Kirchen

EKD-Ratsvorsitzender: "In aller Klarheit" gegen AfD-Hetze


Heinrich Bedford-Strohm
epd-bild / Norbert Neetz
Landesbischof Bedford-Strohm mahnt im Umgang mit der AfD und ihren Anhängern zur Klarheit: Auch wer die Partei aus nicht-rechtsextremistischen Motiven wählt, legitimiere damit jene, die rechtsextremes Gedankengut unter dem Mantel der AfD verbreiten.

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, sieht die AfD vor dem Hintergrund der rechten Ausschreitungen in Chemnitz als Brandstifter und Aufwiegler. Als Beispiel nannte er im Radiosender Bayern 2 am 30. August die Fraktionschefin der AfD, Alice Weidel. Sie hatte auf einem Online-Plakat den Spruch verbreitet: "Syrer und Iraker metzeln Opfer mit 25 Stichen nieder. Das Abschlachten geht immer weiter." Das sei die "Begleitmusik" zu Ereignissen wie in Chemnitz, kritisierte Bedford-Strohm.

Begriffe wie "Messermigration", den der AfD-Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier zu den rechtsgerichteten Ausschreitungen in Chemnitz anführte, wertete Bedford-Strohm als Hetzparolen. "Und dagegen muss man sich spätestens jetzt in aller Klarheit wenden", unterstrich er. AfD-Wähler müssten wissen, "dass sie Kräften Legitimität geben, die ganz nach rechts außen positioniert sind, die Nazi-Parolen vertreten". Die AfD sage Dinge, "die glücklicherweise in Deutschland in den letzten Jahrzehnten eben nicht salonfähig waren".

Für ihn stehe die Menschenwürde im Zentrum des gesellschaftlichen Konsens, sagte Bedford-Strohm. Dieser Grundkonsens dürfe nicht ins Wanken geraten. "Und deswegen ist auch die Wahl wichtig, dafür, dass die Bürger dieses Landes, gerade wenn sie sich als Christen verstehen, hier ein klares Zeichen setzen gegen solche Parolen", betonte er.

"Grundkonsens des Sagbaren verschieben"

Im Umgang mit der AfD müsse man sehr genau unterscheiden, sagte der Ratsvorsitzende am 29. August in einer Online-Diskussion zur Flüchtlingspolitik. Da gebe es zum einen Menschen, die wählten die AfD aus Protest ohne eine klare Vorstellung von deren Programmatik. Andere hätten vielleicht früher eine andere Partei gewählt, "die ihnen jetzt vielleicht nicht mehr konservativ genug ist". Und dann gebe es "diejenigen, die wirklich richtige rechtsextreme Thesen vertreten".

Diese versuchten, den "Grundkonsens des Sagbaren zu verschieben", sagte Bedford-Strohm: "Dem müssen wir in aller Klarheit widersprechen." Aber da, wo man noch wirkliche Dialoge führen könne, müsse man das Gespräch suchen. Allerdings müsse man auch diejenigen aufklären, die aus Motiven, die nicht rechtsextremistisch motiviert sind, die AfD wählen oder sich ihr anschließen. Diese "müssen wissen, dass sie dann mit jenen, die rechtsextremes Gedankengut unter dem Mantel der AfD verbreiten, dass sie denen die Legitimität geben", sagte Bedford-Strohm, der auch bayerischer Landesbischof ist.



Rentzing verurteilt Ausschreitungen von Chemnitz


Carsten Rentzing
epd-bild/Matthias Rietschel

Sachsens evangelischer Landesbischof Carsten Rentzing warnt nach den Ausschreitungen in Chemnitz vor einer weiteren Verrohung des Diskurses. Ein Todesopfer zu instrumentalisieren, sei "zutiefst erschütternd und befremdlich", sagte Rentzing dem Evangelischen Pressedienst (epd) am 28. August in Dresden. Das Geschehen bei den Demonstrationen in Chemnitz vom 27. und 28. August sei aus seiner Sicht "nur zu verurteilen".

In Chemnitz war es am Abend des 27. August den zweiten Tag in Folge zu gewaltsamen Demonstrationen gekommen. Auslöser war ein tödlicher Messerangriff auf einen 35-jährigen Deutschen in der Nacht zum 26. August. Gegen zwei mutmaßliche Täter, einen 22-jährigen Iraker und einen 23-jährigen Syrer, war Haftbefehl erlassen worden.

Bischof Rentzing sagte, Erschütterung über die Messerattacke sei "natürlich vollständig nachvollziehbar". Er selbst sei zutiefst entsetzt und betroffen. Auf der anderen Seite gebe es in Sachsen "eine große Schar an gewaltbereiten Rechtsextremisten, die durchs Land ziehen und solche Gelegenheiten ausnutzen", fügte der Bischof hinzu. Gegen diese vorzugehen, sei nun auch für die staatlichen Stellen das Gebot der Stunde.

"Nicht noch weiter auseinanderdriften"

Mit Blick auf die Proteste sagte Rentzing, die christliche Botschaft des Friedens und der Barmherzigkeit wende sich auch an diejenigen, "die dort mit erkalteten, mitleidslosen und unbarmherzigen Herzen jagend durch die Stadt ziehen". Jedoch müsse man auch "nüchtern bekennen, dass diese Personen durch unsere Botschaft vermutlich nicht erreicht werden".

Von den staatlichen Stellen forderte der Landesbischof ein entschiedenes Vorgehen gegen Gewaltbereite und Straftäter unter den Demonstranten. Von zivilgesellschaftlicher Seite gelte es, an die Mitmenschen zu appellieren, einen warmen Blick zu bewahren und sich nicht in Hass- und Rachegedanken zu flüchten.

"Wir müssen aufpassen, dass wir in unserer Gesellschaft nicht noch weiter auseinanderdriften", sagte der Bischof dem epd weiter. Es sei vollkommen inakzeptabel und mit einem christlichen Gewissen nicht vereinbar, wenn "pauschal ganze Bevölkerungsgruppen zu Verbrechern deklariert werden", sagte Rentzing: "So kann eine Gesellschaft nicht in die Zukunft gehen."

epd-Gespräch: Johannes Süßmann


Kurschus betont in USA Einsatz für Menschenwürde


Annette Kurschus
epd-bild/Friedrich Stark

Die westfälische Präses Annette Kurschus hat bei einer USA-Reise den Einsatz der Christen für Gerechtigkeit und Menschenwürde betont. Gott nehme seinen Platz zuallererst an der Seite der Armen, Schwachen und Hilfsbedürftigen ein, sagte Kurschus in Louisville/Kentucky, wie die Evangelische Kirche von Westfalen am 27. August in Bielefeld mitteilte. Die leitende Theologin der westfälischen Landeskirche besucht derzeit mit einer Delegation die US-Partnerkirche United Church of Christ (Vereinigte Kirche Christi, UCC).

In ihrer Predigt äußerte Kurschus die Hoffnung, das göttliche Gericht am Ende der Zeiten möge "die Gerechtigkeit wiederherstellen, die mit Füßen getreten und verraten wurde". Das Gericht Gottes solle die Täter endgültig "böse" nennen und die Opfer ins Recht setzen - auch im Nahen und Mittleren Osten. Die Mörder und Lügner sollten entlarvt, den Misshandelten und Gedemütigten solle ihre Würde zurückgegeben werden, sagte die Präses.

Die elfköpfige Gruppe der westfälischen Kirchenleitung besucht bis zum 8. September Gemeinden und Einrichtungen der UCC in den US-Bundesstaaten Kentucky, Indiana und Ohio. Schwerpunkte der Reise sind nach Angaben der Landeskirche die diakonische Arbeit der Partnerkirche, Zuwanderung und Integration sowie der Dialog mit dem Islam. Vorgesehen sind zudem in Washington ein Treffen mit der deutschen Botschafterin sowie Gespräche mit Vertretern der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds.

Die Evangelische Kirche von Westfalen ist seit 1980 mit der United Church of Christ in Kirchengemeinschaft verbunden. Die in Teilen auf deutsche Auswanderer zurückgehende Kirche zählt nach Angaben des Bielefelder Landeskirchenamtes rund eine Million Mitglieder. Die Gemeinden sind weitgehend selbstständig. Entschiedene Gegner und Befürworter von Präsident Donald Trump stünden sich auch in dieser Kirche gegenüber, hieß es.



Kirchenasyl: Rhein-Hunsrück-Kreis erstattet Strafanzeigen

In Rheinland-Pfalz eskaliert erneut ein Streit um das Kirchenasyl. Die Staatsanwaltschaft in Bad Kreuznach bestätigte dem Evangelischen Pressedienst (epd) am 28. August, dass der Rhein-Hunsrück-Kreis in insgesamt neun Fällen Strafanzeigen gegen Verantwortliche aus Kirchengemeinden gestellt habe, die zurzeit Kirchenasyl gewähren. Die Ermittlungsbehörde werde voraussichtlich in den kommenden Tagen entscheiden, ob sie ein formelles Strafverfahren einleite, sagte Oberstaatsanwalt Kai Fuhrmann. Auch die ins Kirchenasyl aufgenommenen Flüchtlinge seien wegen illegalen Aufenthalts angezeigt worden.

Die Koblenzer "Rhein-Zeitung" berichtete, dass bereits im Juni ein Versuch der Kreisverwaltung gescheitert sei, ein Kirchenasyl im Rhein-Hunsrück-Kreis durch einen Polizeieinsatz aufzulösen. In dem Fall sei es um einen Sudanesen gegangen, der nach den Dublin-Bestimmungen zurück nach Italien gebracht werden sollte. Einen Tag vor der geplanten Abschiebung hatte das Mainzer Integrationsministerium den zuständigen Landrat Marlon Bröhr (CDU) angewiesen, auf Zwangsmaßnahmen gegen das Kirchenasyl zu verzichten.

"Humanität zusehends unter Druck"

Die Evangelische Kirche im Rheinland, zu der die betroffenen Gemeinden gehören, teilte dem epd auf Nachfrage mit, Kirchenasyl werde nur nach reiflicher Überlegung gewährt, wenn besondere humanitäre Härten vorliegen. In der Regel werde dies von den politisch Verantwortlichen mitgetragen. "Allerdings verfolgen wir mit Sorge, dass diese Humanität durch ein sich änderndes politisches und gesellschaftliches Klima zusehends unter Druck gerät", erklärte Vizepräses Christoph Pistorius. Die konkrete Situation im Rhein-Hunsrück-Kreis wollte die Landeskirche zunächst nicht kommentieren.

In Rheinland-Pfalz gab es seit 2017 eine ganze Reihe von Konflikten um Menschen im Kirchenasyl. Für Aufsehen sorgte ein Fall in Ludwigshafen, bei dem die Polizei eine koptische Familie in den Kirchenräumen festgenommen hatte. In Budenheim bei Mainz hatte die Kreisverwaltung eine katholische Kirche erfolglos nach einem untergetauchten Flüchtling durchsuchen lassen, dessen Kirchenasyl offiziell bereits beendet worden war. Im Frühjahr 2018 wurde ein Strafverfahren gegen einen evangelischer Pfarrer aus der Pfalz eingeleitet und erst gegen Zahlung einer Geldauflage in Höhe von 1.200 Euro wieder eingestellt.



Forum Asylpolitik Lippe für Flüchtlingshelfer

Zum zweiten Forum Asylpolitik Lippe lädt die Lippische Landeskirche zusammen mit weiteren Organisationen am 28. und 29. September in Detmold ein. Im Gemeindehaus am Markt gibt es unter dem Titel "Gekommen um zu bleiben!? - zwischen Aufenthaltsbeendigung und Bleibeperspektive" Vorträge, Diskussionen und Workshops, teilte die Landeskirche mit. Mitveranstalter sind der Caritasverband für den Kreis Lippe und das Ökumenische Forum Flüchtlinge in Lippe.

Ein Jahr nach dem ersten Forum Asylpolitik Lippe habe sich die Situation bedenklich weiterentwickelt, hieß es in der Ankündigung. Der Fokus der Asylpolitik liege "noch einmal deutlicher" auf Ausreise und Abschreckung. Dennoch gebe es immer noch ein beeindruckendes Engagement von Ehren- und Hauptamtlichen. Sie setzten sich demnach für ein weiteres Ankommen Geflüchteter in der Gesellschaft ein oder kämpften für eine Bleibeperspektive für von Abschiebung Bedrohte. Das Forum wolle über die aktuellen Entwicklungen informieren und Handlungsmöglichkeiten in der praktischen Arbeit diskutieren.

Die Veranstaltung richtet sich den Angaben zufolge an haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter in der Flüchtlingshilfe sowie an alle Interessierten. Weitere Informationen und Anmeldung (bis zum 14. September) unter 05231/976-742 oder bildung@lippische-landeskirche.de.



Kirchliche Aktion gegen höhere Militärausgaben

Die Evangelische Friedensarbeit und die katholische Friedensorganisation Pax Christi rufen zum Protest gegen höhere Militärausgaben auf. Anlässlich des Weltfriedenstags am 1. September wurde die Unterschriftensammlung "Mehr fürs Militär? Nicht mit uns!" gestartet. Darin wenden sie sich gegen höhere Rüstungsausgaben und gegen die Vereinbarung der Nato, wonach Mitgliedsstaaten zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für ihre Verteidigungshaushalte einsetzen sollen.

Bisher gebe Deutschland rund 37 Milliarden Euro und damit rund 1,2 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Militär aus. Dieser Anteil solle bis 2024 auf zwei Prozent steigen, das wären rund 62 Milliarden Euro, heißt es in dem Appell weiter. Damit würde Deutschland zur stärksten Militärmacht in der EU.

Höhere Wehrausgaben widersprächen den moralischen Verpflichtungen und politischen Einsichten und laufe notwendigen Bestrebungen nach Deeskalation, Abrüstung und einem Stopp des internationalen Waffenhandels zuwider, erklärten Pax-Christi-Präsident Heinz Josef Algermissen und der Friedensbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Renke Brahms. Sie riefen die Bundesregierung auf, den Wohlstand Deutschlands zu nutzen, um den Weltfrieden zu stärken und zivile Konfliktbearbeitung, Diplomatie und Verhandlungslösungen zu fördern. Unter anderem verlangten sie eine bessere Ausstattung des UN-Flüchtlingshilfswerks und des Zivilen Friedensdienstes.



Sozialethiker Huber hält Finanzkrise wie 2008 erneut für vorstellbar


Wolfgang Huber
epd-bild/Jürgen Blume

Der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, hält einen Zusammenbruch der weltweiten Finanzmärkte ähnlich wie 2008 auch heute für möglich. "Eine derartige Krise ist erneut vorstellbar", sagte der Sozialethiker dem Evangelischen Pressedienst (epd). Leider habe sich seitdem nicht sehr viel geändert.

Nur ganz allmählich und vereinzelt würden neben kurzfristigen Renditen auch andere Ziele wirtschaftlichen Handelns in den Blick genommen. "Wenn ich auf die Managergehälter schaue, sind wir von einem Kurswechsel noch weit entfernt", sagte Huber.

Nach 2008 sei es versäumt worden, eine international verantwortete soziale Marktwirtschaft zu entwickeln. "Damit meine ich nicht, das deutsche Modell auf die ganze Welt auszudehnen", sagte der Theologe. Schon die politische Debatte darüber, wie man mehr Transparenz und Verbindlichkeit schaffen kann, sei ausgeblieben. "Dem stand der Rückzug auf nationale Egoismen entgegen, wie er vor allem im Slogan "America first" deutlich wird", sagt Huber, der zudem deutliche Kritik an den Wirtschaftswissenschaften äußerte.

"Ethisch basierte Wissenschaft"

Diese seien aus seiner Sicht nicht ausreichend bemüht, ihre eigene Prognosekapazität zu verbessern. "Eine verantwortliche, ethisch basierte Wissenschaft muss sich dieser Aufgabe stellen", sagt der Berliner Altbischof: "Weit entfernt sind wir von einem Vorsichtsprinzip, um Einbrüchen wie 2008 vorzubeugen. Im Umweltschutz existiert so etwas inzwischen."

Mit der Insolvenz der US-amerikanischen Investmenbank Lehman Brothers am 15. September 2008 war das Platzen einer Immobilienblase in den USA zu einer weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise eskaliert. Die Auswirkungen der darauf folgenden Rezession reichen bis heute.

epd-Gespräch: Karsten Frerichs und Jens Büttner


Kirchen legen Patientenverfügung neu auf

Die katholische Deutsche Bischofskonferenz, die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen haben eine neue Version der Christlichen Patientenvorsorge herausgebracht. Neu gegenüber vorherigen Auflagen sind eine erweiterte Vorsorgevollmacht für Gesundheits- und Aufenthaltsangelegenheiten, für Totensorge, Organspende und Bestattung sowie eine Generalvollmacht für übrige Angelegenheiten, die unter anderem vermögensrechtliche Bevollmächtigungen ermöglicht und über den Tod hinaus gilt, wie Bischofskonferenz und EKD am 27. August mitteilten.

Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm betonen im Vorwort zur Neuauflage, dass es nicht einfach sei, sich mit dem eigenen Lebensende und der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Das Formular und die Erläuterungen sollen helfen, "sich mit dem Sterben und den eigenen Wünschen für den Umgang mit einer lebensbedrohenden Erkrankung zu befassen - und diese Wünsche verbindlich und wirksam festzuhalten". Gegenüber Ärzten, Pflegekräften, Angehörigen und Seelsorgern könnten die Verfügungen dem persönlichen Willen Ausdruck verleihen, "auch dann noch, wenn man selbst nicht mehr dazu in der Lage ist".

Die Christliche Patientenvorsorge berücksichtigt neben juristischen auch theologisch-ethische Aspekte und ist den Kirchen zufolge in besonderer Weise von christlicher Überzeugung geprägt. Dazu gehörten die Ablehnung der Tötung auf Verlangen und der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung. Das bedeute aber nicht, dass sie nur von Christen verwendet werden kann.

Frühere Christliche Patientenvorsorgen behalten ihre Gültigkeit, die Kirchen empfehlen aber, aus Gründen der Aktualität ein Formular der Neuauflage auszufüllen. Erstmals legten die drei kirchlichen Organisationen 1999 eine eigene Patientenverfügung auf. Bisher sind 4,65 Millionen Exemplare gedruckt worden.



Kirchen werben für Tag der Schöpfung

Die Kirchen in Deutschland laden für den 7. September zur Teilnahme am ökumenischen Tag der Schöpfung ein. "Die Frage, wie wir mit der Umwelt und den natürlichen Ressourcen umgehen, ist eine entscheidende Herausforderung unserer Zeit und eine die Generationen übergreifende Aufgabe", erklärte am 29. August der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK), Bischof Karl-Heinz Wiesemann (Speyer).

Der ökumenische Tag der Schöpfung wird bundesweit mit Gottesdiensten und Veranstaltungen begangen. Die zentrale Feier findet am 7. September 2018 in Starkow (Mecklenburg-Vorpommern) statt, wie die katholische Deutsche Bischofskonferenz in Bonn mitteilte.

Christen müssten sich dafür einsetzen, "dass der wirtschaftliche und technische Fortschritt nicht zu Lasten der Umwelt und damit unserer Lebensgrundlage geht", forderte Bischof Wiesemann. "Die Verantwortung für den Nächsten, für die armen und am Rande der Gesellschaft stehenden Menschen, ist von der Verantwortung für die Schöpfung nicht zu trennen." Daher müsse Umweltpolitik auch integraler Bestandteil jeder Entwicklungspolitik sein.

Der Ökumenische Tag der Schöpfung geht auf eine Initiative des Ökumenischen Patriarchen Dimitrios I. zurück, der 1989 die "ganze orthodoxe und christliche Welt" dazu einlud, am 1. September für die Schöpfung zu beten. Beim 2. Ökumenischen Kirchentag 2010 in München hatte die ACK den Schöpfungstag ausgerufen. Die bundesweite Feier findet jeweils am ersten Freitag im September statt.

Der 1948 gegründeten Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) gehören derzeit 17 Kirchen als Mitglieder an, darunter beide großen Kirchen in Deutschland, die Orthodoxe Bischofskonferenz, das katholische Bistum der Alt-Katholiken sowie die Evangelisch-methodistische Kirche. Weiter gehören zur ACK anglikanische und mennonitische Gemeinden, evangelische Freikirchen und die Heilsarmee.



Christi Leib im Plastikdöschen


Prefilled Communion Cups
epd-bild/Norbert Neetz
In der Regel wird bei Abendmahlsfeiern Brot geteilt und Wein aus einem gemeinsamen Kelch getrunken. Nicht so in vielen modernen Mega-Kirchen: Hier feiern Christen mit kleinen Abendmahl-Kapseln die Gemeinschaft mit Christus und den Mitchristen.

Sie sehen aus wie kleine Kaffeesahnekapseln, enthalten aber Leib und Blut Christi. "Prefilled Communion Cups" werden seit kurzem von einigen Gemeinden in Deutschland zur Abendmahlsfeier genutzt. "So ermöglichen wir jedem, zum Tisch des Herrn zu gehen", erklärt Peter Wenz, leitender Pastor des Gospel Forums in Stuttgart, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die "Cups" enthalten in einem winzigen Plastikbecher einen Schluck Traubensaft und darüber in einer zweiten Schicht eine kleine eingeschweißte Oblate. Zur Abendmahlsfeier werden sie entweder in großen Körben durch die Reihen gegeben oder zu Beginn des Gottesdienstes am Eingang ausgeteilt.

Die freie evangelisch-charismatische Gemeinde von Pastor Wenz, zu der sich über 8.000 Menschen zählen, nutzt seit eineinhalb Jahren die Sets. Die Mitglieder hätten es sich gewünscht, sonntags wieder gemeinsam Abendmahl zu feiern, und nicht nur - wie vorher üblich - in über 600 Kleingruppen unter der Woche. "Da haben wir uns für die 'Cups' entschieden, weil wir es von anderen Kirchen weltweit kannten und weil es uns die Möglichkeit eröffnet hat, das Abendmahl zeitlich gut im großen Gottesdienst unterzubringen." Einen anderen Weg habe es bei so vielen Gottesdienstbesuchern aus zeitlichen Gründen gar nicht gegeben.

"Starkes Erlebnis"

Auch aus hygienischer Sicht seien die Abendmahl-Sets positiv zu bewerten: "Mit dem Becher, den jeder für sich hat, haben wir das Problem der Ansteckungsgefahr ausgeschaltet", sagt der Gemeindeleiter. Die Rückmeldung sei positiv gewesen: "Wenn wir das Abendmahl in dieser Form im großen Gottesdienst nehmen, ist das ein sehr starkes Erlebnis."

Sucht man nach den "Cups" im Internet, wird man schnell fündig: Dort kann man die kleinen Kapseln von verschiedenen Unternehmen kaufen, zum Beispiel 500 Stück für umgerechnet 70 Euro. Angeboten werden zum Beispiel "Kingdom Prefilled Communion Cups" oder "Fellowship Cups". Wie viele andere Gemeinden bestellt auch das Gospel Forum Stuttgart die kleinen Abendmahl-Sets in den USA. Dort wurde das abgepackte Abendmahl in den 90er-Jahren von einer Gemeinde in Oregon erfunden.

Anselm Schubert, Professor für Neuere Kirchengeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg, hat sich intensiv mit dem Abendmahl beschäftigt. Historisch knüpfe das abgepackte Abendmahl an die ältere Tradition des Einzelkelchs an, erklärt Schubert. Als man im späten 19. Jahrhundert Bakterien entdeckte, sei eine Angst vor Ansteckung entstanden, so dass sich viele Kirchen in den USA dazu entschieden hätten, jedem Kirchgänger einen eigenen Kelch zu reichen. Da sei es eine naheliegende Idee gewesen, den Einzelkelch schon vorher abzufüllen.

"Das ist nichts, was die Amerikaner erfunden haben, um viel Geld zu verdienen", betont Schubert. Er sieht die "Prefilled Cups" vielmehr als "pragmatische Lösung für ein praktisches Problem in riesigen Gemeinden".

"Asthetisch schrecklich"

Aus ästhetischer Sicht seien die Sets "natürlich ganz schrecklich" und das damit entstehende Müllproblem dürfe man auch nicht vernachlässigen, sagt der Kirchenhistoriker. Außerdem gibt er zu bedenken, dass bei dieser Form des Abendmahls der Gemeinschaftscharakter verloren gehe, wenn jeder sein eigenes Päckchen nutze.

Pastor Wenz weist diesen Vorwurf zurück: "Eine Gemeinschaft kommt nicht zustande, wenn man aus dem gleichen Becher trinkt. Sie entsteht in den Herzen." Das bringe seine Gemeinde im gemeinsamen Teilen des Brotes zum Ausdruck.

Ein Hersteller aus den USA bewirbt die Päckchen in einem Kurzfilm mit Attributen wie "super leicht zu öffnen", "eine Art, die Kommunion auf eine frische und gesunde Weise zu feiern" oder "servierbereit und einfach zu lagern". Auch die "signifikant reduzierte Zeit zur Austeilung des Abendmahls" wird hier als Pluspunkt hervorgehoben.

Thies Gundlach, Vizepräsident des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), bemängelt den Gedanken der Effektivität: "Einerseits möchte man eine Gemeinschaftsfeier mit Gott und den Mitchristen feiern und andererseits soll das möglichst schnell, effektiv und reibungslos sein. Das ist in sich spannungsvoll." Prinzipiell schließe die EKD Einzelkelche und damit auch "Prefilled Cups" statt eines gemeinsamen Bechers beim Abendmahl nicht aus. Genutzt würden diese aber nicht, so Gundlach.

In der katholischen Kirche sind Einzelkelche und "Prefilled Cups" hingegen nicht erlaubt. Thomas Schüller, Professor für katholisches Kirchenrecht an der Universität Münster, erklärt, dass bei Einzelkelchen die Gefahr bestehe, etwas von dem Blut Christi zu verschütten. Dies sei undenkbar, weil Katholiken glaubten, dass Jesus Christus leibhaftig im Wein anwesend sei.

Dennoch sieht der Kirchenrechtler einen positiven Aspekt in den "Cups": Das Abendmahl sei für Katholiken das zentrale Element der Kirche. "Ich freue mich, dass durch ein so praktisches Beispiel aus den USA wieder eine Diskussion über das Abendmahl angestoßen wird."

