowie bundesweit verbindliche Qualitätsstandards. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Helmut Dedy, forderte von Ländern und Bund eine dauerhafte Finanzierungsbeteiligung. "Bisher laufen die Bundesmittel im Jahr 2022 aus", sagte er.

"Flickenteppich"

Auch der Verband Bildung und Erziehung (VBE) und das Deutsche Kinderhilfswerk mahnten mehr Kraftanstrengungen zur Verbesserung der Kita-Qualität an. "Was es jetzt braucht sind massive, nachhaltige und flächendeckende Investitionen, eingebettet in eine bundesweit abgestimmte Fachkräfteoffensive", erklärte der VBE-Bundesvorsitzende Udo Beckmann. Der "Flickenteppich" bei Qualitätsmerkmalen der Kitas in Deutschland müsse beendet werden, sagte Kinderhilfswerk-Geschäftsführer Holger Hofmann.

Marion von zur Gathen vom Paritätischen Wohlfahrtsverband forderte mehr gesellschaftliche Anerkennung für den Erzieher-Beruf. Dazu gehörten eine adäquate Vergütung und Jobbedingungen, die qualitativ gute pädagogische Arbeit erlauben. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte warnte: "Wenn statt ausgebildeten Erzieherinnen und Erzieher überforderte Kinderpflegerinnen und Praktikanten in den Gruppen arbeiten, dann kann eine gute Förderung nicht gelingen, dann verlieren vor allem Kinder aus sozial prekären Verhältnissen."

Die Bundesfamilienministerin wies die Kritik zurück. Das "Gute-Kita-Gesetz" mit einer Fördersumme von insgesamt rund 5,5 Milliarden Euro hat laut Giffey unter anderem dazu geführt, dass in elf von 16 Bundesländern der Personalschlüssel bereits verbessert werden konnte. Der Bund werde über 2022 hinaus mit der Verstetigung der Mittel in die frühkindliche Bildung investieren. Auch werde aus Mitteln des Konjunkturpaketes ein 1-Milliarde-Euro-Investitionsprogramm aufgelegt, mit dem 90.000 neue Kita-Plätze geschaffen werden könnten.

Kitas in NRW oft nicht kindgerecht

Die Studie lieferte genaue Zahlen für NRW: Demnach werden mehr als drei Viertel der Kinder in den Krippen und Kindertagestätten Nordrhein-Westfalens in zu großen Gruppen und mit zu wenig Erzieherinnen oder Erziehern betreut. Zum 1. März 2019 war der Personalschlüssel für rund 322.200 Kinder (78 Prozent) in den regulären Kitas nicht kindgerecht, wie der Ländermonitor ergab. Rein rechnerisch kam eine pädagogische Fachkraft auf 3,7 ganztags betreute Krippen- oder 8,6 Kindergartenkinder.

Auch die Gruppengröße, die im U3-Bereich nicht mehr als zwölf Kinder und bei den Älteren nicht mehr als 18 umfassen sollte, sei in NRW oft nicht kindgerecht, hieß es. 70 Prozent der landesweit amtlich erfassten Kita-Gruppen lägen darüber.

Beim Personalschlüssel liegt NRW zwar insgesamt über dem bundesweiten Durchschnitt von 1 zu 4,2 bei Krippenkindern und 1 zu 8,8 bei Kindergartenkindern. Doch zeigt die Studie, dass im bevölkerungsreichsten Bundesland die Betreuungsqualität noch stark vom Wohnort abhängt: So muss eine Fachkraft in Duisburg (je 1 zu 10) rein rechnerisch drei Kindergartenkinder mehr betreuen als im Landkreis Euskirchen (1 zu 7). Im Krippenbereich besteht demnach ein nicht ganz so großes Gefälle. Während in Duisburg eine Fachkraft für 4,5 Kleinkinder zuständig ist, sind es in den Landkreisen Kleve und Märkischer Kreis sowie in Mönchengladbach, Herne und Bonn nur 3,2.

Von den gut 119.300 pädagogisch arbeitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den landesweiten Kindertagesstätten sind laut Studie 74 Prozent als Erzieherin und Erzieher ausgebildet. Damit liege NRW über dem Durchschnitt der westdeutschen Bundesländer (66 Prozent), aber unter dem der ostdeutschen (82 Prozent). Grundlage des jährlich aktualisierten Ländermonitors sind Auswertungen von Daten der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder.

Die Bildungsexpertin der Bertelsmann Stiftung, Kathrin Bock-Famulla, mahnte bessere Rahmenbedingungen in der Kita- und Krippenbetreuung in NRW an: "Nur ein Zusammenspiel von kleinen Gruppen, genügend Personal und hohem Qualifikationsniveau ermöglicht eine kindgerechte Bildungspraxis."

Bertelsmann Stiftung fordert ebenfalls Verbesserungen in Saar-Kitas

Die Bertelsmann Stiftung fordert auch für das Saarland Verbesserungen in den Kitas und eine Gesamtstrategie für mehr gut ausgebildetes Personal. "Fast die Hälfte der Kita-Gruppen sind zu groß, die Personalausstattung nicht kindgerecht und das Qualifikationsniveau der Fachkräfte zu niedrig", sagte Bock-Famulla. "Das Saarland sollte sich in allen Bereichen verbessern."

Demnach stand zum 1. März 2019 für rund 84 Prozent der Kinder in amtlich erfassten Kita-Gruppen nicht genügend Fachpersonal zur Verfügung. Rein rechnerisch kam eine pädagogische Fachkraft auf 3,9 ganztags betreute Krippen- oder 9,6 Kindergartenkinder.

Laut Bildungsmonitor sind im Saarland 49 Prozent der Kita-Gruppen zu groß, etwas weniger als bundesweit (54 Prozent). "Zu große Gruppen bedeuten für die Kinder und das Fachpersonal übermäßigen Stress, etwa durch Lautstärke, und können dazu führen, dass entwicklungs-angemessene Aktivitäten nicht ausreichend durchgeführt werden", erklärte die Stiftung.

Die Qualifikation des saarländischen Kita-Personals sei im Vergleich zu anderen Bundesländern auf einem mittleren Niveau. Von rund 6.500 pädagogisch arbeitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern außerhalb von Horten seien 71 Prozent als Erzieherin oder Erzieher ausgebildet.

Bock-Famulla erklärte, dass der zusätzliche Personalbedarf nicht durch einen Ausbau von Ausbildungsgängen unterhalb des Erzieherinnenniveaus angestrebt werden sollte. Um das Kita-Personal generell zu entlasten könnten auch Hauswirtschafts- und Verwaltungskräfte eingestellt werden.



Das Kind als Baumeister seiner selbst


Lernmaterial nach Montessori
epd-bild / Birgit Vey
"Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen." Davon war Maria Montessori überzeugt. Noch immer folgen Erzieher und Lehrerinnen der Devise der Reformpädagogin, die nicht auf Drill setzte, sondern auf die Lernbegeisterung der Kinder.

Eine Perle in der Rechten und ein Kubus aus zehn mal zehn mal zehn Perlen in der Linken. Ein Leicht- und ein Schwergewicht. So lernen Montessori-Kinder die Zahl Eins von der Zahl Tausend zu unterscheiden: sinnlich, durch "Begreifen" mit den Händen. "Und das lernen sie, wenn sie wollen, schon mit vier Jahren", sagt der Diplompädagoge Rainer Völkel, der im Auftrag der Deutschen Montessori-Gesellschaft Lehrer und Erzieherinnen nach der Methode der italienischen Ärztin und Pädagogin Maria Montessori (1870-1952) ausbildet.

Vor 150 Jahren, am 31. August 1870, wurde sie in Chiaravalle nahe der italienischen Adriaküste geboren. Ihr Vater arbeitete im Finanzministerium und leitete die staatliche Tabakmanufaktur. Seinem Widerstand zum Trotz besuchte Maria Montessori eine technische Oberschule. An der Universität in Rom studierte sie zunächst Naturwissenschaften, weil ihr als Frau der Zugang zum Medizinstudium verwehrt war.

Selbstständigkeit fördern

Dann öffnete sich die medizinische Fakultät doch, und Montessori konnte 1896 promovieren. Sie spezialisierte sich auf Kinderheilkunde. Als Assistenzärztin für Kinderpsychiatrie an der Universitätsklinik kümmerte sie sich vor allem um geistig beeinträchtigte Kinder. Sie kam zu der Überzeugung, dass deren "Schwachsinn" - wie es damals hieß - nicht medizinisch begründet war, sondern eine Folge verwahrloster Erziehung.

1899 übernahm sie die Leitung eines heilpädagogischen Instituts in Rom und entwickelte didaktische Materialien zum Sprach- und Mathematikunterricht. 1901 begann sie ein zweites Studium der Anthropologie, Psychologie und Erziehungsphilosophie und hielt danach Vorlesungen im Pädagogischen Institut in Rom. 1907 schließlich hatte sie ihr eigenes pädagogisches Bildungskonzept entwickelt, das dem Grundsatz folgt: "Hilf mir, es selbst zu tun." Lehrer sollen die Selbstständigkeit des Kindes fördern, indem sie es dabei unterstützen, selbst aktiv zu werden.

"Die Aufgabe der Umgebung ist es nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren": Dieser Devise folgen noch heute die Kinderhäuser und Montessori-Schulen in aller Welt. "Niemand weiß, wie viele es gibt", sagt Völkel. "Es existiert für diese Graswurzelbewegung keine Zentrale." Für die Frankfurter Anna-Schmidt-Schule etwa bedeutet die Montessori-Devise, "das Kind als Individuum in seiner emotionalen Entwicklung, seiner sozialen Kompetenz und seinen kognitiven Fähigkeiten zu beobachten, es anzuregen, zu beraten und zu fördern."

"Gäste, die nach dem Weg fragen"

"Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen", so formulierte es Montessori. Ihrer Theorie nach entwickeln sich Kinder in mehreren Stufen: Im ersten und wichtigsten Stadium bis zum sechsten Lebensjahr formten sich die Persönlichkeit und die Fähigkeiten eines Kindes. In der zweiten Phase bis zum zwölften Lebensjahr sei das Kind besonders empfänglich für Anreize aus der Umgebung. Montessori spricht von einer "Polarisation der Aufmerksamkeit", wenn das Kind in dieser sensiblen Periode eine Beschäftigung entsprechend seinen Bedürfnissen finde.

Dahinter stand ein Schlüsselerlebnis in der Kindertagesstätte Casa dei Bambini im römischen Arbeiterbezirk San Lorenzo, die sie ab 1907 wissenschaftlich leitete. Sie beobachtete ein Mädchen in völliger Versenkung mit einem Einsatzzylinder-Spiel, das sich durch nichts ablenken ließ. Aber sind solche Beobachtungen heute noch gültig? "Ja", sagt Völkel. Der Hirnforscher Manfred Spitzer nenne das "selektive Aufmerksamkeit". Neue Zeiten, neue Begriffe für dasselbe Phänomen, eine Selbstvergessenheit, die Völkel auch als "Flow" bezeichnet.

Auch Anne Frank, der kolumbianische Schriftsteller Gabriel Garcia Marquez oder Amazon-Gründer Jeff Bezos haben Montessori-Einrichtungen besucht. "Entscheidend ist das Gefühl der Zufriedenheit beim Lernen, damit sich die Persönlichkeit des Kindes entfalten kann", erläutert Völkel. "Wir wählen aus den Wissenschaften das aus, was dem Kind entspricht. Die Montessori-Schule ist eine interdisziplinäre Veranstaltung."

"Kosmische Erziehung"

Erst 1916 publizierte Montessori ihr Buch "L'autoeducatione", das die Montessori-Methode begründete. Protegiert von Benito Mussolini, wurde diese 1924 an den italienischen Schulen eingeführt. Zehn Jahre später ging Montessori auf Distanz zum faschistischen Mussolini-Regime, die Methode wurde verboten.

Auf Einladung der esoterischen Theosophischen Gesellschaft reiste die Pädagogin 1939 in Begleitung ihres 1898 geborenen Sohnes Mario nach Indien. Dort wurde sie nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von den Briten als "feindliche Ausländerin" interniert. In Indien entwickelte Montessori ihr Prinzip der "Kosmischen Erziehung", nach der jeder Mensch als Teil der Schöpfung und in Wechselbeziehung mit dem Ganzen eine besondere Aufgabe zu erfüllen habe.

Erst 1949 kehrte sie endgültig nach Europa zurück und lebte bis zu ihrem Tod am 6. Mai 1952 in den Niederlanden. Sie wurde auf dem katholischen Friedhof ihres letzten Wohnorts Noordwijk aan Zee begraben. Auf ihrem Grabstein steht: "Ich bitte die lieben Kinder, die alles können, mit mir zusammen für den Aufbau des Friedens zwischen den Menschen und in der Welt zu arbeiten."

Claudia Schülke (epd)


Kindertagesbetreuung in NRW verzeichnet ein leichtes Plus

Im März dieses Jahres haben fast 620.800 Mädchen und Jungen unter sechs Jahren eine Kindertagesbetreuung in Nordrhein-Westfalen in Anspruch genommen. Die Zahl stieg damit gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 3,2 Prozent, wie das Statistische Landesamt am 27. August in Düsseldorf mitteilte. Etwa 151.700 der betreuten Kinder waren noch keine drei Jahre alt. Damit wurden 3,1 Prozent mehr Kinder unter drei Jahren betreut als im Vorjahr.

Die Betreuungsquote der Kinder im Alter von drei bis unter sechs Jahren lag mit 91,1 Prozent etwas unter dem Vorjahresniveau (91,8 Prozent). Die Betreuungsquote bei den Unter-Dreijährigen legte dagegen um einen Punkt auf 29,2 Prozent zu. Regional variierten die Betreuungsquoten allerdings stark: In der Altersgruppe der Drei- bis Fünfjährigen hatte Duisburg mit 80,6 Prozent den niedrigsten Anteil an betreuten Kindern, im Kreis Borken war die Quote mit 98,2 Prozent am höchsten. Auch bei den Unter-Dreijährigen gab es starke Schwankungen. So lag demnach die Quote im Kreis Coesfeld bei 39,9 Prozent, in Duisburg bei 17,6 Prozent.

Für die Statistik wurden Mädchen und Jungen erfasst, die in Kindertageseinrichtungen oder der öffentlich geförderten Tagespflege betreut wurden. Aufgrund der zeitweiligen Schließung oder des eingeschränkten Betriebs der Kindertageseinrichtungen durch die Corona-Pandemie konnten einige Einrichtungen ihre Daten allerdings nicht rechtzeitig übermitteln, wie es hieß. Bei den vorliegenden Daten wird Schätzungen zufolge von einer "Untererfassung" von etwa 2.000 betreuten Kindern ausgegangen.



