Kirchentag

Echtes Vertrauen im Pott


Mitarbeiter der Geschäftsstelle des Kirchentags in Dortmund
epd-bild/Friedrich Stark
Posaunenchöre und Beten unter freiem Himmel - beides darf beim Kirchentag nicht fehlen. Beim größten Treffen evangelischer Laien in Dortmund stehen aber auch wichtige politische Themen auf der Agenda, wie der Umgang mit den neuen Konservativen.

Menschenmengen sind die Dortmunder gewohnt - die Stadt im Ruhrgebiet zieht regelmäßig Tausende Fußballfans des Bundesliga-Spitzenklubs Borussia Dortmund an. Mit dem Bundesliga-Meistertitel wurde es in diesem Jahr nichts, doch Feiern im Freien mit geschätzt 100.000 Gästen ist dennoch möglich: Der evangelische Kirchentag 2019 ist vom 19. bis 23. Juni zu Gast in der Ruhrmetropole.

Kirchentag - das bedeutet: Spontanes Singen in der U-Bahn, Posaunenchöre, die Straßenmusik machen und Beten unter freiem Himmel. Selten sind Gläubige in der Gesellschaft so sichtbar wie beim Kirchentag. Das Treffen der evangelischen Laien bedeutet aber auch politischen Diskurs. "Es wird ein großes Glaubensfest und gleichzeitig ein sehr politischer Kirchentag", sagt Kirchentagspräsident Hans Leyendecker. Und so haben die Veranstalter mit der Kirchentagslosung "Was für ein Vertrauen" einen Nerv getroffen in Zeiten, in denen Vertrauen zu einer wichtigen politischen Ressource geworden und immer wieder von Vertrauenskrisen die Rede ist. Zur "Echten Liebe", die die Borussia mit ihrem Motto verspricht, gesellt sich "Echtes Vertrauen".

Debatte über AfD-Beteiligung

Mit der Entscheidung, AfD-Politiker nicht zu Kirchentagspodien einzuladen, haben die Veranstalter allerdings auch eine Debatte ausgelöst. Beim zurückliegenden Kirchentag 2017 in Berlin hatte die AfD noch mitdiskutieren dürfen. Der Ausschluss gelte nur Partei-Funktionären und nicht den Bürgern, die mit der AfD sympathisieren, betonte das Präsidium. Präsident Leyendecker selbst verteidigte die Entscheidung immer wieder mit den Worten, dass sich die Partei seit 2017 weiter radikalisiert habe.

Um aber im Gespräch zu bleiben mit allen, die aus Protest gegen die Regierung unter Angela Merkel mit der AfD liebäugeln, gibt es ein Barcamp mit dem Titel "Das soll doch mal gesagt werden dürfen". Der Name soll Programm sein. Auch die Themen "neuer Konservatismus" und "Angst" stehen auf der Agenda. Unter den Rednern und Podien-Gästen sind viele Politiker aus der ersten Reihe: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nebst seinen drei Amtsvorgängern Joachim Gauck, Christian Wulff und Horst Köhler werden erwartet.

Klimaschutz und Kulturprogramm

Dortmund sei genau der richtige Ort für die politische Kontroverse über gesellschaftlich relevanten Themen, sagt Leyendecker, der im Rheinland verwurzelt ist. Hier spiegele sich die "bunte Vielfalt" der Gesellschaft. Kohle und Stahl haben Dortmund fast ein Jahrhundert lang als Stadt geprägt. Nach dem Niedergang der Kohle- und Stahl-Industrie scheinen die Dortmunder den wirtschaftlichen Strukturwandel geschafft zu haben. Doch die Stadt macht immer wieder negative Schlagzeilen wegen der rechten Szene im Stadtteil Dorstfeld.

Zu weiteren gesellschaftlichen Themen zählen Klimaschutz, Digitalisierung, sexualisierte Gewalt und feministische Theologie. Hinzu kommt ein üppiges Kulturprogramm mit 600 Veranstaltungen. Alle Veranstaltungen sollen zudem barrierefrei sein.

Damit sich die mehr als 100.000 erwarteten Besucher in der Stadt und bei den Veranstaltungen sicher fühlen können, werden Tausende Einsatzkräfte für Ordnung sorgen. Veranstaltungsorte werden zusätzlich mit Betonklötzen und Lkw-Sperren abgesichert. Innerhalb der Innenstadt gilt an allen Veranstaltungstagen tagsüber ein Lkw-Fahrverbot.

Am Ende des Kirchentages werden sich Fußball und Glauben noch einmal ganz nahe kommen. Einer der beiden zentralen Abschlussgottesdienste wird im Stadion stattfinden - diesmal geht es nicht um echte Liebe zur Borussia, sondern um echte Liebe zu Gott.

Franziska Hein (epd)


Mann der klaren Worte und guten Nachrichten


Hans Leyendecker
epd-bild/Norbert Neetz
Profilierter Journalist, leidenschaftlicher BVB-Fan und überzeugter Protestant: Für das Amt des Dortmunder Kirchentagspräsidenten ist Hans Leyendecker geradezu eine Idealbesetzung.

Hans Leyendecker ist ein Kirchentags-Junkie. Seit 1975 hat der renommierte Journalist kein einziges der protestantischen Glaubensfeste verpasst, die alle zwei Jahre mehr als 100.000 Menschen anziehen. Dass er nun in Dortmund als Präsident an der Spitze des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentages steht, empfindet der 70-Jährige als Geschenk und Ehre - und drückt der Großveranstaltung, die auch in Politik und Gesellschaft ausstrahlen soll, an vielen Stellen seinen Stempel auf.

Leyendecker erwartet einen Kirchentag der klaren Worte: theologisch, politisch und unbequem werde er sein, lebendig und diskussionsfreudig. Den Investigativjournalisten treibt die aktuelle Vertrauenskrise durch Digitalisierung, Turbokapitalismus und Fake News um. In der Mitte der Gesellschaft drohe wegen mancher Zukunftsängste und sozialer Verwerfungen "eine innere Auswanderung aus unserer Demokratie".