Hannah Thielmann (epd)


Speeddating in Kirche: Der Liebe eine Chance geben


Baumstamm mit Liebesbotschaft
epd-bild / Stefan Arend
Speeddating: Kurze Gespräche mit mehreren Kandidaten, um einen neuen Partner kennenzulernen oder Freundschaften zu knüpfen - was sonst eher kommerzielle Anbieter im Programm haben, probiert jetzt auch eine evangelische Kirchengemeinde aus.

Vikarin Nele Kaiser, die das Projekt "Speeddating in der Kirche" in der Evangelischen Kirchengemeinde Unna-Massen ins Leben gerufen hat, tritt ans Mikrofon und begrüßt die Gäste, während das Helferteam noch eilig Tische und Stühle dazu holt. Mit einem so großen Andrang hatte niemand gerechnet. Für den Abend hat sie den Bibeltext aus dem Buch Genesis, Kapitel 2, Vers 18 herausgesucht: "Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. "

"Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei"

Das Thema Beziehung beschäftigt Nele Kaiser seit vielen Jahren. "Die Vereinsamung und Anonymität in unserer Gesellschaft ist für viele ein Problem, es besteht eine tiefe Sehnsucht nach Gemeinsamkeit", sagt die junge Theologin. "Ich denke, die Kirche muss sich verstärkt um diese Fragen kümmern und den Mut haben, auch mal moderne Wege zu gehen".

Der Erfolg gibt ihr Recht - über 90 Menschen haben sich angemeldet. Die jüngste Teilnehmerin ist 20 Jahre alt, der Älteste feiert bald seinen 83. Geburtstag. Damit sich die Gruppen nicht an einem Tisch festsitzen, werden die Plätze nach einigen Minuten auf Ansage getauscht.

Jüngste Teilnehmerin ist 20 Jahre alt, der Älteste bald 83

Jascha steht noch etwas verlegen in der Türe des Gemeindesaals. "Meine Schwester hat mich überredet, zum Speeddating mitzukommen." Sie hatte in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen auf Onlineportalen gemacht. Beide wollen heute Abend etwas Neues ausprobieren, nette Leute kennenlernen und gute Gespräche führen. Ob Jascha nicht hofft, eine Partnerin heute Abend zu finden? "Doch! Das wäre sehr schön..." Er steckt sich sein grünes Namensschild an und setzt sich an den Tisch mit den unter 40 Jährigen.

Der 27-Jährige Sven ist das erste Mal bei einem Speeddating. Er findet sich selbst zwar attraktiv, aber er sei sehr schüchtern. "Frauen wollen ja doch erobert werden" - das falle ihm schwer. Er wendet sich wieder seiner Gesprächspartnerin Eva zu, beide lachen. Von seiner Schüchternheit ist nichts mehr zu merken.

Frauenüberschuss

Evas Freundin Henryka sitzt auch mit am Tisch, sie ist Jahrgang 1955. Am Ende hat sie die Telefonnummer eines 15 Jahre jüngeren Mannes in der Tasche. Sie hatte ihn darum gebeten. "Männer trauen sich oft nicht, einen konkreten Vorschlag für ein Wiedersehen zu machen. Da muss man als Frau schon selbstbewusst sein." Ob sie ihn anrufen wird, weiß sie noch nicht. "Aber es war ein schöner Abend und wir haben uns gut amüsiert. Nur stimmte leider das Verhältnis von Männern und Frauen nicht."

Tatsächlich sind zu der Veranstaltung zwei Drittel Frauen und nur ein Drittel Männer gekommen. "Da fehlt dem anderem Geschlecht wohl der Mut", meint Eva und legt ihren Arm um die Schultern ihres Tischnachbarn und zwinkert ihn an.

Die Mehrheit der Gäste ist schon etwas älter, die größte Gruppe sind die 50- bis 70-Jährigen. Doch die Motive sind bei Alt und Jung dieselben. Auch Manfred, 82 Jahre, wünscht sich seit dem Tod seiner Ehefrau wieder eine Partnerin. "Mich hat die Einsamkeit hierher getrieben!" Er habe den Wunsch nach der Nähe zu einer Frau noch nicht aufgegeben. Doch nun muss er seinen Platz wechseln, Speeddating bedeutet schließlich schnelles Kennenlernen.

Lied der "Toten Hosen" gibt Mut

Zum Ausklang des Abends gibt es eine Andacht. Das Lied der Toten Hosen "Ich bin die Sehnsucht in Dir" wird gespielt. Die Gespräche werden leiser, es wird still im Raum. Auch wenn nicht jeder hier auf Partnersuche ist, verbindet offenbar alle der Wunsch nach Zweisamkeit.

"Viele meldeten sich, weil sie neue Menschen treffen oder Freundschaften knüpfen wollen", berichtet Nele Kaiser. "Sie haben uns zurückgespiegelt, dass sie den geschützten Rahmen in einer Kirchengemeinde gut finden. Gerade die Älteren wollen den anderen persönlich nicht online, sondern von Angesicht zu Angesicht kennenlernen." Aus den Nachbargemeinden kamen bereits Anfragen nach dem Konzept. "Das freut mich ganz besonders - Kopieren ist absolut erwünscht!", lächelt die Vikarin und verabschiedet die letzten Gäste.

Ulrike Märkel (epd)


Heiner Wilmer ist 71. Bischof von Hildesheim


Heiner Wilmer
epd-bild/Jens Schulze/bph
Heiner Wilmer hat an vielen Orten gearbeitet: Unter anderem im in der New Yorker Bronx. Nun wurde der 57-jährige katholische Ordenspriester und Gymnasiallehrer in sein Amt als neuer Bischof von Hildesheim eingeführt.

Der katholische Ordenspriester Heiner Wilmer (57) ist am 1. September in sein Amt als 71. Bischof von Hildesheim eingeführt worden. "Mir ist bewusst, dass ich meinen Dienst in einer für die Kirche herausfordernden Zeit antrete", sagte Wilmer bei seiner Bischofsweihe im Hildesheimer Mariendom. "Das schwerste und bitterste Thema ist für mich der Zusammenhang von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch in unserer Kirche."

Diesem Thema wolle er sich von Anfang an "mit aller Kraft" widmen. "Was die Menschen brauchen, ist Heilung und Hoffnung", so Wilmer. Zum 815 gegründeten Bistum Hildesheim zählen rund 600.000 Katholiken im östlichen Niedersachsen und Teilen des Landes Bremen.

Der 1961 in Schapen im Emsland geborene Wilmer war zuletzt Ordensgeneral der Herz-Jesu-Priester. Seit seiner Wahl zum Leiter des Ordens 2015 lebt er in Rom. Zuvor arbeitete er unter anderem als Lehrer und Schulleiter im Emsland, in Vechta und in New York. Der promovierte Theologe trat bereits nach seinem Abitur 1980 in den Orden ein und legte 1985 noch während seines Studiums das Gelübde ab. Wilmer ist auch Autor mehrerer Bücher.

"Mut und Halt vermitteln"

Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße sprach in seiner Predigt ebenfalls von den Herausforderungen für das Bischofsamt. Neben der klaren und bestimmten Aufklärung und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs gehöre zu den Aufgaben auch, angesichts knapper Finanzen "mutig und visionär" zu sein. In Zeiten großer Unsicherheiten und auch von Ausschreitungen, müsse der neue Bischof Menschen Mut und Halt vermitteln, sagte Heße mit Blick auf die ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz.

Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister sagte als Ratsvorsitzender der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, die fünf Kirchen freuten sich über einen Bischof, "der mit uns neue Wege geht und dabei mutig über die konfessionellen Grenzen der Kirchen hinausschaut". Meister wünschte dem neuen Bischof, so zu wirken, wie er sei: "ehrlich, mutig, geschwisterlich und glaubensstark". Der evangelische Bischof fügte hinzu: "Wir freuen uns auf die gemeinsame ökumenische Wanderschaft."

Mehrere tausend Gäste, unter ihnen auch der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff und Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), verfolgten den Gottesdienst, der live im Internet übertragen wurde. Weil erinnerte an die gemeinsame Verantwortung des Staates und der Kirchen für eine gerechte Gesellschaft. Mit Blick auf Chemnitz unterstrich der Ministerpräsident, dass "eine Gesellschaft der Nächstenliebe" noch in weiter Ferne sei. "Wir werden noch viel mehr gemeinsam dafür tun müssen, dass diese Gesellschaft zusammenbleibt und Nächstenliebe wirklich ein Motto für uns alle werden wird."



Kirchengründung auf Pfälzer Art

Pfälzer gelten als eigenwillig. Diesen Charakterzug haben die Protestanten des Landstrichs vor 200 Jahren bewiesen. Von der Basis her entstand eine Bewegung zum Zusammenschluss von Lutheranern und Reformierten. Das Modell hat sich bis heute bewährt.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war in der Pfalz der Wunsch nach einer Vereinigung von Lutheranern und Reformierten weit verbreitet. Reformierte und Lutheraner waren häufig miteinander verheiratet und lebten in gemischten protestantischen Dorfgemeinschaften. In den Mischehen gingen die Mädchen sonntags mit der Mutter in die Kirche, die Buben folgten dem Vater. Diese in der Reformationszeit erfolgte Trennung konnte 1818 überwunden werden.

Durch die Kirchenunion der beiden protestantischen Konfessionen vor 200 Jahren wurde die "Vereinigte-protestantisch-evangelisch-christliche Kirche der Pfalz" gegründet, die sich erst 1978 in "Evangelische Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche)" umbenannte. Ihre Eigenart ist bis heute von dem 1818 beschlossenen Grundsatz bestimmt, dass allein die Heilige Schrift Norm und Richtschnur für Lehre und Leben sein sollte. Ihre 200-Jahr-Feier begeht diese protestantische Kirche vom 7. bis 9. September in Kaiserslautern, dem Ort, an dem sie gegründet wurde.

Wunsch der Gemeinden

Der Wunsch nach einer Kirchenvereinigung ging von den Gemeinden aus. Waren frühere Verständigungsversuche am Beharren an den Lehrunterschieden zwischen Luther und den Schweizer Reformatoren Zwingli und Calvin gescheitert, hatte die Aufklärung dafür gesorgt, dass sich die Bindung an die kirchlichen Bekenntnisse löste. Zudem ließen der gemeinsame Überlebenskampf in der Zeit der Französischen Revolution und die Freiheitskriege Lutheraner und Reformierte jahrhundertealte Vorurteile vergessen.

Als im Mai 1816 Bayern das Gebiet der heutigen pfälzischen Landeskirche (Pfalz und Saarpfalz) übernahm, sah sich die Regierung mit der Aufgabe konfrontiert, aus den ursprünglich 44 Territorien ein Gebilde mit einheitlichem kirchlichen Bewusstsein zu schaffen. In der Kurpfalz und in Pfalz-Zweibrücken überwogen die Angehörigen der reformierten Konfession, in den Gebieten der Leininger Grafen sowie in Reichsstädten wie Speyer und Landau die Lutheraner.

Insgesamt standen 1813 im Gebiet der heutigen Pfalz 134 737 Reformierten 101 433 Lutheraner gegenüber. Infolge der langen Kriegswirren lag das kirchliche Leben weithin brach. Pfarrer und Lehrer lebten häufig in bitterster Armut. Auch in der Bevölkerung spielte der Wunsch nach Frieden und sicheren Lebensverhältnissen beim Zustandekommen der Kirchenvereinigung eine große Rolle.

Es war das Jahr 1817, in dem die Pfälzer Protestanten unter dem Eindruck der gemeinsamen 300-Jahr-Feier der Reformation die Weichen für die Kirchenvereinigung stellten. Von Oktober 1817 bis März 1818 schlossen sich mehr als die Hälfte der lutherischen und reformierten Kirchengemeinden zu 80 sogenannten Lokalunionen zusammen. Bis zu diesen Zusammenschlüssen gab es 123 lutherische und 127 reformierte Pfarreien.

Die Union wurde also nicht wie im Herzogtum Nassau von der Regierung verordnet, was in der Pfalz auf Widerstände gestoßen wäre. Die Akzeptanz der Pfälzer Kirchenunion war gebunden an den freien Willen der Gemeinden. Indem der bayerische König eine "Volksabstimmung" initiierte, hat er die eigenwillige Pfälzer Unionsbewegung legalisiert.

Nur Familienväter durften abstimmen

Mit 40 167 Ja-Stimmen gegenüber 539 Nein-Stimmen sprach sich eine überwältigende Mehrheit für die Union aus. In der Regel waren nur die Familienväter abstimmungsberechtigt, allerdings wurde dieser Personenkreis häufig erweitert. In einigen Orten beteiligten sich die Witwen, in Hinzweiler gar alle Frauen und konfirmierten Knaben. 493 der 539 Gegenstimmen kamen aus reformierten Gemeinden: zum größten Teil aus Neustadt, Haßloch, Erfenbach und Albersweiler, wo man befürchtete, die reichen Pfründe mit den armen Lutheranern teilen zu müssen.

Die Generalsynode zur Gründung der pfälzischen Landeskirche fand vom 2. bis 16. August 1818 in Kaiserslautern statt. In nur zwölf Verhandlungstagen wurde die Unionsurkunde verfasst und damit das Fundament der pfälzischen Unionskirche gelegt. Der Grundsatz in der Vereinigungsurkunde, dass "es zum innersten und heiligsten Wesen des Protestantismus gehört, immerfort auf der Bahn wohlgeprüfter Wahrheit und ächt-religiöser Aufklärung, mit ungestörter Glaubensfreiheit, muthig voranzuschreiten" zeigt den Fortschrittsglauben der Aufklärungszeit.

Am 10. Oktober 1818 erhielt die Vereinigungsurkunde die königliche Bestätigung und damit Gesetzeskraft. Sichtbarer Ausdruck der Kirchenvereinigung war die gemeinsame Feier des Abendmahls in der Kaiserslauterer Stiftskirche nach dem neuen Ritus. Jeweils der älteste reformierte und lutherische Pfarrer teilten Brot und Wein aus.

Obwohl noch einige Jahre verstreichen mussten, bis die Pfälzer Kirchenunion in allen Gemeinden vollzogen war, zeigte sich schon bald, dass ihre Väter ein theologisch tragfähiges und zukunftsweisendes Modell der Ökumene entwickelt hatten, das bis heute Grundlage der "Evangelischen Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche)" ist.

Hartmut Metzger (epd)


Rheinische Kirche: Mit Seelsorge den Schulstart unterstützen

Die Evangelische Kirche im Rheinland will Kindern und Jugendlichen mit ihrer Schulseelsorge einen guten Start in das neue Schuljahr in Nordrhein-Westfalen ermöglichen. Gerade zu Beginn sei es wichtig, in der Schule anzukommen, sich kennenzulernen und den Zusammenhalt untereinander zu stärken, erklärte Sabine Lindemeyer, Landespfarrerin für Schulseelsorge am 28. August in Düsseldorf. Die evangelische Schulseelsorge unterstütze mit Schulgottesdiensten, Andachten und Gesprächsangeboten.

Seelsorger stünden Betroffenen zudem bei Problemen und Konflikten als Ansprechpartner zur Verfügung. Die Gespräche unterliegen nach Lindemeyers Worten einer Schweigepflicht. Es gehe darum, "den einzelnen im Blick zu behalten und am Schuljahresanfang niemanden allein zu lassen", sagte die Pfarrerin. Dabei seien die Seelsorger auch für Lehrkräfte, Eltern oder Erziehungsberechtigte ansprechbar. Da Schulen oft laute und hektische Orte seien, kümmere sich Schulseelsorge verstärkt um Rückzugsräume für Stille und Achtsamkeit, erklärte Lindemeyer.

In der Evangelischen Kirche im Rheinland, die Gebiete in NRW, Rheinland-Pfalz, Hessen und dem Saarland umfasst, arbeiten den Angaben zufolge rund 100 Pfarrer oder Religionslehrer als Schulseelsorger.



Land NRW gibt 1,25 Millionen Euro für kirchliche Büchereien

Nordrhein-Westfalen stellt rund 1,25 Millionen Euro für kirchliche Büchereien zur Verfügung. Ehrenamtlich betriebenen Büchereien seien wichtige Partner für die Lese- und Sprachförderung, erklärte das Kulturministerium am 28. August in Düsseldorf. Die Mittel sollen bis 2020 für die Anschaffung von mobilen Medienboxen und die Aktualisierung des Bestandes genutzt werden.

Das neue Förderprogramm solle die kirchliche Büchereiarbeit stärken und das ehrenamtliche Engagement der Mitarbeiter unterstützen, erklärte Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen (parteilos). "Kirchliche Büchereien leisten einen bedeutenden Beitrag zur bibliothekarischen Versorgung - insbesondere im ländlichen Raum", sagte die Ministerin.

Das Förderprogramm richtet sich den Angaben nach an ehrenamtlich betriebene Büchereien in kirchlicher Trägerschaft, die mindestens sechs Wochenstunden geöffnet haben. In NRW gibt es rund 1.300 solcher Angebote in Kirchengemeinden, Krankenhäusern, Heimen und Schulen.



Aktion "5.000 Brote": Konfirmanden backen für Entwicklungsprojekte

Die Evangelische Kirche von Westfalen ruft Konfirmanden-Gruppen und örtliche Bäckereien zur Teilnahme an der bundesweiten Aktion "5.000 Brote" des Hilfswerks Brot für die Welt auf. Bei der von Erntedank (7. Oktober) bis zum 1. Advent laufenden Aktion backen Konfirmanden zusammen mit einer Bäckerei in der Nachbarschaft Brote, die zugunsten von Bildungsprojekten der Hilfsorganisation verkauft werden, wie die Landeskirche am 29. August in Bielefeld mitteilte.

In diesem Jahr sollen unter anderem Ausbildungszentren für Jugendliche in El Salvador, Indien und Äthiopien unterstützt werden, wie es weiter hieß. Die Konfirmanden lernten bei der Aktion nicht nur, wie man Teig knetet, sondern sie erführen auch wie Gleichaltrige in anderen Teilen der Welt leben. Zugleich könnten sie Eindrücke in einem handwerklichen Beruf gewinnen.



Westfälische Kirche bietet internationalen Freiwilligendienst an

Die westfälische Kirche ruft junge Menschen zu einem Freiwilligendienst in Südamerika und Italien auf. Auch im Jahr 2019 bieten das Amt für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung (MÖWe) und das landeskirchliche Amt für Jugendarbeit die Möglichkeit eines einjährigen Freiwilligendienstes an, wie die Evangelische Kirche von Westfalen am 29. August in Bielefeld mitteilte. Einsatzorte sind neben Süditalien die Länder Argentinien und Paraguay. Der Freiwilligendienst eröffne die Chance, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln und Erfahrungen in einer ganz anderen Kultur zu machen, hieß es. Bis zum 31. Oktober können sich Interessierte im Alter von 18 bis 27 beziehungsweise 28 Jahren bewerben.

Engagement gegen Armut und für Menschenrechte

In Südamerika arbeiten Freiwillige den Angaben zufolge in sozialen Projekten mit, die Teil der diakonischen Arbeit der Evangelischen Kirche am La Plata sind. Das Engagement dieser Kirche gegen Armut und für Menschenrechte lernten die Freiwilligen vor allem in der Kinder- und Jugendarbeit in den benachteiligten Vierteln Buenos Aires, den umliegenden Städten und im Norden Argentiniens kennen, hieß es. In Ciudad del Este, zweitgrößte Stadt Paraguays, betreuten die Freiwilligen in einem Bildungsprojekt Kinder im Alter von sechs bis 13 Jahren. Mit der evangelischen Kirche in Paraguay, Uruguay und Argentinien ist die Evangelische Kirche von Westfalen partnerschaftlich verbunden.

Auch in Italien arbeiteten die Freiwilligen auf Sizilien in Schulen und Kindergärten sowie mit Senioren oder Geflüchteten, hieß es. Die Projekte gehörten zur Waldenserkirche, die sich für eine demokratische Erziehung und soziale Gerechtigkeit einsetze und in der Arbeit mit Flüchtlingen aktiv sei.

Die Bewerber müssen den Angaben nach je nach Einsatzort Grundkenntnisse in Spanisch mitbringen oder die Bereitschaft, Italienisch zu lernen. Sie sollten darüber hinaus gesundheitlich stabil, anpassungsfähig und offen für den christlichen Glauben sein. Auch sollten sich die Interessenten auf eine neue Umgebung, neue soziale Kontakte, das Leben in einem einfachen Haushalt und in der Grenzsituation von Armut und sozialer Unsicherheit einstellen können.



Westfälische Kirche informiert über Pfarrberuf

Die Evangelische Kirche von Westfalen informiert auf einer zweitägigen Tagung in Schwerte über den Pfarrberuf. Pfarrer, Theologiestudenten und Hochschulvertreter stellen am 27. und 28. September Studiengang, Ausbildungsphasen und die Arbeitsfelder im Pfarrberuf vor, wie das Bielefelder Landeskirchenamt am 31. August mitteilte. Die kostenlose Veranstaltung in Schwerte richtet sich an Abiturienten, die sich für das Studium der Evangelischen Theologie mit Ziel Pfarramt interessieren.

Die Berufsaussichten für neue Theologen seien gut, erklärte das Landeskirchenamt. Zahlreiche Pensionierungen in den nächsten Jahren führten zu einem erhöhten Bedarf an Pfarrern. Die Evangelische Kirche von Westfalen werde jährlich eine Zahl junger Theologen einstellen.

Die Oberstufenschüler können für die Tage vom Unterricht befreit werden. Die Abituriententagung findet in der evangelischen Tagungsstätte "Haus Villigst" in Schwerte statt.



Deutsche Kirchenmeisterschaft findet beim Rhein-Ruhr-Marathon statt

Die Deutsche Kirchenmeisterschaft lädt im kommenden Sommer Ausdauersportler in fünf Disziplinen zum Wettkampf ein. Sportlerinnen und Sportler können am 2. Juni 2019 im Rahmen des 36. Rhein-Ruhr-Marathons in Duisburg in den Disziplinen Marathon, Marathon-Staffel für vier Läuferinnen und Läufer, Halbmarathon, Inline-Marathon sowie Handbike-Marathon an den Start gehen, wie die Evangelische Kirche im Rheinland am 30. August in Düsseldorf mitteilte.

Der Wettbewerb in den Sonderwertungen der Deutschen Kirchenmeisterschaft findet damit erstmals auf dem Gebiet der rheinischen Landeskirche statt. Teilnehmen an der Kirchenmeisterschaft kann jeder Mensch christlichen Glaubens, eine Abfrage der Kirchenmitgliedschaft findet nicht statt, wie es hieß. "Dieser Laufwettbewerb ist ein gemeinschaftsbildendes Ereignis", sagte der Vizepräsident der rheinischen Landeskirche, Johann Weusmann, der selbst passionierter Läufer ist.

Die Deutsche Kirchenmeisterschaft wird jedes Jahr unter dem Dach eines Stadtmarathons ausgetragen, 2019 findet sie zum fünften Mal statt. "Der Rhein-Ruhr-Marathon ist einer der ältesten Stadtmarathons in Deutschland mit einer ebenso schönen wie abwechslungsreichen Strecke entlang der Wedau und durch die Stadt", betonte Weusmann. "Zur Veranstaltung gehört ein Wettbewerb für Rollstuhlfahrer. Das ist uns besonders wichtig, weil Inklusion in unserer Kirche ein großes und wichtiges Thema ist." Läufer können sich ab sofort auf www.rhein-ruhr-marathon.de auch für die Sonderwertungen der Deutschen Kirchenmeisterschaft 2019 anmelden.

Die Deutsche Kirchenmeisterschaft ist vom Arbeitskreis Kirche und Sport der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ausgeschrieben worden. Beim Rahmenprogramm wird sich der Arbeitskreis mit einem Messestand auf dem Veranstaltungsgelände präsentieren. Am Vorabend des Wettbewerbs findet zudem um 18.30 Uhr in der Duisburger Salvatorkirche ein Gottesdienst statt, zu dem vor allem Läuferinnen und Läufer eingeladen sind.




Gesellschaft

Weiter Anspannung in Chemnitz


Kirchliche Kundgebung für Gewaltfreiheit in Chemnitz
epd-bild/Wolfgang Schmidt
Vor einer Woche sorgte eine Bluttat für den vorzeitigen Abbruch des Stadtfestes. Der Tod eines 35-jährigen Mannes polarisiert seither Chemnitz. Nun demonstrierten erneut Tausende in der westsächsischen Stadt.

Auch eine Woche nach dem Tod eines 35-jährigen Mannes beim Stadtfest kommt Chemnitz nicht zur Ruhe: Demonstrationen und Kundgebungen unterschiedlicher politischer Lager mit insgesamt weit über 10.000 Teilnehmern prägten auch am Wochenende das Stadtbild und sorgten für eine aufgeheizte Stimmung. Die Polizei war mit einem Großaufgebot vor Ort, um neuerliche Ausschreitungen zu verhindern.

Am Rande von drei Demonstrationen unterschiedlicher politischer Lager am 2. September gab es mindestens 18 Verletzte, darunter drei Polizisten und ein Mitarbeiter des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR). Die Polizei nahm 37 Anzeigen auf. Am 2. September demonstrierten nach einem Aufruf der Kirchen knapp 1.000 Menschen friedlich gegen Fremdenfeindlichkeit.

Ein 35-jähriger Deutsch-Kubaner war beim Stadtfest mutmaßlich von zwei Asylbewerbern im Streit erstochen worden. Zwei Tatverdächtige, ein 22-jähriger Iraker und ein 23-jähriger Syrer, sitzen in Untersuchungshaft. Der Vorfall löste zum Teil Ausschreitungen gegen Ausländer aus.

"Herz statt Hetze"

In Reaktion darauf fand am Nachmittag des 1. September in der Chemnitzer Innenstadt mit viel bundespolitischer Prominenz eine Kundgebung unter dem Motto "Herz statt Hetze" statt. Dazu aufgerufen hatten rund 70 Organisationen. Die Stadtverwaltung gab die Zahl der Teilnehmer im Anschluss mit knapp 4.000 an. Unter den Demonstranten waren SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil, der Linken-Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch und Grünen-Chefin Annalena Baerbock.