NRW.Bank legt Kredithilfen für gemeinnützige Organisationen auf

Nordrhein-Westfalen baut wegen der anhaltenden Corona-Krise seine Finanzhilfen für die Privatwirtschaft weiter aus. Neben weiterer Unterstützung für die kleinen und mittelständischen Unternehmen sind dabei ab sofort auch Kredite für gemeinnützige Organisationen möglich, wie Wirtschafsminister Andreas Pinkwart (FDP) am 24. August in Düsseldorf ankündigte. Ein entsprechendes Förderprogramm habe die landeseigene NRW.Bank aufgelegt.

Dem Minister zufolge können damit Stiftungen, Vereine und Verbände, aber auch Altenpflegeeinrichtungen oder Frauenhäuser mit 1,5 Prozent niedrig verzinste Kredite in Anspruch nehmen. Die Rechtsform oder Trägerschaft spielten dabei keine Rolle. Die jeweilige Hausbank sei zudem von der Haftung für die Kreditvergabe befreit. Diese werde zu 80 Prozent von der bundeseigenen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und zu 20 Prozent von der NRW.Bank übernommen. Die Laufzeiten der Kredite sollen bis zu zehn Jahre betragen können.

Seit Beginn der Corona-Krise haben nach Angaben Pinkwarts rund 450.000 kleine und mittelständische Betriebe sowie Solo-Selbständige 4,5 Milliarden Euro an Zuschüssen des Landes erhalten. Inzwischen sieht der Minister zwar die wirtschaftliche Talsohle durchschritten, doch weitere Finanzhilfen seien unerlässlich. Entsprechend werde die NRW.Bank mit erweiterten Angeboten helfen, "die Krise nachhaltig zu überwinden".

So soll die NRW.Bank ab sofort mit zusätzlichen 125 Millionen Euro etablierten Mittelständlern bei der Stärkung des Eigenkapitals helfen. Darüber hinaus kann die NRW.Bank nun im Rahmen des EU-Beihilferahmens befristet mit jeweils bis zu 800.000 in ein mittelständisches Unternehmen unterstützend investieren.

Zudem will die NRW.Bank gemeinsam mit der KfW die Digitalisierung der mittelständischen Wirtschaft voranbringen. Dazu können junge wie etablierte Betriebe Kredite für entsprechende Investitionen beantragen. Dafür stehe ein Volumen von bis zu 240 Millionen Euro bereit, hieß es. "Innovation und Digitalisierung tragen dazu bei, die Corona-Krise nachhaltig zu überwinden", betonte Pinkwart. Deshalb sei es wichtig, dass Unternehmen diese Zukunftsinvestitionen trotz der wirtschaftlichen Corona-Ausnahmesituation tätigen könnten.



Westfalen-Lippe: Mehr behinderte Menschen in eigener Wohnung

In Westfalen-Lippe leben sechs von zehn Menschen mit Behinderung in den eigenen vier Wänden. Mit 59 Prozent verzeichne der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) in seiner Region die zweithöchste "Ambulantisierungsquote" aller Flächenländer in der Bundesrepublik und den vierthöchsten Wert im Bundesvergleich hinter den Stadtstaaten Berlin, Hamburg und dem Landesverband Rheinland, erklärte der LWL am 26. August in Münster. Insgesamt finanziere der LWL Wohnunterstützung sowie Leistungen zu Arbeit und Beschäftigung im Rahmen der Eingliederungshilfe für rund 70.000 Menschen mit Behinderung.

"Menschen mit Behinderungen sollen, wie alle anderen, frei entscheiden können, wo und mit wem sie leben und wohnen möchten - im Heim, in einer Wohngemeinschaft oder einer eigenen Wohnung", erklärte der LWL-Sozialdezernent Matthias Münning. Eine eigene Entscheidung zu treffen, bedeute ein Mehr an Selbstbestimmung und Selbstständigkeit. Im Gebiet des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe erhalten demnach rund 53.000 Menschen mit Behinderung eine Wohnunterstützung der Eingliederungshilfe. Rund 31.000 von ihnen (59 Prozent) leben mit ambulanter Unterstützung in den eigenen vier Wänden.

Die Zahl der Menschen mit Behinderung, die Unterstützung der Eingliederungshilfe benötigen, steige in Westfalen-Lippe und deutschlandweit um rund zwei Prozent im Bundesschnitt bei den Leistungen zum Wohnen und um 0,7 Prozent im Bereich von Arbeit und Beschäftigung, erklärte der LWL Bundesweit bekämen knapp 408.000 Menschen mit Behinderung Unterstützung beim Wohnen und im Alltag, erklärte der Landschaftsverband. Davon lebe etwas mehr als die Hälfte (51 Prozent) mit ambulanter Unterstützung in den eigenen vier Wänden.

Der Kennzahlenvergleich in der Eingliederungshilfe wird den Angaben zufolge jährlich von der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Eingliederungs- und Sozialhilfe (BAGüS) veröffentlicht. Die aktuelle Ausgabe bezieht sich auf das Berichtsjahr 2018.



Gewaltprävention in Werkstätten für Menschen mit Behinderung

Knapp ein Fünftel der Geschäftsführungen und Räte von Werkstätten für Menschen mit Behinderung in NRW hat bisher die "Rahmenvereinbarung zur Qualitätssicherung und Gewaltprävention" unterschrieben. "Ich bin sehr zufrieden, mit der großen Zahl von Unterzeichnern", sagte der nordrhein-westfälische Arbeits- und Sozialminister Karl-Josef Laumann am 25. August in Düsseldorf. "Ich wünsche mir aber natürlich einen nahezu vollständigen Beitritt aller nordrhein-westfälischen Werkstätten samt den Interessenvertretungen."

Seit dem 22. Juni 2020 können sowohl Werkstätten, Werkstatträte als auch Interessenvertretung der Mitarbeitenden sowie Frauenbeauftragte der Einrichtungen der Vereinbarung beitreten. Die Akteure in den Werkstätten erklären sich damit einverstanden, dass sie binnen eines Jahres den Prozess für die Erarbeitung eines gemeinsamen Leitbildes, eines Gewaltpräventions- und Qualitätssicherungskonzeptes beginnen. Sollten Konzepte bereits vorhanden sein, so müssen sie auf erforderliche Ergänzungen hin überprüft und entsprechend ergänzt oder überarbeitet werden.



Saar-Straßenzeitung "Guddzje" veröffentlicht 50. Ausgabe

Die saarländische Obdachlosenzeitung "Guddzje" verkauft Anfang September ihre nunmehr 50. Ausgabe. Inspiriert von anderen Straßenzeitungen hätten vor mehr als zwanzig Jahren Fachleute und ehrenamtliche Helfer aus der Obdachlosenhilfe "Guddzje" gestartet, teilte die Redaktion in Saarbrücken mit. Als Alternative zum "Schnorren" solle sie die Möglichkeit bieten, der Gesellschaft auf Augenhöhe zu begegnen: Die Verkäufer sollen mindestens die Hälfte des Ausgabepreises erhalten. Im Saarland bekämen sie dank privater Spenden und Werbeanzeigen mittlerweile 90 Cent von jeder für 1,60 Euro verkauften Ausgabe, hieß es.

"Guddzje" ist den Angaben zufolge ausschließlich bei ausgewiesenen Straßenverkäufern erhältlich. Sie sind über ihre blauen Westen und den personalisierten Verkäuferausweis in der Saarbrücker Innenstadt zu erkennen.




Gesundheit

Makenpflicht an NRW-Schulen endet


Bilder zum Schulstart 2020/21, zum 1. September entfällt die Maskenpflicht im Unterricht
epd-bild / Jens Schulze
Das Ende der Maskenpflicht im Schulunterricht in NRW stößt auf ein geteiltes Echo. Lehrkräfte sind erleichtert, dass die Kommunikation wieder einfacher wird, aber in Sorge um den Gesundheitsschutz. Die Opposition fordert alternative Schutzmaßnahmen.

Lehrerverbände in NRW sehen den Wegfall der Maskenpflicht im Unterricht an den weiterführenden Schulen zwiespältig. "Sicherlich wird die Kommunikation im Unterricht ohne Maske deutlich erleichtert, da jedoch das Abstandhalten in den Klassenräumen nicht möglich ist, geht ein wichtiger Schutz verloren", erklärte der Landesvorsitzende der Lehrergewerkschaft VBE, Stefan Behlau, am 28. August in Dortmund. In der Corona-Krise zeigten sich nun die Folgen einer jahrelangen Unterfinanzierung der Schulen: "Personalmangel, Platzmangel und verspätete Digitalisierung sind unübersehbar."

Der Verband Lehrer NRW, der Lehrkräfte an Haupt- und Realschulen vertritt, begrüßte das Ende der Maskenpflicht im Unterricht. "Wir sind sehr froh, dass Schüler und Lehrkräfte nun buchstäblich durchatmen können", erklärte die Vorsitzende Brigitte Balbach. Jetzt komme es aber darauf an, Hygiene- und Abstandsregeln einzuhalten. "Gerade das ist in großen Klassen und engen Räumen nur schwer möglich."

Besorgt äußerte sich auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Es fehle an alternativen Konzepten, die eine Ausbreitung des Coronavirus in den Schulen verhindern könnten, sagte die GEW-Landesvorsitzende Maike Finnern der in Düsseldorf erscheinenden "Rheinischen Post" (29. August). "25 bis 30 Kinder oder Jugendliche über mehrere Stunden in einem Raum, der schlecht zu belüften ist - das ist fahrlässig", kritisierte sie. In anderen Ländern würden etwa die Klassen halbiert.

SPD und Grüne fordern andere Konzepte für Gesundheitsschutz

Auch SPD und Grüne forderten nach Aussetzen der Maskenpflicht im Unterricht andere Schutzkonzepte, um das Infektionsrisiko mit dem Coronavirus an Schulen einzudämmen. "Leider hat die Landesregierung die Zeit wieder nicht genutzt, um ein alternatives Konzept zu entwickeln", sagte SPD-Fraktionschef Thomas Kutschaty der Düsseldorfer "Rheinischen Post" (28. August). Dazu gehörten etwa mobile Testteams an Schulen, Schichtbetrieb im Präsenzunterricht, die Einführung von Kurzstunden, die Kooperation mit außerschulischen Lernorten und ein gezielteres Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen, so der SPD-Politiker. "Diese Fragen müssen jetzt geklärt werden."

Die Grünen-Landesvorsitzende Mona Neubaur sagte, jetzt räche sich, dass es weiterhin keinen Plan B für die Bildungseinrichtungen gebe. "Es ist ein halbes Jahr mit Corona-Krise ins Land gezogen, ohne dass die Regierung Laschet echte Alternativen zum Präsenz-Unterricht mit 30 Schülerinnen und Schülern in einem Raum entwickelt hat", sagte Neubaur der "Rheinischen Post" (28. August). Sie forderte kreative Lösungen für kleinere Lerngruppen und Unterrichtskonzepte mit einem ergänzenden teilweise digitalen Unterricht.

Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hatte am 27. August nach dem Bund-Länder-Gespräch über Corona-Schutzmaßnahmen mitgeteilt, dass die seit Schuljahresbeginn geltende Maskenpflicht im Unterricht für Schülerinnen und Schüler am kommenden Montag ausläuft. Außerhalb des Unterrichts, in den Schulgängen und auf dem Schulhof bleibe die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes aber bestehen.



Lockdown machte jugendliche Bewegungsmuffel noch träger


Jugendliche spielen Volleyball (Archivbild).
epd-bild / Stefan Arend
Bewegungsmuffel müssen nach Einschätzung der Sportpsychologin Chloé Chermette dringend dazu motiviert werden, Sport zu treiben. Während des Corona-Lockdowns hätten sich viele Jugendliche kaum bewegt.

Insbesondere bei Jugendlichen, die sich schon vor dem Lockdown kaum bewegt haben, bestehe nun die Gefahr, dass sich diese Phase des Bewegungsmangels weiter negativ auf ihr Bewegungsverhalten auswirkt. "Den Jugendlichen kann jetzt der Antrieb fehlen, sich aufzuraffen und sich überhaupt zu bewegen", sagte Chermette, die Dozentin der Deutschen Sporthochschule Köln ist, dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Es müsse verhindert werden, dass die Jugendlichen das Verhalten aus dem Lockdown beibehalten und zur Gewohnheit werden lassen, betonte die Sportwissenschaftlerin. Der Anteil der Jugendlichen in Deutschland, die sich schon vor dem Lockdown zu wenig bewegt haben, sei hoch: Drei Viertel der Mädchen und Jungen zwischen 12 und 18 Jahren komme nicht auf die empfohlenen 90 Minuten Bewegungszeit pro Tag in moderater bis hoher Intensität, erklärte die Expertin.

Äußere Anreize nötig

Jugendliche Bewegungsmuffel benötigten äußere Anreize, damit sie sich bewegen, betonte Chermette. "Eltern und Lehrer müssen Bewegung im Alltag anregen und antriggern." Wichtig sei, dass dabei kleine Ziele anvisiert werden, sagte die 41-Jährige. Sie empfiehlt Jugendlichen, statt mit dem Bus mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren oder statt des Aufzugs die Treppe zu nutzen. Eltern rät sie, mit ihren Kindern gemeinsame Sportaktivitäten zu betreiben - etwa eine Radtour, eine Joggingrunde oder einen Schwimmbadbesuch.

Die Sportwissenschaftlerin fügte hinzu, dass der Bewegungsmangel während des Corona-Lockdowns allein noch keine negativen gesundheitlichen Folgen für Kinder und Jugendliche berge. Das Risiko für Übergewicht, Adipositas und Bluthochdruck habe dadurch noch nicht zugenommen. "Dafür war die Zeit der Kontaktsperre, die Schulschließung und die Sperrung der öffentlichen Spiel- und Sportplätze zu kurz", erklärte Chermette.

epd-Gespräch: Patricia Averesch


Minister: Quarantäneverstoß rechtfertigt Inobhutnahme nicht

Briefe von Gesundheitsämtern, die bei Quarantäne-Verstößen eine Inobhutnahme von Kindern androhten, haben Verunsicherung bei den Eltern ausgelöst. Das Gesundheitsministerium mahnt die Ämter, "lebensnahe Lösungen" zu finden.

NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) dringt bei Corona-Verdachtsfällen in Familien auf "lebensnahe Lösungen", bei denen Eltern mit den Kindern zusammenbleiben sollten. Das werde er gegenüber den Gesundheitsämtern klarstellen und diese zudem nachdrücklich bitten, Maßnahmen, die nur Verunsicherung schürten, grundsätzlich nicht weiter anzudrohen, sagte Laumann am 27. August dem Evangelischen Pressedienst (epd). In der letzten Woche war auch in einigen Kreisen in Nordrhein-Westfalen ein Musterschreiben versendet worden, das Zwangsmaßnahmen bis hin zu Isolationsmaßnahmen androhte, wie das Gesundheitsministerium bestätigte.

"Ich kann mir keine Situation vorstellen, in denen allein ein Verstoß gegen Quarantäneregeln eine Herausnahme aus der Familie rechtfertigen könnte", unterstrich Laumann. Wenn in Nordrhein-Westfalen wegen eines Corona-Verdachtsfalls ein Kind in Quarantäne oder bei Erkrankung in Isolation müsse, sei es auf Aufgabe der Gesundheitsämter, lebensnahe Lösungen zu finden, die den Gesundheitsschutz gewährleisten. "Das bedeutet für mich: Lösungen, in denen Eltern und Kinder zusammenbleiben sollten." Dem Gesundheitsministerium seien keine Fälle bekannt, in denen Kinder wegen einer Quarantänemaßnahme aus Familien herausgenommen oder Zwangsmittel angewendet worden wären.

Kritik an Drohschreiben von Gesundheitsämtern

Auch NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) erklärte: "Die Androhung von Inobhutnahmen im Zusammenhang mit Quarantäne führen zu Misstrauen und sind zu unterlassen." Die Familien in Nordrhein-Westfalen hätten in den letzten Monaten besonders unter der Corona-Pandemie gelitten, sagte er dem epd. "Gerade deshalb sollten sämtliche Behörden bei der Umsetzung erforderlicher Maßnahmen sensibel agieren statt diese zu verunsichern."

Die Schreiben von Gesundheitsämtern, die Zwangsmaßnahmen bis hin zu Isolationsmaßnahmen androhten, hätten verständlicherweise bei vielen Bürgerinnen und Bürgern zu Irritationen geführt, erklärte das Gesundheitsministerium. Deshalb seien daraufhin alle Gesundheitsämter in NRW gebeten worden, beim Versand von Standardschreiben Rücksicht auf die besonderen Umstände von Kindern und Jugendlichen bei Quarantänevorgaben zu nehmen. Das Ministerium werde gegenüber den Gesundheitsämtern klarstellen, "dass ein Kindesentzug allein aufgrund von Verstößen gegen Quarantäneregeln nicht infrage kommt", hieß es.

Nach einem Bericht der Bielefelder "Neuen Westfälischen" (27. August) war Eltern unter anderem in Bielefeld, dem Kreis Herford sowie im Märkischen Kreis im Sauerland in den vergangenen Tagen von den Gesundheitsämtern mitgeteilt worden, dass bei Verstößen gegen die Quarantäne-Anordnungen ein Kindesentzug drohe. Schreiben mit der Androhung von Kindesentzug sollen auch Gesundheitsämter in Niedersachsen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Baden-Württemberg verschickt haben.



Martinsumzüge und Karneval in Corona-Zeiten gefährdet?


Martinsumzüge müssen in Corona-Zeiten anders geplant werden (Archivbild).
epd-bild / Andrea Enderlein
Angesichts der Corona-Pandemie stehen nun auch Brauchtumsveranstaltungen wie Martinsumzüge und Karnevalsfeiern infrage. Parteien und Verbände fordern kreative Lösungen. Unterdessen werden bereits einzelne Weihnachtsmärkte abgesagt.

Kleinere Feiern statt großer Umzüge: Mit Blick auf die Gefahren durch das Coronavirus mahnen Politiker und Verbände, dass Feste zu St. Martin oder Karneval nicht im sonst üblichen Umfang stattfinden können. "Wie alle anderen Veranstaltungen werden auch St. Martinsumzüge in diesem Jahr etwas anders ausfallen müssen, um dem Infektionsschutz Rechnung zu tragen", sagte der gesundheitspolitische Sprecher der NRW-Grünen, Mehrdad Mostofizadeh, der in Düsseldorf erscheinenden "Rheinischen Post" (27. August). Denkbar seien allenfalls St. Martinsumzüge im Klassenverband und in den Kita-Gruppen.

Der Deutsche Kita-Verband NRW mahnt ebenfalls zur Vorsicht. "Ich finde, dass die Kitas in diesem Jahr wegen der Pandemie nach kreativen Lösungen suchen sollten, das St.-Martinsfest auch ohne einen Zug feiern zu können", sagte der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende Klaus Bremen der Zeitung. "Man könnte zum Beispiel eine kleine Zusammenkunft mit den Kindern und Eltern auf dem Außengelände der Kita veranstalten und dabei um ein Feuer herum die Martinsgeschichte erzählen", schlug er vor. Komplett ausfallen sollten die Veranstaltungen zum Martinstag aber nicht.

SPD-Chef wirbt für kreative Lösungen

Auch beim Karneval plädieren Politiker dafür, das närrische Treiben nicht komplett abzusagen. "Wir können einer ganzen Region nicht vorschreiben, sich an den tollen Tagen zu Hause zu verkriechen", sagte SPD-Chef Norbert Walter-Borjans den Zeitungen der Essener Funke-Mediengruppe (27. August). Stattdessen müssten Politik und Behörden gemeinsam mit den Karnevalsveranstaltern Angebote schaffen, die den Gesundheitsschutz berücksichtigten. Eine Absage würde ansonsten dazu führen, "dass Massen von Jecken gänzlich ungesteuert durch die Karnevalshochburgen ziehen und feiern".

Die "fünfte Jahreszeit" vom 11. November an könne sicher nicht wie gewohnt ablaufen, betonte Walter-Borjans. "Menschen dicht an dicht in Brauhäusern oder in langen Warteschlangen vor Toiletten-Häuschen wären in der Pandemie unverantwortlich." Das gelte auch für die Rosenmontagszüge mit Millionen Menschen auf den Straßen. Nötig seien kreative Lösungen für überschaubare und weniger riskante Feier-Alternativen.

Erste Weihnachtsmärkte abgesagt

Derweil geht auch die Diskussion um die Durchführung von Weihnachtsmärkten in Corona-Zeiten weiter. Den Weihnachtsmarkt am Dom in Köln sagten die Veranstalter bereits ab. Auch den Engelchenmarkt auf dem Heinrich-Heine-Platz in Düsseldorf werde es in diesem Jahr nicht geben, weil dort die Hygieneauflagen nicht umzusetzen seien, sagte eine Sprecherin der Düsseldorf Tourismus GmbH dem Evangelischen Pressedienst (epd). Grundsätzlich gehe man jedoch davon aus, dass der Weihnachtsmarkt in der Landeshauptstadt - unter Berücksichtigung der dann geltenden Corona-Schutzverordnung des Landes - stattfinden könne.

"Sehr zuversichtlich" zeigte sich auch der Sprecher der Essen Marketing GmbH, dass man den Weihnachtsmarkt in der Stadt durchführen könne. Man werde die Hygieneauflagen in Absprache mit der Stadt umsetzen, derzeit sei aber noch unklar, wie die Vorgaben dann aussehen.



Eltern beantragten im Frühjahr kaum Kinderkrankengeld


Eltern mit Kind
epd-bild / Rolf Zöllner
Während des Corona-Lockdowns wurden Arbeitnehmer frei gestellt oder wechselten ins Homeoffice. Die Eltern darunter hatten dadurch mehr Zeit für ihre Kinder, wie eine DAK-Statistik vermuten lässt. So gingen Kinderkrankengeld-Anträge stark zurück.

Während des Corona-Lockdowns im Frühjahr haben nach Angaben der DAK Gesundheit deutlich weniger berufstätige Eltern ein Kinderkrankengeld in Anspruch genommen als 2019. Im Vergleich zum Vorjahr ist bei den Fällen, in denen Erziehungsberechtigte Krankengeld für die Betreuung ihrer Kinder bezogen haben, im April und Mai ein Minus von je 83,9 und 81,6 Prozent verzeichnet worden, wie aus Daten der Krankenkasse hervorgeht, die dem Evangelischem Pressedienst (epd) vorliegen. Während im März noch bundesweit 16.621 Eltern ihre Ansprüche gelten gemacht haben, waren es demnach im April nur noch 2.174. Ein Jahr davor waren es 13.485 gewesen.

Im Ländervergleich ging bei der DAK die Zahl der Kinderkrankengeld-Anträge im April und Mai in Bremen am stärksten zurück (minus von je 93,1 und 95,3 Prozent zu 2019), gefolgt von Hamburg (je minus 91,8 und 88,3 Prozent). Im Mittelfeld lag Nordrhein-Westfalen (je minus 84,8 und 80,9 Prozent). In Brandenburg und Sachsen-Anhalt verzeichnete die DAK in beiden Monaten je ein Minus um 79 Prozent. Zuerst hatten die Zeitungen der Essener Funke Mediengruppe (29. August) darüber berichtet.

DAK Gesundheit begrüßt geplante Neuregelung

Während des Lockdowns habe es in zahlreiche Unternehmen betriebsspezifische Freistellungen von Beschäftigten gegeben, erklärte ein DAK-Sprecher. Auch seien viele Mitarbeiter ins Homeoffice gewechselt. "Dazu kam die Kurzarbeiterregelung." Das habe zusammengenommen offensichtlich dazu geführt, dass im Gegensatz zum Jahr 2019 häufig kein Kinderkrankengeld in Anspruch genommen worden sei.

DAK-Vorstandschef Andreas Storm begrüßte die geplante Neuregelung der großen Koalition, wonach Eltern künftig zusätzlich fünf Tage bei ihrem kranken Kind verbringen können. "Die Ausweitung des Kinderkrankengeldes ist richtig", sagte er. Es sei wichtig, Eltern und insbesondere Alleinerziehende in der Corona-Zeit zu unterstützen, "damit sie ohne finanzielle Nachteile ihre kranken Kinder pflegen können".

Gesetzlich versicherte Eltern haben pro Kalenderjahr Anspruch auf je zehn freie Arbeitstage für die Pflege eines Kindes unter zwölf Jahren. Zahlt der Arbeitgeber in dieser Zeit kein Gehalt, springt die Krankenkasse mit dem Kinderkrankengeld ein.



Marburger Bund begrüßt Sonderinvestition in NRW-Kliniken


Intensivstation einer Klinik
epd-bild / Werner Krüper
In der Corona-Krise zeigte sich die Krankenhausversorgung in NRW flexibel. Doch Ärzte-Verband und Caritas befürchten ein Aus dieses Standortvorteils. Sie fordern vor allem: mehr Investitionen und Abschaffung der Fallpauschalen.

Der Verbund der Krankenhausärzte Marburger Bund NRW/Rheinland-Pfalz fordert mehr Investitionen in nordrhein-westfälische Krankenhäuser. Die bislang erfolgte Sonderinvestition von Bund und Land in Milliardenhöhe, auch in Pflegeschulen, sei zwar ein Schritt in die richtige Richtung, erklärte am 24. August der Landesvorsitzende Hans-Albert Gehle in Köln. Aber damit sei der über Jahrzehnte aufgelaufene Investitionsstau noch längst nicht aufgelöst. "Die Gesundheitspolitik in NRW steuert zwar endlich in die richtige Richtung, aber nur, wenn sie die benötigen Investitionsmittel auch dauerhaft bereitstellt, wird die Landesregierung ihrer gesetzlichen Verantwortung gerecht", mahnte der Mediziner.

Die Situation bei den Kinderkliniken zeige überdeutlich, dass man sich nicht nur in der Kindermedizin, sondern in sämtlichen medizinischen Krankenhausbereichen von den sogenannten Fallpauschalen lösen müsse, erklärte der Landesvorsitzende des Marburger Bundes. Seit Jahren verweise der Klinikärzteverband auf negative Auswirkungen durch das Fallpauschalen-System. Bereits vor zwei Jahren sei auf der Hauptversammlung in einem Positionspapier deutlich gemacht worden, dass allein Geburtshilfe und Kinderheilkunde nicht mehr kostendeckend zu leisten seien.

Forderung nach Abschaffung der Fallpauschalen

"Wir sind heute unverändert der Überzeugung, dass das Krankenhausfinanzierungssystem durch ein neues Vergütungssystem ersetzt werden muss, das die Kosten der aus ärztlicher Sicht nötigen Versorgung der Patienten auch tatsächlich abdeckt", forderte Gehle. Die in der Politik im Rahmen der Qualitätsdebatte angekündigten neuen Mindestmengen bestimmter Behandlungen halte der Verband als Lösungsansatz für untauglich. Hier würden nur erneut Anreize geschaffen, um ärztliche Leistungen so auszuweiten, dass die Existenz der Kliniken gesichert ist.

Gerade die Corona-Pandemie habe der Politik drastisch vor Augen geführt, wie lebenswichtig eine ausreichende medizinische Versorgungskapazität sei. "Klar wurde ebenso: Ein rein nach ökonomischen Kriterien aufgebautes Krankenhausfinanzierungssystem kann den tatsächlichen medizinischen Erfordernissen unserer Krankenversorgung und damit einer sinnvollen Krankenhausplanung nicht gerecht werden", erklärte Gehle.

Auch die Caritas NRW als Trägerin von rund 200 Krankenhäusern äußerte sich ähnlich. Der katholische Wohlfahrtsverband fordert die Landesregierung in einem Positionspapier auf, Konsequenzen aus der Corona-Pandemie zu ziehen und bei der Krankenhausplanung die Daseinsvorsorge in den Mittelpunkt zu stellen. Könne zurzeit ein kleineres Krankenhaus keine bestimmte Mindestanzahl beispielsweise von Geburten oder Hüftoperationen vorweisen, entfalle letztlich die Refinanzierung des Landes - mit der Folge, dass kleinere Krankenhäuser ganze Abteilungen schließen müssten.

Auch bestehe dringender Handlungsbedarf bei der Verpflichtung der Krankenhäuser, bestimmte Leistungen rund um die Uhr vorzuhalten. Dies werde durch das derzeitige Vergütungssystem nur unzureichend berücksichtigt, kritisierte die Caritas. Diese Unterfinanzierung verschärfe sich, wenn die Kliniken planbare Leistungen aus ihrem Leistungsspektrum nicht mehr anbieten können. Zugleich seien durch die Möglichkeit, zusätzliche Leistungsbereiche aufzubauen, unerwünschte Effekte wie ein versorgungsgefährdender Wettbewerb zu beobachten.