Der Kirchentag vom 19. bis 23. Juni wolle die Gräben überwinden helfen und Zuversicht als Gegengift zu Pessimismus und Untergangsstimmung verbreiten - unter anderem durch einen "Pavillon der guten Nachrichten", der Erfolge und Hoffnungen in den Blick rückt. Leyendecker will darüber reden, was sich in der Welt verbessert hat, auch die Kirche müsse "entjammert" werden.

"Ein Kirchentag ist aber keine Talkshow"

Die Probleme und Sorgen, Ängste und Nöte der Menschen sollen auf den Kirchentagspodien ebenfalls zur Sprache kommen - aber nicht durch AfD-Funktionäre: Die "Menschenfeinde, Hetzer und Rassisten" wollten Provokation und keine inhaltliche Debatte, sagt Leyendecker. "Ein Kirchentag ist aber keine Talkshow."

Dortmund ist für Leyendecker, der hier in den 70er Jahren Redakteur und Reporter bei der "Westfälischen Rundschau" war, ein idealer Kirchentagsort, nicht nur wegen der kurzen Wege: "Die Stadt spiegelt die bunte Vielfalt der Gesellschaft wider und zeigt gleichzeitig, wie man einen Strukturwandel schaffen kann."

Innige Beziehung zur Revierstadt

Seit Kindheitstagen pflegt der Kirchentagspräsident zudem eine innige Beziehung zu der Revierstadt: Er ist seit 63 Jahren Fan von Borussia Dortmund und besitzt schon sehr lange eine Dauerkarte, "ein großes Erbgut". Seine Armbanduhr ist ebenso schwarz-gelb wie die Handyhülle, auch das Haus und der Garten von Familie Leyendecker stecken voller BVB-Devotionalien. "Ich habe inzwischen alles", sagt er.

Geboren wird Hans Leyendecker am 12. Mai 1949 im rheinischen Brühl. Der Vater ist Ingenieur, die Mutter Hausfrau und streng katholisch. Mit 14 geht der Junge in ein katholisches Internat in Fulda, er wird Chefredakteur der Schülerzeitung, will zeitweise Priester werden. Bei einem Zeitungsvolontariat in Stade bei Hamburg lernt er seine spätere Frau Marlies kennen, er zieht ihr nach Bayern hinterher, arbeitet dort als freiberuflicher Journalist und heiratet die Protestantin 1972 im Alter von 23 Jahren.

Eine ökumenische Trauung ist nicht möglich und Leyendecker wendet sich der evangelischen Kirche zu. Aus Rücksicht auf die katholische Mutter lässt sich das Paar erst 2008 evangelisch trauen. Einige Jahr später konvertiert Leyendecker zum evangelischen Glauben, an dem er die Freiheit schätzt: "Es stört mich zunehmend, wenn mir irgendjemand erklären will, was ich zu glauben habe."

Ab 1979 erarbeitet sich Leyendecker beim Magazin "Der Spiegel" einen Namen als Investigativjournalist, der zahlreiche Affären und Skandale aufdeckt. Nach einem Streit mit Chefredakteur Stefan Aust wechselt er 1997 zur "Süddeutschen Zeitung", wo er 2009 die Leitung des neuen Ressorts für investigative Recherche übernimmt. Seit 2016 ist er offiziell im Ruhestand.

"Gottvertrauen ist der Puls meines Lebens"

Wohn- und Rückzugsort ist seit 1986 das großzügige Eigenheim in Leichlingen im Bergischen Land unweit von Köln, wo Leyendecker während seiner beruflichen Wechsel wohnen blieb. Umgeben von Wäldern und Wiesen ist genügend Platz, wenn die fünf Kinder und neun Enkel zu Besuch kommen. Auch zur "Hauskirche", dem Altenberger Dom, und zu den Heimspielen des BVB ist es von dort nicht weit.

"Gottvertrauen ist der Puls meines Lebens", sagt Leyendecker zur Bedeutung seines persönlichen Glaubens. Seit Monaten reist er durch die Lande, um Menschen für den Kirchentag als Glaubensfest und Ort des Dialogs zu begeistern. "Ich will auf dem Kirchentag präsent sein", sagt er. "Und ich freue mich eigentlich auf alles."

Ingo Lehnick (epd)


Das schwierige Verhältnis der Kirchen zur AfD


Demonstration gegen den Auftritt eines AfD-Politikers beim Katholikentag in Münster im Mai 2018
epd-bild/Stefan Arend
Innerhalb der Kirchen wird seit Jahren darüber diskutiert, wie man mit der AfD und mit AfD-Mitgliedern in Gemeinden und kirchlichen Gremien umgehen soll. Beim evangelischen Kirchentag vom 19. bis 23. Juni in Dortmund setzt man auf Abgrenzung.

Polizeieinsatz und Tumult: Der Auftritt des AfD-Politikers Volker Münz auf dem Katholikentag in Münster im vergangenen Jahr wurde von massiven Protesten und Störungen aus dem Publikum begleitet. Dazu wird es auf dem evangelischen Kirchentag in Dortmund vom 19. bis 23. Juni nicht kommen. Dort sind AfD-Politiker zu keinem Forum eingeladen.

Der Umgang mit der AfD und mit AfD-Mitgliedern in Gemeinden, kirchlichen Gremien und bei Veranstaltung ist nicht einheitlich: Beim Katholikentag 2016 in Leipzig waren AfD-Vertreter von Veranstaltungen explizit ausgeschlossen. Auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 2017 in Berlin diskutierten der Berliner Bischof Markus Dröge und die damalige Sprecherin der Vereinigung "Christen in der AfD", Anette Schultner. Beim Katholikentag im westfälischen Münster im Mai 2018 gab es ein Podium mit den religionspolitischen Vertretern der Bundestagsparteien, darunter dem kirchenpolitischen Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Münz.

"Verpasste Chance"

Jetzt aber heißt es: Vertreter der AfD sind "nicht zur Mitwirkung auf Podien und zu Diskussionsveranstaltungen des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Dortmund eingeladen". Laut dem offiziellen Beschluss vom Herbst 2018 werde niemand "wegen seines Parteibuches ein- oder ausgeladen". In der AfD gebe es jedoch mittlerweile einen fließenden Übergang zum Rechtsextremismus und Verbindungen zu verfassungsfeindlichen Netzwerken, so das Kirchentagspräsidium.