Eine neuerliche Demonstration der rechtspopulistischen Bewegung "Pro Chemnitz" zog Beobachtern zufolge rund 1.500 Menschen an. Sie löste sich allerdings rasch auf und schloss sich der späteren Demonstration von AfD und "Pegida" mit laut Stadtverwaltung schätzungsweise 4.500 Teilnehmern an.

An dem mit mehr als einer Stunde Verspätung gestarteten "Trauermarsch" von AfD und "Pegida" nahmen auch die AfD-Landeschefs aus Sachsen (Jörg Urban), Thüringen (Björn Höcke) und Brandenburg (Andreas Kalbitz) teil. Zum Abschluss der Kundgebung stimmten die Teilnehmer die Nationalhymne an. Aus der zum Teil sehr aufgebrachten Menge wurde unter anderem "Widerstand, Widerstand" gerufen.

1.000 Menschen bei Veranstaltung der Kirche

Wie der MDR bestätigte, wurde ein Mitarbeiter bei einem Angriff verletzt. Zwei Fernsehreporter hatten demnach an einer Wohnungstür geklingelt und gebeten, vom Balkon aus filmen zu dürfen. Nachdem sie zunächst eingelassen wurden, wurden sie später von einem herbeigestürmten Mann attackiert. Ein Reporter wurde die Treppe hinuntergestoßen, seine Kamera zerstört. Er musste ärztlich behandelt werden. Die Polizei ermittelt. Auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Sören Bartol meldete einen Angriff auf einige seiner Begleiter.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer und Innenminister Roland Wöller (beide CDU) zeigten sich am 2. September zufrieden über den Polizeieinsatz. Der Staat habe bewiesen, dass er das Gewaltmonopol habe. Insgesamt waren nach Angaben der Chemnitzer Polizei mehr als 2.000 Beamte aus ganz Deutschland im Einsatz, mehr als 11.000 Demonstranten seien allein am Samstag gezählt worden.

Auf Einladung der evangelisch-lutherischen Kirche demonstrierten zudem am 2. September knapp 1.000 Menschen in der Chemnitzer Innenstadt gegen Gewalt und Fremdenhass. Der Bischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Carsten Rentzing, rief dabei zum Dialog auf - auch in schwierigen Zeiten. Es gelte, Anstand und Würde zu bewahren und die Botschaft des Friedens weiterzutragen. Ministerpräsident Kretschmer betonte, die Säulen des Zusammenlebens seien Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Nach der tödlichen Messerattacke von Chemnitz gebe es regelrechte Verschwörungstheorien. Dem und auch dem Vorwurf einer "Lügenpresse" müsse entgegengetreten werden.

"Wir sind die Mehrheit"

Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) rief den knapp 1.000 Kundgebungsteilnehmern zu: "Wir sind in der Mehrheit, nicht die Rechtsradikalen." Sie wolle allen die Hand reichen, die Sorgen haben und verzweifelt sind, sagte Ludwig. Der Aufruf der Kirchen zur Demonstration war von zahlreichen Organisationen unterstützt worden, darunter Industrie- und Handelskammer, Handwerkskammer, Deutscher Gewerkschaftsbund, Jüdische Gemeinde, Caritas und Flüchtlingsrat.

Am 3. September stand Chemnitz die nächste Großveranstaltung ins Haus: Mehrere Bands wollen bei einem großen Gratiskonzert gegen Fremdenfeindlichkeit auftreten. Die Veranstaltung unter dem Motto "Wir sind mehr" sollte am späten Nachmittag beginnen. Dabei sind unter anderem "Die Toten Hosen", "Feine Sahne Fischfilet" und die Chemnitzer Band "Kraftklub".



Rechtsextremismusexperte kritisiert jahrelanges Wegsehen

Der Rechtsextremismusforscher Samuel Salzborn kritisiert eine "katastrophale polizeitaktische Fehleinschätzung" bei den Demonstrationen in Chemnitz am 27. August. Die sächsische Regierung müsse endlich begreifen, dass sie mit ihrem jahrelangen "Nicht-Handeln, Wegsehen und Beschönigungen des massiven Rechtsextremismusproblems letztlich Teil des Problems ist", sagte Salzborn am 28. August dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin. Was man seit Jahren aus Sachsen erlebe, sei eine Form von Abwehrreflex.

Entweder man habe geglaubt, die Situation am 27. August im Griff zu haben oder man wollte "unter sich" bleiben. "Vielleicht gab es sogar Sympathien mit dem Nazi-Mob auf der Straße", fügte Salzborn hinzu. "Egal, was davon stimmen mag: Jede der Möglichkeiten zeigt, dass Sachsen nicht angemessen gehandelt hat."

In Chemnitz war es am 27. August bei erneuten Demonstrationen wieder zu gewaltsamen Zwischenfällen gekommen. Ausgangspunkt war unter anderem eine Demonstration der rechten Bewegung "Pro Chemnitz", an der sich nach Schätzungen rund 2.500 Menschen beteiligten. An einer Gegendemonstration beteiligten sich nach Schätzungen rund 1.000 Demonstranten. Auslöser der aufgeheizten Stimmung ist der Tod eines 35-jährigen Deutschen. Gegen die beiden mutmaßlichen Täter, einen 22-jährigen Iraker und einen 23-jährigen Syrer, ergingen Haftbefehle.

"Angst vor dem braunen Mob"

Sachsen müsse begreifen, dass es nicht um das Ansehen oder um sein Image geht. "Nicht nur in Sachsen, sondern deutschlandweit haben Menschen Angst vor dem braunen Mob und der rassistischen Alltagsgewalt." Salzborn: "Wir brauchen die sächsische Einsicht, Amtshilfe bei solchen Demonstrationen anzufordern." Man brauche zudem dringend eine konsequente Strafverfolgung von allen dokumentierten Straftaten in Chemnitz. Der Angriff auf die Demokratie sei nicht mit warmen Worten abzuwehren. "Über die lachen die Rechtsextremisten nur." Der Staat müsse endlich konsequent gegen die gesamte rechte Szene vorgehen, die solcherlei Zusammenrottungen vorbereite und organisiere.

Eine besondere Verantwortung für die erneuten rechten Demonstrationen sieht Salzborn bei der AfD. "Wir erinnern uns an Gauland nach der Bundestagswahl, als er die Vokabel des 'Jagens' gebraucht hat. Wir sehen in Chemnitz, was das praktisch heißt." Die AfD bereite mit ihrer völkischen, rassistischen, antisemitischen und geschichtsrevisionistischen Hetze die Stimmung, die die Grundlage von solchen rechten Aufmärschen sei, fügte Salzborn hinzu: "Es wäre ein fataler Fehler, diesen Zusammenhang zu ignorieren." Nach der Bundestagswahl im September 2017 kündigte die AfD einen harten Konfrontationskurs an. Man wolle "Merkel jagen", sagte der damalige AfD-Spitzenkandidat und heutige Fraktionschef Alexander Gauland.

epd-Gespräch: Elisa Makowski


Konfliktforscher: Fremdenfeindliche Vorurteile ernst nehmen


Andreas Zick
epd-West/Universität Bielefeld

Der Konfliktforscher Andreas Zick appelliert nach den Ausschreitungen in Chemnitz an die Politik, sich stärker mit Vorurteilen gegen Zuwanderer in Ostdeutschland auseinanderzusetzen. Grassierende Vorurteile müssten bearbeitet werden, sagte der Wissenschaftler der Universität Bielefeld am 28. August dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Wer Feindbilder im Kopf hat, wird sich nicht durch einfache Floskeln überzeugen lassen."

Es gelte, die Gewalttaten systematisch aufzuklären, den Opferschutz zu verstärken und auszumachen, wo demokratische Grundnormen eingebrochen seien, betonte Zick. Politiker müssten überlegen, "warum angesichts des Tötungsdelikts die Trauer keinen Raum und Zeit findet, sondern Gruppen in Windeseile und ohne Beschäftigung mit der Tat die Interpretation der Realität übernehmen". In der Vergangenheit habe die Spitzenpolitik oftmals ein zu einfaches Bild der Kontrolle und Sicherheit vermittelt. "Viele Menschen vor Ort haben diese Kontrolle aber nicht erlebt." Gewalt lasse sich nicht verhindern, indem man sie verharmlose, mahnte Zick.

"Aus dem Wutbürger ist längst ein Zornbürger geworden"

Die Krawalle in Chemnitz gehen nach Ansicht der Konfliktforschers auf eine lange Geschichte rechtsextremer und menschenfeindlicher Entwicklungen in Ostdeutschland zurück. "Wesentlich ist, dass die Szene im Osten stärker an Bilder des Widerstandes, der Volksgemeinschaft, des Kontrollverlustes des Staats und eine Vorstellung nationaler Leitbilder anknüpfen kann", erläuterte der Leiter des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung.

Im Osten würden Vorurteile vor allem gegen Asylsuchende, Migranten und Muslime viel stärker geteilt als in Westdeutschland, erläuterte Zick. "Das Tötungsdelikt durch Ausländer ist dann der Beweis, dass das Vorurteil kein Vorurteil war", sagte der Wissenschaftler. "Aus dem Wutbürger ist längst ein Zornbürger geworden, der emotional leicht ansteckbar ist."

Auslöser der Ausschreitungen in Chemnitz war der Tod eines 35-jährigen Deutschen in der Nacht zum Sonntag am Rande des Stadtfestes. Gegen die beiden mutmaßlichen Täter, einen 22-jährigen Iraker und einen 23-jährigen Syrer, war am Montag Haftbefehl erlassen worden. Als Reaktion auf den Vorfall waren am Sonntag nach Aufrufen in sozialen Netzwerken laut Polizei rund 800 Menschen durch die Chemnitzer Innenstadt gezogen. Am 27. August kam es bei Demonstrationen erneut zu Zwischenfällen mit mehreren Verletzten.

epd-Gespräch: Jasmin Maxwell


Schuster: Erschreckend viele rufen zu Selbstjustiz auf


Josef Schuster
epd-bild/Christian Ditsch

Nach den Eskalationen am Rande von rechtsextremen Protesten in Chemnitz hat der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, mehr Engagement gegen Rechts gefordert. Angesichts der Häufung solcher Vorfälle gerade in Sachsen dürfe man nicht mehr von Einzelfällen sprechen, mahnte er. Auslöser für den Aufmarsch in der westsächsischen Stadt war der Tod eines 35-jährigen Deutschen in der Nacht zum 26. August am Rande des Stadtfestes. Ausgangspunkt war unter anderem eine Demo der rechten Bewegung "Pro Chemnitz", an der mehrere Tausend Menschen teilnahmen.

epd: Herr Schuster, kann man die Vorfälle in Chemnitz noch als Alarmsignal deuten - oder ist es dafür schon zu spät?

Schuster: Die Ausschreitungen in Chemnitz bestätigen zwei Befürchtungen: Erstens lässt sich inzwischen eine recht große Zahl an Menschen in kürzester Zeit für eine demokratiefeindliche Demo mobilisieren. Zweitens haben erschreckend viele Menschen keine Hemmung, aufgrund von Gerüchten regelrecht Jagd auf bestimmte Gruppen zu machen und zur Selbstjustiz aufzurufen. Vorfälle dieser Art gibt es gerade in Sachsen so häufig, dass wir nicht von einem Einzelfall sprechen sollten.

epd: Sie warnen seit Jahren, auch angesichts der AfD-Wahlerfolge, vor einem Rechtsruck. Hat man ihre Mahnungen ignoriert?

Schuster: Auch die Verfassungsschützer stellen fest, dass sich die Rechtsextremisten noch stärker radikalisieren und leider auch professionalisieren. Der erste wichtige Schritt zur Eindämmung wäre ausreichender Polizeischutz. Dass die Polizei in Chemnitz auch am 27. August offenbar nicht richtig vorbereitet war, kann ich nicht nachvollziehen. Daneben müssen sich Politik und Sicherheitsbehörden auf Bundes- und Länderebene fragen, ob sie ihre Maßnahmen gegen Rechtsextremismus verstärken müssen.

epd: Was muss die Politik, was muss die Gesellschaft tun, damit Vorfälle wie in Chemnitz Einzelfälle bleiben und sich nicht wiederholen?

Schuster: Wir brauchen mehr Aufklärung, vor allem in den Schulen. Zur aufgeheizten Stimmung trägt meines Erachtens auch erheblich die AfD bei. Daher sollten alle demokratischen Parteien darauf achten, sich die politischen Themen nicht von der AfD diktieren zu lassen. Es muss eine politische Kultur gepflegt werden, die der gesellschaftlichen Spaltung entgegenwirkt.

epd-Gespräch: Daniel Staffen-Quandt


Theologe Huber für "Spurwechsel" nach klaren Kriterien

Der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, plädiert für die Möglichkeit zum "Spurwechsel" von einem Asylverfahren zu einer Zuwanderung. "Spurwechsel" bedeute, dass das Bleiben im Interesse des aufnehmenden Landes liegt, sagte Huber dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Die vorgeschlagene Verbindung mit einer Stichtagsregelung macht Sinn, weil man dann nicht zukünftige Zuwanderer mit der Erwartung anlockt, es zunächst über den Flüchtlingsstatus zu versuchen und dann in den Einwanderungsstatus überzuwechseln."

Für einen Spurwechsel müsse die Integration nachgewiesen werden. "Das ist anhand der konkreten Anforderungen in einem Beruf ja auch möglich", sagte der Berliner Altbischof. "Wenn man nach fünf Jahren nicht weiß, ob jemand diese Anforderungen tatsächlich erfüllt, dann wird man es wohl nie wissen."

Land nicht überfordern

Klar sei aber auch, dass es immer eine Härte bedeute, wenn Menschen nach fünf Jahren das Land wieder verlassen müssen. Man müsse die Menschen auf die Rückkehr vorbereiten und darauf schauen, wie die Lage in den Herkunftsländern ist, sagte der Sozialethiker. Wenn man alle willkommen heiße und keinen vor die Erwartung der Rückkehr stelle, dann sei das Land sicherlich überfordert. "Das müssen wir vermeiden, damit wir auch in Zukunft zur Hilfe für bedrängte Menschen bereit und in der Lage sind", sagte er.

Huber hob den Zusammenhang zwischen Problemen in der Weltwirtschaft und der Migrationskrise hervor. "Es ergibt doch überhaupt keinen Sinn, Menschen, die vor der Not im eigenen Land fliehen, als Wirtschaftsflüchtlinge zu beschimpfen", sagte der Theologe in dem Gespräch aus Anlass der Eskalation der weltweiten Finanzkrise vor zehn Jahren: "Man muss zur Kenntnis nehmen, dass unser Nachbarkontinent Afrika das größte Armutsgebiet der Welt ist." Da könne man doch nicht aus deutscher Perspektive sagen, "dass wir in wirtschaftlich guten und gesunden Zeiten leben".

epd-Gespräch: Karsten Frerichs und Jens Büttner


NRW-Spitzenvertreter zu politischen Gesprächen in Israel

NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und Landtagspräsident André Kuper (beide CDU) reisen Anfang der Woche nach Israel, um 70 Jahre nach der israelischen Staatsgründung die Zusammenarbeit und das gegenseitige Vertrauen zu vertiefen. Neben politischen Gesprächen ist für 5. September eine gemeinsame Kranzniederlegung in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem geplant.

"Das gegenseitige Vertrauen vertiefen"

Zur Delegation von Landtagspräsident Kuper gehören der Vorsitzende der Parlamentariergruppe Israel im Düsseldorfer Landtag, Norbert Römer (SPD), der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, und die Generalsekretärin der Union Progressiver Juden, Irith Michelsohn.

Die Landtags-Delegation besucht von 3. bis 6. September unter anderem das israelische Parlament, ein Krankenhaus in Galiäa, in dem syrische Kriegsopfer behandelt werden, und eine Einrichtung für Jugendliche mit Behinderungen in Beit Dschala im Westjordanland. Geplant ist auch ein Treffen mit dem Präsidenten der Weltunion für Progressives Judentum, Daniel Freelander.

Die erste Israel-Reise von Armin Laschet als Ministerpräsident ist von 4. bis 6. September geplant. Als Schwerpunkte nannte er die Beziehung zwischen beiden Ländern und die Erinnerungskultur. Darüber hinaus gehe es um Möglichkeiten der Vorbeugung gegen Extremismus und religiösen Fanatismus.

Das Land NRW hatte am 14. Mai mit einer Feierstunde im Landtag das 70-jährige Bestehen Israels gewürdigt und seine Solidarität mit dem jüdischen Staat bekräftigt. Ministerpräsident Laschet rief in seiner Ansprache dazu auf, den Frieden in der Region voranzubringen. Christen, Juden und Muslime dürften nicht in Hass miteinander leben. Der Staat Israel wurde am 14. Mai 1948 vom späteren Regierungschef David Ben-Gurion in Tel Aviv ausgerufen. Nach jüdischem Kalender wurde der Unabhängigkeitstag bereits am 19. April begangen.



Kuper: Freundschaft zu Israel betonen


André Kuper
epd-West/Landtag NRW

Eine lange und besondere Freundschaft verbindet das Land Nordrhein-Westfalen nach den Worten von Landtagspräsident André Kuper (CDU) mit Israel. Wenn er am 3. September mit einer Delegation nach Israel reist, gehe es auch darum, zu lernen, sagte Kuper dem Evangelischen Pressedienst (epd). Eine ganz wichtige Frage sei in der Region das Miteinander der Religionen. Begleitet wird Kuper deshalb von Spitzenvertretern des Zentralrats der Juden und der Union Progressiver Juden.

epd: Was ist das Ziel der Israel-Reise?

Kuper: Nordrhein-Westfalen verbindet eine lange und besondere Freundschaft zu Israel. Das wollen wir im 70. Jahr der Unabhängigkeit Israels unterstreichen. Zugleich kommen wir - wie immer, wenn wir reisen - als Lernende. Diesmal werden wir beispielsweise den Weltpräsidenten des liberalen Judentums, Daniel Freelander, treffen. Und ich bin sicher, dass wir auch die Strömungen innerhalb des Judentums in Deutschland durch solche Begegnungen besser verstehen und einschätzen können. Ein anderer Schwerpunkt betrifft die Frage, wodurch eigentlich unser Israelbild in den Medien geprägt wird. Auch dazu werden wir spannende Begegnungen haben.

epd: Wie würden Sie das Verhältnis von Nordrhein-Westfalen und Israel beschreiben?

Kuper: Wir haben mehr als 40 Schulpartnerschaften, wir haben überproportional viele Städtepartnerschaften zwischen NRW-Städten und Israel. Der Essener Oberbürgermeister besucht eine Start-up-Messe in Tel Aviv, wo wir ihn auch treffen werden. Der Gewerkschaftschef der Region Tel Aviv, Gershon Gelman, ist mit dem Landesverdienstorden NRW ausgezeichnet. Unsere Beziehungen sind gewachsen und gefestigt. Das haben wir auch Johannes Rau zu verdanken. Aber auch Jürgen Rüttgers, der frühere Ministerpräsident, und jetzt Armin Laschet sind enge Freunde Israels.

epd: Zu Ihrer Delegation gehören auch Spitzenvertreter des Judentums in Deutschland und Mitglieder der evangelischen Kirche. Was erhoffen Sie sich von der Begleitung dieser Religionsvertreter?

Kuper: Eine Reise nach Israel hat viele Facetten. Aber wer einmal in der Altstadt von Jerusalem unterwegs war oder auf dem Tempelberg an der Klagemauer, der weiß, dass die Frage des Miteinanders der Religionen eine ganz wichtige Frage in und um Israel ist. Die rheinische Kirche war seinerzeit eine der ersten Kirchen, die ihre Grundordnung im Blick auf das Verhältnis zum jüdischen Glauben geändert hat. Und die Zusammenarbeit mit dem Zentralrat der Juden, aber auch mit der Synagogengemeinde Köln, für die Abraham Lehrer uns begleitet, ist für uns in Nordrhein-Westfalen prägend geworden. Das hat auch mit dem aus Westfalen stammenden Paul Spiegel, dem früheren Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, zu tun.

epd-Gespräch: Ingo Lehnick


Staatsministerin entschuldigt sich für koloniale Gräueltaten


Übergabezeremonie in Berlin
epd-bild/Christian Ditsch
Erstmals beteiligte sich die Bundesregierung an der Rückgabe menschlicher Gebeine an Namibia. Bei einem Gedenkgottesdienst plädierte EKD-Auslandsbischöfin Bosse-Huber für eine Anerkennung des Völkermords an Herero und Nama.

Bei der Rückgabe menschlicher Gebeine nach Namibia hat sich Staatsministerin Michelle Müntefering (SPD) als Vertreterin der Bundesregierung für Gräueltaten während der deutschen Kolonialzeit entschuldigt. Das Unrecht der Vorfahren könne zwar nicht rückgängig gemacht werden, sagte die Staatsministerin für internationale Kulturangelegenheiten im Auswärtigem Amt am 29. August anlässlich eines Gedenkgottesdienstes und einer Übergabezeremonie in Berlin. Sie bitte aber "aus tiefsten Herzen um Verzeihung", fügte Müntefering hinzu.

Die Bundesregierung beteiligte sich erstmals offiziell an einer Rückgabe menschlicher Gebeine aus der Kolonialzeit an Namibia. Dabei handelt es sich um 27 menschliche Überreste, die während der deutschen Kolonialzeit (1884-1915) aus Südwestafrika entwendet worden waren. Zuletzt lagerten sie in anthropologischen Sammlungen in Berlin, Greifswald, Ennigerloh, Witzenhausen, Jena, Hannover und Hamburg. In den Vorjahren hatte es bereits zwei ähnliche Rückgaben von deutschen Forschungsinstituten an Namibia gegeben. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten deutsche Kolonialtruppen Aufstände der Volksgruppen Herero und Nama grausam niedergeschlagen. Schätzungen zufolge kamen mehr als 70.000 Menschen ums Leben.

Namibia will Entschuldigung

Namibias Kulturministerin Katrina Hanse-Himarwa erklärte, dass sich das namibische Volk eine Entschuldigung für den Genozid an den Herero und Nama im Rahmen eines offiziellen Bekenntnisses der Bundesregierung gegenüber dem Volk und der Regierung Namibias wünsche. Müntefering betonte, die Deutschen würden sich zu ihrer historischen Verantwortung bekennen. "Die damaligen Gräueltaten waren das, was wir heute als Völkermord bezeichnen würden", sagte die Staatsministerin.

Die aktuelle Rückgabe fand im Rahmen eines mehrstündigen Gedenkgottesdienstes in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin statt, den die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und der Rat der Kirchen in Namibia (CCN) gestalteten. Bereits am Abend des 28. August hatte es in Berlin unter Ausschluss der Öffentlichkeit eine Totenwache und Gelegenheit für traditionelle Riten geben. Am 31. August wurden die Gebeine in Windhuk in Namibia bei einem Staatsakt, an dem auch Müntefering teilnahm, in Empfang genommen.

EKD-Auslandsbischöfin Petra Bosse-Huber plädierte für eine Anerkennung des "ersten Genozids des 20. Jahrhunderts" in den früheren deutschen Kolonialgebieten. Das Gedenken an die Opfer müsse wachgehalten und für die Anerkennung des Völkermords öffentlich eingetreten werden. Das durch die deutsche Kolonialherrschaft begründete und danach fortwirkende Unrecht müsse zudem überwunden werden, sagte Bosse-Huber weiter. Die Bischöfin bekräftigte zudem das Schuldbekenntnis der Kirche. Durch theologische Rechtfertigung sei der Boden für die koloniale Herrschaft und den Tod tausender Angehöriger der namibischen Volksgruppen mit vorbereitet worden.

Protest von Aktivisten

Der Bischof der Evangelisch Lutherischen Kirche in der Republik Namibia und Delegationsleiter des Rates der Kirchen in Namibia, Ernst Gamxamub, erinnerte ebenfalls an die Geschichte Namibias und Deutschlands. "Für viele scheint der Genozid zu einem unbedeutenden Ereignis geworden zu sein, aber für uns ist es ein historisches, denkwürdiges und dunkles Kapitel in unserem Kampf gegen Kolonialismus und ausländische Besatzung aus früheren Zeiten." Der namibische Bischof rief zudem zu einer gemeinsamen Zukunft auf, die von Werten wie Menschenwürde, Respekt, Gleichheit, Frieden und Gerechtigkeit geprägt sein müsse.

Am Rande der Rückgabe-Veranstaltungen in Berlin protestierten rund 50 Aktivisten und Vertreter von Herero- und Nama-Organisationen gegen das Vorgehen der Bundesregierung und der EKD. Sie forderten von der Bundesregierung Entschädigung und ebenfalls eine offizielle Entschuldigung für den Genozid gegenüber Vertretern von Herero und Nama.



Die Rückgabe menschlicher Gebeine an Namibia

Erstmals gaben staatliche Vertreter Deutschlands menschliche Gebeine an Namibia zurück. In den Vorjahren gab es bereits zwei ähnliche Rückgaben von deutschen Institutionen, allerdings ohne Beteiligung der Bundesregierung. Der Evangelische Pressedienst (epd) klärt die wichtigsten Fragen:

Woher stammen die menschlichen Gebeine?

Während der deutschen Kolonialzeit im damaligen Deutsch-Südwestafrika (1884-1915) gerieten die Mitte und der Süden des Landes, Heimat der Volksgruppen Herero und Nama, zunehmend unter direkte Kontrolle deutscher Siedler. In den Jahren 1904 bis 1908 schlugen die Kolonialtruppen Aufstände der Volksgruppen Herero und Nama grausam nieder. Schätzungen zufolge wurden während der deutschen Kolonialzeit bis zu 70.000 Herero und Nama ermordet. Historiker bezeichnen diese Gräueltaten auch als "ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts". Im Zuge der kolonialen Besetzung wurden menschliche Überreste und andere Objekte unrechtmäßig entwendet und nach Deutschland gebracht.

Wo befinden sich menschliche Gebeine von Herero und Nama in Deutschland?