Initiative "Gesunde Krankenhäuser in NRW" gestartet

Vertreter von Sozialverbänden, Gewerkschaften und Gesundheitsinitiativen sind am 26. August vor dem Düsseldorfer Landtag mit einer Unterschriftenkampagne für eine bessere Finanzierung des Gesundheits- und Krankenhauswesens an den Start gegangen. Rund 40 Teilnehmer informierten mit Ständen und Transparenten über ihre Forderungen unter anderem nach einer besseren Personalausstattung an Krankenhäusern und einer Abschaffung der Fallpauschalen, wie Michael Spörke vom Sozialverband SoVD in NRW dem Evangelischen Pressedienst (epd) sagte. Auf dem Programm standen auch Gespräche mit Abgeordneten der Oppositionsfraktionen von SPD und Grünen.

Mindestens 66.000 Unterschriften würden für die Volksinitiative benötigt, damit sich der Landtag mit dem Thema befassen müsse, erläuterte Spörke. Unterschriften könnten auch über die Kampagnenseite www.gesunde-krankenhaeuser-nrw.de geleistet werden. Die Kampagne fordert mehr Personal in den Krankenhäusern sowie eine gesetzliche Personalbemessung. "Wir fordern ein gemeinwohlorientiertes Gesundheitswesen, in dem keine Profite erwirtschaftet werden." Die Landesregierung sei aufgefordert, sich über eine Bundesratsinitiative für die Abschaffung der Fallpauschalen (DRG) einzusetzen.

Unterschriftenkampagne

Getragen wird die Volksinitiative "Gesunde Krankhäuser in NRW" neben dem SoVD in NRW unter anderem von örtlichen Bündnissen, von der Gewerkschaft ver.di NRW, attac, dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte, dem Gesundheitsladen Köln und der Selbsthilfegemeinschaft Spina Bifida und Hydrocephalus.

Auch die SPD-Fraktion im Düsseldorfer Landtag ist für eine Abschaffung der Fallpauschalen in der Kinder- und Jugendmedizin. Einen entsprechenden Antrag will die Fraktion Medienberichten zufolge diese Woche in den Landtag einbringen. Die SPD fordert die Landesregierung auf, sich einer Bundesratsinitiative Mecklenburg-Vorpommerns anzuschließen. Auch der Krankhausärzte-Verband Marburger Bund Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sowie die Caritas NRW als Trägerin von 200 Krankenhäusern verlangen eine Abschaffung des Fallpauschalensystems und mehr gesicherte Investitionen in die Krankenhauslandschaft insgesamt.

NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hatte der Düsseldorfer "Rheinischen Post" (25. August) gesagt, dass er im bestehenden System der diagnosebezogenen Fall-Pauschalen (DRG) zwar Schwächen sehe, es aber nicht für sinnvoll halte, nur den Bereich der Kindermedizin herauszulösen. Das DRG-System könne man nur abschaffen, wenn es eine Alternative gebe.

Hintergrund ist, dass sich die Landesregierung vorgenommen hat, die Krankenhausplanung in Nordrhein-Westfalen weiterzuentwickeln. Ein Gutachten wurde im September vergangenen Jahres vorgestellt. Die Landesregierung kündigte an, bis Jahresende 2020 einen neuen Krankenhausplan vorzulegen.



Barmer-Studie: Teenager schlafen schlechter als früher


Ein Jugendlicher checkt vorm Schlafengehen seine Nachrichten.
epd-bild / Stefan Arend

Teenager in Deutschland schlafen heute schlechter als vor 15 Jahren. Aus einer Auswertung der Barmer-Krankenkasse, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt, geht hervor, dass bei Jugendlichen die Schlafstörungen besonders stark zugenommen haben. Danach ist bei den 15- bis 19-Jährigen und bei den 20- bis 24-Jährigen jeweils ein Plus an diagnostizierten Schlafproblemen um rund 170 Prozent in den Jahren von 2005 bis 2018 zu verzeichnen.

Allerdings zeigen die Zahlen lediglich einen Trend, da sie bundesweit insgesamt niedrig sind. 2018 hatten rund 25.100 Teenager und rund 45.600 junge Erwachsene anhaltende Schlafstörungen, die sie zum Arzt gehen ließen.

Insgesamt wurden den Analysen der Barmer zufolge 2018 bei rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland Schlafprobleme diagnostiziert. Vor allem im Süden und Westen liegen viele junge Menschen nachts wach. Während in Bayern, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen jeweils rund 25 von 1.000 Einwohnern mit Schlafstörungen zu kämpfen haben, sind es in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hessen und Sachsen nur zwischen 15 und 18 Personen pro 1.000 Einwohner. Bremen, Brandenburg, Baden-Württemberg und Berlin liegen im Mittelfeld. In Thüringen und Hamburg wurden etwas weniger Schlafstörungen diagnostiziert als im Bundesdurchschnitt.

Die großen regionalen Unterschiede seien rein medizinisch nicht erklärbar, hieß es seitens der Barmer. Dafür seien weitere Untersuchungen erforderlich. Die Prozentangaben zur Schlaflosigkeit in Deutschland wurden aus Versichertendaten der Barmer auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet.



Saarland finanziert zusätzliche Schulbusse

Um überfüllte Busse in Corona-Zeiten zu vermeiden, will die saarländische Verkehrsministerin Anke Rehlinger (SPD) zusätzliche Busse zur Schülerbeförderung finanzieren. "Die Verantwortlichen für einen bedarfsgemäßen Einsatz der Busse sind und bleiben die ÖPNV-Aufgabenträger und die Schulträger, aber wir greifen ihnen jetzt unter die Arme - aus Verantwortung für das große Ganze", sagte sie am 25. August in Saarbrücken. Ein entsprechendes Förderprogramm werde zurzeit erstellt, in der kommenden Woche könnten erste zusätzliche Busse fahren.

Die saarländischen Verkehrsunternehmen hätten dem Ministerium rückgemeldet, dass etwa 100 Busse zusätzlich mobilisierbar seien, hieß es. "Ich will, dass so schnell wie möglich jeder fahrtüchtige Bus im Saarland eingesetzt wird, damit unsere Kinder gut und sicher in die Schule kommen", sagte Rehlinger. Die Kosten würden den Kommunen komplett aus Mitteln des ÖPNV-Rettungsschirms erstattet.



Forschungsprojekt für gesundheitliche Selbstbestimmung Behinderter


Inklusiver Lauftreff
epd-bild/Andrea Enderlein

Ein wissenschaftliches Pilotprojekt in Nordrhein-Westfalen will die gesundheitliche Selbstbestimmung von Menschen mit geistiger Behinderung stärken. Ziel ist es, dass die Bewohner von ambulanten und stationären Einrichtungen ihre Ernährungswünsche und Bedürfnisse nach sportlicher Aktivität besser als bisher umsetzen können, wie die Projektplaner am 25. August in Düsseldorf mitteilten.

"Gesund leben: Besser so wie ich es will!" ist der Titel des Projekts, das der Verband der Ersatzkassen (vdek) und das Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport (FIBS) gemeinsam entwickelt haben. Die Schirmherrschaft hat die NRW-Landesbeauftragte für Patienten und Menschen mit Behinderung, Claudia Middendorf, übernommen. Beteiligt sind drei Wohneinrichtungen, darunter das Haus Jona der Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen.

"Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen haben bislang nur wenig Einflussmöglichkeiten, ihr Leben den eigenen gesundheitlichen Vorstellungen entsprechend zu gestalten", erläuterte der Leiter der vdek-Landesvertretung NRW, Dirk Ruiss. Vor diesem Hintergrund sind 17 Bewohner der drei Einrichtungen und deren Angehörige in das Projekt einbezogen. Damit können sie stellvertretend für andere Vorstellungen einbringen und die Alltagstauglichkeit des Projekts sichern, das von den Ersatzkassen finanziert wird.

Zu einem selbstbestimmten Leben in den Einrichtungen gehörten gesundheitliche Prävention und damit Ernährung sowie Sport dazu, betonten die Projektorganisatoren. Entsprechend müssten die Bewohner ihre Ansprüche aber auch umsetzen können. Das setze Änderungen in den organisatorischen Rahmenbedingungen in den Wohneinrichtungen voraus. Daher sind Schulungen für die Mitarbeiter der Einrichtungen Teil des auf drei Jahre angelegten Projekts. Der Aufbau eines Netzwerks unter den Einrichtungen soll die gewonnenen Erkenntnisse später in die Breite tragen. Das Projekt schaffe damit die Möglichkeit, wichtige Erkenntnisse zu gewinnen und viele Menschen zu erreichen", betonte Middendorf.




Medien & Kultur

Ein Orgel-Konzert für Generationen


Neuer Orgelton beim Cage-Konzert in Halberstadt.
epd-bild / Frank Drechsler
"So langsam wie möglich" soll gespielt werden: Sieben Jahre lang ertönte beim Cage-Orgelprojekt ein Fünfklang. Nun wird weitergespielt, mit zwei neuen Tönen. 639 Jahre soll das Konzert dauern. Doch die Organisatoren plagen finanzielle Sorgen.

"Der aktuelle Sound changiert zwischen Maschinenraum und Hamburger Hafen" - so beschreibt der Kuratoriumsvorsitzende der John-Cage-Orgel-Stiftung, Rainer O. Neugebauer, das Hörerlebnis, das Besucher in der Burchardi-Kirche in Halberstadt in Sachsen-Anhalt aktuell erwartet. "Im Moment ist das ein sehr gut auszuhaltender, harmonischer Klang." Am 5. September gibt es nun nach sieben Jahren wieder einen Klangwechsel. Ab diesem Tag, dem 108. Geburtstag des US-amerikanischen Komponisten und Avantgardekünstlers John Cage (1912-1992) werde es noch "voller klingen", verspricht Neugebauer. Es ist der 14. Klangwechsel in diesem außergewöhnlichen Orgel-Kunst-Projekt, das im Jahr 2001 begann und erst im Jahr 2640 enden soll.

Es handelt sich um ein ambitioniertes wie ungewöhnliches Langzeitprojekt: 639 Jahre beträgt die Spieldauer der gesamten Aufführung "ORGAN2/ASLSP" (As SLow aS Possible), auf deutsch: So langsam wie möglich. Dahinter stecke auch ein zen-buddhistischer Gedanke, die Dinge erst einmal so zu nehmen wie sie seien, sagt Neugebauer. Er habe selbst auch "ganz neu hören gelernt" durch dieses Konzert. Für manche ist es eine Ewigkeitserfahrung.

Wachsendes Publikumsinteresse

Seit dem 5. Oktober 2013 erklingen fünf Orgelpfeifen, c‘(16‘), des‘(16‘), dis‘, ais‘ und e‘‘; dabei treibt ein Elektromotor den Blasebalg der Orgel an. Nun kommen zwei neue Pfeifen, gis und e‘, hinzu. Damit endet der längste ununterbrochene Klang des ersten, auf 71 Jahre angelegten Teils des Orgelstücks. Die Leitung für den bevorstehenden Klangwechsel hat Neugebauer, der Cage selbst einmal bei einem Auftritt Ende der 1970er Jahre in Bonn erlebt hat.

Das Publikumsinteresse ist über die Jahre stark gewachsen, auch international wurde das Projekt viel beachtet. Waren es zu Beginn lediglich zehn Cage-Fans, die den Klangwechsel verfolgten, drängten zuletzt vor sieben Jahren rund 1.500 Menschen in die Burchardi-Kirche, um bei dem Ereignis dabei zu sein. Spätestens da war klar, dass die Besucherströme aufgrund von Sicherheitsbedenken stärker begrenzt werden müssten.

Zusätzliche Einschränkungen gibt es nun in diesem Jahr noch durch die Corona-Pandemie. Rund um die Orgel selbst können nur 200 Menschen mit Eintrittskarten der "eigensinnigen Zeit- und Klangerfahrung" beiwohnen. Es gelten Abstands- und Hygieneregeln und Mund-Nasenschutz-Pflicht. Aber die John-Cage-Orgel-Stiftung organisiert für weitere Interessenten vor der Burchardi-Kirche zusätzlich eine Videoübertragung. Diese kann auf dem Gelände von etwa 1.000 Menschen verfolgt werden. Immerhin besteht nach dem Klangwechsel noch die Möglichkeit, in Gruppen durch die Kirche zu gehen.

Der finanziellen Absicherung der Zukunft des Projektes sieht die Stiftung indes mit Sorge entgegen. In den vergangenen 20 Jahren wurden fast eine Million Euro über Spenden und Eigenmittel für das ehrenamtliche Projekt eingeworben und aufgebracht. Das Spendenaufkommen ist aber rückläufig.

Alle "Klangjahre" verkauft

Ein Großteil der Spenden wurde mit dem Verkauf von "Klangjahren" eingeworben. Nun seien aber fast alle "Klangjahre" verkauft, sagt Neugebauer. "Wir müssen uns jetzt ernsthaft Gedanken machen, wie es weitergeht." Wegen der Corona-Pandemie sind zudem die Besucherzahlen deutlich zurückgegangen, insbesondere Gruppen haben ihre Reisen nach Halberstadt storniert. Normalerweise zählt die Stiftung rund 10.000 Besucher pro Jahr. Daran hängen natürlich auch weitere Spenden oder der Verkauf von Materialien wie Broschüren.

Von der Finanzierung abgesehen blickt Neugebauer hinsichtlich der nächsten 620 Jahre Konzertdauer sowieso in eine ungewisse Zukunft: "Wir wissen nicht, ob das Projekt wirklich so lange läuft wie geplant. Vielleicht sagt die Gesellschaft dann auch, was soll dieser Quatsch?! Oder sie sagen: Das soll so langsam wie möglich sein? Das können wir noch langsamer." Neugebauer meint: "Es ist ein Projekt der Hoffnung. Wenn das Projekt bis zum Ende am 4. September im Jahr 2640 durchhält, dann hat diese kleine Kirche in Halberstadt noch nie so lange Frieden erlebt."

Bis dahin wird der Blasebalg der Cage-Orgel Tag und Nacht langsam weiterpusten und damit den Ton halten. Oder mehrere Töne, zumindest bis zum nächsten Ziel, dem nächsten Klangwechsel. Auf diesen müssen Cage-Fans dann nicht mehr sieben Jahre warten wie dieses Mal: Der 15. Klangwechsel soll bereits am 5. Februar 2022 über die Bühne gehen.

