Rund 55.000 Mal haben Jugendämter in Deutschland im vergangenen Jahr Kindeswohlgefährdung festgestellt - ein erneuter Anstieg der Zahlen. Das geht aus am 27. August veröffentlichten Daten des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden hervor. Demnach gab es 2019 rund 5.100 mehr Fälle als 2018. Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen sei damit das zweite Jahr in Folge um etwa zehn Prozent und damit auf einen neuen Höchststand gestiegen.

Ein Grund dafür könnte den Statistikern zufolge die umfangreiche Berichterstattung über Missbrauchsfälle in den vergangenen beiden Jahren sein, die zu einer weiteren Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der Behörden geführt haben dürfte. Gleichzeitig könnten aber auch die tatsächlichen Fallzahlen gestiegen sein. Bundesweit hatten die Jugendämter nach Angaben der Bundesbehörde im vergangenen Jahr mehr als 173.000 Verdachtsfälle geprüft. Das seien rund 15.800 mehr als 2018 gewesen.

Emotionale Kälte

Jedes zweite gefährdete Kind war den Daten zufolge jünger als acht Jahre. Im Alter bis 13 Jahre seien Jungen etwas häufiger betroffen gewesen, ab dem 14. Lebensjahr Mädchen. Mehr als die Hälfte der rund 55.000 betroffenen Kinder, nämlich 58 Prozent, hätten Anzeichen von Vernachlässigung aufgewiesen. Bei rund einem Drittel aller Fälle (32 Prozent) seien Hinweise auf psychische Misshandlungen gefunden worden. Dazu zählten beispielsweise Einschüchterungen, Demütigungen, Isolierung und emotionale Kälte. In weiteren 27 Prozent der Fälle habe es Indizien für körperliche Misshandlungen und bei fünf Prozent Anzeichen für sexuelle Gewalt gegeben. Mehrfachnennungen waren möglich.

Auch wenn Kindeswohlgefährdungen durch sexuelle Gewalt mit rund 3.000 Fällen am seltensten festgestellt worden seien, sei hier ein besonders starker Anstieg zu beobachten, meldet das Bundesamt: Von 2018 auf 2019 hätten die Fälle durch sexuelle Gewalt um 22 Prozent zugenommen (536 Fälle mehr). Damit habe sich der Trend aus dem Jahr 2018 fortgesetzt. Etwa zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen, bei denen 2019 eine Kindeswohlgefährdung durch sexuelle Gewalt festgestellt wurde, waren weiblich.

Kinderschutzbund sieht Warnsignal

In rund 28.000 Fällen stuften die Jugendämter die Kindeswohlgefährdung als eindeutig ein - das waren zwölf Prozent mehr als im Jahr zuvor. In rund 27.500 weiteren Fällen habe es zwar ernstzunehmende Hinweise auf eine Gefährdung gegeben, der Verdacht habe aber nicht endgültig bestätigt werden können - bei diesen sogenannten latenten Fällen gab es einen Anstieg von acht Prozent. Damit habe die Zahl der eindeutigen Fälle die Zahl der latenten Fälle seit Einführung der Statistik im Jahr 2012 erstmals überschritten, fügten die Statistiker hinzu. In beiden Fällen sind die Jugendämter dazu verpflichtet, das Familiengericht einzuschalten oder die Kinder zu ihrem Schutz vorübergehend in Obhut zu nehmen.

Für den Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, ist der Anstieg der amtlich festgestellten Kindeswohlgefährdungen ein Warnsignal. "Das sind mindestens 55.000 Kinder in unserem Land, die schlimmer Vernachlässigung und physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind und deren Rechte damit massiv verletzt werden", sagte Hilgers. Er sieht die Bundesregierung in der Pflicht, die präventiven Netzwerke aus Jugendhilfe, Gesundheitsvorsorge und Bildungsinstitutionen auszubauen.