Menschliche Gebeine - wie etwa Skelette, Knochen und Schädel, aber auch Hautstücke - lagern häufig in anthropologischen Sammlungen. Hinzu kommen Raubkunstobjekte, die ohne Respekt vor kulturellen und religiösen Überzeugungen der Herkunftsgesellschaften entwendet und nach Deutschland gebracht wurden. Auch diese Objekte lagern häufig in Museen oder Forschungseinrichtungen.

Wie viele menschliche Gebeine oder Raubkunstobjekte gibt es in Deutschland?

Genaue Zahlen oder Verzeichnisse gibt es bislang nicht. In den vergangen Jahren haben aber Forderungen gegenüber Deutschland nach Rückgabe an die Herkunftsstaaten oder Herkunftsgesellschaften deutlich zugenommen. Nicht nur Namibia, sondern auch Staaten wie Neuseeland, Australien oder Japan, die nicht in deutschem Kolonialbesitz waren, stellen vermehrt Rückgabeforderungen an Deutschland. Im Zuge dessen hat die Provenienzforschung an deutschen Museen und Forschungseinrichtungen in den vergangen Jahren zugenommen. Voraussetzung für eine Rückgabe aus Deutschland ist eine ausreichend gesicherte Kenntnis über die Herkunft. Die Provenienzrecherche gilt als sehr aufwendiges Verfahren, bei dem unter anderem DNA-Analysen verwendet werden.

Wie viele Rückgaben gab es von Deutschland bisher an Namibia?

Bislang wurden zwei Mal menschliche Gebeine von Deutschland an Namibia zurückgegeben. Die erste Übergabe von 20 Schädeln aus Beständen des Berliner Universitätsklinikums, der Charité, fand im September 2011 in Anwesenheit einer 70-köpfigen Delegation unter Leitung des namibischen Kulturministers Kazenambo Kazenambo statt. Weitere Übergaben erfolgten im März 2014 durch die Universität Freiburg (14 Schädel) und die Berliner Charité (18 Schädel, 3 Skelette) an eine zehnköpfige Delegation unter Leitung des namibischen Kulturministers Jerry Ekandjo.

Was wird aktuell an Namibia zurückgegeben?

Es handelt sich um 27 menschliche Überreste, konkret elf Schädel, fünf Skelette und ein Schulterblatt aus der Charité Berlin, drei Schädel aus der Universität Greifswald, einen Schädel aus Privatbesitz von Gerhard Ziegenfuß aus Ennigerloh, einen Schädel vom Deutschen Institut für tropische und subtropische Landwirtschaft Witzenhausen, ein Stück Kopfhaut und drei mikroskopische Hautpräparate aus dem Phyletischen Museum beziehungsweise der Universität Jena, zwei Schädel und einen Unterkiefer aus dem Landesmuseum Hannover und einen Schädel aus dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

Gibt es weitere Forderungen?

Vor einem New Yorker Bezirksgericht ist eine Klage von Vertretern der Herero und Nama gegen die Bundesrepublik Deutschland anhängig, in der sie eine offizielle Beteiligung an den Verhandlungen zwischen Deutschland und Namibia sowie Reparationen fordern. Nach Angaben der Bundesregierung dauern die offiziellen Verhandlungen zur Aufarbeitung der Gräueltaten während der Kolonialzeit weiter an. Die Gespräche verlaufen demnach in guter und vertrauensvoller Atmosphäre. Sie seien jedoch auch komplex, heißt es.

Die Bundesregierung wird bei den Verhandlungen mit Namibia von dem CDU-Politiker Ruprecht Polenz vertreten. Deutschland lehnt direkte Entschädigungszahlen ab. Die Bundesregierung ist bei der Einstufung der Verbrechen als Völkermord zurückhaltend, bekennt sich aber zu ihrer besonderen historischen Verantwortung.

Christine Xuân Müller (epd)


Friedenspreisträger ermuntern zu zivilem Ungehorsam


Die diesjährigen Friedenspreis-Träger: (von links) die drei Aktivisten vom Kollektiv "Peng!" sowie die beiden Vertreter von "Concern Universal Colombia"
epd-bild / Gudrun Petersen
Seit 30 Jahren wird der Aachener Friedenspreis verliehen. 1988 stand noch der Ost-West-Konflikt im Mittelpunkt. Mit den aktuellen Preisträgern rückt der Friedenspreis die Themen Menschenrechte, Rüstungsexporte und soziale Missstände in den Blick.

Der Aachener Friedenspreis ehrt in diesem Jahr Friedensarbeit in Kolumbien und Satireaktionen gegen Rüstungskonzerne und soziale Missstände. Die jeweils mit 2.000 Euro dotierte Auszeichnung wurde am 1. September an die kolumbianische Menschenrechts- und Entwicklungsorganisation "Concern Universal Colombia" und das Berliner Aktivistenkollektiv "Peng!" verliehen.

Protest "nach wie vor unverzichtbar und wichtig"

Das "Peng!"-Kollektiv verstehe es auf originelle Weise, "mit seinen satirischen, subversiven und grenzüberschreitenden Aktionen den Finger in die Wunde zu legen und uns die Verflechtungen zwischen der globalen und der lokalen Ebene zu erklären", sagte Christoph Kriescher, Vorstandsmitglied des Aachener Friedenspreis-Vereins, bei der Preisverleihung in der Aachener Aula Carolina. Die Gründer von "Concern Universal Colombia", Siobhan McGee und Jaime Bernal-Gonzales, würdigte er für ihren Einsatz für Frieden und Menschenrechte in Kolumbien.

Auch 30 Jahre nach der Verleihung des ersten Aachener Friedenspreises seien Widerstand und Protest "nach wie vor unverzichtbar und wichtig", betonte Vorstandsmitglied Kriescher. Während 1988 noch ganz im Zeichen des Ost-West-Konflikts gestanden habe, gebe es heute neue Herausforderungen wie die globale Klimakatastrophe oder eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.

Aussöhnung verfeindeter Bevölkerungsgruppen in Kolumbien

Die Organisation "Concern Universal Colombia" wurde in den 1980er Jahren von der walisischen Entwicklungshelferin Siobhan McGee und dem kolumbianischen Lehrer Jaime Bernal ins Leben gerufen. Sie betreibt den Aufbau von Kleinstbetrieben, Kinderbetreuung und Seniorenbildung sowie politische Bildung zum Thema Menschenrechte. Inzwischen ist das Projekt nach eigenen Angaben mit fast 100 Mitarbeitern in vielen Stadtteilen von Ibagués und in der gesamten Provinz Tolima aktiv.

Ein neuer Schwerpunkt sei inzwischen die Arbeit mit indigenen Gruppen im Süden der Provinz, hieß es. Programmleiter Jaime Bernal-Gonzales beteiligt sich darüber hinaus am Friedensprozess zwischen Regierung und Rebellen. Ziel der Projekte sei es, Bürgerkriegsflüchtlinge besser zu integrieren und die Aussöhnung verfeindeter Bevölkerungsgruppen zu fördern, erklärte Bernal-Gonzales in Aachen.

Das Künstler- und Aktivistenkollektiv "Peng!" wurde für seine "mutigen, kreativen und humorvollen Aktionen im Internet und in den Medien" geehrt. Die Mitglieder infiltrieren Veranstaltungen mit falschen Identitäten und starten fake-Kampagnen. Damit wollten sie Ungerechtigkeiten anprangern und zu zivilem Ungehorsam ermuntern, sagte "Peng!"-Aktivist Conny Runner. Ein großer Schwerpunkt liege dabei auf Friedensthemen.

Unter anderem verbreitete das Kollektiv im Namen des Bundesarbeitsministeriums eine Entschuldigung für die Hartz IV-Gesetze. Es verkündete den Rückruf aller Heckler & Koch-Waffen in den USA und warnte auf einer der Bundeswehr-Werbeseite nachempfundenen Website vor den Gefahren deutscher Auslandseinsätze. An einen Rüstungsmanager verliehen "Peng!"-Aktivisten den Friedenspreis der Waffenindustrie.

Fiktive Kampagnen gegen soziale Ungerechtigkeit

Das Berliner Aktivistenkollektiv "Peng!" bemängelt zu viel zivilen Gehorsam in der Gesellschaft. Mit ihren fiktiven Kampagnen und satirischen Aktionen wollten die Mitglieder soziale Missstände anprangern und zu zivilem Ungehorsam ermuntern, sagte "Peng!"-Aktivist Conny Runner am 1. September in Aachen. So rief das Kollektiv mit der Kampagne "Deutschland geht klauen" beispielsweise dazu auf, Billigwaren in Supermärkten zu stehlen und stattdessen die Gewerkschaften der Produzenten im globalen Süden zu bezahlen. Auch Rüstungsexporte waren bereits Thema von "Peng!"-Aktionen.

"Wenn mehr Menschen so mutig wären wie das 'Peng!'-Kollektiv und sich so für Chancen, Rechte und friedlichen Zusammenleben ihrer Mitmenschen stark machen würden wie Siobhan McGee und Jaime Bernal-Gonzales, hätte die Menschheit weniger Probleme", sagte Lea Heuser von Friedenspreis-Verein.

Seit 30 Jahren ehrt das Bündnis "Aachener Friedenspreis" am 1. September Einzelpersonen und Initiativen, die sich von unten für Frieden und Völkerverständigung einsetzen. Der Aachener Friedenspreis sei im 31. Jahr seiner Gründung leider immer noch nötig, denn in der Welt herrsche sehr viel Unfriede, sagte Heuser. Mit der Preisverleihung wolle das Bündnis aus etwa fünfzig gesellschaftlichen Gruppen und 350 Einzelpersonen mehr Menschen zu zivilem Ungehorsam motivieren und demonstrieren, dass sich der Einsatz für den Frieden lohnt.



Bund fördert keine Ditib-Projekte mehr

Der Bund hat die Förderung von Projekten des Türkei-nahen Islam-Verbands Ditib eingestellt. Seit 2017 seien keine neuen Anträge auf Förderung von Projekten in alleiniger Trägerschaft von Ditib bewilligt worden, sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums am 30. August. Auch das Bundesfamilienministerium hat seit langem keine Anträge von Ditib mehr bewilligt.

Ein Sprecher des Hauses von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) sagte, die Förderung von Ditib im Rahmen der Programme "Demokratie leben!" und "Menschen stärken Menschen" sei mit dem Jahresende 2017 ausgelaufen. Verlängerungsanträge seien nicht bewilligt oder gar nicht erst gestellt worden. Gefördert wurden zuvor Projekte von Ditib zur Extremismusprävention oder in der Flüchtlingsarbeit.

Spionagevorwürfe

Der CDU-Innenpolitiker Christoph de Vries hatte zuvor der "Bild"-Zeitung gesagt, die Förderung sei für 2018 und 2019 eingestellt worden. "Wer Nationalismus verbreitet, Hass gegen Christen, Juden oder Menschen ohne Glaubensbekenntnis verbreitet und hier im Auftrag der türkischen Regierung spioniert, kann kein Partner im Kampf gegen religiösen Extremismus in Deutschland sein", sagte er.

Die Förderung von Ditib-Projekten wurde von der Bundesregierung überprüft, nachdem Ende 2016 Imamen des Verbands vorgeworfen wurde, mutmaßliche Kritiker des türkischen Präsidenten Recep Tayyep Erdogan auszuspionieren. Ditib (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) ist der größte Moschee-Verband in Deutschland. Für seine Arbeit werden Imame aus der Türkei entsendet. Seit dem Putsch in der Türkei wird die enge Verbindung des Verbands zur Religionsbehörde in Ankara in Deutschland kritisch gesehen.



Junge Islamkonferenz NRW tagt zum dritten Mal

Die Junge Islamkonferenz Nordrhein-Westfalen debattiert in diesem Jahr unter dem Motto "Wir sind verschieden verschieden". Rund 40 junge Menschen zwischen 16 und 25 Jahren treffen sich derzeit in Bonn, wie das NRW-Integrationsministerium in Düsseldorf mitteilte. NRW-Integrationsstaatssekretärin Serap Güler (CDU) eröffnete die Tagung im Gustav-Stresemann-Institut, am 8. September wird Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) mit den jungen Leuten diskutieren.

Die als Dialogforum angelegte Junge Islamkonferenz NRW ist ein Projekt des NRW-Integrationsministeriums, der Humboldt-Universität zu Berlin und weiterer Organisationen. Die Teilnehmer sind den Angaben nach Muslime, Christen, Juden, Atheisten, Schüler, Studierende, Azubis und Berufstätige. Sie tauschen sich über aktuelle Themen wie die #MeToo-Debatte über sexuelle Belästigung und die #MeTwo-Diskussion um die Fußballspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan aus.

Die erste Junge Islamkonferenz fand im September 2016 im NRW-Landtag in Düsseldorf statt. Für die Teilnahme können sich jedes Jahr junge Menschen unterschiedlicher sozialer, kultureller und religiöser Herkunft bewerben.



Abrahamsfest Marl dreht sich um "Kinder, Kinder!"

Die Religionsgemeinschaften in Marl laden vom 16. September bis zum 12. Dezember wieder zum Abrahamsfest ein. Die Veranstaltungsreihe steht in diesem Jahr unter dem Thema "Kinder, Kinder!", wie die Organisatoren am 29. August in Marl mitteilten. Schirmherr ist der Vorsitzende des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, der am 5. Oktober auch an einer Diskussion über Kinderarmut und Kinderrechte teilnimmt. Insgesamt umfasst das Programm mehr als 20 Veranstaltungen, Aktionen, Projekte und Workshops in Marl und Recklinghausen.

Beim Auftaktkonzert am 16. September in der Recklinghäuser Synagoge stehen jüdische, christliche und muslimische Kindertanzgruppen, Chöre und Musiker auf der Bühne. Zum Abschluss findet am 12. Dezember wieder das traditionelle Gastmahl im Rathaus Marl mit interkulturellen Darbietungen, gemeinsamem Essen und Gesprächen statt. Für Kinder und Jugendliche gibt es Filmnachmittage, Besuche in Kirchen, Moscheen und Synagogen sowie Workshops über Christentum, Islam und Judentum.

Veranstalter ist die Christlich-Islamische Arbeitsgemeinschaft Marl in Kooperation mit Kirchen und Moscheen, der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen, dem Integrationsrat und der Stadt Marl sowie dem Kinderschutzbund. Mit dem seit 2001 jährlich im Herbst begangenen Abrahamsfest wollen die Organisatoren die Zusammenarbeit der Religionen stärken, Friedensarbeit leisten und zur Überwindung von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus beitragen.



Messe "Fair Friends" in Dortmund informiert über Fairen Handel

Vom 6. bis 9. September präsentiert sich in Dortmund wieder die Messe "Fair Friends". In den Westfalenhallen dreht sich vier Tage lang alles um nachhaltige Lebensstile, fairen Handel und gesellschaftliche Verantwortung, wie die Messe Dortmund am 30. August ankündigte. Schirmherrin ist in diesem Jahr Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD), die auch bei der Eröffnung sprechen wird.

Auf der Messe stellen internationale Produzenten faire und nachhaltige Produkte von Lebensmitteln über Naturkosmetik bis zu Kunsthandwerk vor. Außerdem gibt es Kochshows und Modenschauen mit fair gehandelter Kleidung. In Workshops und Foren geht es um Themen wie Upcycling, Folgen des Handy-Konsums, Anregungen für ein müllfreies Leben oder gesunde und nachhaltige Ernährung.

Neben Fairhandelsorganisationen wie Gepa präsentieren auch Hilfswerke wie Misereor oder Brot für die Welt ihre Projekte. Die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) bietet auf einer Sonderfläche 15 Produzenten aus verschiedenen Länder Gelegenheit, den Besuchern ihr Angebot zu zeigen. Außerdem werden Schulklassen für ihr besonderes Engagement für den Fairen Handel ausgezeichnet.

Erstmals findet im Rahmen der Messe ein Fachtag "Faire und nachhaltige Beschaffung" statt. Beschaffer aus Kommunen, Kirchen und Institutionen sowie Einkäufer aus Unternehmen könnten dort Kontakte mit Anbietern von fairen Produkten und Dienstleistungen knüpfen, hieß es.



NRW-Tag in Essen stößt auf großen Zuspruch

Der Nordrhein-Westfalen-Tag in Essen war nach Angaben der Veranstalter ein voller Erfolg. Sowohl das Bürgerfest wie auch das Kulturprogramm auf dem Weltkulturerbe Zollverein seien auf großen Zuspruch gestoßen, teilte die Essen Marketing GmbH am 2. September mit. Bei sonnigem Wetter hätten sich viele Besucher an den rund 280 Ständen der NRW-Ministerien, der "Blaulichtmeile", von touristischen Organisationen, Vereinen, Verbänden und Institutionen informiert. Für volle Plätze vor allem in den Abendstunden habe das Bühnenprogramm des Musikfestes "Essen Original" mit Auftritten von Bands wie "Alphaville" gesorgt. Als Besuchermagnet auf Zollverein habe sich der Sänger Stefan Stoppok erwiesen.

Auch Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) zeigte sich zum Abschluss der dreitägigen Feierlichkeiten zum 72. Landesgeburtstag zufrieden. "Essen im Herzen des Ruhrgebiets war in diesem Jahr, in dem die letzte Zeche schließt, genau der richtige Ort, um den Landesgeburtstag Nordrhein-Westfalens zu feiern", erklärte der Regierungschef. "Essen zeigt gleichermaßen Vergangenheit, erfolgreichen Strukturwandel und das Potenzial des Ruhrgebiets."

Der Nordrhein-Westfalen-Tag knüpft an das große Bürgerfest 2006 an, bei dem zwei Millionen Besucher den 60. Geburtstag des Landes in Düsseldorf feierten. Der erste regionale NRW-Tag war 2007 in Paderborn. Seit 2012 findet der NRW-Tag im Zwei-Jahres-Turnus statt.



Land NRW läutet nächste Phase der Ruhr-Konferenz ein

Die NRW-Landesregierung hat am 31. August die nächste Etappe bei der sogenannten Ruhr-Konferenz eingeläutet. Ziel sei es, die Region Ruhr zu einer erfolgreichen, wettbewerbsfähigen und lebenswerten Metropolregion im digitalen Zeitalter zu entwickeln, teilte die Staatskanzlei nach einer auswärtigen Sitzung des Landeskabinetts in Essen mit. Das Landeskabinett hat am 31. August den Rahmen für die inhaltliche Ausgestaltung des Prozesses geschaffen und 20 Themenforen benannt, die sich um Bereiche wie Verkehr, Bildung, Sicherheit, Gesundheit, Umwelt, Stadt- und Landschaftsplanung, Energiewende und Tourismus kümmern.

Angeführt werden diese Foren jeweils durch das thematisch zuständige Ministerium sowie regionale Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Sport und Gesellschaft. Aufgabe dieser Foren ist es nun, geeignete Projekte in der Region zu identifizieren und voranzutreiben. Die Themen reichen von konkreten Fragen zur Arbeitsplatzsicherung und der Bekämpfung von Clan-Kriminalität über die Sicherstellung von qualitativ hochwertiger Pflege und Bildungschancen für Kinder bis hin zu Grünflächenkonzepten und Verkehrsnetzen.

Online-Befragung

Zudem startete die Landesregierung am 1. September beim NRW-Tag in Essen eine Online-Befragung, bei der sich alle Bürger mit ihren Prioritäten und Ideen in den Prozess der Ruhr-Konferenz einbringen können. Die Befragung ist unter www.dialog.ruhr-konferenz.nrw zu erreichen. Starken Metropolregionen gehöre die Zukunft im weltweiten Wettbewerb, sagte Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). Die Ruhr-Konferenz sei "ein Prozess, um die Potenziale der Region und die Chance zum Wohle des Ruhrgebiets, aber auch des ganzen Landes Nordrhein-Westfalen, zu nutzen".

Die Federführung der Ruhr-Konferenz hat der Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationales, Stephan Holthoff-Pförtner (CDU). In einem Beirat stehen ihm der Präsident der Landesvereinigung der Unternehmensverbände Nordrhein-Westfalen, Arndt G. Kirchhoff, die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) NRW, Anja Weber, sowie der Bischof von Essen, Franz-Josef Overbeck, zur Seite.



Festakt im NRW-Landtag zum Ende der Steinkohle

Das Ende des deutschen Steinkohlenbergbaus in diesem Jahr ist Anlass für einen gemeinsamen Festakt der beiden Landesparlamente von Nordrhein-Westfalen und Saarland am Mittwoch, 12. September, in Düsseldorf. Neben NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und dem saarländischen Regierungschef Tobias Hans (beide CDU) werden auch der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis und NRW-Landtagspräsident André Kuper Festreden halten, wie der WDR am 2. September in Köln mitteilte. Der Sender überträgt die Veranstaltung aus dem Düsseldorfer Landtag ab 11 Uhr live im Fernsehen und im Hörfunkprogramm WDR Event.

Musikalisch werden der RAG-Ruhrkohle-Chor, der Kinder- und Jugendchor der Chorakademie Dortmund und das Salonorchester Münster die Feierlichkeiten gestalten, wie es hieß. Mit der Schließung der Zeche Prosper-Haniel in Bottrop wird im Dezember das letzte Steinkohle-Bergwerk in Deutschland den Betrieb einstellen.




Soziales

Bethel zieht positive Bilanz des Jahres 2017


Ulrich Pohl
epd-bild/Paul Schulz/Bethel
Das diakonische Unternehmen Bethel verzeichnet das höchste Jahresergebnis seiner Geschichte. Der Bethel-Vorstand warnt jedoch, dass der positive Trend nicht von Dauer sein wird. Die Rahmenbedingungen würden enger.

Das 150. Jubiläumsjahr im vergangenen Jahr hat den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel das höchste Jahresergebnis und die höchsten Spendeneinnahmen seiner Geschichte beschert. Das Jahresergebnis in Höhe von 12,81 Millionen Euro sei annähernd eine Verdoppelung des Vorjahresergebnisses, sagte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende Rainer Norden am 28. August in Bielefeld. "Wir glauben aber nicht, dass wir ein solches Ergebnis noch mal erzielen können", sagte Norden. Die Refinanzierung der diakonischen Arbeit bleibe schwierig. Neue gesetzliche Anforderungen machten zudem auch höhere Investitionen nötig.

Spendenrekord

Die Gesamterträge stiegen leicht von 1,14 Milliarden Euro auf 1,24 Milliarden Euro. Der Zuwachs geht laut dem Finanzvorstand Norden auf die Ausweitung der Arbeit Bethels mit neuen Einrichtungen zurück. Weitere Gründe seien die Zunahme der Fachleistungsstunden in der Betreuung und die hohe Zahl von Berechnungstagen im stationären Bereich. Alle Gelder würden direkt in die diakonische Arbeit fließen.

Die Sachinvestitionen lagen mit 78,1 Millionen Euro um rund zwei Millionen Euro leicht unter der Summe des Vorjahres. Schwerpunkt dabei seien neue Wohnangebote in allen Regionen, die Weiterentwicklung von Akutkrankenhäusern und der Werkstätten für behinderte Menschen. Die Zahl der Mitarbeiter stieg zum Ende des vergangenen Jahres auf 19.052 (Vorjahr: 18.449). Um Fachkräfte für Bethel zu gewinnen werden die Stiftungen Bethel-Chef Ulrich Pohl zufolge die Werbung verstärken und die Ausbildungsplätze aufstocken.

Die Spenden und Nachlässe haben im vergangenen Jahr mit 62,7 Millionen Euro - ein Zuwachs von rund zehn Millionen Euro - einen neuen Höchststand erzielt, wie Pohl erklärte. Damit werden viele Vorhaben ermöglicht, die sonst nicht zu finanzieren wären.

Bewerbung als Klinikum der Universität Bielefeld

Das Evangelische Klinikum Bethel erzielte ein positives Gesamtergebnis von 1,8 Millionen Euro. Die Fallzahlen seien mit 170.000 leicht gestiegen, erklärte der Finanzvorstand Norden. Mit rund 1.755 Betten und 4.600 Beschäftigten sei es das größte einzelne evangelische Krankenhaus in Deutschland, erläuterte Norden. Zum Jahresbeginn werde dort die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie eröffnet. Gute Chancen habe das Krankenhaus auch bei der Bewerbung als Klinikum der Universität Bielefeld.

Kinderzentrum Bethel wird modernisiert

Als großes Projekt kündigte Pohl ab 2019 den Beginn des Neubaus des Kinderzentrums Bethel an. Das neue Kinderzentrum soll die gesamte Behandlung und Diagnostik unter einem Dach bündeln. Das Zentrum soll auf rund 10.000 Quadratmetern 96 Betten, jeweils mit Elternbetten, sowie 40 Intensivbetten bieten. Im Jahr 2022 soll die Klinik fertig sein. Das heutige Kinderzentrum stamme aus den 70er Jahren und entspreche nicht mehr dem heutigen Versorgungsstandard. Die Kosten von voraussichtlich 70 Millionen Euro sollen zur Hälfte aus Eigenmitteln, etwa durch Spenden, und zur anderen Hälfte vom Land finanziert werden.

Bethel Chef Pohl zog eine positive Bilanz des Jubiläumsjahres zum 150-jährigen Bestehen des diakonischen Unternehmens. Das Jubiläum habe Bethel genutzt, um auf die Lebenslagen und Bedürfnisse von behinderten Menschen aufmerksam zu machen. Höhepunkt des Festjahres war unter anderem die Show des "Circus Roncalli" mit behinderten und nichtbehinderten Menschen.

Die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel zählen zu den größten diakonischen Werken Europas. Rund 230.000 Menschen hat das diakonische Werk nach Angaben des Vorstands im vergangenen Jahr behandelt, betreut oder ausgebildet.



Kreis muss behinderter jungen Frau Grundsicherung zahlen


Karin Glaub (links) aus Herford hat für ihre Tochter Kim-Lea die Grundsicherung juristisch erstritten.
epd-bild/Reinhard Elbracht

Menschen mit Behinderungen, die erwerbsgemindert sind, haben nach einem Urteil, ab dem 18. Lebensjahr Anspruch auf Grundsicherung. Das gilt auch dann, wenn sie eine Ausbildung in einer Werkstatt für behinderte Menschen absolvieren, wie das Sozialgericht Detmold in einem am 28. August bekanntgewordenen Urteil entschied (AZ: S 2 SO 15/18). Das Gericht verurteilte den Kreis Herford, einer 19-jährigen jungen Frau mit Down-Syndrom rückwirkend ab dem 18. Lebensjahr Grundsicherung zu zahlen.