Von Romy Richter (epd)


Wie ein Geschenk für Göring Köln einen Goldbecher einbrachte


Corpus delictii: der vergoldete Renaissance-Becher aus dem 16. Jahrhundert
epd-West/Claudia Rometsch
Köln ist stolz darauf, als erste deutsche Stadt eine museumsübergreifende Stelle für Provenienzforschung etabliert zu haben. Nun haben die Forscher erste Einblicke in ein neues Projekt zur NS-Raubkunst am Museum für Angewandte Kunst Köln gegeben.

Häufebecher waren im 16. und 17. Jahrhundert begehrte Sammelobjekte. Die niedrigen Silberbecher hatten nur einen kleinen Fußrand und konnten so praktischerweise gestapelt werden. Auch 1938 waren die Sammlerstücke noch heiß begehrt - zumindest in Köln. Dort träumten die Stadtoberen davon, der kunstgewerblichen Sammlung unter anderem durch den Erwerb eines solchen wertvollen Trinkgefäßes internationale Ausstrahlung zu verleihen. Als Generaldirektor der kunstgewerblichen Sammlungen ließ sich Adolf Feulner vom Luzerner Kunsthändler Theodor Fischer einen reich verzierten Häufebecher aus dem 16. Jahrhundert zur Ansicht schicken.

Allerdings fehlte letztlich das Geld zum Ankauf. Wie kommt es also, dass der Renaissance-Becher letztlich doch als Schenkung in der Kölner Sammlung landete? War es eine großzügige Wohltat des Schweizer Händlers? Im Rahmen eines Mitte Juli gestarteten Forschungsprojekts gingen Kölner Provenienzforscher der Geschichte des Trinkgefäßes auf den Grund.

Zweifelhaftes Tauschgeschäft

Die Forschungen belegen, dass das Trinkgefäß als Ergebnis eines politisch motivierten Tauschgeschäftes nach Köln kam. "Der Becher war die Initialzündung zu dem Projekt", sagt die Leiterin der Dokumentation im Kölner Museum für Angewandte Kunst, Nuray Amrhein. Der 14,5 Zentimeter hohe, vergoldete Silberbecher ist rundum mit Hinterglasbildern der sieben Planetengötter der Kuppa verziert. Als sich ein Kunsthistoriker mit diesen speziellen Malereien beschäftigte, sei das Stück in den Fokus geraten, sagt Amrhein. Aufmerksam wurde die Expertin, weil Fischer als eine der zentralen Figuren des Handels mit NS-Raubkunst in der Schweiz gilt.

Die Kölner Provenienzforscher fanden heraus, dass das Tauschgeschäft zwischen Fischer und der Stadt Köln auf den Ankauf eines Geschenks für den führenden NS-Politiker Hermann Göring zurückgeht. Die Stadtoberen schenkten Görings Tochter 1938 zur Taufe ein Bild Lucas Cranach d.Ä., das sie bei Kunsthändler Fischer erwarben. Der Haken: "Sie konnten das Bild letztlich wegen fehlender Devisengenehmigungen nicht bezahlen", erklärt Marcus Leifeld von der museumsübergreifenden Stelle für Provenienzforschung der Stadt Köln.

So bot die Stadt Fischer ein Tauschgeschäft an: Er sollte sich ein Bild aus den städtischen Sammlungen aussuchen. Fischers Wahl fiel auf ein Gemälde Vincent van Goghs, das jedoch deutlich mehr wert war, als das Cranach-Bild. So musste der Kunsthändler sozusagen "Wechselgeld" herausgeben - in Form von Kunstgegenständen. Darunter auch der begehrte Häufebecher. Allerdings sei die ursprüngliche Herkunft des Bechers noch nicht restlos geklärt, sagt Amrhein. Fischer erwarb ihn wohl aus einer Schweizer Sammlung. "Aber da müssen wir noch weiter nachgraben."

Knapp 400 Objekte werden auf mögliche NS-Raubkunst überprüft

Der Häufebecher ist nur eines von knapp 400 Objekten, die zwischen 1933 und 1945 in das Museum gelangten. Zwei Jahre haben die Forscher im Rahmen des vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderten Projektes Zeit, um diese Stücke auf ihre Herkunft zu prüfen, darunter Porzellan, Möbel oder Gläser.

Köln hatte 2007 als erste deutsche Stadt eine zentrale und museumsübergreifende Stelle für Provenienzforschung geschaffen. Der Historiker Leifeld und die Kunsthistorikerin Britta Olényi von Husen prüfen im Auftrag der Stadt die Herkunft von Kunstwerken und Objekten aus den neun kommunalen Museen. Dabei arbeiten sie eng mit den Experten aus den einzelnen Häusern zusammen.

Bislang wurden laut von Husen rund 4.000 Stücke untersucht. 23 davon seien den Nachkommen der rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben worden. Fast die Hälfte der restituierten Werke seien den Museen dennoch erhalten geblieben, teils durch Rückkauf oder als Dauerleihgabe. Die Stadt wolle die Provenienzforschung weiter voranbringen, sagt Kulturdezernentin Susanne Laugwitz-Aulbach. Anfang des Jahres wurden die halben Stellen Leifelds und von Husens auf jeweils eine ganze Stelle aufgestockt. "In neun kommunalen Museen treten eben immer wieder neue Zweifelsfälle zutage", sagt Laugwitz-Aulbach.

Claudia Rometsch (epd)


Ausstellung befasst sich mit dem "Überlebenskünstler Mensch"


Ausstellungsteil zur "Mission Mars" mit Modell des roten Planeten
epd-bild/Angelika Osthues
Welche Eigenschaften ermöglichen es dem Menschen, sich immer wieder widrigsten Umständen anzupassen und wird das auch in Zukunft so sein? Das Naturkundemuseum in Münster geht in einer Themenausstellung mit über 1.000 Objekten diesen Fragen nach.

Die Konstruktion hängt über den Köpfen der Besucherinnen und Besucher und sieht sehr kompliziert aus. Es handelt sich um einen Nachbau der ISS, der Internationalen Raumstation, die 1998 ins All geschossen und seitdem ständig erweitert wurde. Das Modell misst 2,7 mal 1,9 Meter und besteht aus 8.000 Einzelteilen, die eine Modellbaufirma eigens für das LWL-Museum für das Naturkundemuseum in Münster hergestellt hat. Das Team vor Ort hat es in mühevoller Kleinarbeit zusammengebaut. Es ist eines der eindrucksvollsten Objekte der neuen Jahresausstellung "Überlebenskünstler Mensch", die bis September 2021 zu sehen ist.

Im Mittelpunkt der großen Themenschau stehen vier große Fragen: Was macht uns aus? Wie haben wir uns verbreitet? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? "Um diese Fragen zu beantworten, beleuchten wir Kerneigenschaften des Menschen, stellen unterschiedliche Lebensräume vor und fragen nach der Zukunft unseres Planeten", sagt Museumsdirektor Jan Ole Kriegs.

Sonnenkompass von Antarktis-Forscher Robert Falcon Scott

Dazu haben die drei Ausstellungsmacherinnen Lisa Klepfer, Ramona Dölling und Hanna Rüschoff mehr als 1.000 Objekte zusammengetragen, die auf einer Fläche von 1.200 Quadratmetern präsentiert werden. Auch zahlreiche Originale wie der Sonnenkompass, den Robert Falcon Scott auf seiner Antarktis-Expedition benutzte, und die älteste gefundene Schrift der Menschheit aus dem mesopotamischen Uruk zählen zu den Exponaten. Zu den Höhepunkten gehört eine geologische Probe, die der Forscher Alexander von Humboldt von seinen Expeditionen mitbrachte.

Die Ausstellung ist nicht nur lehrreich, sondern bietet durch die Inszenierungen unterschiedlicher Lebensräume wie Südsee, Regenwald oder Wüste auch einen hohen Schauwert. Zu sehen sind eine steinzeitliche Schamanin, eine Nachbildung des Planeten Mars oder die Skelette eines Menschen und eines Gorillas, die einträchtig nebeneinander im nachgebauten Studierzimmer von Professor Hermann Landois (1825-1905) stehen. Der Zoologe war vor rund 150 Jahren Gründer des Museums, dessen Träger heute der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ist.

Kopfserie

Das Thema Evolution wird Museumsgästen durch Rekonstruktionen der Köpfe von Vor- und Frühmenschen nähergebracht. Die realistischen Nachbildungen sind eine Leihgabe der niederländischen Brüder und Künstler Adrie und Alfons Kennis, wie Lisa Klepfer erzählt. "Durch sie werden unsere ausgestorbenen Vorgänger greifbar und nah."

Mehrere Räume beschäftigen sich damit, was den Menschen ausmacht. Thematisch geht es um die Einzigartigkeit der menschlichen Sprache und die Möglichkeit, größere Gemeinschaften zu bilden. Aber auch die Funktion des Geldes als eine Vereinbarung mit globaler Gültigkeit wird anschaulich vermittelt. Ein weiterer Aspekt ist Spiritualität, die anhand von Schöpfungs- und Jenseitsmythen aus aller Welt in Szene gesetzt wird. Dabei hat das Museum mit Design-Studenten der Fachhochschule in Münster zusammengearbeitet.

Vom Faustkeil bis zum Computertomographen - die Zahl der Erfindungen in der Geschichte der Menschheit ist groß. In einem überdimensionalen Setzkasten werden einige präsentiert. Aber es sind nicht nur praktisch-kluge wie das Fahrrad. Auch eine Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg findet sich in der Auswahl. "Es wäre naiv, die Entwicklung des Menschen nur als Kette von Verbesserungen zu skizzieren", sagt LWL-Direktor Matthias Löb. "Es ging immer auch um Ausbreitung auf der ganzen Welt, um effizientere Methoden des Tötens oder um Ausbeutung der Natur mit weitreichenden Folgen für Artenvielfalt und Klima."

Virtuelle Fahrt über den Mars

Zum Schluss richtet das Kuratorinnen-Team den Blick in die Zukunft, wenn es um technische Möglichkeiten und die damit verbundenen ethisch-moralischen Fragen geht. Themen wie Klonen, DNA-Manipulation und frei konfigurierbare Designer-Babys werden kritisch hinterfragt sowie Ideen zu alternativen Lebensformen behandelt. So können Besucher mit Hilfe einer Virtual-Reality-Brille (VR) eine Marskolonie erkunden. Dafür wurde ein Globus des roten Planeten mit einem Durchmesser von einem Meter angefertigt, gestaltet nach Satellitenaufnahmen der NASA-Raumsonde "Viking-Orbiter".

Die Besiedlung dieses Planeten gehört zu den gängigen Zukunftsvisionen der Raumfahrt. Doch bei genauem Hinsehen dank VR-Brille erweist sich der Stern als recht ungemütlich und unwirtlich mit einer Durchschnittstemperatur von minus 63 Grad Celsius. "Es ist keine gute Idee, die Erde zu verwüsten und dann dorthin zu flüchten", meint Museumsleiter Kriegs.

Helmut Jasny (epd)


Der nordirische Musiker Van Morrison feiert 75. Geburtstag


Straßenszene aus dem nordirischen Belfast, wo Van Morrison 1945 geboren wurde (Archivbild).
epd-bild
Er gilt als einer der launischsten und zugleich genialsten Musiker: Van Morrison begeistert die Fans seit Jahrzehnten mit einem unverwechselbaren Blues-Soul-Sound. Zu seinem 75. Geburtstag würdigen ihn Musikerkollegen auf ganz besondere Art.

Was für ein Ständchen zu seinem 75. Geburtstag: 75 namhafte irische Musiker huldigen Van Morrison, indem jeder eines seiner Stücke covert. Das irische Musikmagazin "Hot Press" hat bereits damit begonnen, unter dem Motto "Rave On, Van Morrison" täglich ein Video auf Youtube zu veröffentlichen. Als besonderer Gratulant ist Irlands Präsident Michael D. Higgins mit von der Partie. Ob sich das Geburtstagskind darüber freut, lässt sich allerdings schwer einschätzen. Denn das musikalische Multitalent aus dem nordirischen Belfast gilt als extrem schwierig und übellaunig. Am 31. August ist Van Morrison 75 Jahre alt geworden.

Er würde ja gern mehr sprechen, aber er habe ständig Melodien im Kopf, soll er seiner Mutter zufolge einmal gesagt haben. Abseits der Bühne ist er extrem öffentlichkeitsscheu, Interviews sind ihm verhasst. Man fühle den Blues und spiele ihn, aber man seziere ihn nicht, beschied er vor einigen Jahren dem Deutschlandfunk in einem seiner seltenen Interviews. Ein Analysieren würde alles zerstören. Dass er das auch auf sich selbst bezieht, daran lässt er keinen Zweifel: "Auch mich hat man über die Jahre viel zu oft analysiert."

"Der geniale Sturkopf" ist ein Sir

Seit fast sechs Jahrzehnten widersetzt sich "der geniale Sturkopf" ("Der Spiegel") fast allen Regeln des Musikmarktes. Bewusst liefert er keine hitparaden-tauglichen Ohrwürmer ab. Lieber preist er die Magie der Stille ("Hymns To The Silence"), den vollkommenen Augenblick in der Natur ("In The Garden") oder die spirituelle Heilung ("And The Healing Has Begun"). Wie kaum ein anderer Künstler versteht er es dabei, Jazz, Blues, irische Folkmusik, Soul und Rock zu einem eigenen, unverwechselbaren Sound zu verschmelzen.

Bei Auftritten gilt er als unberechenbar: Mal spult er wortkarg und lustlos ein kurzes Pflichtprogramm runter, dann aber verzückt er das Publikum wieder mit Konzerten voller Hingabe und Inspiration. "Van, the Man" nennen ihn seine Fans. Für sein Lebenswerk erhob ihn Königin Elisabeth II. in den Adelsstand.

Seine letzte Veröffentlichung "Three Chords and the Truth" von 2019 wurde von der Kritik als zeitloses Alterswerk gefeiert. Einmal mehr klingen darin seine großen Themen Spiritualität und Sinnsuche an: Einige Titel wie "In Search of Grace" oder "Dark Night of the Soul" verweisen wie so oft bei ihm auf biblische Bilder. In dem Stück "Nobody in Charge" lästert Morrison aber offenbar auch über aktuelle gesellschaftliche Zustände. Mit Seitenhieben auf endlos schwafelnde Politiker, die viel Geld für ihr Versagen bekämen, soll er sein Missfallen an der britischen Regierung und dem Brexit ausgedrückt haben, interpretierten Kritiker.