Diese Entscheidung ist umstritten. Als "verpasste Chance" sieht der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Markus Dröge, die Entscheidung des Kirchentages an. "Ich muss immer den Einzelnen anschauen", sagte Dröge im Februar dem Evangelischen Pressedienst (epd). Ein prinzipieller Ausschluss nütze nur der AfD, "weil sie sich dann wieder als Opfer darstellen kann".

Für Volker Münz bleibt die Haltung des Kirchentagspräsidiums "scheinheilig". Auf der einen Seite bezeichne sich der Kirchentag als Ort der Vielfalt und Toleranz, wo verschiedene Meinungen aufeinandertreffen sollen. Auf der anderen Seite sei es "unverständlich, dass die AfD als größte Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag im Unterschied zu den anderen Fraktionen zu keinem Podium eingeladen wird", sagte Münz dem epd. Münz ist Kirchengemeinderat und Bezirkssynodaler in der evangelischen Kirche.

"Strategien beginnen zu wirken"

Der Kirchenrechtler Hans Michael Heinig bezeichnete den Ausschluss der AfD von den Podien des evangelischen Kirchentags als widersprüchlich. Einerseits heiße es in dem Beschluss des Kirchentagspräsidiums, niemand werde wegen seines Parteibuchs ein- oder ausgeladen. "Zugleich aber sollen alle Vertreter der AfD qua Parteizugehörigkeit disqualifiziert sein, am Kirchentagsprogramm mitzuwirken", schrieb Heinig in einem im Oktober 2018 veröffentlichten Beitrag für die evangelische Zeitschrift "zeitzeichen". Also sei doch die Parteizugehörigkeit entscheidend.

In einer Replik auf Heinigs Meinungsbeitrag vertrat die Generalsekretärin des Kirchentages, Julia Helmke, die Gegenposition. Die Situation habe sich seit dem Kirchentag 2017, als AfD-Vertreter noch eingeladen waren, verändert. "Die Mechanismen und Strategien des rechten Populismus beginnen zu wirken", schrieb Helmke in "zeitzeichen".

"Ich wäre gerne zum Kirchentag gefahren", sagte Münz dem epd. Es gehe ihm dabei nicht nur um politische Fragen, sondern auch um kirchliche, theologische Themen. Er hätte gerne "die Fahne der Konservativen hochgehalten". Doch habe er kein Interesse daran, "als Privatmann zu einem Happening zu gehen, das eher an einen Parteitag der Grünen erinnert und wenig mit dem christlichen Glauben zu tun hat". Auf dem Kirchentag werde überwiegend der "Zeitgeist verherrlicht und nicht der Heilige Geist", sagte der frühere Bankmanager Münz, der auch dem Bundesvorstand der "Christen in der AfD" angehört.

Stephan Cezanne (epd)


Dortmund will sich beim Kirchentag weltoffen zeigen


Ullrich Sierau
epd-bild/ Udo Gottschalk

Der Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) erwartet vom evangelischen Kirchentag richtungsweisende Impulse zu den Themen Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Den Kirchentagsbesuchern, die vom 19. bis 23. Juni nach Dortmund kommen, wolle sich die Stadt in ihrer gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Vielfalt präsentieren, sagte Sierau dem Evangelischen Pressedienst (epd).

epd: Was bedeutet es für die Stadt Dortmund, dass der Evangelische Kirchentag in diesem Jahr hier stattfindet?

Sierau: Für die Dortmunderinnen und Dortmunder ist der Kirchentag eine Chance, ihre Stadt in all ihrer Vielfalt zu präsentieren. Wir sind eine internationale, tolerante und weltoffene Stadt, in der Vielfalt im gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Miteinander gelebt wird. Diesen Zusammenhalt und unsere Erfolge im Rahmen des Strukturwandels werden wir den Besucherinnen und Besuchern bei den zahlreichen Gelegenheiten, die der Kirchentag bietet, zeigen.

epd: Werden Sie selbst am Kirchentag teilnehmen?

Sierau: Ja. Es gibt natürlich eine Reihe von offiziellen Terminen. Unter dem Titel "Wege zur Nachhaltigkeit" findet zudem im Rahmen des Kirchentags eine von mir geführte Radtour durch Dortmund statt. Ich werde versuchen, möglichst viele Veranstaltungen zu besuchen, um einen persönlichen Eindruck von der Atmosphäre, der Stimmung und dem Miteinander des Kirchentags zu bekommen.

epd: Welche thematischen Impulse erwarten Sie vom Kirchentag für die Stadt und für die Gesellschaft insgesamt?

Sierau: Dortmund wurde 2014 als nachhaltigste Großstadt Deutschlands ausgezeichnet. Die Beantwortung der Fragen zur Nachhaltigkeit unter ökologischen, ökonomischen, sozialen und partizipativen Aspekten sind eine Daueraufgabe - und zwar lokal wie global. Vom Kirchentag erhoffe ich mir bei diesem Zukunftsthema einige richtungsweisende Beiträge. Einen wichtigen Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Diskurs kann der Kirchentag auch leisten, wenn es um das Thema der Gerechtigkeit in der Welt geht und wie wir diese schaffen können. Ein Thema, bei dem wir alle in der Verantwortung stehen.

epd-Gespräch: Esther Soth


Kirchentags-Gastgeberstadt steht für Strukturwandel


Blick auf die Dortmunder Innenstadt mit den Kirchtürmen der evangelischen Kirchen St. Reinoldi (Mitte hinten), St. Petri (vorne) und der katholischen Propsteikirche (hinten rechts)
epd-bild/Friedrich Stark
Dortmund ist wie alle Revierstädte von Umbrüchen geprägt. Sport, Kultur und Wissenschaft spielen heute eine wesentliche Rolle. Aber auch die Industriekultur ist noch sichtbar.

Zum dritten Mal ist Dortmund Gastgeber des Deutschen Evangelischen Kirchentages - nach 1963 und 1991, damals mit dem gesamten Ruhrgebiet. Die Stadt will sich nach den Worten von Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) als tolerante und weltoffene Westfalenmetropole präsentieren, in der Vielfalt im gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Miteinander gelebt wird. Mit rund 600.000 Einwohnern ist Dortmund die größte Stadt im Ruhrgebiet.