Der Kreis, der den Antrag auf Grundsicherung abgelehnt hatte, hatte sich auf die Praxis des zuständigen Bundesministeriums für Arbeit und Soziales berufen. Das Ministerium war nach einer Neufassung im Sozialgesetzbuch der Auffassung, dass eine dauerhafte Erwerbsminderung erst nach Ende des Berufsbildungsbereiches festgestellt werden könne.

Lebenshilfe begrüßt Urteil

Das Gericht hingegen entschied, dass wenn die Frau die Voraussetzung für eine Bildungsmaßnahme einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung erfülle, von einer weiteren vollen Erwerbsminderung auszugehen sei. Das müsse nicht nach Ende der Ausbildung noch einmal überprüft werden, heißt es in dem Urteil. Die 19-jährige Frau mit Down-Syndrom lernt im Berufsbildungswerk der Herforder Lebenshilfe-Werkstätten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Gegen die Entscheidung kann Berufung beim Landesozialgericht Essen eingelegt werden.

Die Lebenshilfe, die die Klage der Eltern der behinderten Frau unterstützten, begrüßte das Urteil. "Nach dem Detmolder Urteil muss die Bundesregierung endlich handeln", erklärte die Bundesvorsitzende Ulla Schmidt am 28. August in Berlin. Die Lebenshilfe forderte das Bundessozialministerium auf, seine Rechtsauffassung an die Rechtsauffassung der Gerichte anzupassen. Außerdem sollte der Deutsche Bundestag das Gesetz so ändern, dass künftig voll und vorübergehend erwerbsgeminderte Menschen gleichermaßen Anspruch auf Grundsicherung erhielten.



Studie belegt große regionale Unterschiede bei Kita-Betreuung


Kita in Bremen
epd-bild/Kathrin Döpner
Die Betreuung in den Kitas hat sich laut einer Studie im bundesweiten Durchschnitt zwar verbessert. Regional gibt es jedoch große Unterschiede. Die Bertelsmann Stiftung fordert daher bundesweit einheitliche Standards.

Im Osten Deutschlands betreut eine Fachkraft im Durchschnitt fast doppelt so viele Kinder wie im Westen. "Die Kita-Qualität hat sich bundesweit verbessert - die Kluft zwischen den Ländern ist allerdings geblieben", sagte der Vorstand der Bertelsmann Stiftung, Jörg Dräger, am 28. August in Gütersloh bei der Vorstellung des Ländermonitors für frühkindliche Bildung. Er mahnte bundesweit einheitliche Qualitätsstandards an. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) verwies auf das geplante Kita-Gesetz des Bundes, das die Betreuung verbessern soll. Auch Sicht der Sozialverbände reicht das allerdings nicht aus.

In Ostdeutschland kamen im vergangenen Jahr den Angaben zufolge sechs Kinder unter drei Jahren auf eine Betreuungskraft, in Westdeutschland waren es 3,6 Kinder. Fünf Jahre zuvor waren es 6,4 Jungen und Mädchen im Osten und 3,9 in Westen. Den besten Personalschlüssel hat Baden-Württemberg (3), Schlusslicht ist Sachsen-Anhalt (6,4). Allerdings würden in Ostdeutschland traditionell deutlich mehr Kinder unter drei Jahren in Krippen betreut, hieß es.

Schlusslicht Mecklenburg-Vorpommern

Auch bei den älteren Kita-Kindern liegt Baden-Württemberg mit einem Verhältnis von einer Fachkraft zu sieben Kindern vorn. Das ungünstigste Betreuungsverhältnis hat Mecklenburg-Vorpommern mit 13,4 Kinder pro Fachkraft. In Nordrhein-Westfalen waren es fast neun Kinder (8,9).

Die Stiftung forderte bundesweit einheitliche Qualitätsstandards für Kitas. Die Experten der Bertelsmann Stiftung empfehlen ein Betreuungsverhältnis von einer Fachkraft für drei unter dreijährige Kinder beziehungsweise für 7,5 ältere Kinder. Demnach müssten in NRW zusätzlich 15.536 vollzeitbeschäftigte Fachkräfte eingestellt werden. Das würde jährlich 706 Millionen Euro kosten. Weiteres Personal und Kosten seien für die Leitung der Kindereinrichtungen nötig, hieß es.

Bundesfamilienministerin Giffey hob das geplante Gute-Kita-Gesetz hervor. Ziel sei es, dass "überall in Deutschland gute Bedingungen für die frühkindliche Bildung geschaffen werden". Der Bund wolle die Länder mit 5,5 Milliarden Euro bis zum Jahr 2022 unterstützen, damit die Situation vor Ort konkret verbessert werden könne. Nach Einschätzung der Bertelsmann Stiftung wären jedoch jährlich 8,7 Milliarden Euro nötig.

Die Unionsbundestagsfraktion erklärte, dass sie bei dem Kita-Gesetz die Schwerpunkte auf eine weitere Verbesserung des Fachkraft-Kind-Schlüssels und der Gewinnung qualifizierter Fachkräfte legen werde. Eine Beitragsreduzierung sei ein wichtiges Ziel, dürfe aber darf nicht zu Lasten der Qualität gehen, sagte die stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Nadine Schön. Die Grünen im Bundestag verlangten, dass das geplanten Gesetz um einheitliche Qualitätsstandards ergänzt werden müsse.

Milliardeninvestitionen

Der Deutsche Kinderschutzbund mahnte neben erforderlichen Investitionen für mehr Kita-Plätze ein Investitionsprogramm von jährlich fünf Milliarden Euro zur Verbesserung der Betreuungsqualität an. Die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe nannte der "Neuen Osnabrücker Zeitung" einen zusätzlichen Förderbedarf von jährlich zehn Milliarden Euro. Die Arbeiterwohlfahrt sprach sich zudem für eine bessere Bezahlung für Erzieherinnen aus, um den Beruf attraktiv zu machen.

Sozialverbände und GEW unterstützten die Forderung nach bundesweit einheitlichen Qualitätsstandards. Dagegen lehnte der Deutsche Städtetag bundeseinheitliche Standards ab. Diese würden den sehr unterschiedlichen Konzepten der Kitas vor Ort nicht gerecht, sagte der Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy. Auch Sicht des Städtebunds reichen die vom Bund in Aussicht gestellten 5,5 Milliarden Euro zur Kita-Förderung nicht aus.

Grundlage des jährlich aktualisierten Ländermonitors sind Auswertungen von Daten der statistischen Ämter des Bundes und der Länder aus der Kinder- und Jugendhilfestatistik sowie weiteren Statistiken. Stichtag war der 1. März 2017.



Stiftung beklagt Stillstand bei Qualitätsausbau der Saar-Krippen

Keine Bewegung beim Ausbau der Qualität in saarländischen Krippen, weil der Personalschlüssel fast gleich bleibt - zu diesem Ergebnis kommt die Bertelsmann Stiftung. Der Saar-Bildungsminister kontert: Qualität sei mehr als der Betreuungsschlüssel.

Die Bertelsmann Stiftung kritisiert einen Stillstand beim Ausbau der Qualität in saarländischen Krippen. Hätte 2012 eine Erzieherin 3,6 Kinder betreut, seien es 2017 wiederum 3,8 Kinder gewesen, teilte die Stiftung am 28. August in Gütersloh bei der Vorstellung des Ländermonitors über frühkindliche Bildung mit. Baden-Württemberg schneide mit dem Verhältnis von einer Betreuungskraft für rund drei Kinder am besten ab. Der saarländische Bildungsminister Ulrich Commerçon (SPD) kritisierte den Bildungsmonitor. Dieser sei "wie in den vergangenen Jahren unseriös, eindimensional und geht an den Realitäten vorbei", sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Commerçon: Bildungsmonitor als eindimensional

Der Betreuungsschlüssel für Kinder ab drei Jahre hat sich der Bertelsmann Stiftung zufolge im Saarland leicht verbessert (von 1 zu 10 auf 1 zu 9,6). Allerdings liege das kleinste Flächenbundesland mit diesem Wert im westdeutschen Vergleich auf dem vorletzten Platz vor Hessen. Zudem habe sich die Situation für Kita-Leiterinnen verschlechtert: Hätten 2014 rund sechs Prozent der Kitas angegeben, keine Zeit für Leitungsaufgaben zu haben, sei der Wert 2017 auf knapp acht Prozent gestiegen. Bundesweit sind es elf Prozent. Allerdings haben viele Einrichtungen im Saarland eine von der Stiftung empfohlene Leitungsausstattung.

Nach den Empfehlungen der Stiftung müsste das Saarland 1.350 zusätzliche Fachkräfte rekrutieren sowie weitere 61 Millionen Euro jährlich bereitstellen, um die Personalausstattung auszubauen. Zudem seien 179 vollzeitbeschäftigte Leitungskräfte zusätzlich nötig, was weitere elf Millionen Euro koste. Mit Blick auf das von der Bundesregierung geplante "Gute-Kita-Gesetz" forderte die Bertelsmann Stiftung eine Verteilung der Mittel gemessen an der Zahl der Kinder in der Kindertagesbetreuung. Das Saarland erhielte dann jeweils rund 20 Millionen Euro in den Jahren 2021 und 2022.

Saar-Bildungsminister Commerçon kritisierte den Fokus der Studie auf den Personalschlüssel. "Aspekte wie Leitungsfreistellungen und überwiegend vollzeitbeschäftigte Fachkräfte haben einen nachhaltigen Einfluss auf die pädagogische Qualität - und in beiden Bereichen ist das Saarland bundesweit ganz vorne mit dabei", sagte Commerçon dem epd.

"Bertelsmann blendet völlig aus, dass in den letzten Jahren vor allem der Ausbau der Kapazitäten im Vordergrund stehen musste", kritisierte der SPD-Politiker. Seit 2012 habe das Saarland rund 80 Prozent mehr Krippenplätze geschaffen. Aufgrund der gestiegenen Geburtenzahlen und der Zuwanderung seien heute im Vergleich zu 2012 fast 4.000 Kinder zusätzlich in Kitas. "Wir haben neue Krippen errichtet, Kitas saniert, das Ganztagsangebot ausgebaut, Personal neu eingestellt und Erzieherinnen und Erzieher aus- und fortgebildet", betonte der Bildungsminister.

"Mehr Personal ist sicher wünschenswert, aber wir dürfen dabei keine Luftschlösser bauen", unterstrich Commerçon. Investitionen in Personal und Infrastruktur brächten noch keine Bildungsgerechtigkeit. Die Landesregierung habe vereinbart, die Elternbeiträge für die Kinderbetreuung schrittweise abzuschaffen. "Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Entlastung der Eltern um 25 Prozent muss aber deutlich erhöht werden", ergänzte der Minister.

Grundlage des jährlich aktualisierten Ländermonitors sind Auswertungen von Daten der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder unter anderem aus der Kinder- und Jugendhilfestatistik. Stichtag für die Datenerhebung war der 1. März 2017.



Ex-Kindergartenleiter wegen Missbrauchs vor Gericht

Der Prozess in Heilbronn gegen den ehemaligen Leiter eines evangelischen Kindergartens, der wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes angeklagt ist, findet zum Teil unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Vorsitzende Richterin am Landgericht Heilbronn, Eva Bezold, kündigte zum Abschluss des ersten Prozesstages am 27. August an, dass voraussichtlich schon die nächste Sitzung Mitte September zum Schutz des jungen Opfers nichtöffentlich stattfinde, wenn der Angeklagte Aussagen zu Tathergängen mache.

Dem 31-jährigen Erzieher wirft die Staatsanwaltschaft den schweren Missbrauch eines 2005 geborenen Jungen vor, der von 2012 bis 2018 andauerte. Der Mann stand dabei bereits ab Dezember 2017 unter Anklage wegen des Besitzes von etwa 10.000 Bildern und mehr als 900 Videodateien mit kinderpornografischem Inhalt. Er war 2016 ins Visier der Polizei geraten, als er im Internet der verdeckt ermittelnden Kriminalpolizei in Hannover zwölf Kinderporno-Bilder anbot.

Zunächst war der Mann daraufhin wegen des Besitzes und der Weitergabe kinderpornografischer Dateien vor dem Amtsgericht Heilbronn angeklagt worden. Nach Bekanntwerden der Anklage im Dezember 2017 habe er die Kirchenpflege Heilbronn, die Verwaltung der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde, informiert, erklärte der Angeklagte am 27. August Es habe Gespräche gegeben und eine Freistellung vom Dienst im Januar 2018. Ihm sei eine Teilbezahlung bis August 2018 zugesagt worden, das weitere Vorgehen habe sein Arbeitgeber vom Ausgang des Verfahrens abhängig gemacht.

Pornografische Aufnahmen

Unterdessen hatte jedoch ein Vater Anzeige gegen den Mann erstattet. Daraufhin fand die Polizei bei einer weiteren Durchsuchung Bild- und Videodateien, die den Missbrauch des Jungen belegten. Der Erzieher hatte das Kind aus seinem Bekanntenkreis zunächst oral missbraucht und sich später auch oral von dem Jungen befriedigen lassen. Teilweise dokumentierte er die Taten in Videos, die er für sich speicherte. Anfangs schlief das Kind bei den Taten und wachte auch von den Manipulationen nicht auf. Die Staatsanwaltschaft klagt insgesamt 19 Fälle an.

Nicht nur von dem Jungen, der manchmal bei ihm zu Hause übernachtete, sondern auch von zwei weiteren Jungen im frühen Grundschulalter machte der Erzieher pornografische Aufnahmen. Diese Bilder zeigten die Genitalien der Kinder, die im Evangelischen Waldheim Gaffenberg in Heilbronn bei einer Sommerfreizeit in den Jahren 2014 und 2015 schliefen.

Ob die Evangelische Gesamtkirchengemeinden trotz Ausschluss der Öffentlichkeit einen Prozessbeobachter zu dem Verfahren schicken darf, wird das Gericht noch entscheiden, wie Richterin Bezold sagte. Staatsanwalt und Nebenklagevertreterin widersprachen dem Antrag entschieden. Die Verteidigung begrüßte ihn. Verteidiger Thomas Amann sagte, wenn Kirchenvertreter teilnähmen, könnten sie aus dem Verfahren lernen. "Auffälligkeiten gab's bestimmt", sagte er mit Blick auf mögliche Rückschlüsse für künftige Prävention.

Der Angeklagte war seit seiner Jugend aktiver Mitarbeiter der evangelischen Kirchengemeinde, hatte Kinder- und Jugendgruppen geleitet, gemeinsam mit seiner Mutter ein Büchercafé als Treffpunkt eingerichtet und unter anderem die Homepage seiner Kirchengemeinde betreut, wie er erklärte. Nach seiner Aussage kündigte ihm die Gesamtkirchengemeinde fristlos und strich die Zahlungen. Dagegen klagt er jetzt vor dem Arbeitsgericht Stuttgart.



Ethikrat: Widerspruchslösung wäre "Organabgabepflicht"


Peter Dabrock
epd-bild/Peter Roggenthin

Der Sozialethiker Peter Dabrock hat das Plädoyer von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) für eine Widerspruchslösung bei der Organspende scharf kritisiert. Solch eine Regelung würde einen "fundamentalen Paradigmenwechsel" darstellen, sagte der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats am 3. September dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin. Die bisherige Organspenderegelung habe den Charakter von Freiwilligkeit und wohltätiger Solidarität mit Schwerkranken. Mit der Regelung, bei der jeder Spender sein soll, solange er nicht widerspricht, müsste man von "Organabgabepflicht" statt von "Organspende" sprechen, sagte Dabrock.

Spahn hatte der "Bild"-Zeitung (3. September) gesagt, dass nur mit der Widerspruchslösung die Organspende zum Normalfall werden könne. Jeder Deutsche würde damit automatisch ein Spender sein, sofern er oder seine Angehörigen nicht ausdrücklich widersprechen. In Deutschland gilt bislang die sogenannte Entscheidungslösung, so dass eine Entnahme nur möglich ist, wenn eine Zustimmung vorliegt.

"Objekt staatlicher Sozialpflichtigkeit"

Die Widerspruchslösung, die in anderen europäischen Ländern gilt, wurde in der Vergangenheit immer wieder in die Diskussion gebracht als Möglichkeit, die Organspendezahlen zu erhöhen. Dabrock hält den Befürwortern entgegen: "Eine solche Regelung würde den menschlichen Körper zu einem Objekt staatlicher Sozialpflichtigkeit machen." In diesem allerhöchst persönlichen Bereich eine Aussagepflicht zu verlangen, widerspreche dem Geist, mit dem Gesetzgeber und Gerichte bisher die Verfassung ausgelegt hätten. "Es wird als ein großer Fortschritt gefeiert, dass die Datenschutzgrundverordnung die ausdrückliche Zustimmung bei jeder Datenweitergabe fordert. Und nun wird debattiert, dass bei der Verwendung des eigenen Körpers über den Tod hinaus der Widerspruch leitend sein soll", sagte der Erlanger Theologieprofessor.

Dabrock begrüßte die in Gesetzespläne Spahns zur besseren Vergütung der Organspende. Man müsse erst abwarten, ob diese Maßnahmen greifen, sagte der Vorsitzende des Ethikrates, der nach eigenen Worten selbst einen Organspendeausweis hat.

epd-Gespräch: Corinna Buschow


Bundesregierung bringt Rentenpaket auf den Weg


Zwei Seniorinnen gehen spazieren in einem Park.
epd-bild/Jens Schulze
Die große Koalition hat sich auf ihr Rentenpaket geeinigt. Union und SPD feierten die kleinen Änderungen gegenüber den Verabredungen im Koalitionsvertrag als Durchbruch. Von der Opposition kam Kritik.

Die große Koalition hat sich im Streit um Rente und Arbeitslosenversicherung geeinigt und Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht. Am 29. August verabschiedete das Bundeskabinett das Rentenpaket, das als wesentlichen Punkt die sogenannte doppelte Haltelinie vorsieht. Sie garantiert bis 2025 ein Rentenniveau von 48 Prozent, während gleichzeitig der Rentenbeitrag nicht über 20 Prozent steigen soll. Zudem soll das Kabinett noch im September eine stärkere Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung als im Koalitionsvertrag verabredet beschließen. Er soll zum 1. Januar 2019 um 0,5 Prozentpunkte auf 2,5 Prozent des Bruttolohns sinken.

Auch die Verbesserungen bei der Rente sollen bereits im kommenden Jahr in Kraft treten. Das "Kernversprechen" des Sozialstaats, Sicherheit und Gerechtigkeit für alle Generationen zu gewährleisten, werde damit eingelöst, sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) am Mittwoch in Berlin. Sein Paket, das gegenüber dem Entwurf aus dem Juli nun mit leichten Änderungen ins Kabinett kam, sieht auch Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente und der sogenannten Mütterrente vor.

Mehr Erziehungszeiten angerechnet

Für Erziehungszeiten von vor 1992 geborenen Kindern wird dann ein zusätzlicher halber Rentenpunkt angerechnet. Das entspricht im Westen einer Rentenerhöhung von 16, im Osten von 15,35 Euro pro Monat und Kind. Zunächst war geplant, nur Mütter oder Väter mit mindestens drei Kindern - dann aber mit einem ganzen zusätzlichen Rentenpunkt - zu berücksichtigen. Von der Ausweitung auf alle profitieren Heil zufolge nun zehn statt drei Millionen Mütter und Väter.

Die höhere Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung war eine Forderung der CDU. Die SPD setzte im Gegenzug einen Ausbau der Förderung beruflicher Weiterbildung durch. Von der vorgesehenen Senkung um 0,5 Prozentpunkte sollen dem Kompromiss zufolge nur 0,4 Prozentpunkte gesetzlich fixiert werden. Der Anteil von 0,1 Prozentpunkten wird bis Ende 2022 befristet. Ob der Beitrag dann wieder steigt, wird Heil zufolge von den Rücklagen bei der Bundesagentur für Arbeit abhängen. Die Koalition einigte sich darauf, dass sie 0,65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen soll. Derzeit entspricht das 22,5 Milliarden Euro.

Während der Deutsche Gewerkschaftsbund das Rentenpaket als Stärkung der gesetzlichen Altersvorsorge lobte, kam von der Opposition Kritik. Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr erklärte, der Beschluss bedeute eine faktische Rentenbeitragserhöhung und steigende Bundeszuschüsse aus Steuergeldern. Heil will von 2021 bis 2024 einen sogenannten Demografiefonds mit zwei Milliarden Euro jährlich ansparen.

Grüne für Bürgerversicherung

Die Grünen wiederholten ihre Forderung nach einer Bürgerversicherung bei der Rente. Der Rentenpolitiker Markus Kurth (Grüne) sagte, alle Erwerbstätigen, also auch Selbstständige, Abgeordnete und Beamte müssten einzahlen, um über den "demografischen Berg" zu kommen. Linken-Chef Bernd Riexinger kritisierte, die SPD sei mit ihrem Vorhaben gescheitert, das Rentenniveau über 2025 hinweg festzuschreiben. Altersarmut werde damit zudem nicht verhindert.

Die SPD hatte in der Diskussion eine Rentengarantie bis 2040 gefordert. Bei der Union stieß das aber auf Widerstand, nachdem im Koalitionsvertrag nur die Haltelinie bis 2025 vereinbart wurde. Über die Zeit danach soll beschlossen werden, nachdem die von der großen Koalition eingesetzte Renten-Kommission ihre Ergebnisse vorgelegt hat. Arbeitsminister Heil betonte, sein Ziel bleibe, das Rentenniveau dauerhaft nicht unter 48 Prozent fallen zu lassen. Wenn das in dieser Wahlperiode nicht beschlossen werden könne, werde seine Partei dies im nächsten Bundestagswahlkampf zum Thema machen.



NRW lässt Pflegekräfte über Interessenvertretung abstimmen

Soll eine Interessensvertretung für die Pflege in NRW gegründet werden? Darüber lässt die Landesregierung Pflegekräfte selbst abstimmen. Sie sollen sich auch zwischen einem Modell mit freiwilliger und verpflichtender Mitgliedschaft entscheiden.

Nordrhein-westfälische Pflegekräfte entscheiden im Oktober in einer Umfrage über die Einrichtung einer Interessenvertretung. "Ich bin der Meinung, dass die Pflege endlich eine eigene Stimme braucht", sagte Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) am 28. August in Düsseldorf bei der Vorstellung der Befragung. Rund 1.500 repräsentativ ausgewählte Pflegekräfte sollen darüber abstimmen, ob und in welcher Form eine Interessenvertretung in Nordrhein-Westfalen gegründet wird.

Laumann schlägt Einführung von Pflegekammer vor

"Das Ergebnis der Befragung wird Anfang 2019 vorliegen und ist politisch bindend", sagte Laumann. Die Pflegekräfte können sich in der Befragung für eine Pflegekammer mit verpflichtender Mitgliedschaft oder einen Pflegering mit freiwilliger Mitgliedschaft, aber auch gegen eine Interessenvertretung aussprechen. Falls bei der Befragung eine Mehrheit für eine der beiden Lösungen zustande kommt, wird ein entsprechendes Gesetz nach Laumanns Worten Ende 2019 in Kraft treten können. Die repräsentative Befragung von Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflegern wird durch das Markt- und Meinungsforschungsinstitut Info GmbH durchgeführt.

Der Minister selbst sprach sich für die Einführung einer Pflegekammer aus. Eine solche selbstständige Kammer, die über die Belange der Pflegekräfte landesweit entscheiden würde, würde auch "die Gewichte im Gesundheitssystem verschieben", sagte Laumann. Eine Pflegekammer würde ähnlich wie die Ärzte- oder Apothekerkammern von ihren Mitgliedern organisiert und finanziert. Das Land selbst hätte lediglich die Rechtsaufsicht und könnte nicht in die Eigenständigkeit eingreifen, erläuterte der CDU-Politiker.

Die Pflichtbeiträge für die Mitglieder einer Pflegekammer liegen nach Einschätzung des Ministeriums je nach Einkommenshöhe zwischen 2,50 und zehn Euro monatlich. Sollte sich eine Mehrheit bei der Befragung dagegen für einen Pflegering entscheiden, gäbe es einen freiwilligen Beitrag. Die übrigen Kosten müsste zumindest in der Anfangszeit das Land übernehmen.

Die schwarz-gelbe Landesregierung hat sich im Koalitionsvertrag für eine Interessensvertretung der Pflegekräfte ausgesprochen. Laumann bekräftigte aber, ihm sei daran gelegen, dass die Pflegekräfte selbst über ihre eigene Interessenvertretung abstimmen. Die Landesregierung informiert mit einer am 28. August gestarteten Informationskampagne in Form von Flyern, Plakaten und einer Internetseite über die Wahlmöglichkeiten.

In Nordrhein-Westfalen gibt es nach Ministeriumsangaben rund 197.000 Pflegekräfte. Von ihnen sind rund 75.000 in der Altenpflege und rund 121.000 in der Krankenpflege tätig.



Pflegemesse Rehacare so groß wie noch nie

Die internationale Pflegemesse Rehacare in Düsseldorf präsentiert sich vom 26. bis 29. September mit 960 Ausstellern aus 40 Ländern. "Die Rehacare 2018 wird damit die größte Veranstaltung in der langen Reihe der Reha-Messen sein, die wir seit 1977 am Standort Düsseldorf durchführen", kündigte Horst Giesen von der Messe Düsseldorf am 30. August an. In sechs Messehallen stellen Unternehmen und Dienstleister wieder Hilfsmittel und Technologien vor, die Menschen mit Behinderung, Pflegebedarf und im Alter den Alltag erleichtern.

Schwerpunktthema Mobilität

Breiten Raum nimmt das Thema Mobilität ein: 600 Aussteller zeigen den Angaben zufolge Rollstühle, Fahrgeräte und Gehhilfen, außerdem präsentieren 50 Umrüster maßgeschneiderte Autos für Fahrer mit Mobilitätseinschränkungen. Zu sehen sind auch Alltagshilfen, Pflegehilfsmittel und Kommunikationstechnik für Menschen mit Sinnesbehinderungen. Außerdem finden die Besucher Ideen und Produkte für barrierefreies Wohnen, Freizeit und Reise sowie Informationen über Behindertensport.

