Ob er seinen Bruder jemals wiederfinden wird? Seit sechs Jahren durchkämmt der Mexikaner Mario Vergara mit anderen Angehörigen von Verschwundenen einsame Felder, karge Berghänge und verlassene Grundstücke. Zunächst suchte der Mittvierziger nur rund um seine Heimatstadt, denn dort müssen die Kriminellen Tomás verscharrt haben. Mittlerweile zieht er mit seinen Mitstreitern durchs ganze Land, um geheime Gräber mit den Resten verschleppter Brüder, Töchter oder Ehemänner aufzuspüren. "Wir helfen uns gegenseitig", sagt Vergara, der immer das Bild seines Bruders auf einem Schild um den Hals trägt.

Mehr als 73.000 Menschen gelten in Mexiko als verschwunden. Manche wurden von Kriminellen verschleppt, damit sie als Schmuggler, Prostituierte oder im Drogenanbau arbeiten. Andere befanden sich in den Händen von Polizisten oder Soldaten, als sie zum letzten Mal gesehen wurden. "Mexiko zählt neben dem Irak zu den Staaten, in denen am meisten Menschen gewaltsam verschwinden", sagte die Menschenrechtsexpertin Barbara Lochbihler. Sie sitzt im UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen, der sich darum kümmert, dass die vor zehn Jahren in Kraft getretene UN-Konvention gegen dieses Verbrechen umgesetzt wird. Insgesamt 63 Staaten, darunter auch Deutschland, Mexiko und der Irak, haben das Übereinkommen unterschrieben.

Oppositionelle im Irak vermisst

Seit den Protesten in der irakischen Hauptstadt Bagdad im vergangenen Jahr werden Lochbihler zufolge zahlreiche Oppositionelle vermisst. Auch nach der Befreiung der nordirakischen Stadt Mossul vom "Islamischen Staat" (IS) vor vier Jahren seien viele Menschen verschwunden. Verantwortlich dafür zeichnen vor allem pro-iranische Milizen. "Diese Gruppen wurden später in die irakische Armee integriert, und deshalb muss sich die Regierung um die Verschwundenen kümmern", erklärt Lochbihler. Das passiere aber nicht.

Auch die mexikanischen Ermittler haben lange nichts getan. Sonst müsste Vergara nicht selbst nach seinem Bruder suchen. Tomás Vergara wurde laut seinem Bruder entführt. Auf Lösegeldforderungen wollte die Familie eingehen. Doch dann meldeten sich die Entführer nicht mehr.

Laut der UN-Konvention liegt gewaltsames Verschwindenlassen vor, wenn Menschen durch Festnahmen, Entführungen und andere Freiheitsberaubungen der Schutz des Gesetzes entzogen wird. Vorausgesetzt, die Täter waren staatliche Funktionsträger oder haben mit "Ermächtigung, Duldung oder Unterstützung des Staates" gehandelt.

In Ländern wie Mexiko ist das meist der Fall, weil Kriminelle, Politiker und Sicherheitskräfte oft kooperieren. Wenn Beamte den Verbleib von Festgenommenen verschleiern, handeln sie ebenfalls in diesem Sinne kriminell. Im Gegensatz zu anderen Menschenrechtsverletzungen sind beim Verschwindenlassen auch Angehörige wie Mario Vergara unmittelbare Opfer. "Die oft jahrelange Ungewissheit über das Schicksal eines geliebten Menschen ist nicht weniger quälend als Folter", beschreibt Amnesty International. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass die Verschwundenen gefunden werden.

Weltweit Hunderttausende verschwunden

Wie viele Menschen weltweit verschwunden sind, ist unklar. Zweifellos handelt es sich um Hunderttausende. Während des argentinischen Militärregimes von 1976 bis 1983 verschleppten Soldaten Zehntausende Oppositionelle, viele von ihnen wurden gefoltert und danach aus Flugzeugen in den Rio de la Plata geworfen. Ähnliches passierte in Chile, und im guatemaltekischen Bürgerkrieg verschwanden nach Amnesty-Schätzungen fast 40.000 Menschen. Der US-Geheimdienst CIA folterte im Rahmen seines Krieges gegen Terror Verdächtige in geheimen Gefängnisse in Polen und Syrien.

Heute verliert sich immer wieder die Spur von Menschen, die aus ihrer Heimat Richtung Europa fliehen. Ob es sich dabei um Verschwundene im Sinne der UN-Konvention handle, müsse bei jedem Einzelnen geprüft werden, erklärt Rainer Huhle vom Nürnberger Menschenrechtszentrum: "Das ist nicht automatisch der Fall, wenn Migranten im Mittelmeer ertrinken." Sollten aber Zwangsprostitution, Sklaverei und andere Formen des Menschenhandels im Spiel sein, könne es sich um gewaltsames Verschwindenlassen handeln.

Um solche und andere Fälle besser zu verfolgen, müsse die deutsche Regierung den Straftatbestand des Verschwindenlassens ins Gesetzbuch schreiben, empfiehlt der UN-Ausschuss. Deutschland habe eine Vorbildfunktion, zudem würde es einfacher, internationale Menschenrechtsverbrecher auszuliefern. Die Bundesregierung hält die Reform für überflüssig, weil das Delikt bereits durch Gesetze zu Entführung, Menschenhandel oder Folter abgedeckt sei. Lochbihler hofft dennoch auf ein Gesetz. "Das Verschwindenlassen ist ein ganz spezifisches Unrecht", sagte sie.