Dortmund steht für Umbrüche und Wandel: Statt Kohle, Stahl und Bier sind heute Wissenschaft, Kultur und Sport prägend. Die letzte Zeche schloss 1987, der letzte Hochofen erlosch 2001. In der einstigen Bierstadt Nummer 1 in Europa ist von zahlreichen Brauereien nur noch eine einzige übriggeblieben. Die Industriegeschichte lebt mit einigen stillen Zeugen fort. So bilden das Industriemuseum Zeche Zollern und der einstige Stahlstandort Phoenix-West mit dem künstlich angelegten Phoenix-See die Kulisse für mehrere Kirchentags-Veranstaltungen.

Von Kohle, Stahl und Bier zu Forschung, Sport und Kultur

Der Strukturwandel scheint geglückt: Die Arbeitslosenquote lag zuletzt knapp unter zehn Prozent. Der Umbruch begann bereits in den 60er Jahren mit der Gründung des Technologieparks und der Universität. Heute sind Forschung und Technologie mit führenden IT-Firmen maßgebliche Größen des Wirtschaftslebens. Zu wichtigen Arbeitgebern gehören ferner die Banken- und Versicherungsbranche, das Handwerk, der Gesundheits- und Pflegebereich sowie die Logistikbranche. Sie umfasst den vor 110 Jahren gegründeten Hafen ebenso wie das größte europäische Ikea-Zentrallager.

Dortmund liegt inmitten eines dichten Straßen- und Schienennetzes und verfügt über den drittgrößten Verkehrsflughafen in NRW. Die City ist ein Einkaufsmagnet, der Weihnachtsmarkt mit dem weltweit größten Weihnachtsbaum gehört zu den Touristenattraktionen. Für eine ausgeprägte Kulturlandschaft sorgen Konzerthaus, Oper, Theater, kleinere Bühnen sowie zahlreiche Museen. Die Deutsche Arbeitsschutzausstellung (DASA) mit Themen rund um die Arbeitswelt, die überregional bekannten Westfalenhallen und das noch junge Deutsche Fußballmuseum sind Publikumslieblinge und weitere Veranstaltungsorte des Kirchentags.

Mit dem Abschlussgottesdienst am 23. Juni im Signal Iduna Park, dem größten Stadion Deutschlands, rückt auch die herausragende Rolle des Sports in den Blick. Ein absolutes Aushängeschild ist zweifellos Fußball-Bundesligist Borussia Dortmund. Insgesamt hat die Stadt 510 Sportvereine und ist drittgrößter Olympiastützpunkt Deutschlands. Dort werden 450 Kaderathleten aus 20 Sportarten betreut, darunter der Deutschland-Achter.

Menschen aus 160 Nationen wohnen in Dortmund

Das Dortmunder U, früher Haus der Union-Brauerei und heute Stätte für Kultur und Wissenschaft, zählt mit seinen Bewegtbildern des Filmemachers Adolf Winkelmann ebenso zu den Landmarken im Stadtbild wie das 70 Meter hohe Harenberg-Center und der 173 Meter hohe Florianturm im Westfalenpark. Die grüne Oase, einst Ort der Bundesgartenschau, und der Tierpark sind beliebte Ausflugziele. Zu den historischen Gebäuden in der Innenstadt gehört die evangelische Reinoldikirche, deren Ursprünge bis ins 10. Jahrhundert zurückreichen.

In Dortmund wohnen Menschen aus über 160 Nationen. Besonders hoch ist der Anteil von Migranten in der Nordstadt. Vor allem der Zuzug aus Südosteuropa stellt die Stadt vor soziale Herausforderungen. Einer christlichen Konfession gehört gut die Hälfte der Bevölkerung an, dabei sind die Protestanten knapp in der Mehrheit. Die größte nicht-christliche Religionsgemeinschaft sind die Muslime.

Hotspot der rechten Szene im Westen

In den Kommunalparlamenten hatte die SPD über Jahrzehnte die klare Mehrheit, Dortmund galt als "Herzkammer" der Sozialdemokratie. Bei der Europawahl landete die Partei jedoch mit 23 Prozent der Stimmen erstmals auf Rang 2 und damit hinter den Grünen, die auf 24,9 Prozent kamen.

Parteiübergreifend stehen Politiker des demokratischen Spektrums und ein breites gesellschaftliches Bündnis gegen den Rechtsextremismus zusammen. Dortmund gilt als Hotspot der rechten Szene im Westen Deutschlands. Der Kirchentag befasst sich mit diesem Thema und bietet im offiziellen Programm einen Stadtrundgang "Rechtsextremismus in Dortmund" an.

Theo Körner (epd)


Kirchentag: Wichtige Fragen und Antworten für Besucher

Der evangelische Kirchentag ist ein religiöses Großereignis in Deutschland. Selbst Menschen, die sonst wenig mit der Kirche zu tun haben, kommen mit dem Kirchentag in Berührung - allein schon durch volle Züge mit Pfadfindern und Menschen mit grünen Kirchentagsschals. Das große Laien-Treffen deutscher Protestanten ist vom 19. bis 23. Juni in der Ruhrmetropole Dortmund zu Gast. Wer hinfährt, sollte Folgendes wissen:

Was passiert beim Kirchentag?

Der Kirchentag ist politische Diskussionsveranstaltung, Kulturfestival und religiöses Ereignis in einem. Zentrale gesellschaftliche Themen werden mit den Spitzen der deutschen Politik und führenden Theologen diskutiert. Bei diesem Kirchentag stehen die Themen "Neuer Konservatismus", Klimawandel, Digitalisierung und feministische Theologie auf der Agenda. Unter den Gästen und Rednern sind Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Natürlich kommt der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm - aber auch einige katholische Bischöfe, darunter der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx, haben sich angekündigt.

Wo finden die Veranstaltungen des Kirchentags statt?

Die gesamte Dortmunder Innenstadt sowie die Nordstadt werden während des Kirchentags zum Schauplatz der rund 2.400 Veranstaltungen. So findet zum Beispiel einer der Eröffnungsgottesdienste auf einer zentralen Kreuzung am Ostentor statt. Anwohner müssen die gesamte Zeit mit Straßensperrungen und Verkehrsumleitungen rechnen. Die Westfalenhallen beherbergen viele der Veranstaltungen. Dort befindet sich auch der Markt der Möglichkeiten - eine Art Messe mit vielen Ständen von kirchlichen Organisationen, NGOs, Parteien und öffentlichen Organisationen.