Beim Rehacare-Forum nehmen Repräsentanten aus Politik, Selbsthilfe und Verbänden in Vorträgen und Podiumsdiskussionen Stellung zu aktuellen Themen. Unter anderem gehe es um Leben und Wohnen im Alter, Mobilität, Kultur und Sport, Rechte und Ansprüche von Patienten. Der Rehacare-Kongress "Wir fürs Quartier" am 28. September steht nach Veranstalterangaben unter dem Leitthema "Leben im Quartier digital gestalten". Vorgestellt werden Projekte, die älteren oder eingeschränkten Menschen mit Hilfe digitaler Informations- und Kommunikationstechniken länger ein selbstbestimmtes und aktives Leben im vertrauten Umfeld ermöglichen.



Streik an Unikliniken Essen und Düsseldorf vor dem Ende

Der monatelange Arbeitskampf um mehr Pflegepersonal an den Unikliniken Essen und Düsseldorf scheint beendet. Im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens trafen die Gewerkschaft ver.di und die Klinikvorstände am 31. August eine Vereinbarung zur Entlastung der Beschäftigten, wie ver.di und die Unikliniken mitteilten. Danach werden in beiden Kliniken jeweils 180 Vollzeitstellen in der Pflege zusätzlich geschaffen. Über das Schlichtungsergebnis müssen in der nächsten Woche noch die Beschäftigten in einer Urabstimmung abstimmen.

Urabstimmung

Ver.di-Verhandlungsführer Wolfgang Pieper sprach von einem "Meilenstein für die Entlastung von Beschäftigten in den Krankenhäusern". Die Klinikvorstände zeigten sich erleichtert über das Ergebnis. "Wir sind sehr froh, dass wir eine tragfähige Lösung gefunden haben", erklärte der Ärztliche Direktor der Universitätsmedizin Essen, Jochen A. Werner. Auch NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) und Wissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen (parteilos), die die Schlichtung angestoßen hatten, begrüßten die Einigung.

Die Vereinbarung soll zum 1. Oktober in Kraft treten. Sie sieht den Angaben zufolge jeweils 180 Vollzeitstellen zusätzlich pro Klinik vor, davon 140 Stellen für die Pflege am Bett und im Funktionsdienst - zum Beispiel im OP - sowie 40 Stellen in anderen Bereichen wie etwa dem Krankentransport. Die ersten 50 neuen Stellen sollen noch im Jahr 2018 geschaffen werden, weitere 65 zum 30. Juni 2019 plus 65 Stellen zum 31. Oktober kommenden Jahres.

Außerdem müssen die Kliniken verbindliche Verfahren zur Ermittlung des Personalbedarfs in der Pflege und ein Management bei Personalausfall einführen. Auszubildende dürfen nicht auf die Regelbesetzung der Pflegefachkräfte angerechnet werden. In der Nachtschicht soll jeder Arbeitsbereich mit mindestens zwei Pflegekräften besetzt sein.

"Signal an die Politik"

Gewerkschaft und Arbeitgeber verstehen die Vereinbarung zugleich auch als Signal und Auftrag an die Politik. "Überarbeitete Pflegekräfte und Arbeitsverdichtung sind nicht nur ein Essener Problem", erklärte Uniklinik-Chef Werner. "Der heutige Pflegenotstand hat sich seit mehr als zehn Jahren angebahnt." Jetzt sei die Politik gefordert, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen und die Arbeitsbedingungen nachhaltig zu verbessern. "Regelungen der Tarifvertragsparteien zur Entlastung der Beschäftigten ersetzen keine gesetzlichen Vorgaben zur Personalausstattung für eine gute und sichere Patientenversorgung", betonte ver.di-Vorstandsmitglied Sylvia Bühler.

"Wichtig ist nun, dass die Einschränkungen für die Patientinnen und Patienten aufgrund des Streiks schnell beendet werden", erklärte der stellvertretende Ärztliche Direktor des Uniklinikums Düsseldorf, Benedikt Pannen. In Essen gab es den Angaben zufolge seit dem 14. Juni 40 Streiktage, mehr als 3.000 Operationen und Eingriffe mussten verschoben oder abgesagt werden. Zeitweise waren sieben Stationen und über die Hälfte der Operationssäle geschlossen. Das größte Düsseldorfer Krankenhaus wurde seit Februar 2017 an über 50 Tagen bestreikt. Auch hier mussten über 3.000 Operationen verschoben oder an andere Kliniken verlegt werden.



Mehr Personal und weniger Patienten in NRW-Kliniken

In nordrhein-westfälischen Krankenhäusern haben im Jahr 2017 mehr Ärzte als im Vorjahr gearbeitet. Die Zahl des ärztlichen Personals ist im Jahr 2017 auf 42.200 gestiegen, wie das statistische Landesamt am 27. August in Düsseldorf mitteilte. Das seien rund 2,3 Prozent mehr als im Vorjahr (41.300). Im Bereich Pflege stieg die Beschäftigtenzahl zudem auf rund 103.000 Mitarbeiter (plus 0,6 Prozent).

Die Zahl der Patienten ist den Angaben nach hingegen um 0,5 Prozent gesunken. Demnach wurden im Jahr 2017 gut 4,6 Millionen Patienten vollstationär versorgt. Die Zeit, die sie in den Kliniken verbrachten, ging im Langzeitvergleich um 2,8 auf 7,2 Tage zurück. Im Jahr 2000 seien es noch zehn Tage gewesen. Außerdem verringerte sich die Zahl der Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen im Vergleich zum Jahr 2000 um 118 Häuser. Die 344 Kliniken hatten auch weniger Betten: Die Zahl der Krankenhausbetten sank im gleichen Zeitraum um fast 13 Prozent.



Multiresistente Keime in Seen: NRW-Ministerium gibt erste Entwarnung

Das nordrhein-westfälische Umweltministerium plant ab dem kommenden Jahr Sonderuntersuchungen zu multiresistenten Keimen und Antibiotika-Rückständen in den landesweiten Badeseen und Flüssen. Bisher lägen kaum Erkenntnisse über eine mögliche Verunreinigung vor, da die EG-Badegewässerrichtlinie keine Untersuchungen dieser Art verlange, erklärte das Ministerium am 31. August in Düsseldorf. Im Rahmen der Sonderuntersuchung würden ausgewählte Badestellen auf klinisch relevante Bakterien mit Resistenzen gegen mehr als zwei Antibiotika-Wirkstoffgruppen geprüft.

Rückstände im Elfrather See und Essener Baldeneysee nachgewiesen

Erste Wassertests wurden laut Ministerium im Juni und Juli an zehn Badestellen in NRW durchgeführt. Von den entnommenen Proben wiesen demnach allein der Elfrather See in Krefeld und Essener Baldeneysee geringe Rückstände eines Darmbakteriums mit Resistenzen gegen drei Antibiotika-Wirkstoffgruppen auf. Alle anderen untersuchten Badegewässer seien unbedenklich, hieß es. Untersucht wurden auch der Aasee in Bocholt, das Bettenkamper Meer in Moers, die Bruchertalsperre in Marienheide und den Eiserbachsee in Simmerath sowie den Fühlinger See in Köln, den Weserbogen bei Porta Westfalica, das Naturfreibad Heil in Bergkamen und das Seebad Haltern.

Die am Elfrather See und Baldeneysee gefundenen multiresistenten Bakterien könnten Infektionen beim Menschen auslösen und seien aufgrund ihrer Resistenzen schwer zu behandeln, erklärte der Leiter des beauftragten Hygiene-Instituts des Universitätsklinikums Bonn, Martin Exner. "Die gefundenen Mengen waren aber so niedrig, dass gesunde Menschen keiner Gefahr ausgesetzt waren", betonte er. Bei weiteren Probezyklen seien an den zwei Seen keinerlei Auffälligkeiten gefunden worden.

Die nordrhein-westfälische Landwirtschaftsministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) nannte das "erfreuliche Zwischenergebnisse". Die Gewässerbelastungen durch multiresistente Keime hätten für sie weiter Priorität. Nach der Auswertung die letzten Probenahmen in den vergangenen Tagen würde in Zusammenarbeit mit dem Hygiene-Institut in Bonn ein Gesamtbericht erstellt, der Grundlage für die Sonderuntersuchungen ab 2019 sein soll, kündigte die Ministerin an: "Wir müssen die potenziellen Ursachen identifizieren und Eintragsquellen reduzieren."

Gewässeruntersuchen im Auftrag des WDR und des NRW-Landesverbandes des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) hatten im Frühjahr multiresistente Keimen in der Ruhr und Gewässern in den Kreisen Borken und Viersen nachgewiesen. Die jeweils beauftragten Wissenschaftler der Universität Bochum vermuteten, dass die Keime aus Krankenhausabwässern, Kläranlagen oder der Landwirtschaft stammen. Mediziner gehen davon aus, dass resistente Keime in Gewässern für gesunde Menschen kein Risiko darstellen, für immungeschwächte Menschen aber gefährlich werden können.



Zahl der Angriffe gegen Wohnungslose steigt


Obdachloser Mann
epd-bild/Heike Lyding
Die Polizei hat für 2017 rund 1.400 Straftaten gegen Wohnungslose erfasst. Das sind mehr als doppelt so viele wie noch 2011. Die Linke fordert mehr Schutz für Menschen auf der Straße gegen Gewalt.

Immer mehr Menschen ohne festen Wohnsitz werden in Deutschland Opfer von Gewalt. Die Zahl der Straftaten gegen Obdachlose ist im Jahr 2017 auf rund 1.400 gestiegen, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion hervorgeht, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt. 2011 seien noch 600 Delikte in der Kriminalstatistik registriert worden.

Im gleichen Zeitraum hat sich den Angaben nach die Zahl der gewalttätigen Übergriffe auf rund 600 verdoppelt. Seit 2011 habe die Polizei in 70 Fällen ermittelt, weil ein Obdachloser umgebracht wurde, hieß es weiter. Zwischen 2011 und 2017 haben sich laut der Antwort der Bundesregierung, über die zuerst die Zeitungen der Essener Funke Mediengruppe (28. August) berichteten, die Sexualstraftaten auf 60 Fälle vervierfacht.

Die Bundesregierung wies auf das Fehlen einer amtlichen Statistik über die aktuelle Zahl der Wohnungslosen hin. Vor dem Hintergrund fehlender Bezugsgrößen seien die Daten der Gewaltkriminalität nicht als Grundlage für Erklärungen oder Schlussfolgerungen zur Gewalt gegen obdachlose Personen geeignet, schreibt die Regierung. Zudem gehe sie von einer hohen Dunkelziffer aus.

Linke fordert Erklärungen und Gegenmaßnahmen

Die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Ulla Jelpke, verweist darauf, dass die Amadeu Antonio Stiftung 26 getötete Wohnungslose durch rechtsextremistische Täter seit 1990 zählt. Dagegen erfasse Bundeskriminalamt (BKA) im gleichen Zeitraum lediglich acht Todesopfer durch rechtsextreme Gewalt. Insgesamt wurden zwischen 2011 und 2017 laut BKA 70 Obdachlose getötet. Dagegen geht die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) im gleichen Zeitraum von 150 Gewaltdelikten aus, bei denen Obdachlose getöteten wurden.

Jelpke bezeichnete die gestiegene Zahl der Gewalttaten als besorgniserregend. "Die momentane Erfassung von Straftaten gegen Obdachlose ist unzureichend", teilte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd) am 27. August mit. Den bestehenden Statistiken sei beispielsweise nicht zu entnehmen, wie sich die Zahl politisch motivierter Straftaten gegen Wohnungslose entwickelt habe. Sie appellierte an die Bundesregierung, Erklärungen für das gestiegene Gewaltniveau zu suchen sowie Gegenmaßnahmen zu entwickeln.




Medien & Kultur

Wiesbaden baut Erdogan-Statue ab


Sicherheit gefährdet: Die Stadt Wiesbaden ließ die Erdogan-Statue wieder abbauen.
epd-bild/Michael Schick
Ein Standbild des türkischen Präsidenten im Zentrum von der hessischen Landeshauptstadt sorgte 24 Stunden für mächtigen Wirbel. Weil die öffentliche Sicherheit gefährdet schien, ließ es die Stadt entfernen. Die Initiatoren der Kunstaktion bedauern das.

Die Stadt Wiesbaden hat ihre Entscheidung verteidigt, die am 27. August in der Innenstadt aufgestellte Statue des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan wieder abbauen zu lassen. Im Laufe des 28. August sei es zu hitzigen Diskussionen und Rangeleien vor der vier Meter großen vergoldeten Statue aus Beton auf dem Platz der Deutschen Einheit gekommen, so dass die Polizei mehrfach habe einschreiten müssen, teilte die Stadt am 29. August mit.

Die Lage habe sich dann zunächst wieder beruhigt, was vor allem auf die "massive Präsenz der Landespolizei" auf dem Platz zurückzuführen gewesen sei, "die mit fast 100 Kräften vor Ort war". Der Abbaubeschluss von Oberbürgermeister Sven Gerich (SPD) und Ordnungsdezernent Oliver Franz (CDU) sei schließlich am 28. August nach 22 Uhr ergangen, weil in Kreisen der kurdischen Gemeinde auch überregional zu Protestaktionen in Wiesbaden aufgefordert worden und deswegen ein "dauerhafter massiver Polizeieinsatz" zu befürchten gewesen sei.

Teil der Kunst-Biennale

Die tonnenschwere Statue war Teil der Kunst-Biennale Wiesbaden, deren Spielorte sich noch bis zum 2. September auf die gesamte Stadt verteilen. Für den Magistrat der hessischen Landeshauptstadt sei die Kunstfreiheit ein hohes und schützenswertes Gut, betonten Gerich und Franz. Eine Kunstinstallation Tag und Nacht mit einem massiven Polizeiaufgebot schützen zu müssen, um die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten, sei aber nicht verhältnismäßig.

Die beiden Kuratoren der Kunstaktion, Maria Magdalena Ludewig und Martin Hammer, zeigten sich überrascht über den Abbau der Statue nach einem Tag der "intensiven Kontroversen und sehr lebendigen Diskussionen". Sie respektierten zwar die Kompetenz und Einschätzung der staatlichen und städtischen Ordnungskräfte in Bezug auf die öffentliche Sicherheit. Die Aneignung des öffentlichen Raumes durch politische Kunst und ihr Schutz seien jedoch ein ebenso hohes Gut.

Die Landeshauptstadt führe die hohen Kosten für die dauerhaft notwendige Anwesenheit der Polizei an. Dies werfe die Frage auf nach dem Preis und der Freiheit der Kunst, erklärten Ludewig und Hammer weiter. "Was sind wir bereit auszugeben für Veranstaltungen und Anlässe wie etwa den geplanten Staatsbesuch des türkischen Präsidenten, der mit militärischen Ehren empfangen werden wird, oder auch jedes erdenkliche Fußballspiel am Samstagnachmittag?"

Diskussionen

Auch der Intendant des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, Uwe Eric Laufenberg, hob hervor, dass am 28. August auf dem Platz der Deutschen Einheit Einheimische, Türken, Kurden, alte und junge Menschen, Verehrer des türkischen Staatschefs sowie Kritiker und vehemente Gegner miteinander diskutiert hätten. "In der Türkei ist das zurzeit nicht möglich, da Kritiker von Erdogan mit Gefängnis bedroht werden, und eine freie Presse und Kunstausübung in der Türkei derzeit kaum mehr möglich sind."

Nach Polizeiangaben verlief der Abbau der Statue weitgehend friedlich. Die rund 100 Personen vor Ort seien der Aufforderung, den Platz zu verlassen, ohne weiteres nachgekommen. Das Kunstwerk sei von der Feuerwehr abtransportiert worden. Ein Mann sei vorübergehend in Gewahrsam genommen worden. Er habe nach der Räumung des Platzes andere Anwesende provoziert. Einem Platzverweis sei er nicht gefolgt.

Das Kunstwerk hatte für großen Wirbel in Wiesbaden gesorgt. Manche, vor allem Erdogan-Anhänger, freuten sich, dass "ihr" Präsident in einem solch hellen Licht präsentiert wird. Vor allem Einheimische und Menschen mit kurdischen Wurzeln störten sich an der Figur, die Erdogan in der Diktator-Pose mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger zeigte. Manche beschmierten sie, andere versuchten, die Graffiti wieder zu entfernen.



Berlin soll wieder eine Mauer bekommen

Freiheit und Unfreiheit soll erfahren können, wer das Kunstprojekt DAU besucht. Noch ist der Bau einer Mauer in Berlin nicht genehmigt. Aber wenn sie steht, wird ein Visum für die DAU-Welt fällig. WLAN gibt es dort nicht.

In Berlin soll für rund vier Wochen wieder eine Mauer errichtet werden. Die baugleiche Rekonstruktion der früheren Berliner Mauer ist Teil eines ungewöhnlichen internationalen Kunstexperiments mit dem Titel DAU, wie der Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, am 28. August in der Hauptstadt erläuterte. Bei dem Projekt handele es sich um eine Trilogie, die mit der geplanten Mauer unter dem Titel "Freiheit" am 12. Oktober in Berlin Premiere hat. Die temporäre Berliner Mauer soll am 9. November - dem Tag des Mauerfalls - in einer künstlerischen Performance eingerissen werden. Der zweite Teil unter dem Titel "Gleichheit" soll dann in Paris und der dritte Teil "Brüderlichkeit" in London folgen.

Partner für den deutschen Teil ist der Filmregisseur Tom Tykwer. Offizieller Veranstalter in der Bundeshauptstadt sind die Berliner Festspiele. Intendant Oberender betonte: "Die Mauer ist eines der härtesten Symbole, die man in Berlin errichten kann." Mit der geplanten Mauer-Rekonstruktion solle aber nicht die DDR wiederhergestellt werden, sondern Besucher des Kunstexperiments sollen die Erfahrung von Freiheit und Freiheitsverlust machen können.

Fiktive Parallelwelt

Noch sei die Rekonstruktion der Berliner Mauer für das Kunstprojekt von den Behörden nicht genehmigt, betonte der Intendant. Oberender zeigte sich aber überzeugt, dass die Zulassung für den künstlerischen Mauerbau rechtzeitig erfolgen werde. Alle nötigen Anträge seien dafür umfassend vorbereitet worden. Nun bräuchten die Berliner Behörden die nötige Zeit, um die Dokumente zu prüfen.

Bei DAU handelt es sich um ein europäisches Film- und Performanceprojekts unter Leitung des russischen Regisseurs Ilja Chrschanowski. Seinen Ursprung hat das Kunstprojekt im ukrainischen Charkiw, wo der Physiker und Nobelpreisträger Lew Landau (1908-1968) lebte und arbeitete. 2009 bis 2011 hatten dort rund 400 Menschen für das Filmexperiment auf einem Areal von 12.000 Quadratmetern in einer abgeschlossenen Welt gelebt und unter anderem die Lebenswelt des Forschers Landau unter den repressiven Bedingungen der Sowjetunion nachempfunden. Dabei seien unter anderem 700 Stunden Filmmaterial, 13 Spielfilme sowie mehrere Serien entstanden, hieß es.

Auch in Berlin-Mitte soll rund um das Kronprinzenpalais, auf der Straße Unter den Linden und dem Areal zwischen Staatsoper und Kommandantur, für rund vier Wochen ein Erlebnisraum geschaffen werden, in der Anwohner und Besucher des Projektes sich in einer fiktiven Parallelwelt begegnen können. Das gesamte Areal in Berlin solle von der temporär installierten Mauer umgrenzt werden.

Sicherheitskontrollen

Besucher des Kunstexperiments müssen als Eintrittskarte online ein kostenpflichtiges Visum beantragen, erläuterte die Filmproduzentin Susanne Marian. Bei der Einreise in die fiktive DAU-Welt müssen zudem der Realität nachempfundene Sicherheitskontrollen passiert werden.

Zudem müssen Besucher bei Eintritt in das eingemauerte Areal ihr Smartphone gegen ein DAU-Device ohne WLAN eintauschen. Über dieses Gerät werde für jeden Besucher eine individuelle Führung durch das Gelände mit verschiedenen Programmstationen wie Filmvorführungen, Besuche einer wissenschaftlichen Konferenz oder ein Gespräch mit einem Seelsorger kuratiert. Das eingemauerte Gelände werde 24 Stunden am Tag zugänglich sein. Die Veranstalter rechnen in Berlin mit 1.500 bis 3.000 Besuchern pro Tag. Die Kosten für das Kunstprojekt sollen sich auf 6,6 Millionen Euro belaufen.



Polizeieinsatz gegen ZDF-Team: LKA-Mann verlässt Behörde

Der Mitarbeiter des sächsischen Landeskriminalamtes (LKA), der Mitte August in Dresden einen Polizeieinsatz gegen ein ZDF-Team ausgelöst hat, verlässt den Polizeidienst. Der Mann werde ab dem 3. September "bis auf weiteres eine andere, adäquate Tätigkeit außerhalb der Polizei Sachsen wahrnehmen", teilte das LKA am 30. August in Dresden mit. Eine Behördensprecherin erklärte auf Nachfrage, der Tarifbeschäftigte werde zeitlich befristet auf eine andere Stelle im öffentlichen Dienst versetzt. Details würden nicht mitgeteilt, ergänzte sie.

Zuvor war dem Mann laut LKA im Beisein seines Anwalts Gelegenheit gegeben worden, sich zu dem Sachverhalt vor zwei Wochen zu äußern. Seiner Abordnung habe der Mann zugestimmt. Mögliche arbeitsrechtliche Verstöße würden weiterhin geprüft, hieß es.

In Dresden war am 16. August am Rande einer "Pegida"-Demonstration anlässlich eines Besuchs von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ein ZDF-Team von der Polizei festgehalten worden. Auslöser waren die massiven Beschwerden eines Demonstranten bei einem Kameramann, dieser dürfe ihn nicht filmen.

Daraus ergab sich ein Polizeieinsatz, bei dem das ZDF-Team um den Reporter Arndt Ginzel nach eigenen Angaben rund 45 Minuten lang aufgehalten wurde. In der Folge hatte sich eine Debatte über das Verhalten der Beamten entsponnen. Auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) geriet in die Kritik. Er hatte die Polizisten in einer Twitter-Nachricht in Schutz genommen und die Journalisten indirekt als unseriös bezeichnet.

Dresdens Polizeipräsident Horst Kretzschmar räumte nach einem Treffen mit ZDF-Vertretern Fehler ein. Dass der Demonstrant, der den Einsatz ausgelöst hatte, beim LKA arbeitete, war erst eine knappe Woche nach dem Vorfall bekanntgeworden.



Gewerkschaft kritisiert Zeitung wegen AfD-Anzeige

Die Gewerkschaft ver.di kritisiert ein Kölner Anzeigenblatt, weil es auf seiner Titelseite eine Anzeige der rechtspopulistischen AfD veröffentlicht hat. Es sei unverständlich, dass ein Tochterunternehmen des DuMont-Verlagshauses "an prominenter Stelle ausgerechnet der AfD ein Forum zur Selbstdarstellung bietet", sagte das Mitglied im Vorstand der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di Köln-Bonn-Leverkusen, Peter Freitag, am 31. August. Die Partei habe "ein mehr als zweifelhaftes Verhältnis zur Pressefreiheit" und damit zur Arbeitsgrundlage von Journalisten. Die DuMont-Mediengruppe wies die Vorwürfe zurück.

Hintergrund der Vorwürfe ist eine Anzeige, in der die AfD auf einen "Online-Infostand" hingewiesen hatte. Die Anzeige hatte der "Kölner Wochenspiegel" am 22. August auf seiner Titelseite veröffentlicht.

Der dju-Vertreter kritisierte, dass Funktionäre und Anhänger der AfD Journalisten als "Lügenpresse" diffamierten und es auch zu körperlichen Übergriffen auf Pressevertreter komme. So hätten Vertreter der AfD im Hochtaunuskreis jüngst davon gesprochen, dass man Verlage und Sender stürmen und die Mitarbeiter auf die Straße zerren müsse. Die dju in ver.di Köln-Bonn-Leverkusen forderte die Rheinische Anzeigenblatt GmbH ebenso wie die Tageszeitungen Kölnische Rundschau und Kölner Stadt-Anzeiger dazu auf, in Zukunft auf Geschäfte mit der AfD und anderen rechtspopulistischen Parteien und Gruppierungen zu verzichten.

Ein Sprecher der DuMont-Mediengruppe wies die Vorwürfe zurück. Bei der AfD handle es sich "um eine demokratisch legitimierte Partei", erklärte der Leiter der Unternehmenskommunikation bei DuMont, Björn Schmidt. Es gebe einen Beschluss der Gesellschafter, Anzeigen solcher Parteien zu veröffentlichen. Alle Anzeigen würden allerdings vor Veröffentlichung auf ihre Aussagen und Inhalte geprüft. Bei Rechtsverstößen wie etwa Volksverhetzung werde die Annahme der Anzeigen verweigert. Die Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Schwerpunkten der jeweiligen Parteien sei hingegen Aufgabe der Redaktionen.



Gomringer-Gedicht kommt wieder an Hochschul-Fassade

Das nach Sexismus-Vorwürfen von der Fassade einer Berliner Hochschule verdammte Gedicht "avenidas" des Künstlers Eugen Gomringer soll in verkleinerter Form wieder angebracht werden. Die Alice Salomon Hochschule Berlin kündigte am Donnerstag an, dass nach einer Mitte September beginnenden Sanierung der Südfassade der Hochschule das Gomringer-Gedicht "avenidas" in verkleinerter Version auf einer 1 mal 1,4 Meter großen Edelstahl-Tafel im Sockelbereich neu angebracht werde.

Das Gedicht von 1953 hatte seit 2011 eine Außenmauer der Hochschule in Berlin geziert. Der Senat der Hochschule hatte Ende Januar eine bundesweite Debatte über Kunstfreiheit losgetreten, als er beschloss, das Gedicht wegen Sexismusvorwürfen übermalen zu lassen. Neben der Edelstahl-Tafel soll ein von Gomringer geschriebener Kommentar sowie ein Hinweis auf die Dokumentation zentraler Beiträge der Fassadendebatte auf der Website der Hochschule angebracht werden.

