Chemnitz, Bielefeld (epd). Der Konfliktforscher Andreas Zick appelliert nach den Ausschreitungen in Chemnitz an die Politik, sich stärker mit Vorurteilen gegen Zuwanderer in Ostdeutschland auseinanderzusetzen. Grassierende Vorurteile müssten bearbeitet werden, sagte der Wissenschaftler der Universität Bielefeld am 28. August dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Wer Feindbilder im Kopf hat, wird sich nicht durch einfache Floskeln überzeugen lassen."
Es gelte, die Gewalttaten systematisch aufzuklären, den Opferschutz zu verstärken und auszumachen, wo demokratische Grundnormen eingebrochen seien, betonte Zick. Politiker müssten überlegen, "warum angesichts des Tötungsdelikts die Trauer keinen Raum und Zeit findet, sondern Gruppen in Windeseile und ohne Beschäftigung mit der Tat die Interpretation der Realität übernehmen". In der Vergangenheit habe die Spitzenpolitik oftmals ein zu einfaches Bild der Kontrolle und Sicherheit vermittelt. "Viele Menschen vor Ort haben diese Kontrolle aber nicht erlebt." Gewalt lasse sich nicht verhindern, indem man sie verharmlose, mahnte Zick.
"Aus dem Wutbürger ist längst ein Zornbürger geworden"
Die Krawalle in Chemnitz gehen nach Ansicht der Konfliktforschers auf eine lange Geschichte rechtsextremer und menschenfeindlicher Entwicklungen in Ostdeutschland zurück. "Wesentlich ist, dass die Szene im Osten stärker an Bilder des Widerstandes, der Volksgemeinschaft, des Kontrollverlustes des Staats und eine Vorstellung nationaler Leitbilder anknüpfen kann", erläuterte der Leiter des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung.
Im Osten würden Vorurteile vor allem gegen Asylsuchende, Migranten und Muslime viel stärker geteilt als in Westdeutschland, erläuterte Zick. "Das Tötungsdelikt durch Ausländer ist dann der Beweis, dass das Vorurteil kein Vorurteil war", sagte der Wissenschaftler. "Aus dem Wutbürger ist längst ein Zornbürger geworden, der emotional leicht ansteckbar ist."
Auslöser der Ausschreitungen in Chemnitz war der Tod eines 35-jährigen Deutschen in der Nacht zum Sonntag am Rande des Stadtfestes. Gegen die beiden mutmaßlichen Täter, einen 22-jährigen Iraker und einen 23-jährigen Syrer, war am Montag Haftbefehl erlassen worden. Als Reaktion auf den Vorfall waren am Sonntag nach Aufrufen in sozialen Netzwerken laut Polizei rund 800 Menschen durch die Chemnitzer Innenstadt gezogen. Am 27. August kam es bei Demonstrationen erneut zu Zwischenfällen mit mehreren Verletzten.