Was kosten die Karten?

Eine Dauerkarte kostet in diesem Jahr 108 Euro, ermäßigt 62 Euro. Familien zahlen 168 Euro, Studierende aus NRW 29 Euro. Tageskarten kosten 35 Euro, ermäßigt 19 Euro. Karten können im Internet über die Seite www.kirchentag.de bestellt werden. In vielen Buchhandlungen, Kirchengemeinden und kommunalen Einrichtungen gibt es Vorverkaufsstellen, die ebenfalls auf der Internetseite des Kirchentags aufgelistet sind.

Wie kommt man hin?

Der Kirchentag kooperiert mit der Deutschen Bahn. Wer ein Kirchentags-Ticket besitzt, kann eine einfache Fahrt (mit Zugbindung) zum Festpreis von 54,90 (Euro) in der 2. Klasse buchen. Das Angebot ist gültig vom 17. bis 25. Juni. Allerdings ist das Kontingent der Tickets begrenzt. Wer komplett klimaneutral anreisen will, kann Rad fahren. Am Mittwochmorgen treffen sich Radfahrer zur großen Schlussetappe in Unna.

Wie komme ich während des Kirchentags von A nach B?

Die Kirchentagsveranstalter empfehlen, zu Fuß zu gehen oder das Fahrrad zu benutzen. Im Stadtgebiet können Teilnehmer Fahrräder von metropolradruhr zu günstigen Konditionen ausleihen. Dafür ist ein nextbike-Konto nötig. Der Rabattcode für den Kirchentag lautet 888288. Kirchentagstickets sind außerdem Fahrtausweise für den öffentlichen Nahverkehr. Der Fahrausweis gilt in den Tarifgebieten des VRR und des Westfalentarifs.

Kann ich für den Kirchentag Sonderurlaub nehmen?

In einigen Bundesländern fällt der Kirchentag nicht in die Schulferien. In der Regel können sich Schüler für die Teilnahme freistellen lassen. Dazu müssen sie meistens bei der Schulleitung einen Antrag stellen. Arbeitnehmer haben in vielen Bundesländern die Möglichkeit, für den Kirchentagsbesuch Sonder- oder Bildungsurlaub zu nehmen. In vielen Bundesländern wird der Kirchentag als Bildungsveranstaltung anerkannt. Nähere Informationen zu Freistellung und Beurlaubung gibt es auf www.kirchentag.de.



Das freundliche Gesicht des Kirchentags


Kirchentags-Helfer im Einsatz (Archivbild).
epd-bild / Friedrich Stark
Sie sind wandelnde Hinweisschilder, fahren Gäste oder sorgen für Ordnung: Ohne die 4.000 ehrenamtlichen Helfer würde der Kirchentag nicht funktionieren. Viele von ihnen reisen alle zwei Jahre quer durch Deutschland, um wieder dabei zu sein.

Wenn Cord Bollenbach von der Ostsee-Insel Usedom zum Kirchentag fährt, liegt immer eine weite Anfahrt vor ihm. Die lange Reise unternimmt der Gemeindepädagoge stets mit einer Gruppe überwiegend junger Leute, um ehrenamtlich beim Kirchentag mit anzupacken. Alle zwei Jahre machen sich bis zu 5.000 Ehrenamtliche aus ganz Deutschland auf den Weg in die jeweils gastgebende Stadt des Deutschen Evangelischen Kirchentages. In diesem Jahr geht es nach Dortmund.

Die Helfer übernehmen Einlasskontrollen und bewachen Bühnen, halten Fluchtwege frei oder verteilen Kirchentagsschals. Sie unterstützen Bands oder Politiker hinter der Bühne, stellen Wassergläser für Podiumsteilnehmer hin oder richten die Messehallen zwischen den Veranstaltungen wieder her. Bis zu acht Stunden am Tag arbeiten sie ehrenamtlich, schlafen in Gemeinschaftsunterkünften und nutzen Dusch- und Toilettencontainer. Viele von ihnen müssten eigentlich zur Schule, Universität oder Arbeit, bitten aber um Freistellung oder nehmen sich Urlaub.

Till Strang wird häufig gefragt, warum nicht bezahlte Dienstleister diese vielen Aufgaben übernehmen. Der 31-Jährige organisiert die Helferdienste. Er kümmert sich etwa darum, dass die Ehrenamtlichen sinnvoll und möglichst am gewünschten Platz eingesetzt werden. "Kirchentag ist gelebte Begegnung", sagt Strang, der selbst viele Jahre beim Kirchentag freiwillig mit angepackt hat. "Das freundliche, nette Gesicht des Kirchentags lebt von Helferinnen und Helfern." Das seien häufig Pfadfinder, Gruppen der evangelischen Jugend oder Schulklassen.

"Wir haben viele Wiederholungstäter"

In diesem Jahr haben sich rund 4.000 Helfer im Alter von 16 bis 84 Jahren angemeldet, rund jeder zehnte kommt aus dem Raum Dortmund. Die am weitesten gereisten Freiwilligen kommen aus dem US-Bundesstaat Kansas, in Deutschland ist die Strecke vom Bodensee am weitesten. "Wir finden für jeden eine Aufgabe, die zu erfüllen ist", sagt Strang. "Wir haben auch viele Wiederholungstäter dabei." Von deren Erfahrung profitierten dann die neuen Gesichter.

Zu den Wiederholungstätern gehört Cord Bollenbach. Seit mehr als zehn Jahren packt er beim Kirchentag mit an. "Es war Liebe auf den ersten Blick", sagt der 47-Jährige und schwärmt vom Miteinander beim Kirchentag und unter den Helfern. Begleitet wird Bollenbach diesmal von 27 Jugendlichen und Erwachsenen im Alter von 16 bis 47 Jahren aus seiner evangelischen Kirchengemeinde Krummin-Karlshagen-Zinnowitz, die bei ihm eine Ausbildung zum Gruppenleiter machen.