"Alleen und Blumen und Frauen"

Mit der Neugestaltung der Fassade soll ein Text der aktuellen Preisträgerin des Alice Salomon Poetik Preises, Barbara Köhler, aufgetragen werden. Rektor Uwe Bettig erklärte, nach dem Beschluss des Akademischen Senats vom Januar stelle die Hochschule den Poetik-Preisträgern die Südfassade alle fünf Jahre für die Darstellung ihrer Kunst zur Verfügung.

Das Köhler-Gedicht nehme die Debatte um die Neugestaltung der Fassade inhaltlich auf. Auch seien einzelne Buchstaben von "avenidas" als Auslassungen in die Buchstaben des neuen Gedichtes verwoben. Die spanische Originalfassung des Gomringer-Gedichts lautet übersetzt: "Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer".



Damenwahl!


In der Frankfurter Ausstellung zu 100 Jahren Frauenwahlrecht
epd-bild/Thomas Rohnke
Ohne eine mächtige Frauenbewegung im Kaiserreich wäre es nicht so gekommen: Im November vor 100 Jahren führten die Gründer der Weimarer Republik das Frauenwahlrecht ein. Eine Ausstellung in Frankfurt erinnert an den Kampf der Frauen.

Am Anfang der Schau hängen Kleider - Korsette, die der Frauenmode entsprechend die Taille einschnürten. Sie schränkten nicht nur die Bewegungsfähigkeit ein, sondern dadurch auch die Arbeitsfähigkeit. Doch Frauen wandten sich schon im Deutschen Kaiserreich dagegen, nur den Haushalt und die Kinder zu hüten. Die aktuelle Ausstellung "Damenwahl! 100 Jahre Frauenwahlrecht" im Historischen Museum Frankfurt am Main zeichnet den Kampf der Frauen um Gleichberechtigung nach.

Gegenüber den Korsetten hängt ein Kleidungsstück der Emanzipation - ein Tenniskleid von 1910. Die dünne, fein gewebte und verzierte Baumwolle betont zwar die Taille. Aber sie schnürt den Leib nicht ein, sondern gewährt freie Bewegungen. Auch den Sport mussten sich Frauen erkämpfen. Noch 1955 verbot der Deutsche Fußball-Bund (DFB) den Frauenfußball, da er "Körper und Seele der Frauen" schade. Die erste Sonderausstellung des Historischen Museums Frankfurt seit Eröffnung des Neubaus im Oktober 2017 bildet den Auftakt zur Jubiläumskampagne "100 Jahre Frauenwahlrecht" des Bundesfrauenministeriums und der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft.

"Menschenrechte haben kein Geschlecht"

Fast 450 Exponate aus deutschen und ausländischen Sammlungen zeigten auf 900 Quadratmetern, wie Frauen auf die Einführung des Wahlrechts 1918 hinarbeiteten und danach weiter für ihre Rechte kämpften, erklärt der Museumsdirektor Jan Gerchow. "Frauenrechte sind Menschenrechte", fasst Kuratorin Dorothee Linnemann das Anliegen zusammen. Oder, wie die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm als Forderung (1831-1919) formulierte: "Die Menschenrechte haben kein Geschlecht".

Historische Fotos, Dokumente und Plakate veranschaulichen den Frauenalltag und die Geschlechterrolle im Kaiserreich. Doch Frauen schlossen sich in Vereinen zusammen und kämpften für das Recht auf Bildung, gerechte Arbeitswelt, körperliche Selbstbestimmung und politische Mitbestimmung. Die Schau stellt dafür jeweils herausragende Persönlichkeiten wie Helene Lange, Henriette Fürth, Bertha Pappenheim oder Anita Augspurg vor. Die Gründung der Frauenvereine und die Zulassung von Frauen zu Parteien 1908 blieb nicht ohne Widerstand: 1912 gründeten antimodernistisch eingestellte Konservative den "Deutschen Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation".

Der Erste Weltkrieg bremste den Emanzipationsschwung, weil die meisten Frauen sich dem Kriegsalltag beugten, wie Linnemann erläutert. Dennoch veranstalteten Aktivistinnen wie Clara Zetkin im Frühjahr 1915 einen internationalen Frauenkongress gegen den Krieg. An den Revolutionsbestrebungen zu Kriegsende beteiligten sich auch Frauenrechtlerinnen. Toni Sender (1888 bis 1964) etwa bereitete an der Spitze der Arbeiterrätebewegung in Frankfurt am Main mit anderen Sozialisten einen Generalstreik vor. 1920 wurde sie in den Reichstag gewählt.

90 Prozent Wahlbeteiligung

Der Rat der Volksbeauftragten beschließt am 12. November 1918, ein allgemeines und gleiches Wahlrecht einzuführen. Wahlplakate der Parteien zielen daraufhin auf das Wählerpotenzial der Frauen, offenbaren aber zugleich die unterschiedlichen Frauen- und Weltbilder. Bei der Wahl zur Weimarer Nationalversammlung am 19. Januar 1919 sind erstmals Frauen zugelassen. Mehr als 90 Prozent der Frauen gehen wählen, wie Linnemann berichtet. 37 Frauen werden gewählt, sie stellen ungefähr ein Zehntel der Abgeordneten.

Die Schau folgt der Frauenbewegung bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten. Diese zerschlugen die Bewegung, zerstörten ihre Archive und ermordeten einige ihrer Protagonisten. Toni Sender etwa floh schon 1933 ins Exil nach Osteuropa, wurde später US-Amerikanerin und arbeitete für die Vereinten Nationen. Die schwarze Robe der Juristin Elisabeth Selbert gibt einen Ausblick nach dem Neubeginn der Frauenbewegung nach 1945: Als eine von vier Frauen im Parlamentarischen Rat der Bundesrepublik setzte sie sich für die Aufnahme des Gleichberechtigungsartikels in das Grundgesetz ein.

Eine Jahresleiste an der Wand zeigt die allmählichen Erfolge der Frauen in der Politik, von der Ernennung der ersten Bundesministerin Elisabeth Schwarzhaupt 1961 bis zur ersten Kanzlerin Angela Merkel 2005. Auch im Sport gab es Veränderung: 1970 gestattete der DFB, dass Frauen in "Damenmannschaften" Fußball spielen dürfen. Die Gleichberechtigung im Recht ist über die Jahre vorangeschritten: Seit 1977 dürfen Frauen eine Erwerbstätigkeit ohne Einverständnis ihres Mannes aufnehmen, seit 1997 ist Vergewaltigung auch in der Ehe strafbar. 100 Jahre Frauenwahlrecht sind auch 100 Jahre langer Atem.

Jens Bayer-Gimm (epd)


Saarbrücker Ausstellung rückt Impressionisten Slevogt in den Fokus

Max Slevogt gilt als einer der wichtigsten deutschen Impressionisten. Doch im Vergleich zu meist französischen Malern ist er weniger bekannt. Eine Ausstellung in Saarbrücken zeigt nun, wie sein Schaffen von den Klassikern beeinflusst wurde.

Die Stellwände in einem der alten Pavillons am Saarufer wurden schwarz gestrichen, die Kunstwerke einzeln angestrahlt. Zum 150. Geburtstag des deutschen Impressionisten Max Slevogt und zum 50. der Modernen Galerie des Saarlandmuseums herrscht eine geheimnisvolle Atmosphäre. So kommen die Werke des Jubilars und seiner berühmten französischen Vorbilder erst richtig zur Geltung. BIs zum 13. Januar sind in Saarbrücken neben 111 Werken von Slevogt wertvolle Gemälde und Zeichnungen von 25 französischen Künstlern wie Delacroix, Manet, Renoir und Cézanne sowie ein Gemälde von Van Gogh zu sehen.

Bedeutender Vertreter der deutschen Freiluftmalerei

Das Museum setzt sich mit Slevogts Inspirationen durch französische Maler auseinander. Mit der Jubiläumsschau wolle es "Slevogt deutschlandweit in den Fokus rücken", sagt Museumsdirektor Roland Mönig. Max Slevogt (1868 bis 1931) gilt neben Lovis Corinth und Max Liebermann als einer der bedeutendsten Vertreter der deutschen Freiluftmalerei. Er malte vor allem in Berlin und in der Pfalz.

Auch dem Museum könnten die großen Namen überregionale Aufmerksamkeit bescheren. Die Ausstellung ist die erste publikumsträchtige Schau seit Fertigstellung des nach jahrelangen politischen Querelen erst im vergangenen Jahr fertiggestellten Erweiterungsbaus und der Wiedereröffnung der Modernen Galerie.

Thematisch passt die Schau zum Alleinstellungsmerkmal des kleinsten deutschen Flächenlands an der Grenze zu Frankreich. "Frankreich hat durch seine Kulturpolitik zur Zeit der französischen Verwaltung nach dem Zweiten Weltkrieg dazu beigetragen, dass das Museum seinen Kernbestand der Klassischen Moderne aufbauen konnte", betont Kulturminister und Stiftungskurator Ulrich Commerçon (SPD).

Einfluss der französischen Moderne

"Slevogt und Frankreich" ist nicht chronologisch, sondern thematisch gegliedert. Verblüffend wie manches Slevogt-Bild in Technik, Bildaufbau und gar Motivwahl den Werken seiner Vorbilder ähnelt. In der Abteilung "Porträt" wird deutlich, wie sich Slevogt mit Vertretern der französischen Moderne wie Courbet und Manet auseinandergesetzt hat.

Bei seinen "Stillleben" und bei der Darstellung des "zeitgenössischen Lebens" ließ er sich von französischen Impressionisten inspirieren und in den Bereichen Bühne, Literatur, Mythologie und Orientfaszination nicht zuletzt von August Delacroix (1809-1868). Gut zu erkennen ist das etwa bei der Darstellung eines Tigers, der ein Mädchen zerreißt.

Zu sehen sind insgesamt 109 Gemälde und 80 Arbeiten auf Papier, die meisten davon im schwarz gestrichenen Altbau-Pavillon auf 750 Quadratmetern. 250 Quadratmeter im Neubau sind "Landschaften" vorbehalten. Slevogts Werke werden hier einer Mohnlandschaft Van Goghs oder Bildern von Impressionisten wie Renoir, Pissarro oder Sisley gegenübergestellt. Mönig betonte, dass ein Großteil der Werke der Modernen Galerie gehört, die eine der umfangreichsten Slevogt-Sammlungen besitze. Ergänzt werden diese durch Leihgaben anderer Sammlungen in Deutschland, Frankreich, der Schweiz und den Niederlanden.

Bundesweite Ausstellungsreihe

In den kommenden Wochen werden in den Landesmuseen Hannover und Mainz weitere Ausstellungen eröffnet, die sich mit anderen Aspekten von Slevogts Werk auseinandersetzen. Weitere Ausstellungen laufen bereits unter anderem in Kaiserslautern und Chemnitz.

Jörg Fischer (epd)


Akio Suzuki eröffnet seine Arbeiten als "Stadtklangkünstler" in Bonn

Die Arbeiten des japanischen Künstlers Akio Suzuki als diesjähriger "Stadtklangkünstler" in Bonn sind ab dem 5. September zu erleben. Die beiden neue Installationen für den Vorplatz des Bonner Kunstmuseums werden im Rahmen des Festivals "bonn hoeren" eröffnet, wie die Beethovenstiftung Bonn am 28. August ankündigte. Zudem erzähle eine Dokumentationsausstellung im Museum die Geschichte seines im vorigen Jahr zerstörten Werkes "Space in the Sun".

Die Installation "Observatory of Spirits" auf dem Vorplatz des Kunstmuseums besteht den Angaben zufolge unter anderem aus einem langen Rohr. Mit diesem speziellen Echo-Instrument, das Suzuki bereits in den 1970er Jahren entwickelt hat, können die Besucher ihre eigene Stimme hören.

Die zweite Arbeit mit dem Titel "ko da ma" (Echo) befindet sich im äußeren Untergeschoss des Museums. In zwei Räumen steht jeweils eine stahlblechverkleidete spiralförmige Treppe, die mit je einem Kanal einer Stereokomposition bespielt wird. Da die Räume getrennt voneinander sind, ist es für die Besucher unmöglich, die Klänge aus beiden Lautsprechern gleichzeitig zu hören. Vielmehr werde so das Gebäude selbst zum Hörer, hieß es.

Suzuki gilt nach Angaben der Stiftung als einer der Pioniere der Klangkunst. Die künstlerische Arbeit des 77-Jährigen mit Klang und Stille beziehe sich vor allem auf Natur- und Architekturräume. Seit den 1970er Jahren veranstalte der Künstler Performances mit selbst gebauten Echo-Instrumenten.



Fest in Köln zum 25. Tag des offenen Denkmals

Das 25-jährige Bestehen des Tages des offenen Denkmals wird in Köln gefeiert. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) und Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) werden die Jubiläumsveranstaltung am 8. September eröffnen, wie die Deutsche Stiftung Denkmalschutz ankündigte. Auf dem Programm stehen unter anderem eine Podiumsdiskussion im Domforum und ein Benefizkonzert in der Kirche St. Maria im Kapitol.

Der Tag des offenen Denkmals findet seit 1993 stets am zweiten Sonntag im September statt. In diesem Jahr werden am 9. September bundesweit 7.800 Denkmäler in 2.500 Städten und Gemeinden ihre Türen für Besucher öffnen. In Nordrhein-Westfalen etwa können an dem Tag insgesamt 1.300 Denkmäler in 220 Kommunen besichtigt werden. Allein in Köln werden nach Angaben der Stadt 153 Führungen und 20 Rundgänge in historischen Kirchen, alten römischen Stätten, Museen oder Theatern angeboten.

Der Tag des offenen Denkmals sei mittlerweile die bundesweit erfolgreichste Kulturveranstaltung und ein Schaufenster für den Denkmalschutz, sagte Steffen Skudelny, Vorstandsmitglied der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. Im vergangenen Jahr nahmen bundesweit 3,5 Millionen Besucher teil. Für viele private Denkmaleigentümer und Ehrenamtliche sei es ein wichtiger Motivationsfaktor, der Öffentlichkeit die Ergebnisse ihrer Arbeit präsentieren zu können, sagte Skudelny.

Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz, die die bundesweite Veranstaltung koordiniert, ist die größte private Initiative für Denkmalschutz in Deutschland. Der diesjährige Aktionstag unter dem Motto "Entdecken, was uns verbindet" ist zugleich der deutsche Beitrag zu den European Heritage Days unter der Schirmherrschaft des Europarats, wie es hieß.



Gründerin der Theaterwerkstatt Bethel gestorben

Die Gründerin der Bielefelder Theaterwerkstatt Bethel, Else Natalie Warns, ist tot. Die Theaterpädagogin, Künstlerin und Autorin verstarb bereits am 25. August in Berlin im Alter von 88 Jahren, wie die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel am 29. August mitteilten. Warns gründete die Theaterwerkstatt Bethel für Menschen mit und ohne Behinderungen vor 35 Jahren. Das Spektrum des freien Ensembles reicht von Workshops, Seminaren und Performances bis hin zu den großen Volxtheater-Produktionen zu sozialpolitischen Themen oder im Bereich Bibliodrama. Seit 1994 leitet Matthias Gräßlin die Theaterwerkstatt. Träger sind die v. Bodelschwinghschen Stiftungen.

Warns war auch Mitgründerin der Bibliodrama-Bewegung in Deutschland. Ihre berufliche Leidenschaft habe dem kreativen Erschließen dramatischer und biblischer Geschichten gehört, erklärten die Stiftungen. In vielfältiger Weise habe sie dabei eigene Ansätze für Schul- und Kirchenraumtheater gesetzt. Auf vielen evangelischen Kirchentagen wirkte sie den Angaben nach am Programm mit und bot Workshops an.

Die Diplomatentochter, die mit dem ehemaligen Bethel-Vorstandsmitglied Pastor Eberhard Warns verheiratet war, lebte und arbeitete zuletzt in Berlin. Sie war unter anderem Mitherausgeberin der Fachzeitschrift "Text Raum" und stellte nach dem Tod ihres Mannes 2007 dessen Bilder aus, die in den letzten Lebensjahren des an Demenz erkrankten Theologen entstanden waren, um das Thema zu enttabuisieren.



Lindenstraße: 2,8 Millionen Zuschauer sahen Abschied von "Hansemann"

Am Ende schlief er friedlich mit Blick auf den Sonnenuntergang ein: 2,84 Millionen Zuschauer verfolgten am 2. September im Ersten den Abschied von Hans "Hansemann" Beimer in der Serie "Lindenstraße". Das entsprach einem Marktanteil von zwölf Prozent, wie die ARD am 3. September in München mitteilte. Der Schauspieler Joachim H. Luger (74) hatte die Rolle seit der ersten Folge im Dezember 1985 verkörpert. Er will sich nun verstärkt dem Theater und seinem Privatleben widmen.

Das WDR-Funkhausorchester spielte ab 18.50 Uhr live die Filmmusik zu der Folge mit dem Titel "Die Ruhe nach dem Sturm" ein. Bereits um 16.30 Uhr startete ein Livestream auf der Seite "lindenstrasse.de", der von Schauspieler Moritz A. Sachs - besser bekannt als Klaus Beimer - kommentiert wurde. Traditionell sehen viele Fans die "Lindenstraße" auch live online oder zeitversetzt in der ARD-Mediathek, was in den offiziellen Einschaltquoten nicht enthalten ist.

Hans Beimer war von Beginn an eine zentrale Figur in der Serie. Ende der 80er Jahre verließ er seine Frau Helga und zog mit der deutlich jüngeren Nachbarin Anna zusammen. In der aktuellen Folge 1.685 sitzt der an Parkinson erkrankte Hans am Schluss in einer Waldhütte versöhnt mit den Rivalinnen Helga und Anna zusammen, nachdem es während eines Gewitters dramatische Verwicklungen gegeben hat. Seine letzten Worte, bevor er an Herzversagen stirbt: "Das ist kein Ende. Das ist erst der Anfang."



Correctiv startet lokales Recherche-Netzwerk

Das Recherchezentrum Correctiv startet ein Netzwerk für "kollaborativen Lokaljournalismus" in Deutschland. Das Projekt mit dem Titel "Correctiv.Lokal" wird von der Rudolf-Augstein-Stiftung ermöglicht und dem Bureau of Investigative Journalism aus Großbritannien unterstützt, wie das in Essen und Berlin ansässige Recherchezentrum am 30. August mitteilte. Correctiv.Lokal wolle Recherchen stärken, die für die Bürger vor Ort relevant sind und eine nationale Bedeutung haben. Leiter von Correctiv.Lokal wird Justus von Daniels, der bislang Investigativreporter bei Correctiv war.

Für das neue Netzwerk werde derzeit "eine innovative journalistische Infrastruktur" aufgebaut, in der Lokaljournalisten, Blogger und Fachexperten in einem Netzwerk gemeinsam an Recherchen arbeiten und individuell veröffentlichen, hieß es. Correctiv.Lokal definiert den Angaben zufolge relevante Themen, analysiert umfangreiche Datensätze und legt Datenbanken an. Diese stellt es den Partnern vor Ort zur Verfügung, damit sie daraus konkrete Geschichten in ihren jeweiligen Medien entwickeln können.

Als erstes Projekt wird das Netzwerk eine umfassende Bürgerrecherche zum Wohnungsmarkt auf lokaler Ebene koordinieren. Um den Wohnungsmarkt transparenter zu machen, hat Correctiv bereits mit dem "Hamburger Abendblatt" in einem Pilotprojekt unter dem Titel "Wem gehört Hamburg?" Daten erhoben und ausgewertet. Correctiv.Lokal soll eine redaktionelle Infrastruktur bereitstellen, die dieses Projekt in weiteren Städten ermöglicht.




Entwicklung

Telemedizin als Entwicklungshilfe


Jamus Mfinange in der Notaufnahme der Muhimbili National Klinik in Daressalam
epd-bild/Roland Brockmann
Ob mit Fotos von Hautausschlägen oder Bilder von Gewebeproben - über das Internet holen sich Ärzte aus tansanischen Provinzkrankenhäusern Diagnosehilfe bei Spezialisten. Auch deutsche Mediziner teilen Wissen und Erfahrung.

Fast im Minutentakt rollen Kleinbusse und Taxen auf den Platz vor dem Muhimbili-Krankenhaus. Sie bringen Patienten aus dem ganzen Land. Manche mussten für die Fahrt ihren letzten Schilling ausgeben. Da wo sie herkommen, wussten die Ärzte nicht weiter. Hier im Muhimbili National Hospital in Daressalam, der größten Klinik Tansanias, hoffen die Kranken auf die Erfahrung der Spezialisten. Für viele andere ist der weite Weg nach Daressalam eine unüberwindbare Hürde - dennoch gibt es Chancen auf eine Rückmeldung der Fachärzte: dank Digitalisierung und Internet.

In der Notaufnahme der Klinik steht Jamus Mfinange vor einem großen Flachbildschirm. Der 36-jährige Notfallmediziner nimmt den Videoanruf eines Arztes aus einem Provinzkrankenhaus entgegen. Der berichtet von einer Patientin, die unter Atemnot leidet. Auf dem Bildschirm poppt ein Röntgenbild auf. Mfinanga sichtet das Bild und gibt dem Provinzarzt Rückendeckung: Es sieht nach Tuberkulose aus.

Per Diagnosehilfe über Datenleitungen kann so die medizinische Versorgung auf dem Land verbessert werden: "Wir haben das Fachwissen, das kleineren Krankenhäusern fehlt. Dank des Internets können wir bei Notfällen und komplizierten Erkrankungen beraten", sagt Mfinanga.

Keine Spezialisten auf dem Land

Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO gehört Tansania weltweit zu den Ländern mit der geringsten Dichte an Fachärzten. Radiologen, Kinderärzte oder Internisten sind fast ausschließlich in den wenigen großen Städten des ostafrikanischen Landes tätig. Weil aber zugleich immer mehr Menschen Zugang zum Internet haben, gilt die Telemedizin als vielversprechende Innovation, medizinische Expertise auch in abgelegene Regionen zu bringen.

Die Idee überzeugt internationale Geber. Die Weltbank fördert das Projekt in Tansania mit rund vier Millionen US-Dollar, die in neue Computer, medizinisches Gerät, Software und Schulungen geflossen sind. Allerdings hat die Initiative noch mit Startschwierigkeiten zu kämpfen. Bislang kommen aus den sieben beteiligten Distrikt- und Provinzkrankenhäusern nur zwei bis drei Anfragen pro Woche.

Jesaja Sienz sieht in der Telemedizin trotzdem großes Potenzial für Tansania. Man müsse sie nur gezielt einsetzen. Der deutsche Arzt arbeitet seit gut zwei Jahren in Ndanda im Süden des Landes - und holt sich regelmäßig Rat über das Internet. Etwa bei selten Hauterkrankungen. Dazu schickt er Fotos von Hautauschlägen oder Ekzemen an Dermatologen, die bei der Diagnose helfen. "Infektionskrankheiten wie Malaria oder Aids können wir hier gut behandeln, aber bei selteneren Erkrankungen fehlt die Expertise vor Ort", erklärt Sienz.

Das gilt auch für die Untersuchung von Geschwülsten und Tumoren. Pathologen, die bestimmen, ob Zellen gut- oder bösartig sind, gibt es in Tansania kaum. Deshalb fotografiert Sienz Gewebeproben unter dem Mikroskop und lässt die Bilder über das Internet von deutschen Fachärzten beurteilen. "Früher haben wir die Proben per Post nach Deutschland geschickt und dann drei Monate gewartet. Heute wissen wir in ein, zwei Tagen Bescheid." Der zeitliche Vorsprung könne in manchen Fällen Leben retten.

Wissen im Netzwerk

Die Befunde stellen die Pathologen über das iPath-Netzwerk, eine Art Online-Forum. Die beteiligten Ärzte arbeiten ehrenamtlich, die meisten sind Ruheständler. "Wir wollen unser Wissen, das wir über Jahrzehnte angesammelt haben, dort einsetzen, wo es am meisten fehlt", sagt Gerhard Stauch, der das Netzwerk mit aufgebaut hat. Inzwischen bearbeiten die Pathologen täglich rund 50 Fälle aus Kliniken in 35 Entwicklungsländern.

Die Anfragen kommen fast immer von lokalen Ärzten. Auch in Ndanda sollen die einheimischen Mediziner die Telemedizin künftig eigenständig nutzen. Jesaja Sienz hat dafür drei Kollegen geschult. Sie müssen lernen, die Gewebeproben zu entnehmen und sauber aufzubereiten. Nur wenn die Qualität der Bilder stimmt, können die Fachärzte am anderen Ende der Leitung eine verlässliche Diagnose stellen.

Sebastian Drescher (epd)


"Wir kämpfen für die Freiheit"

Als Jugendlicher wollte er Musik machen, um der Armut zu entfliehen. Doch seine politischen Erfolge und Proteste gegen den ugandischen Präsidenten Yoweri Museveni trugen Bobi Wine Gefängnis und Folter ein. Ghetto-Präsident wird er genannt.

In dem Video zu seinem Song "Freedom" (Freiheit) verprügeln ugandische Polizisten Demonstranten, während der Sänger hinter Gittern sitzt und rappt: "Ja, ja, wir wissen, dass Du einen Bürgerkrieg gewonnen hast, aber selbst die, die damals Babys waren, haben jetzt schon Kinder, und dem Land geht es dreckig." Mit "Du" ist Präsident Yoweri Museveni gemeint, der Uganda seit 32 Jahren zunehmend autokratisch regiert - Ende offen. Der Rapper, das ist Bobi Wine, bürgerlich "der ehrenwerte Robert Kyagulanyi". Die Anrede gebührt ihm, weil er seinen Wahlkreis, einen Slum in der Hauptstadt Kampala, seit Juni 2017 im Parlament vertritt.

Aktuell sitzt Wine wirklich in Haft, seit dem 14. August. Ihm droht wegen Hochverrats die Todesstrafe. Auf einem Protest der Opposition in der nördlichen Stadt Arua wurde Wines Fahrer erschossen, Wine twitterte ein Foto mit der Zeile: "Die meinten mich." In der Nacht darauf stürmten Soldaten sein Hotelzimmer, verprügelten ihn mit einer Eisenstange und folterten ihn. Seine Genitalien seien verletzt, und seine Nieren schwer, sagt sein Anwalt.