Morrison war mehrmals verheiratet, gilt als unsteter Geist. Seine lebenslange Suche nach spirituellen Erfahrungen führte über indische Yogis, die Scientology-Organisation und die Psychoanalyse Carl Gustav Jungs. Die Leidenschaft für Musik wurde bei ihm schon in der Kindheit geweckt: George Ivan Morrison kam am 31. August 1945 in Belfast als Sohn ausgesprochener Musikliebhaber zur Welt.

Musikbegeisterte Eltern

Der Vater, der in den Docks arbeitete, besaß eine riesige Plattensammlung mit Blues, Jazz und Gospel. Die Mutter nahm ihn mit in Gottesdienste, in denen Gospelmusik gespielt wurde. Mit zwölf Jahren gründete Morrison, der Saxofon, Klavier und Gitarre spielt, seine erste Musikgruppe. Mit der späteren Band "Them" hatte er als 20-Jähriger Mitte der 60er Jahre große Hits wie "Gloria".

Sein außerordentliches Talent stellte der Musiker aber vor allem als Solokünstler unter Beweis. Schon das frühe Werk "Astral Weeks" aus dem Jahr 1968 wurde von Kritikern als ein "Jahrhundertalbum" bejubelt. Verkaufen ließ sich die Platte allerdings zunächst kaum. Dazu war die Melange aus Folk, Blues und Jazz mit rätselhaften Texten und melancholischen Bildern offenbar doch zu sperrig. Rund 40 Jahre später, 2009, spielte er das Werk noch einmal in einem umjubelten Livekonzert ein.

Musikalisch ist Van Morrison ein Tausendsassa. Die 2001 gestorbene Blues-Legende John Lee Hooker würdigte ihn als "größten weißen Bluessänger überhaupt". Mal schließt er sich mit einer Handvoll Jazzmusiker in einem Londoner Nachtclub ein, um Jazz aufzunehmen. Ein andermal erkundet er mit irischen Folkgruppen seine keltischen Wurzeln. Er veröffentlichte aber auch schon einmal eine Platte ausschließlich mit Country-Songs.

Konzerte mit Sicherheitsabstand

Auch mit 75 Jahren wird "Van, The Man" nicht ruhiger werden: Für den 3. September ist bereits ein Auftritt im englischen Gosforth Park in Newcastle angekündigt. Dort findet in diesen Wochen die weltweit erste Konzertreihe unter Social-Distancing-Bedingungen statt: Auf 500 separierten Metallpodesten werden die Fans jeweils zu Fünfergruppen mit genügend Abstand platziert.

Holger Spierig (epd)


Evangelisches Online-Netzwerk "yeet" baut Angebot aus

Das evangelische Contentnetzwerk "yeet" weitet sein Angebot aus. Im Laufe des Sommers seien zwölf weitere sogenannte Sinnfluencerinnen und Sinnfluencer zu dem Projekt dazugestoßen, teilte das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) in Frankfurt am Main am 26. August mit. Insgesamt präsentieren sich jetzt 18 unterschiedliche Formate auf yeet.de.

Neu seien ein evangelisch-methodistischer Pfarrer, der christliche Botschaften in Netflix-Serien findet, eine Vikarin, die ökumenische Internetbischöfe kürt, eine Religionspädagogin, die sich mit Alltagsrassismus auseinandersetzt, oder die Evangelische Jugend, die ihre eigene Late-Night-Show produziert. Die Formate auf Youtube und Instagram "sind so bunt und vielfältig wie die evangelische Kirche", hieß es. "Was sie eint und bei yeet zusammenbringt, ist die Freude, ihren christlichen Glauben in den sozialen Netzwerken sichtbar und hörbar zu machen."

Mit Nachdruck und Freude

"yeet" ist ein Ausdruck aus der Jugendsprache. Er soll dafür stehen, etwas mit Nachdruck und Freude zu tun. Die Berliner Pfarrerin Theresa Brückner, die als "theresaliebt" bei Youtube und Instagram aktiv ist, die Pastorin Josephine Teske (@seligkeitsdinge bei Instagram) und das Pfarrerinnen-Ehepaar Steffi und Ellen Radke ("andersamen" bei Youtube) verbreiten ihre Inhalte bereits über "yeet". Der Youtube-Kanal "Jana" der 22-jährigen Medizinstudentin Jana Highholder wurde im Juni eingestellt.

Das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) ist die zentrale Medieneinrichtung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), ihrer Landeskirchen und Werke sowie der evangelischen Freikirchen. Zum GEP gehören unter anderem die Zentralredaktion des Evangelischen Pressedienstes (epd), das Monatsmagazin "chrismon" und "evangelisch.de".



Mitarbeiter deutscher Medien in Belarus festgenommen


Leninstatue vor dem Regierungsgebäude in Minsk
epd-bild / Matthias Schumann
Die autoritäre Staatsführung in Belarus erhöht den Druck auf die Pressefreiheit. In den vergangenen Tagen waren auch Mitarbeiter deutscher Medien betroffen. Bundesaußenminister Maas kritisiert das Vorgehen als "willkürlich".

Nach erneuten Festsetzungen von Medienvertretern in Belarus hat Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) die autoritäre Staatsführung scharf kritisiert. "Wenn Journalistinnen und Journalisten willkürlich und ohne jede Rechtsgrundlage festgesetzt und durch den Entzug ihrer Arbeitserlaubnis an ihrer wichtigen Arbeit gehindert werden, dann ist das überhaupt nicht akzeptabel", erklärte Maas am 29. August in Berlin. "Unabhängige Berichterstattung muss umfassend gewährleistet werden." Dazu habe sich Belarus auch international verpflichtet.

Die deutsche Botschaft betreue die betroffenen Journalistinnen und Journalisten deutscher Medien und habe hochrangig gegen die Verhaftungen interveniert. "Weitere Maßnahmen behalten wir uns ausdrücklich vor", so der Außenminister. Dieser Angriff auf die Pressefreiheit sei "ein weiterer gefährlicher Schritt zu mehr Repression statt zum Dialog mit der Bevölkerung".

Zwei ARD-Kameramänner des Landes verwiesen

In Belarus waren zuvor erneut ausländische Journalisten festgenommen worden, darunter auch Mitarbeiter deutscher Medien. Ein ARD-Kamerateam wurde in der Nacht zum 29. August in einer Polizeistation in Minsk festgehalten, wie der Westdeutsche Rundfunk (WDR) in Köln mitteilte. Das dreiköpfige Team sei am Samstagvormittag wieder freigekommen. Zwei Mitarbeiter seien des Landes verwiesen worden und hätten ein Einreiseverbot nach Belarus für fünf Jahre erhalten. Die Deutsche Welle (DW) teilte in Bonn mit, dass eine ihrer Korrespondentinnen bereits am 27. August ebenfalls stundenlang auf einem Polizeirevier in der belarussischen Hauptstadt festgehalten worden sei.

Die DW-Korrespondentin Alexandra Boguslawskaja hielt sich den Angaben nach am Rande einer Protestaktion gegen die autoritäre Staatsführung auf. Ohne Vorankündigung oder Aufforderung, den Ort zu verlassen, sei sie gemeinsam mit anderen Journalisten auf das Polizeirevier gebracht worden. Vor ihrer Freilassung sei der Journalistin trotz vollständiger und wiederholter Vorlage der Papiere mitgeteilt worden, es werde ein "Verwaltungsprozess gegen sie wegen journalistischer Arbeit ohne Akkreditierung eingeleitet". Das belarussische Innenministeriums bestätigte der DW später, dass der Verwaltungsprozess bereits wieder eingestellt sei.

DW-Chefredakteurin sieht "Angriff auf die Pressefreiheit"

DW-Chefredakteurin Manuela Kasper-Claridge sprach von einem Angriff auf die Pressefreiheit. "Diese angeblichen Prüfungen persönlicher Papiere sind fadenscheinige Versuche, eine unabhängige Berichterstattung zu behindern und Menschen Informationen vorzuenthalten", erklärte sie.

Bei dem WDR-Team handelt sich den Angaben nach um einen Kameramann und einen Kamera-Assistenten aus Russland, die für das ARD-Studio Moskau arbeiten, sowie einen belarussischen Producer. Alle Drei waren laut WDR ordnungsgemäß akkreditiert. Die Akkreditierungen seien aber mittlerweile entzogen worden. Die beiden russischen Kollegen reisten demnach noch am 29. August in ihre Heimat zurück. Dem belarussischen Producer drohe ein Prozess.

WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn äußerte sich bestürzt. "Ich bin entsetzt und halte den Umgang mit unserem Team in Minsk für absolut inakzeptabel", sagte er. Das ARD-Studio Moskau steht unter der Federführung des WDR.

Seit der Präsidentenwahl am 9. August in Belarus reißen die Proteste gegen den autokratisch regierenden Staatschef Alexander Lukaschenko nicht ab. Mehrere Dutzend Journalisten wurden seit Anfang August verhaftet und verurteilt, darunter bereits vor der Wahl auch ein DW-Reporter.



NDR setzt Corona-Podcast mit Christian Drosten fort


Christian Drosten
epd-bild/Christian Ditsch
Das preisgekrönte Format wird aber verändert. Neben dem Charité-Wissenschaftler wird die künftig auch die Frankfurter Virologin Sandra Ciesek regelmäßiger Gesprächsgast sein.

Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) setzt nach zweimonatiger Pause am 1. September den Podcast "Coronavirus-Update" mit dem Berliner Virologen Christian Drosten fort. Neben Drosten werde künftig auch die Frankfurter Virologin Sandra Ciesek regelmäßiger Gesprächsgast von NDR-Redakteurin Korinna Hennig sein, kündigte der NDR am 27. August in Hamburg an. Der Podcast wird jeweils dienstags um 15 Uhr auf www.NDR.de/coronaupdate und in der ARD Audiothek veröffentlicht. Eine kürzere Fassung kommt dienstags um 12.35 Uhr im Radio auf NDRinfo. Drosten ist Leiter der Virologie der Berliner Charité.

Ciesek leitet das Institut für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt und ist Professorin für Medizinische Virologie der Goethe-Universität. Bereits im Februar 2020 hatte sie mit ihrem Team nachgewiesen, dass auch symptomfreie Personen Überträger des Virus sein können. Zurzeit forscht sie an wirksamen Medikamenten gegen Covid-19 und geeigneten Teststrategien. Ciesek wird erstmals am 8. September zu hören sein, hieß es weiter.

Grimme-Preis

Für Drosten war es nach eigenen Worten wichtig, die Arbeitsbelastung durch den Podcast zu verringern. "Es ist aber auch gut für den Podcast, wenn ein zusätzlicher Aspekt dabei ist", sagte er. Ciesek arbeite stärker in Richtung klinischer Beobachtung und virologischen Studien, während er selbst Grundlagenforscher sei. Der Podcast mit Drosten über neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zum Coronavirus wurde im Juni gleich zweimal mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet: in der Kategorie Information und Publikumspreis.



ARD und ZDF senden Schwerpunkte zu "30 Jahre Deutsche Einheit"

Mit Dokumentationen, Fernsehfilmen und Live-Übertragungen begleiten ARD und ZDF das Jubiläum "30 Jahre Deutsche Einheit". Neben der Übertragung des Festaktes am 3. Oktober ab 12 Uhr aus der Metropolis-Halle in Potsdam-Babelsberg kommen Dokumentationen, Fernsehfilme und ein "Tatort" ins Programm, teilte das Erste am 26. August in München mit. Die ARD Mediathek biete darüber hinaus Filme wie "Sonnenallee", "Kruso" oder die Serie "Weissensee" sowie Dokumentationen aus den Dritten Programmen der ARD, hieß es weiter.

Das Land Brandenburg richtet in diesem Jahr die Feierlichkeiten von Bund und Ländern zum Jubiläum aus. Darüber berichtet nach Angaben des ZDF am 3. Oktober ab 17.10 Uhr ein "Länderspiegel spezial". Ab 19.15 Uhr melde sich das "ZDF spezial: 30 Jahre Deutsche Einheit" live aus Potsdam. Mit zahlreichen weiteren Programmangeboten werden ZDF, ZDFinfo und ZDFneo von Mitte September bis Mitte Oktober an die Wende- und Einheitszeit vor drei Jahrzehnten erinnern, wie der Sender am Mittwoch in Mainz mitteilte.

Zum Festakt am 3. Oktober in Potsdam-Babelsberg werden nach Angaben der ARD Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundesratspräsident und Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) sowie Vertreter von Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht erwartet.



"Tagesschau" und "heute" zu "Sprachpanschern" gewählt

Die öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen "Tagesschau" und "heute" erhalten den Negativpreis "Sprachpanscher 2020". In Zeiten der Corona-Pandemie hätten die Nachrichten-Flaggschiffe Begriffe wie "Lockdown", "Homeschooling", "Social Distancing" oder "Homeoffice" einfach übernommen und nicht hinterfragt, erklärte der Verein Deutsche Sprache (VDS) am 28. August in Dortmund. Deshalb landeten die Nachrichtensendungen in der Abstimmung zum "Sprachpanscher" unter den Vereinsmitgliedern mit fast 50 Prozent der abgegebenen Stimmen auf Platz eins.

"Die meisten unserer Mitglieder kritisieren, dass die öffentlich-rechtlichen Sender ihrem Bildungsauftrag nicht gerecht werden und ihr Publikum stattdessen mit Wörtern konfrontieren, die unnötig sind", sagte der VDS-Vorsitzende und Statistik-Professor Walter Krämer. Die Verwendung der Anglizismen zeige, wie wenig Interesse die Nachrichtensendungen hätten, die Menschen in ihrer eigenen Muttersprache zu informieren. "Die Devise ist: Nachplappern statt sinnvolle Übersetzungen finden, die alle verstehen", kritisierte Krämer. Ihrer Vorbildfunktion würden die Öffentlich-Rechtlichen so nicht gerecht. Zudem ignorierten ARD und ZDF damit die amtlichen Regeln der deutschen Rechtschreibung und die Empfehlungen der Gesellschaft für deutsche Sprache.

Auf Platz zwei wählten die VDS-Mitglieder Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU - 21 Prozent), weil sie englische Bezeichnungen im deutschen Handwerk einführen möchte. Statt Handwerksmeistern soll es künftig "Bachelor Professional" und "Master Professional" heißen. Den dritten Platz (19 Prozent) belegte ein Supermarkt in Oldenburg, der mit dem Slogan "Für Shopping und much mehr. Von Kids bis Education, von Meetings bis Health, von Entertainment bis Gastro: Alles you need" für sich geworben hatte.

Der VDS setzt sich für die Bewahrung der deutschen Sprache ein und hat nach eigenen Angaben mehr als 36.000 Mitglieder. Er zeichnet jedes Jahr Institutionen oder Personen mit dem Negativpreis "Sprachpanscher" aus, die sich aus seiner Sicht besonders wenig um die deutsche Sprache verdient gemacht haben.