Gerade für die jungen Leute sei der Kirchentag eine besondere Erfahrung, christliche Gemeinschaft zu erleben, erzählt der Gemeindepädagoge. Als Christen seien sie in Mecklenburg-Vorpommern in der Minderheit. Ein tolles Erlebnis sei für die Jugendlichen auch die Erfahrung, gebraucht zu werden.

Blick hinter Kulissen

Neben ihren Diensten können sie Kirchentags-Veranstaltungen besuchen und blicken dabei auch immer wieder hinter die Kulissen. Als Helfer gehören sie dazu und bekommen teils engen Kontakt zu politischer, kirchlicher oder kultureller Prominenz. Eine Jugendliche habe bei einem Kirchentag ihren Traum erfüllt, die frühere A-Cappella-Band "Wise Guys" zu betreuen, berichtet Bollenbach.

Attraktiv ist für junge Leute auch, dass sie als Helfer nur die Anfahrt bezahlen müssen: Während des Kirchentags sind sie mit Unterkunft, Essen und Nahverkehrsticket versorgt.

Aus Dortmund haben sich viele Menschen mit ihren Freunden als Helfer angemeldet, die bislang nicht viel mit Kirche zu tun hatten. "Sie sagen uns: Wenn der Kirchentag in unsere Stadt kommt, will ich etwas tun", sagt Strang. Ihre Ortskenntnisse sind hilfreich für Infostände oder die Fahrbereitschaft.

Jana Hofmann (epd)


Höhepunkte des Kirchentages

Fast 2.400 Veranstaltungen in fünf Tagen: Die Besucher des Protestantentreffens vom 19. bis 23. Juni in Dortmund werden es auch beim 37. Deutschen Evangelischen Kirchentag schwer haben, den Überblick zu behalten. Einige Höhepunkte aber sind im Programm deutlich auszumachen.

Traditionell zählen Anfang und Ende zu den besonderen Erlebnissen der Besucher: Nach den drei Eröffnungsgottesdiensten unter freiem Himmel am 19. Juni steigt ein Straßenfest in der Innenstadt. Der "Abend der Begegnung" nimmt die Sprache des Ruhrgebiets auf und steht unter dem Motto "Da machse wat mit!"

Gottesdienst im Stadion

Besonderheit beim Schlussgottesdienst am Sonntag: Erstmals seit 18 Jahren, seit 2001 in Frankfurt am Main, wird ein Kirchentagsabschluss wieder in einem Stadion gefeiert. Die Heimspielstätte des Vizemeisters Borussia Dortmund ist das größte Fußballstadion Deutschlands.

Einen besonderen inhaltlichen Schwerpunkt des diesjährigen Kirchentages bildet der "Rote Faden Migration, Integration und Anerkennung". Mit dem "Roten Faden" sind mehr als 65 Ausstellungen, Führungen, Gottesdienste, Podien und Workshops gekennzeichnet.

Hohe Promi-Dichte

Zum Kirchentag ist in Dortmund eine besondere Promi-Dichte zu erwarten. Neben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier werden auch dessen Vorgänger Joachim Gauck, Christian Wulff und Horst Köhler kommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) diskutiert mit der ehemaligen Präsidentin Liberias, Ellen Johnson-Sirleaf, über Vertrauen in der internationalen Politik. Um den Schutz von Frauen und Kindern in Konflikten geht es auf einem Podium, zu dem unter anderen der kongolesische Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege und Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) erwartet werden.

Zum Start in den Tag lädt der Kirchentag traditionell zu Bibelarbeiten ein. Garant für volle Hallen ist seit vielen Jahren die prominente Theologin Margot Käßmann. In Dortmund deuten unter anderen auch die Journalistin Dunja Hayali, die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann und der Regisseur Jürgen Flimm ausgesuchte Passagen aus der Heiligen Schrift.

Musik und Feiern sind bei jedem Kirchentag zentrale Bestandteile, oft spontan in den Gemeinschaftsunterkünften, in Bahnen und Bussen oder auf offener Straße. Für einen Teil der Besucher sind abendliche Großkonzerte ein Anziehungspunkt. In Dortmund werden neben anderen Culcha Candela und Anna Loos auftreten. Mehr als 2.000 Mitwirkende bringen "Martin Luther King - Das Chormusical" auf die Bühne.



Kirchentagslosung: "Was für ein Vertrauen"


Präses Annette Kurschus (von links), Hans Leyendecker und Julia Helmke präsentieren die Losung zum Kirchentag.
epd-bild/Stefan Arend

Der Deutsche Evangelische Kirchentag 2019 in der Ruhrmetropole Dortmund steht unter der biblischen Losung "Was für ein Vertrauen". Das Zitat stammt aus dem hebräischen Teil der Bibel, aus dem 2. Buch der Könige, Kapitel 18, Vers 19. Dort heißt es nach der Lutherbibel: "Was ist das für ein Vertrauen, das du da hast?". In den Königsbüchern geht es um die Geschichte des Volkes Israel. Hintergrund der Erzählung, aus der die Losung stammt, ist eine Kriegsgeschichte aus dem 8. Jahrhundert vor Christus. Das Thema ist Widerstand gegen die Feinde Israels.

Der Satz stamme aus einer eher unbekannten Geschichte im Alten Testament der Bibel, erläutert die Präses der gastgebenden westfälischen Landeskirche, Annette Kurschus. Darin gehe es um Gewalt und Auseinandersetzung, um feindliche Rivalität zwischen unterschiedlichen Religionen. Der Textzusammenhang sei sperrig und verwirrend. "Und gerade darin erschreckend aktuell", sagt Kurschus. "Es geht um Gottvertrauen. Darum, wie es zum Leben hilft. Wie es darüber hinaus Politik beeinflusst und gesellschaftliches Handeln. Ein Vertrauen, das im Extremfall ohne jede menschliche Rückversicherung auskommt."