Unterhalten und bilden

Am 30. August hätte Wine zur Behandlung ins Ausland fliegen sollen, doch die Polizei verhinderte das. Womöglich, um ihn tot oder zumindest geschwächt zu sehen, sagen Wines Anhänger. Die wurden, zusammen mit unabhängigen Berichterstattern, auch am Freitag wieder zusammengeknüppelt und beschossen, als sie protestierten. Wines Video wird endgültig Wirklichkeit.

Dabei wollte der heute 36-Jährige zunächst nur eins: Musik machen, um der Armut zu entfliehen. Vor 15 Jahren stand er zum ersten Mal auf der Bühne, zwischen den heruntergekommenen Bretterverschlägen von Kamwokya, einem der vielen Armenviertel der Hauptstadt. Wine wurde berühmt, baute irgendwann sein eigenes Aufnahmestudio, doch Kamwokya und seinen Bewohnern blieb er immer treu. Seine Songs beschreibt Wine als "Edutainment": Er will unterhalten und gleichzeitig bilden, gerade die, die weder lesen noch schreiben können. Ohren zum Hören haben sie alle, Beine zum Tanzen auch.

Als 2017 der Wahlkreis frei wurde, in dem Kamwokya liegt, kündigte Wine seine Kandidatur an - und gewann die Wahl mit 80 Prozent der Stimmen. "Ghetto-Präsident" nennen sie ihn hier, ein Titel, den Bobi Wine stolz angenommen hat. Viele Monate verbrachte er damit, gegen die Steuer auf Social-Media-Nutzung zu kämpfen. Die traf vor allem die Armen und sollte wohl die Kritik an Museveni eindämmen, die dort besonders lautstark kundgetan wird.

Frust der Jungen

Der Frust gerade der jungen Ugander - der Altersdurchschnitt liegt bei 16 Jahren - ist riesig. Es fehlen Arbeit, Ausbildung, Perspektive und die Hoffnung, dass der 74-jährige Museveni willens oder fähig ist, ihre Lage zu verbessern. Zwar sind die Wahlen erst für 2021 angesetzt, doch Bobi Wine ist als Kandidat der Jungen und Urbanen gesetzt. Ein Kandidat, den Museveni so ernst zu nehmen scheint, dass er ihn offenbar mit äußerster Brutalität aus dem Weg zu räumen bereit ist.

Doch ob die alte Garde um Museveni auf diese Weise ihre Macht erhalten kann, ist mehr als fraglich. Der Song "Freedom", von der Regierung längst verboten, wird derzeit überall gespielt. "Wir kämpfen für die Freiheit", heißt es da. "Was bringt die Verfassung, wenn die Regierung sie missachtet?" Diese Frage stellen sich in Uganda immer mehr.

Marc Engelhardt (epd)


Hilfswerke: Hungerbekämpfung muss in Afrika im Fokus stehen


Bärbel Dieckmann
epd-bild / Jochen Günther

Hilfswerke appellieren an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU), bei ihren Afrikareisen die Bekämpfung von Hunger in den Mittelpunkt zu stellen. "Die Abwehr von Migration ist aus unserer Sicht nicht die wichtigste Frage, sondern wie es uns gelingen kann, den Menschen im Süden ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu ermöglichen", erklärte die Präsidentin der Welthungerhilfe, Bärbel Dieckmann, am 29. August in Bonn. Noch immer hungerten weltweit 815 Millionen Menschen, die meisten von ihnen in afrikanischen Ländern südlich der Sahara und Südasien. Die SOS-Kinderdörfer forderten zudem mehr Einsatz für Bildung.

Die Welthungerhilfe erklärte, sie begrüße die Bemühungen um die wirtschaftliche Entwicklung in Afrika sowie Projekte zur Förderung von Bildung und Beschäftigung insbesondere für die Jugend. "Trotzdem sollten die am wenigsten entwickelten Länder in der neuen Afrikastrategie besonders im Fokus stehen", sagte Dieckmann. Die Bekämpfung von Hunger und Armut müsse im Mittelpunkt der Gespräche von Merkel und Müller in Afrika stehen.

Die SOS-Kinderdörfer beklagten, dass aktuell rund 1,6 Millionen Kinder in der Sahel-Zone von Unterernährung bedroht seien. Grund sei, dass Dürreperioden im vergangenen Jahr zu massiven Ernteeinbrüchen geführt hätten. "Das Furchtbare an dieser und anderen Katastrophen ist, dass sie vermeidbar wären", sagt der Sprecher der SOS-Kinderdörfer weltweit, Louay Yassin. Er verwies auf den Bürgerkrieg in Nordmali und die Vertreibungen durch die Terrormiliz Boko Haram in Nigeria, die dazu führten, dass etwa Felder nicht bestellt und Verkehrswege nicht gewartet würden.

Zudem halte vor allem mangelnde Bildung Menschen in Armut fest, beklagte die Hilfsorganisation. Häufig würden Jungen und Mädchen von ihren notleidenden Familien zum Arbeiten geschickt, anstatt eine Schule zu besuchen. Die Folge sei auch eine hohe Jugendarbeitslosigkeit in westafrikanischen Ländern. "Hier muss die internationale Staatengemeinschaft aktiv werden", betonte Yassin. "Nur wenn wir den jungen Menschen in Westafrika helfen, ihre eigene Zukunft zu gestalten, können wir Armutsmigration verhindern."

Entwicklungsminister Müller (CSU) bereist seit der vergangenen Woche unter anderem Eritrea, Äthiopien, Simbabwe, Tschad und Ghana. Am Mittwoch wurde auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Afrika erwartet, die den Senegal, Ghana und Nigeria besucht.



Fast 300 Menschen durch Streubomben getötet oder verletzt

Im vergangenen Jahr sind weltweit mindestens 289 Menschen bei der Explosion von Streubomben getötet oder verletzt worden. Diese Zahl sei zwar deutlich niedriger als im Vorjahr (971 Opfer), bleibe aber dennoch inakzeptabel, erklärte die Abrüstungsinitiative CMC in ihrem am 30. August in Genf veröffentlichten Jahresbericht. Die Dunkelziffer liege zudem vermutlich höher.

Bei den Toten und Verletzten im Jahr 2017 handelte es sich fast ausschließlich um Zivilpersonen, wie die "Koalition gegen Streumunition" mitteilte. Die meisten Opfer durch international geächtete Streumunition gab es in Syrien und im Jemen. Ein Drittel der registrierten Unfälle mit Blindgängern ereignete sich in Laos (32 Opfer), dem Land, das den Angaben zufolge weltweit am stärksten durch Reste von Streumunition verseucht ist. 62 Prozent der Opfer von Blindgängern sind Kinder.

Hunderte kleine Bomben

Laut dem Jahresbericht zählt die sogenannte Oslo-Konvention zum Verbot der Streumunition inzwischen 103 Vertragsstaaten, 17 weitere Länder hätten das Abkommen unterzeichnet. Deutschland ist Vertragsstaat. Die USA, Russland, Syrien, Jemen und Saudi-Arabien lehnen den Vertrag ab.

Seit Inkrafttreten des Paktes 2010 vernichteten den Angaben zufolge 35 Vertragsstaaten ihre Bestände. Immer noch seien aber 26 Staaten durch Streubomben verseucht, hieß es. Die Konvention verbietet den Einsatz, die Produktion, den Transfer und das Lagern der Munition. Bestände müssen zerstört werden.

Streumunition wird in Behältern von Artilleriegeschützen und Militärflugzeugen abgeschossen. Nach dem Öffnen der Behälter verteilen sich Hunderte kleiner Bomben auf einem mehrere Fußballfelder großen Gebiet. Viele Einzelteile detonieren jedoch nicht direkt, sie stellen auch nach Jahrzehnten noch eine Gefahr für die Bevölkerung dar.



Myanmar weist Völkermord-Anschuldigung der UN zurück


In der Kritik: Regierungschefin Aung San Suu Kyi
epd-bild / Rolf Zöllner

Die Regierung in Myanmar hat einen Bericht der Vereinten Nationen zurückgewiesen, der dem Militär des Landes Völkermord an den Rohingya vorwirft. Die Regierung unter Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi habe mehrfach zugesagt, die Ereignisse im westlichen Bundesstaat Rakhine zu untersuchen, sagte ein Sprecher am 28. August laut dem TV-Sender Mizzima. Eine entsprechende Kommission sei bereits ins Leben gerufen worden.

Ein Expertengremium der UN zu Myanmar hatte am 27. August seinen Bericht vorgelegt und den Streitkräften des Landes schwere Vorwürfe gemacht. Die Autoren forderten einen Prozess gegen die Verantwortlichen vor dem Internationalen Strafgerichtshof oder einem Sondergericht.

Der Bericht nennt vor allem den Armee-Oberbefehlshaber Min Aung Hlaing und fünf weitere hochrangige Generäle als Hauptverantwortliche für die Verfolgung der Rohingya. Aber auch die zivile Regierung von De-Facto-Regierungschefin Suu Kyi habe sich mitschuldig gemacht. Die Friedensnobelpreisträgerin habe weder ihre politische Position noch ihre moralische Autorität genutzt, um die Gewalt und die gezielte Vertreibung zu verhindern.

Facebook sperrte Konten

Die muslimische Minderheit wird in dem vornehmlich buddhistischen Land seit Jahren unterdrückt. Vor einem Jahr startete das Militär eine brutale Kampagne, die mehr als 700.000 Rohingya zur Flucht ins benachbarte Bangladesch zwang. Dort leben die Flüchtlinge unter prekären Bedingungen in Camps.

Derweil wehren sich die Behörden Myanmars gegen die Sperrung von Facebook-Konten von hochrangigen Militärs und anderen Funktionären. Es gebe Gespräche mit dem Internet-Konzern darüber, um die Sperren wieder aufzuheben, berichtete die Zeitung "Myanmar Times".

Facebook hatte die Zugänge von Armeechef Min Aung Hlaing und anderen Offiziellen nach Veröffentlichung des UN-Berichts blockiert. Man wolle damit verhindern, dass "unser Service dazu benutzt wird, um weitere ethnische und religiöse Spannungen zu schüren", hieß es in einer Mitteilung des Konzerns vom Montagabend. Den Angaben nach betreffen die Sperren 20 Personen und Organisationen in Myanmar mit insgesamt 18 Facebook-Zugängen, einem Instagram-Konto und 52 Facebook-Seiten mit etwa 12 Millionen Followern.  



Ex-Präsident Lula von Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen


Luiz Inacio Lula da Silva
epd-bild/Alberto Veiga

Brasiliens ehemaliger Präsident Luis Inácio Lula da Silva darf bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober nicht kandidieren. Sechs von sieben Richter stimmten nach einer mehr als elfstündigen Sitzung gegen eine Kandidatur des Linkspolitikers, wie die Tageszeitung "Folha de São Paulo" am 2. September berichtete. Lula ist seit Anfang April inhaftiert. Er wurde wegen Korruption und Geldwäsche zu zwölf Jahren und einem Monat Haft verurteilt.

Lula weist alle Vorwürfe zurück und sieht in der Verhaftung einen Komplott, ihn politisch mundtot zu machen. Die Umfragen bei den Präsidentschaftswahlen führt der 72-jährige Linkspolitiker mit rund 20 Prozent Vorsprung an.

Lulas Arbeiterpartei PT kündigte umgehend an, alle verfügbaren Rechtsmittel gegen das Urteil des Wahlgerichts einzulegen. "Die Kandidatur von Lula ist die Antwort des brasilianischen Volkes auf diejenigen, die ihre Macht missbraucht haben", erklärte die PT und rief zu Massendemonstrationen auf.

13 Kandidaten

Die Richter begründeten die Entscheidung mit einem von Lula erlassenen Gesetz, nachdem eine Kandidatur für öffentliche Wahlämter bei Vorstrafen nicht möglich ist. Lulas Anwälte argumentieren allerdings, dass seine Kandidatur rechtens ist, weil noch Einsprüche gegen die Haftstrafe anhängig sind. Sie hatten den UN-Menschenrechtsausschuss angerufen, der eine Disqualifikation ebenfalls mit der gleichen Begründung für unzulässig hält.

In einem ersten, am 1. September ausgestrahlten TV-Wahlspot verspricht Lula, er werde als Präsident, "der am meisten für die soziale Teilhabe getan hat", in die Geschichte Brasiliens eingehen.

Die Arbeiterpartei PT hat nach dem Richtervotum zehn Tage Zeit, einen Ersatzkandidaten zu präsentieren. Wahrscheinlich ist, dass São Paulos Ex-Bürgermeister Fernando Haddad einspringt, der als Lulas Vize kandidiert. Haddad, der national allerdings wenig bekannt ist, ist jetzt schon im Wahlkampf unterwegs und verteidigt Lulas Erbe. PT-Chefin Gleisi Hoffmann ist sich sicher, dass Haddad rund 80 Prozent aller Stimmen für Lula auf sich vereinigen kann.

Insgesamt bewerben sich für die Wahl am 7. Oktober 13 Kandidaten. Auf Platz zwei der Umfragen liegt der ultrarechte Politiker Jair Bolsonaro, der durch rassistische und homophobe Äußerungen auffällt. Der Ex-Fallschirmspringer ist zudem ein Bewunderer der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985).

Umweltaktivistin tritt an

Hoffnungen auf die Stichwahl macht sich auch São Paulos Ex-Gouverneur Geraldo Alckmin, der das konservative Lager hinter sich vereint. Er setzt darauf, moderate Wähler von Bolsonaro abzuwerben.

Auch Brasiliens Ex-Umweltministerin Marina Silva, die derzeit auf Platz drei der Umfragen liegt, hofft auf einen Einzug in die Stichwahl. Die 60-jährige Umweltaktivistin ist als eine der wenigen Politiker nicht in Korruptionsskandale verwickelt. Respekt hat sie sich 2008 erworben, als sie aus Protest gegen die Amazonas-Politik von Lula von ihrem Amt als Umweltministerin zurücktrat.

Brasilien ist gesellschaftlich zutiefst gespalten. Seit drei Jahren steckt Lateinamerikas größte Volkswirtschaft in einer Wirtschaftskrise mit Rekordarbeitslosigkeit. Zugleich erschüttert der größte Korruptionsskandal in der Geschichte das Land.




Ausland

Unbeugsam und ausdauernd


Michelle Bachelet
epd-bild/Gerhard Dilger
Michelle Bachelet hat Flucht und Folter am eigenen Leib erfahren. Als Präsidentin Chiles setzte sie umfangreiche Sozialprogramme um und ebnete den Weg für die Aufarbeitung der Verbrechen der Pinochet-Diktatur. Nun sind Menschenrechte offiziell ihr wichtigstes Anliegen als UN-Kommissarin.

Michelle Bachelet weiß, wie es sich anfühlt, in einer Unrechtsherrschaft zu leben. Seit ihrer Erfahrung während der Militärdiktatur in ihrer Heimat Chile (1973-1990) in jungen Jahren setzt sich die frühere Präsidentin ihres Landes für Menschenrechte ein. Am 1. September wurde die 66-jährige Sozialistin UN-Menschenrechtskommissarin und damit oberste Kämpferin gegen Unterdrückung und Willkür bei den Vereinten Nationen. Sie löste den jordanischen Prinzen Seid Ra'ad Al-Hussein ab, der nach vier Jahren aus dem Amt scheidet.

Bachelets Vater wurde von den Schergen des Regimes von Augusto Pinochet zu Tode gefoltert. Sie und ihre Mutter mussten in die ehemalige DDR fliehen. Unbeugsam und beharrlich hat sie in den vergangenen Jahren die Aufarbeitung der Diktaturverbrechen in Chile vorangetrieben und sich damit weltweit Respekt erarbeitet.

Bachelet steht für eine der ungewöhnlichsten Karrieren in Lateinamerika. Fünf Jahre lebte sie in der ehemaligen DDR im Exil und brachte dort ihr erstes von drei Kindern zur Welt. An der Berliner Humboldt-Universität studierte sie Medizin, ehe sie 1979 noch vor Ende der Diktatur nach Chile zurückkehrte, um als Kinderärztin zu arbeiten.

"Politik ist wie Medizin"

2002 wurde sie Gesundheitsministerin. Zwei Jahre später übernahm sie als erste Frau das Verteidigungsressort - eine Sensation in dem zutiefst von der Militärdiktatur geprägten Land. 2006 wurde Bachelet, die stets freundlich aber bestimmt auftritt, die erste gewählte Präsidentin in Lateinamerika. "Politik ist wie Medizin, aber in einem größeren Maßstab", sagt sie rückblickend. Sie habe sich immer vom Wunsch leiten lassen, etwas für die Allgemeinheit zu tun.

Die Erfahrungen als junge Frau durch die Diktatur haben diesen Wunsch mitgeprägt. Bachelet und ihre Mutter wurden nach der Festnahme des Vaters, einem bekannten Luftwaffengeneral der eine Mitwirkung am Putsch verweigert hatte, von der Geheimpolizei verschleppt. Im Folterzentrum Villa Grimaldi wurden sie misshandelt und konnten nur mit internationaler Hilfe fliehen. Mehr als 3.000 Menschen wurden während der Diktatur ermordet oder gelten bis heute vermisst. 40.000 Menschen wurden aus politischen Gründen inhaftiert.

Als Verteidigungsministerin zeigte Bachelet ruhiges Selbstbewusstsein und zwingt dem Militär demokratische Reformen auf. Den Begriff der Versöhnung benutzt sie allerdings bis heute nicht. Das sei zu früh für viele Opferfamilien, sagt sie. Bachelet bevorzugt das spanische Wort "reencuentro" - Wiederbegegnung, der Versuch eines vorsichtigen Aufeinanderzugehens.

Die erste Präsidentschaft Bachelets (2006-2010) gilt als Wendepunkt in der chilenischen Geschichte. Sie setzte Verbesserungen im staatlichen Gesundheitswesen um, brachte Sozialprogramme für arme Familien auf den Weg und begann eine Kampagne gegen Analphabetismus. Auch die Wirtschaft florierte und wuchs teilweise im zweistelligen Bereich. Bachelet, die volksnah und reformfreudig auftritt, war eine populäre Staatschefin.

Schwierigere zweite Amtszeit

2009 weihte Bachelet das Menschenrechtsmuseum in der Hauptstadt Santiago ein, das die Verbrechen der Pinochet-Diktatur dokumentiert und eine Erinnerungsstätte für die Opfer ist. Es war ihr ganz persönliches Projekt. Bachelet schied mit hohen Sympathiewerten aus dem Präsidentenamt - eine zweite darauffolgende Amtszeit erlaubt die chilenische Verfassung nicht.

2014 gelang ihr allerdings ein weiterer Wahlsieg. Doch ihre zweite Amtszeit (2014-2018) gestaltete sich schwieriger. Ein Korruptionsskandal in ihrer eigenen Familie kostete sie Sympathien und warf einen Schatten auf ihre Erfolge wie eine Gesundheitsreform und eine weitgehende Abschaffung von Studiengebühren. Kurz vor Ende ihrer Amtszeit brachte Bachelet in dem erzkatholischen Chile noch ein Gesetz zur Einführung der Homo-Ehe auf den Weg, das auch Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paar umfasst. Es war eines ihrer Wahlversprechen.

Wenige Wochen vor dem Ende ihrer Präsidentschaft ging sie noch einen weiteren wichtigen Schritt. Sie entschuldigte sich im Namen des chilenischen Staates für das Unrecht, das dem Volk der Mapuche zugefügt wurde. Zugleich stellte sie ein Programm vor, das die Rechte der Ureinwohner schützen soll. Damit ging Bachelet auf ihre Kritiker zu. Denn die Kritik, sie tue zu wenig zum Schutz der Mapuche begleitete sie während ihrer gesamten Amtszeit.

Susann Kreutzmann (epd)


Sonne, Strand, Sangria: Zahl der Spanienurlauber wächst weiter

Strafen für Anbieter von Ferien-Appartements, Baustopps für Hotels, Tourismussteuern, Geldbußen für Betrunkene: Schon seit einiger Zeit versuchen Kommunen in Spanien, dem Massentourismus Grenzen zu setzen. Doch der Erfolg lässt auf sich warten.

Es war ein besonderes Empfangskomitee. "Tourism kills Mallorca" stand auf dem großen Transparent, mit dem rund 15 Protestierende Mitte Juli auf dem Flughafen von Palma de Mallorca die ankommenden Urlauber empfingen. "Ein Flug pro Minute ist nicht nachhaltig", kritisierte ein junger Mann. Eine ältere Dame hatte auf ihr Schild gemalt: "Massentourismus ist gleich prekäre Arbeitsbedingungen." Spanien ist weiterhin eines der beliebtesten Urlaubsziele auf der ganzen Welt. Doch mehr und mehr Spanier sind der vielen Urlauber überdrüssig.

82 Millionen Ausländer verbrachten im vergangenen Jahr ihre Ferien in dem Land, neun Prozent mehr als im Vorjahr. Das sind fast doppelt so viele Touristen wie Einwohner. Und ihre Zahl steigt weiter: Im ersten Halbjahr 2018 haben 37,1 Millionen Menschen Spanien besucht, das sind noch einmal 1,8 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

Vor allem bei US-Amerikanern, Portugiesen, Russen und Niederländern erfreut sich das Land mit Zuwachsraten von mehr als zehn Prozent wachsender Beliebtheit - obwohl die Urlaubsorte eigentlich schon voll sind. Die konservative Regierung des Landes, die bis Juni im Amt war, hatte die Entwicklung begrüßt. Schließlich arbeiten fast 2,7 Millionen Menschen in der Branche, das sind mehr als auf dem Bau zu Boomzeiten. Allerdings sind die meisten Arbeitsverträge nur zeitlich befristet.

Elf Touristen pro Einwohner

Die Balearen-Inseln Mallorca, Ibiza, Menorca und Formentera sind mit 13 Millionen Ausländern am Rande ihrer Kapazitäten. Auf jeden Einwohner kommen im Jahr damit elf Touristen. Eine rot-grün geführte Regionalregierung führte dort darum schon 2002 eine Abgabe in Höhe von 1,03 Euro pro Tag und Urlauber ein.

Ein Jahr später schafften die Konservativen die Steuer zwar wieder ab, doch seit 2016 zahlen die Urlauber wieder, inzwischen je nach der Anzahl der Sterne des Hotels zwischen 65 Cent und vier Euro am Tag. Die Touristen haben damit bereits Kanalarbeiten, Strandboulevards oder eine Meerwasserentsalzungsanlage finanziert. Eine ähnliche Steuer gibt es inzwischen auch in Katalonien.

Im berühmten Viertel El Arenal in Palma de Mallorca werden zahlreiche Hotels renoviert, eines sogar abgerissen. Neue, hochwertigere Unterkünfte sollen so entstehen, den billigen "Sauftourismus" verdrängen. Der Branchenverband "Exceltur" begrüßt die Maßnahmen, doch bislang stellt sich kaum Erfolg ein.

In manchen Kommunen auf den Balearen kostet der Straßenverkauf von Alkohol - außerhalb der Lokale - nach 24 Uhr bis zu 3.000 Euro Strafe, das sogenannte "Balconing", das Klettern von einem Balkon eines Hotels zum nächsten, bis zu 750 Euro. Trotzdem sind in diesem Jahr schon sechs Menschen beim Balkonklettern umgekommen. Oft waren die meist jugendlichen Urlauber dabei betrunken oder hatten Drogen konsumiert. Mitte August war auch ein junger Deutscher auf Mallorca in den Tod gestürzt, die Umstände sind bislang ungeklärt.

Unterschriftenaktion gegen Billigtourismus

In Cala Ratjada auf Mallorca beschweren sich die Bewohner über deutsche Fußballvereine, die in der Stadt regelmäßig das Ende der Saison feiern. Einer Unterschriftenaktion gegen Billigtourismus schlossen sich 11.000 Einwohner Mallorcas an.

Schlimmer noch ist die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt: Die Stadtverwaltung von Palma de Mallorca schätzt, dass die Mieten in der Inselhauptstadt in den vergangenen vier Jahren um 40 Prozent gestiegen sind. Hauptgrund sei die kommerzielle Vermietung von Wohnungen als Ferienappartements. Die Stadt hat darum ein Verbot ausgesprochen. Schon im Februar verhängte Palma eine Strafe in Höhe von 300.000 Euro gegen die Internetplattform Airbnb, die Wohnungen anbot, die bei der Regionalbehörde nicht als Ferienwohnungen registriert waren.

In Barcelona gibt es schon seit Jahren ähnliche Klagen. In den berühmten Markthallen der Boquería erledigt kaum noch ein Bewohner der Mittelmeermetropole seinen Einkauf. Immer mehr Essensstände für Touristen verdrängen die traditionellen, Fleisch-, Fisch- und Obsthändler.

In Madrid berichtet die Stadtverwaltung, in der Innenstadt komme inzwischen auf jeden waschechten Madrider ein Tourist. Barcelona, Madrid, aber auch die baskischen Städte Bilbao und San Sebastián haben gegen die Wohnraumzweckentfremdung ähnliche Initiativen wie die Behörden in Palma de Mallorca ergriffen.

Doch das letzte Wort ist in der Sache noch nicht gesprochen: Die spanische Wettbewerbsaufsicht hat eine Verwaltungsklage dagegen angekündigt. Die kommerziellen Anbieter wollten auch über die Europäische Union Druck auf die lokalen Gesetze gegen Urlauberappartements machen, berichten spanische Zeitungen.

Ein wenig mehr vom Urlauberstrom hätte unterdessen die südlich von Madrid gelegene Region Kastilien-La Mancha gerne: Rund 234.000 ausländische Feriengäste kommen hier auf mehr als zwei Millionen Einwohner, so wenig wie nirgends sonst in Spanien. Die Region wirbt zwar mit wunderschönen historischen Zentren wie in Toledo oder Cuenca oder mit zahlreichen Schauplätzen des "Don Quijote", des berühmten Romans von Miguel de Cervantes. Aber sie hat eben kein Meer. Und dahin zieht es immer noch die meisten Touristen.

Hans-Günter Kellner (epd)