Neue Werkausgabe von Günter Grass erscheint am 5. Oktober

Fünfeinhalb Jahre nach dem Tod von Günter Grass veröffentlicht der Göttinger Steidl Verlag eine neue Werkausgabe des Literatur-Nobelpreisträgers. Die "Neue Göttinger Ausgabe" erscheint am 5. Oktober, wie Verlagssprecherin Claudia Glenewinkel am 27. August dem Evangelischen Pressedienst (epd) sagte. Die Edition umfasst 24 Bände mit insgesamt fast 11.000 Seiten und enthält sämtliche von Grass autorisierten Werke von den Anfängen bis zum posthum erschienen Buch "Vonne Endlichkeit".

Gegenüber der Werkausgabe von 2007 seien alle seitdem erschienenen Bücher des Schriftstellers hinzugekommen, teilte der Verlag weiter mit. Neben Romanen und Gedichten wurden auch Essays, Reden, Gespräche, Interviews und Kurzprosa in die "Neue Göttinger Ausgabe" aufgenommen. Herausgeber sind die Literaturwissenschaftler und Grass-Kenner Dieter Stolz und Werner Frizen.

Günter Grass starb am 13. April 2015 im Alter von 87 Jahren. Der Steidl Verlag besitzt die Weltrechte an dem Werk des Schriftstellers. Die weltweite Auflage der Grass-Bücher liegt nach Verlagsangaben bei über 40 Millionen.



Europäische Kinder- und Jugendbuchmesse stellt Corona-Kinderbuch vor

Bei der 20. Europäischen Kinder- und Jugendbuchmesse vom 23. bis 26. September in Saarbrücken wird auch ein erstes im Saarland produziertes Kinderbuch zur aktuellen Corona-Situation vorgestellt. Das teilten die Veranstalter am 27. August bei der Vorstellung des Programms mit. Durch die Corona-Auflagen mussten die Messetermine um die Hälfte abgespeckt werden, wie Messeleiter Igor Holland-Moritz sagte. Nun werde es vier Tage lang über die Stadt Saarbrücken verteilt etwa 75 Lesungen, Workshops, Autorenbegegnungen und Bücherschauen vor allem für Kinder und Jugendliche geben.

Klimaschutz, Feminismus und Geschichte der DDR

In der Bücherschau gehe um aktuelle Themen wie Klimaschutz, Feminismus und Geschichte der DDR, hieß es. Das in diesem Jahr zur Messe vorgesehene Partnerland Portugal musste laut Holland-Moritz wegen der Corona-Krise seine Teilnahme absagen.

Während Eröffnung und Bücherschau den Angaben nach im Evangelischen Gemeindezentrum St. Johann in Saarbrücken stattfinden, wird es bei der Messe erstmals auch Veranstaltungen in Schulen, Kitas und Kindergärten geben. Auch das Theaterschiff "Maria Helena", die Stadtbibliothek und das Filmhaus in Saarbrücken sind mit eingebunden.

Lust am Lesen wecken

Unter dem Leitmotto "Gemeinsame Sache machen" solle die Messe Kindern und Jugendlichen im Smartphone-Zeitalter wieder mehr Lust am Lesen, Schauen und Stöbern von Büchern vermitteln und so die frühkindliche Bildung stärken, erklärte Saarlands Bildungs- und Kulturministerin Christine Streichert-Clivot (SPD). "Gemeinsames Lesen von Kindern und Erwachsenen ist so etwas wie Heimat finden", sagte sie.

Konkret geht es bei der Messe unter anderem um Fragen wie: "Wie lernt mein Kind lesen?" oder "Was sind die besten Kinderbücher 2020?". Die Messe selbst mit einem Gesamtetat von etwa 100.000 Euro wird zu etwa drei Vierteln vom Saarland sowie mit Zuschüssen von der Europäischen Union (EU), der Stadt Saarbrücken und Sponsorenhilfe finanziert.




Entwicklung

"Brot für die Welt": Armut wächst wegen Corona-Pandemie drastisch


Müll sammelndes Kind in Bangladesch (Archivbild)
epd-bild / Norbert Neetz
Die Corona-Krise verschärft weltweit Armut und Hunger und stellt die Hilfsorganisationen vor zusätzliche Herausforderungen. Viele Projekte leisten Nothilfen für die Schwächsten. "Brot für die Welt"-Chefin Füllkrug-Weitzel warnt vor Hungerkrisen.

Die Corona-Krise trifft die Ärmsten und ihre Kinder weltweit am härtesten. Die Präsidentin von "Brot für die Welt", Cornelia Füllkrug-Weitzel, sagte am 27. August bei der Jahresbilanz der evangelischen Hilfsorganisation in Berlin, die Armut wachse so drastisch, dass viele Projekte derzeit nur noch Nothilfe leisteten. Die Menschen verlören ihre Einkünfte. Insbesondere in Südamerika und afrikanischen Ländern drohe die Gefahr, dass Entwicklungsfortschritte wieder zunichtegemacht werden.

Die Welternährungsorganisation geht davon aus, dass durch die Corona-Pandemie mindestens 130 Millionen Menschen zusätzlich an chronischem Hunger leiden werden. Füllkrug-Weitzel erklärte, das bedeute eine Verdopplung der vom Hungertod bedrohten Menschen. Eine neue Hungerkrise droht insbesondere in den ostafrikanischen Ländern. Die rigorosen Lockdowns in vielen Ländern des Südens träfen die Menschen sehr hart, da weltweit zwei Drittel aller Berufstätigen ohne soziale Absicherung im informellen Sektor arbeiteten, als Tagelöhnerinnen und Tagelöhner, als Hausangestellte oder Straßenhändlerinnen, sagte Füllkrug-Weitzel.

Forderung nach Lieferkettengesetz

Die Krise wirke sich auch dramatisch auf prekär Beschäftigte entlang der internationalen Lieferketten aus, etwa Textilarbeiter in Bangladesch. Ohne soziale Sicherung landeten sie auf der Straße, sagte Füllkrug-Weitzel. Sie forderte die Bundesregierung auf, endlich das Lieferkettengesetz auf den Weg zu bringen, um die Unternehmen in die Verantwortung zu nehmen. Eckpunkte sollten im August ins Kabinett kommen, der Termin ist verstrichen.

"Brot für die Welt" hat bisher 12,7 Millionen Euro zusätzlich für Corona-Hilfen bereitgestellt, wovon Partnerorganisationen beispielsweise Aufklärungskampagnen, Hygienekits, Beatmungsgeräte oder Lebensmittelpakete finanziert haben. Die Organisation ist in acht der zehn Länder mit den derzeit höchsten Infektionsraten tätig, darunter Brasilien, Indien und Südafrika.

Oxfam: Wachsende Ungleichheit

Das Kinderhilfswerk Unicef warnte vor einer Bildungskrise. Weltweit hätten etwa ein Drittel der Schüler keinen Zugang zu Lernprogrammen, wenn die Schulen geschlossen blieben. Dies treffe wiederum zum allergrößten Teil die Kinder der Ärmsten, weltweit kamen 72 Prozent der betroffenen Kinder aus den ärmsten Haushalten der jeweiligen Länder. Auf dem Höhepunkt der Lockdowns konnten Unicef zufolge weltweit 1,5 Milliarden Schüler nicht zum Unterricht gehen.

Die Hilfsorganisation Oxfam richtete unterdessen ihren Blick auf die in der Krise stark wachsende Ungleichheit. Sie legte Daten zu Nordafrika und dem Nahen Osten vor, wonach das Vermögen von 21 Milliardären aus der Region seit März um weitere zehn Milliarden US-Dollar gestiegen ist, während 45 Millionen Menschen der Abstieg in die Armut drohe.

Spendenbereitschaft nicht gesunken

Die Spendenbereitschaft ist angesichts der Krise nicht gesunken. "Brot für die Welt" erhielt bisher mehr Spenden als im vorigen Jahr, rechnet aber insgesamt für 2020 mit einem Rückgang. "In diesem Jahr fehlten uns die Ostergottesdienste, die aufgrund der Corona-Pandemie nicht stattfinden konnten", erklärte Christian Heine-Göttelmann, Vorstand der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe (RWL) am 27. August in Düsseldorf. Durch zahlreiche Privatspenden sei dieser Einbruch aber bisher aufgefangen worden.

Das Jubiläumsjahr 2019 schloss "Brot für die Welt" mit einem Spendenergebnis von 64,4 Millionen Euro und damit dem drittbesten seit der Gründung 1959 ab. Mehr als elf Millionen Euro davon kamen aus Rheinland, Westfalen und Lippe, wie die Diakonie RWL mitteilte. Im Bereich der Evangelischen Kirche im Rheinland wurden 7,3 Millionen Euro gesammelt, in der westfälischen Kirche kamen 4,4 Millionen Euro und in der Lippischen Landeskirche knapp 328.000 Euro zusammen.

Präsides danken für Beiträge "gegen Hunger, Armut und Unterechtigkeit"

Der rheinische Präses Manfred Rekowski dankte allen Spenderinnen und Spendern für ihren Beitrag "gegen Hunger, Armut und Unterechtigkeit". Mit ihren Spenden und Kollekten hätten sie "Millionen Menschen geholfen, ihre Lebenssituation zu verbessern", sagte der lippische Ökumenepfarrer Dieter Bökemeier. "Brot für die Welt" halte das Bewusstsein für Ungerechtigkeit und ungleiche Verteilung der Güter in der Welt wach, ergänzte die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus. "Darin dürfen wir auch in Corona-Zeiten nicht nachlassen!"

Hinzu kamen Nachlässe in Höhe von 3,5 Millionen Euro sowie rund 400.000 Euro aus Bußgeldern. Insgesamt standen der Organisation rund 313 Millionen Euro für die Entwicklungsarbeit zur Verfügung, knapp zwei Prozent mehr als 2018. Die Verwaltungsausgaben lagen mit 5,9 Prozent im niedrigen Bereich. 91,6 Prozent der Mittel gehen direkt an die Projekte der Organisationen in aller Welt.



Tunesien verlassen um jeden Preis

Trotz drohender Inhaftierung oder Abschiebung versuchen jährlich Tausende Tunesierinnen und Tunesier nach Italien zu gelangen. Die Corona-Pandemie hat die Krise in der Heimat deutlich verschärft.

In einem Schlauchboot liegt ein junger Mann auf eine Decke gebettet, über Schläuche wird er mit Sauerstoff versorgt. Zum zweiten Mal versucht die Familie, nach Italien zu kommen, zum zweiten Mal wird sie von der tunesischen Küstenwache abgefangen. "Wir werden es wieder und wieder versuchen", sagt der Vater, der alles in Facebook-Videos dokumentiert. "Mal reicht es nicht fürs Essen, mal nicht für seine Medikamente. Ich kann nicht mehr", schreit die Mutter verzweifelt. Sie habe es auf legalem Weg versucht, an alle Türen geklopft, sogar im Radio angerufen - vergeblich. Sie hofft auf medizinische Hilfe für den Sohn im Ausland.

Das Video verbreitet sich schnell in den sozialen Netzwerken in Tunesien. Es ist eines von vielen in den vergangenen Wochen. Sie zeigen verzweifelte Menschen ebenso wie Teenager oder Mittzwanzigerinnen, die in Flip Flops und mit Sonnenhüten auf der italienischen Insel Lampedusa vom Boot steigen.

Ihr aller Ziel ist es, in Europa zu bleiben, auch wenn Italien mit schnellen Abschiebungen droht. Die Zahl der Migrantinnen und Migranten, die aus Tunesien ohne Einreiseerlaubnis nach Italien gereist sind, ist diesen Sommer stark gestiegen. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind von Januar bis Juli 6.600 Personen in Italien angekommen, nach Angaben der tunesischen Menschenrechtsorganisation FTDES mehr als 4.000 alleine im Juli. Fast 500 versuchte Überfahrten wurden demnach dieses Jahr von den tunesischen Behörden unterbunden, annähernd 7.000 Menschen festgenommen.

Tourismus eingebrochen

Tunesien leidet bereits seit Jahren unter wirtschaftlichen Problemen. Das Land hat sich von den ökonomischen Folgen des politischen Umbruchs 2011, zweier großer Anschläge 2015 und dem damit einhergehenden Einbruch der wirtschaftlich wichtigen Tourismusbranche nie richtig erholt. Viele Tunesierinnen und Tunesier hatten nach den Neuwahlen im vergangenen Jahr Hoffnungen in die neue Regierung und in Präsident Kais Saied gesetzt. Doch die Corona-Krise machte diese zunichte.

Die Einnahmen im Tourismus sind 2020 um mehr als die Hälfte zurückgegangen, und viele Hotels haben diesen Sommer gar nicht erst aufgemacht. Gerade dort arbeiten jedoch viele Saisonkräfte, die sich so das Überleben für den Rest des Jahres sichern. Die tunesische Zentralbank geht für das zweite Quartal von einer Rezession von zehn bis zwölf Prozent aus. Die Zahl der Arbeitslosen ist im gleichen Zeitraum um 100.000 auf 18 Prozent gestiegen. Nach Unicef-Angaben stieg die Kinderarmut nach den strikten Corona-Maßnahmen von 19 auf 25 Prozent.

Allerdings kamen auch in früheren Jahren ähnlich viele oder noch mehr tunesische Migrantinnen und Migranten in Italien an. Die Zahlen von 2019 seien außergewöhnlich niedrig gewesen, sagte ein Sprecher des Tunesien-Büros von IOM. Über mehrere Jahre gesehen könne man also nicht von einem Anstieg sprechen. Auch habe sich die Migrationsroute über das Mittelmeer nicht von Libyen nach Tunesien verschoben. Die Mehrheit der aus Tunesien Flüchtenden seien Tunesierinnen und Tunesier, nur einige hundert stammten aus Afrika südlich der Sahara.

Druck der EU

Dennoch üben die europäischen Staaten zunehmend Druck auf Tunesien aus. Die italienische Innenministerin Luciana Lamorgese war innerhalb von drei Wochen zweimal in Tunesien, Anfang August gemeinsam mit Außenminister Luigi di Maio und Vertretern der Europäischen Union. Ziel des Besuchs war es, mit Präsident Saied zu verhandeln, wie mit den Migranten aus Tunesien umgegangen werden solle.