Kirchentag in Zahlen

Der Deutsche Evangelische Kirchentag vom 19. bis 23. Juni in Dortmund ist ein Großevent, das erheblichen organisatorischen Aufwand erfordert. Das Protestantentreffen in Zahlen:

- Erwartet werden mehr als 100.000 Teilnehmer

- Am "Abend der Begegnung" zum Auftakt des Kirchentages werden voraussichtlich 200.000 Menschen zusammenkommen

- 40.000 Teilnehmer übernachten in Gemeinschaftsquartieren wie Schulen und Turnhallen, 5.000 schlafen in privaten Unterkünften

- An 200 Orten sind insgesamt fast 2.400 Veranstaltungen geplant, darunter Bibelarbeiten, Podien, Gottesdienste und Konzerte

- Für die Kirchentagsgäste stehen 25.000 Papphocker bereit

- Auf dem "Markt der Möglichkeiten" präsentieren sich etwa 750 zivilgesellschaftliche Gruppen und Initiativen

- Der Etat beträgt rund 20 Millionen Euro. Finanziert wird die Großveranstaltung vor allem aus dem Verkauf von Eintrittskarten sowie Zuschüssen der Stadt Dortmund, des Landes Nordrhein-Westfalen und der westfälischen Landeskirche.

- Die reguläre Dauerkarte kostet 108 Euro, eine Tageskarte 35 Euro

- 4.000 ehrenamtliche Helfer sind im Einsatz

- Für den Eröffnungs- und am Abschlusstag stehen jeweils rund 700 Feuerwehrleute und Rettungskräfte bereit

- Um den Sanitätsdienst und den Fahrdienst für Menschen mit Behinderungen kümmern sich etwa 1.000 Einsatzkräfte der Johanniter-Unfallhilfe



Ökumenischer Klimapilgerweg macht beim Kirchentag Station

Ein ökumenischer Pilgerweg für Klimagerechtigkeit startet am 16. Juni in Münster. Die Wandertour über zwölf Tagesetappen macht am 19. Juni beim Evangelischen Kirchentag in Dortmund Station, wie die Veranstalter am 7. Juni ankündigten. Von dort aus geht es weiter nach Bonn, wo eine Resolution mit Forderungen an Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) übergeben werden soll. Jeder, der die Ziele des Pilgerwegs für Klimagerechtigkeit unterstützen möchte, ist zum Mitpilgern über eine Etappe oder längere Strecken eingeladen, wie es hieß.

Im vergangenen Jahr führte der Ökumenische Pilgerweg für Klimagerechtigkeit von Bonn zur Weltklimakonferenz nach Kattowitz. Unterstützt wurde er unter anderem von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) sowie zahlreichen Organisationen und Initiativen. Auch in diesem Jahr sammeln die Klimapilger unterwegs Unterschriften für ihre Resolution, die dann vom Kirchentag verabschiedet werden soll, wie die Veranstalter des 4. Ökumenischen Pilgerwegs für Klimagerechtigkeit erklärten. Darin wollen die Pilger unter anderem die Verabschiedung eines Klimaschutzgesetzes bis Jahresende und die Abschaltung von mindestens 50 Prozent aller Kohlekraftwerke bis 2025 fordern.

Die erste Tagesetappe führt am 16. Juni über rund 20 Kilometer nach Rinkerode. Auf dem Weg wollen demnach die Klimapilger einen gemeinsamen Gottesdienst feiern und den Wald-Klima-Lehrpfad "Hohe Ward" besuchen. Die Pilgergruppe besteht aus einer festen Gruppe von Langzeitpilgern sowie von wechselnden Tagespilgern. Auf dem Weg steuerten die Wanderer neben "Schmerzpunkten" auch "Kraftorte" der Klimagerechtigkeit an, hieß es. Außerdem wollten sie mit evangelischen und katholischen Gemeinden und Initiativen vor Ort ins Gespräch kommen.




Kirchen

Nordkirche: Neue Landesbischöfin ins Amt eingeführt


Der Leitende Bischof der VELKD, Ralf Meister, übergab Kühnbaum-Schmidt das Amtskreuz.
epd-bild/Marcelo Hernandez/Nordkirche
In ihrer Predigt im Schweriner Dom betonte sie, über alle Grenzen hinweg werde nach Versöhnung und Frieden gesucht - "mögen die Töne der Nationalisten und Populisten in unserem Land oder wo auch immer in dieser Welt auch noch so laut werden".

In einem Festgottesdienst im Schweriner Dom ist am Pfingstmontag Kristina Kühnbaum-Schmidt (54) in ihr Amt als neue Landesbischöfin der evangelischen Nordkirche eingeführt worden. Anschließend gab es auf dem Marktplatz eine Abendmahlsfeier und eine Kaffeetafel für Einheimische und Besucher, an der rund 1.200 Menschen teilnahmen. Vertreter aus Politik und Kirchen überbrachten Grüße. Kühnbaum-Schmidt ist seit 1. April Nachfolgerin von Landesbischof Gerhard Ulrich (68), der im März in den Ruhestand ging. Ihre Dienstzeit beträgt zehn Jahre (bis Ende März 2029).

Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister vollzog als Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands die Einführungshandlung und übergab ihr das Amtskreuz. Er würdigte Kühnbaum-Schmidt als einfühlsame, kluge und mutige Frau, die aufmerksam und achtsam auf Menschen zugehe. Sie habe "Lust an Theologie" und zeichne sich aus durch Offenheit und Freude auf das Neue.

Schöpfung bewahren

In ihrer Predigt sagte die neue Landesbischöfin, dass über alle Grenzen von Konfessionen, Religionen, Weltanschauungen und Nationalitäten hinweg nach Versöhnung und Frieden gesucht werde, "mögen die Töne der Nationalisten und Populisten in unserem Land oder wo auch immer in dieser Welt auch noch so laut werden und noch so schrill sein".

Zugleich erinnerte sie daran, dass die Welt und alles Leben darauf Gottes Schöpfung sei, "die für unser Geld nicht zu haben ist, aber die wir um dieses Geldes willen zerstören". Wer sich zu Christus bekenne, müsse sich fragen, was er dafür tue, Gottes Schöpfung zu behüten und zu bewahren.

Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) wünschte der Landesbischöfin, dass sie die Herzen der Menschen gewinnen und die Nordkirche weiter stärken und lebendig gestalten möge. Schleswig-Holsteins Landtagspräsident Klaus Schlie (CDU) bezeichnete die Landesbischöfin als aufrechte Christin, die sich den Herausforderungen mit Maß und Mitte stellen werde.