Der EU-Kommissar für Nachbarschaftspolitik Oliver Varhelyi sprach von einem Neustart. Man wolle Beschäftigung in Tunesien stärken und irreguläre Migration bekämpfen. Er kündigte an, man werde dem Land zusätzliche zehn Millionen Euro für die Grenzsicherung zur Verfügung stellen. Mehrere europäische Staaten, darunter auch Deutschland, finanzieren in Tunesien unterschiedliche Grenzüberwachungsprogramme. Die tunesische Küstenwache kündigte vergangene Woche eine neue Sicherheitsstrategie an, um stärker gegen Schleusernetzwerke vorzugehen.

Die Menschenrechtsorganisation FTDES forderte, die wirtschaftliche Öffnung zwischen Europa und Tunesien müsse von einer neuen Politik begleitet werden, die es Tunesierinnen und Tunesiern erleichtere, legal nach Europa zu gelangen. Die Organisation kritisierte, dass das Land sich dem europäischen Druck beuge statt auf Augenhöhe zu verhandeln.

Sarah Mersch (epd)


Afghanistan: Anschlag auf Polizistin und Schauspielerin Sahar

Afghanistans bekannteste Polizistin und Filmschaffende Saba Sahar ist bei einem Anschlag in der Hauptstadt Kabul verletzt worden. Die 44-Jährige, die auch Schauspielerin und Regisseurin ist, wurde auf dem Weg zur Arbeit in ihrem Auto angegriffen, wie der TV-Sender Tolo News am 25. August berichtete. Auch Sahars Bodyguard und Fahrer wurden verletzt. Sahar ist eine der bekanntesten Schauspielerinnen Afghanistans und setzt sich besonders für die Rechte von Frauen ein. Die Polizeibeamtin arbeitet daneben jedoch weiter für das Innenministerium. Erst vor gut einer Woche war ein Anschlag auf Afghanistans prominente Frauenrechtlerin Fauzia Kofi verübt worden. Die 45-jährige Kofi wurde dabei leicht verletzt.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International verurteilte den Anschlag auf Sahar. "Die steigende Anzahl von Attentaten und Mordversuchen auf Menschenrechtler, politische Aktivisten, Journalisten und Filmschauspieler ist extrem besorgniserregend", erklärte die Organisation. Afghanistan wird von einer Welle von Gewalt erschüttert, während die innerafghanischen Friedensgespräche zwischen der Regierung und den Taliban weiterhin in der Schwebe sind.

Streitpunkt Gefangenenfreilassung

Geplante Verhandlungen in der katarischen Hauptstadt Doha über eine Beilegung des 19-jährigen Konfliktes sind wegen der offenen Frage der Gefangenenbefreiung noch nicht vorangekommen. Nicht nur die Regierung in Kabul hat Bedenken, etliche besonders gefährliche Taliban-Kämpfer freizulassen, auch einige andere Länder haben ihr Veto eingelegt, weil sich unter den Freizulassenden auch Aufständische befinden, die blutige Attentate auf ausländische Soldaten verübt haben.

Die Frage der Gefangenenbefreiung war seit Ende Februar ein heikler Streitpunkt zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung. Ende Februar hatten die USA und die aufständischen Taliban ein historisches Friedensabkommen geschlossen, das den Abzug der USA aus Afghanistan vorsieht. Die USA haben bereits angekündigt, bis Ende November die Zahl ihrer Soldaten in Afghanistan auf weniger als 5.000 reduzieren zu wollen.



WHO feiert Ausrottung von Polio in Afrika


Eine junge Mutter wartet mit ihrem Baby vor einem Gesundheitszentrum in Uganda, um ihr Kind gegen Polio, Tuberkulose und Tetanus impfen zu lassen (Archivbild).
epd-bild / Carsten Luther

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) feiert die Ausrottung von Polio in Afrika. Dass der Kontinent als frei vom Erreger der Kinderlähmung gilt, sei einer der größten Erfolge in der Geschichte der öffentlichen Gesundheit", schreiben der WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus und der Präsident von Rotary International, Holger Knaack, in einem Gastbeitrag für FAZ.NET. Die WHO erklärte Afrika am 25. August für Polio-frei.

Zuletzt hatte es in Afrika 2016 einen Infektionsfall gegeben. Mit dem Ende der Kinderlähmung in Afrika rückt auch die weltweite Ausrottung des Polio-Wildvirus in die Nähe. Das Poliovirus, das einst Hunderttausende Kinder jährlich getötet oder gelähmt habe, sei kurz davor, in die Geschichtsbücher einzugehen, schrieben Tedros und Knaack. Polio kommt heute noch in Pakistan und Afghanistan vor.

Poliomyelitis, kurz Polio betrifft meist Kinder im Alter von unter fünf Jahren. Bei einem von rund 200 Infizierten treten Lähmungen besonders der Beine auf, etwa fünf bis zehn Prozent der gelähmten Kinder sterben, wenn das Virus die Atemmuskulatur befällt. Seit 1988 hat die Zahl der Polio-Fälle laut WHO weltweit um rund 99 Prozent abgenommen, von 350.000 auf 33 gemeldete Fälle 2018.



Verschleppt, gefoltert, getötet

Der Internationale Tag für die Opfer des Verschwindenlassens erinnert an die Hunderttausenden, die in den Händen von Menschenhändlern und Militärs oder in Gefängnissen verschwanden. Von vielen fehlt bis heute jede Spur.

Ob er seinen Bruder jemals wiederfinden wird? Seit sechs Jahren durchkämmt der Mexikaner Mario Vergara mit anderen Angehörigen von Verschwundenen einsame Felder, karge Berghänge und verlassene Grundstücke. Zunächst suchte der Mittvierziger nur rund um seine Heimatstadt, denn dort müssen die Kriminellen Tomás verscharrt haben. Mittlerweile zieht er mit seinen Mitstreitern durchs ganze Land, um geheime Gräber mit den Resten verschleppter Brüder, Töchter oder Ehemänner aufzuspüren. "Wir helfen uns gegenseitig", sagt Vergara, der immer das Bild seines Bruders auf einem Schild um den Hals trägt.

Mehr als 73.000 Menschen gelten in Mexiko als verschwunden. Manche wurden von Kriminellen verschleppt, damit sie als Schmuggler, Prostituierte oder im Drogenanbau arbeiten. Andere befanden sich in den Händen von Polizisten oder Soldaten, als sie zum letzten Mal gesehen wurden. "Mexiko zählt neben dem Irak zu den Staaten, in denen am meisten Menschen gewaltsam verschwinden", sagte die Menschenrechtsexpertin Barbara Lochbihler. Sie sitzt im UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen, der sich darum kümmert, dass die vor zehn Jahren in Kraft getretene UN-Konvention gegen dieses Verbrechen umgesetzt wird. Insgesamt 63 Staaten, darunter auch Deutschland, Mexiko und der Irak, haben das Übereinkommen unterschrieben.

Oppositionelle im Irak vermisst

Seit den Protesten in der irakischen Hauptstadt Bagdad im vergangenen Jahr werden Lochbihler zufolge zahlreiche Oppositionelle vermisst. Auch nach der Befreiung der nordirakischen Stadt Mossul vom "Islamischen Staat" (IS) vor vier Jahren seien viele Menschen verschwunden. Verantwortlich dafür zeichnen vor allem pro-iranische Milizen. "Diese Gruppen wurden später in die irakische Armee integriert, und deshalb muss sich die Regierung um die Verschwundenen kümmern", erklärt Lochbihler. Das passiere aber nicht.

Auch die mexikanischen Ermittler haben lange nichts getan. Sonst müsste Vergara nicht selbst nach seinem Bruder suchen. Tomás Vergara wurde laut seinem Bruder entführt. Auf Lösegeldforderungen wollte die Familie eingehen. Doch dann meldeten sich die Entführer nicht mehr.

Laut der UN-Konvention liegt gewaltsames Verschwindenlassen vor, wenn Menschen durch Festnahmen, Entführungen und andere Freiheitsberaubungen der Schutz des Gesetzes entzogen wird. Vorausgesetzt, die Täter waren staatliche Funktionsträger oder haben mit "Ermächtigung, Duldung oder Unterstützung des Staates" gehandelt.

In Ländern wie Mexiko ist das meist der Fall, weil Kriminelle, Politiker und Sicherheitskräfte oft kooperieren. Wenn Beamte den Verbleib von Festgenommenen verschleiern, handeln sie ebenfalls in diesem Sinne kriminell. Im Gegensatz zu anderen Menschenrechtsverletzungen sind beim Verschwindenlassen auch Angehörige wie Mario Vergara unmittelbare Opfer. "Die oft jahrelange Ungewissheit über das Schicksal eines geliebten Menschen ist nicht weniger quälend als Folter", beschreibt Amnesty International. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass die Verschwundenen gefunden werden.

Weltweit Hunderttausende verschwunden

Wie viele Menschen weltweit verschwunden sind, ist unklar. Zweifellos handelt es sich um Hunderttausende. Während des argentinischen Militärregimes von 1976 bis 1983 verschleppten Soldaten Zehntausende Oppositionelle, viele von ihnen wurden gefoltert und danach aus Flugzeugen in den Rio de la Plata geworfen. Ähnliches passierte in Chile, und im guatemaltekischen Bürgerkrieg verschwanden nach Amnesty-Schätzungen fast 40.000 Menschen. Der US-Geheimdienst CIA folterte im Rahmen seines Krieges gegen Terror Verdächtige in geheimen Gefängnisse in Polen und Syrien.

Heute verliert sich immer wieder die Spur von Menschen, die aus ihrer Heimat Richtung Europa fliehen. Ob es sich dabei um Verschwundene im Sinne der UN-Konvention handle, müsse bei jedem Einzelnen geprüft werden, erklärt Rainer Huhle vom Nürnberger Menschenrechtszentrum: "Das ist nicht automatisch der Fall, wenn Migranten im Mittelmeer ertrinken." Sollten aber Zwangsprostitution, Sklaverei und andere Formen des Menschenhandels im Spiel sein, könne es sich um gewaltsames Verschwindenlassen handeln.

Um solche und andere Fälle besser zu verfolgen, müsse die deutsche Regierung den Straftatbestand des Verschwindenlassens ins Gesetzbuch schreiben, empfiehlt der UN-Ausschuss. Deutschland habe eine Vorbildfunktion, zudem würde es einfacher, internationale Menschenrechtsverbrecher auszuliefern. Die Bundesregierung hält die Reform für überflüssig, weil das Delikt bereits durch Gesetze zu Entführung, Menschenhandel oder Folter abgedeckt sei. Lochbihler hofft dennoch auf ein Gesetz. "Das Verschwindenlassen ist ein ganz spezifisches Unrecht", sagte sie.

Wolf-Dieter Vogel (epd)


Sudan: Regierung schließt Frieden mit Rebellen

Ein Friedensschluss soll den 17 Jahre dauernden Bürgerkrieg in Darfur und die Konflikte in zwei weiteren sudanesischen Krisenregionen beenden. Die Regierung und die Revolutionäre Front, ein Zusammenschluss mehrerer Rebellengruppen, hätten eine Einigung über ein Friedensabkommen erzielt, teilten internationale Vermittler laut der staatlichen Nachrichtenagentur Suna am 30. August in Juba mit, der Hauptstadt des Nachbarlands Südsudan. Die Vereinbarung sieht demnach unter anderem eine Beteiligung der Rebellen an der Macht, die Rückkehr von Vertriebenen und die Aufarbeitung von Verbrechen vor.

Am Wochenende unterzeichneten die Regierung und die Revolutionäre Front, der fünf Rebellengruppen in den drei Regionen Darfur, Südkordofan und Blauer Nil angehören, bereits sieben vorläufige Protokolle. Darin sind laut einem Bericht der Onlinezeitung "Sudan Tribune" die Integration der Rebellen in die Armee, die Beteiligung mehrerer Regionen an den Staatseinnahmen und mehr Autonomie für die Bundesstaaten Südkordofan und Blauer Nil festgelegt. Die formelle Unterzeichnung des Abkommens in einer Zeremonie war noch für Montag in Juba geplant, wo seit dem vergangenen Jahr unter südsudanesischer Vermittlung verhandelt wurde.

In der westlichen Krisenregion Darfur begann 2003 ein Bürgerkrieg, bei dem zwischen 2003 und 2008 Schätzungen zufolge 300.000 Menschen getötet wurden. Trotz des Abschlusses eines Friedensabkommens mit mehreren Rebellen 2006 herrscht bis heute kein Frieden in der Region. Der damalige sudanesische Präsident Omar al-Baschir, den das Militär im vergangenen Jahr auf öffentlichen Druck hin gestürzt hatte, wird wegen der Gräuel in Darfur vor dem Internationalen Strafgerichtshof der Kriegsverbrechen und des Völkermordes beschuldigt. In den Regionen Südkordofan und Blauer Nil brachen 2011 Kämpfe aus.



DAAD legt Stipendienprogramm für Studenten aus Afrika auf

Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) bietet für Flüchtlinge und für Menschen aus Ländern mit hohen Flüchtlingszahlen ein spezielles Stipendienprogramm für einen Masterstudienabschluss an. Das Programm mit dem Titel "Leadership for Africa" wird vom Außenministerium mit rund 2,5 Millionen Euro im Jahr unterstützt und richtet sich an anerkannte Flüchtlinge, die ihren Lebensmittelpunkt in Äthiopien, Kenia, Uganda und dem Sudan haben, sowie an Bachelorabsolventen dieser Länder, wie der DAAD am 27. August in Bonn mitteilte.

"Mit dem neuen Programm 'Leadership for Africa' bieten wir jungen Menschen in schwierigen Lebenssituationen die Chance zur Fortführung ihres Studiums", erklärte DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee. "Unser Stipendienprogramm schafft damit für qualifizierte Geflüchtete eine hochwertige und umfassende Bildungsperspektive in der Bundesrepublik Deutschland." Zunächst sind 55 Vollstipendien pro Jahr geplant, Studieninteressierte mit Bachelorabschluss können sich bis Mitte Oktober bewerben.

Das Masterstudium umfasst den Angaben zufolge ein umfangreiches Begleitprogramm und soll die Stipendiatinnen und Stipendiaten nach erfolgreichem Abschluss dazu befähigen, eine verantwortungsvolle Rolle bei der Weiterentwicklung ihres Heimatlandes einzunehmen. Zusätzlich zur Finanzierung des Masterstudiums an einer deutschen Hochschule erhalten die Teilnehmer ein Begleitprogramm mit Kursen zu Demokratieverständnis, Rechtsstaatlichkeit und nachhaltiger wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung. Das Stipendienpaket umfasst darüber hinaus einen Deutschkurs, Versicherungs- und Reisekosten sowie bei Bedarf Familienunterstützung.