Der Hamburger katholische Erzbischof Stefan Heße äußerte sich zuversichtlich, dass die Kirchen "im Zeugnis für Christus mehr und mehr zur Einheit finden". Auch wenn sie noch manches trenne, "sind wir doch gemeinsam unterwegs und lernen voneinander". Als ökumenischer Vertreter der 29 Partnerkirchen der Nordkirche sagte Bischof Godwin Nag aus Indien, die Lage der gegenwärtigen Welt erfordere es, "dass wir alle uns die Hände reichen für Gottes Mission, in Solidarität, Partnerschaft und Nachfolge".

Zuletzt Regionalbischöfin in Thüringen

Kühnbaum-Schmidt ist gebürtige Braunschweigerin. Sie studierte evangelische Theologie in Göttingen und Berlin. 1995 wurde sie in Braunschweig ordiniert und arbeitete dort als Pfarrerin. Ab 2009 war sie zusätzlich als pastoralpsychologische Beraterin und Supervisorin ihrer Landeskirche und als Dozentin für Seelsorge am Predigerseminar tätig.

Seit 2013 war sie Regionalbischöfin des Propstsprengels Meiningen-Suhl in Thüringen. Im Dezember 2018 wurde sie zur Stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes gewählt. Sie ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter.

Die evangelische Nordkirche wurde Pfingsten 2012 gegründet und umfasst die Bundesländer Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Sie hat heute rund zwei Millionen Gemeindeglieder. Amtssitz der Landesbischöfin ist Schwerin. Ihre Predigtstätten sind der Schweriner und der Lübecker Dom.



Kirchen: Haltung zeigen gegen Demokratiefeindlichkeit


Darstellung einer Taube als Symol des Heiligen Geistes in der Kuppel des Berliner Doms
epd-bild/Rolf Zöllner
Die evangelische und katholische Kirche in Deutschland haben die verbindende Kraft des Pfingstfestes betont und zu Offenheit für andere Kulturen aufgerufen. Die Menschen sollten Nationalismus und Populismus widerstehen, lautet ihr Appell.

Leitende Geistliche der evangelischen und katholischen Kirche haben an Pfingsten zu einer klaren Haltung gegen Demokratiefeindlichkeit und Populismus aufgerufen. Derzeit werde die Demokratie als Grundlage des Gemeinwesens infrage gestellt und untergraben, sagte der Berliner Bischof Markus Dröge im Pfingstgottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Er forderte dazu auf, sich Lügen und politisch-ideologischen Tatsachenverdrehungen entgegenzustellen.

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, erneuerte seine Kritik an der Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung schiffbrüchiger Flüchtlinge im Mittelmeer. Es sei "eine Schande", wenn Menschen ertrinken, weil die zivile Seenotrettung unter Strafandrohung gestellt wird, sagte der bayerische Landesbischof am 10. Juni in einer Predigt auf dem bayerischen evangelischen Kirchentag auf dem Hesselberg.

Präses Rekowski: Kirche muss Gottes Frieden in Welt tragen

Nach Worten des rheinischen Präses Manfred Rekowski erinnert das Pfingstfest an den Auftrag der Kirche, den Frieden Gottes in die Welt zu tragen. "Kirche ist keine heile Welt, aber sie verspricht der Welt Heil: Sie verkündet den Frieden Gottes", erklärte der leitende Theologe der Evangelischen Kirche im Rheinland in seiner Pfingstbotschaft. Dieser Frieden sei "ganz handfest und alltäglich zu verstehen als ein Zustand, in dem Menschen sich gegenseitig das geben, was sie für sich und für ein gutes Zusammenleben benötigen".

Der pfälzische Kirchenpräsident Christian Schad appellierte die Europäer, gegen Populismus und Nationalismus zusammenzustehen. Der "Pfingstgeist gegenseitiger Achtung" könne Menschen unterschiedlicher Nationen und Kulturen friedlich zusammenbringen, sagte Schad in Speyer. Statt auf Abschottung und Ausgrenzung zulasten Schwächerer setzten Christen auf ein Miteinander in Vielfalt.

"Es kommt nicht darauf an, dass Menschen Einheit erzwingen, sondern als unterschiedliche Menschen friedlich und gut miteinander leben", erklärte der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Junger. Dazu gehöre auch, "sich nicht über andere zu erheben - etwa in der Meinung, jemand Besseres zu sein und zu denken, die bessere Kultur, die bessere Religion oder gar die bessere Herkunft zu haben", sagte Jung in Darmstadt.

Aufruf zu Glaubensbekenntnissen

Auch der Aachener Bischof Helmut Dieser forderte die Bürger zu mehr Verständnis füreinander auf. In Gesellschaft und Politik in Deutschland und anderen westlichen Staaten könne man derzeit beobachten, dass es niemandem gut tue, wenn man aneinander vorbeirede, sagte Dieser am Pfingstsonntag im Aachener Dom. Das Pfingstfest stünde dagegen als Aufruf zum gegenseitigen Verstehen. "Hier wird ein Wunder erzählt: Über alles Menschenmögliche hinaus führt der Heilige Geist eine Einigungsbewegung herbei."

Nach Auffassung von Kardinal Reinhard Marx sollte die Kirche ein Beispiel für einmütiges Miteinander sein. Es sei "der synodale Weg", der die Kirche "neu in ein Pfingsten hinein" führe, sagte der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz in seiner Pfingstpredigt im Münchner Liebfrauendom: "Wir wollen aufeinander hören mit Respekt und die Sorgen des anderen hören."

Der Paderborner Erzbischof Hans-Josef Becker ermutigte ebenfalls dazu, den Glauben durch Mitmenschlichkeit und solidarisches Handeln offen zu leben. "Christen dürfen nicht lasch und lau werden", mahnte Becker in seiner Predigt im Paderborner Dom. "Wir müssen selber brennen für die Botschaft! Sonst glaubt uns am Ende niemand mehr." Gerade dort, wo Menschen selber nicht mehr weiter wüssten und nichts mehr zu hoffen wagten, da sei der Raum, den Christus füllen könnte.

Pfingsten ist nach Ostern und Weihnachten das drittgrößte christliche Fest. Es wird 50 Tage nach Ostern gefeiert und gilt wegen der Ausgießung des Heiligen Geistes als Geburtstag der Kirche wie auch als Symbol für Neubeginn.



Generalsekretär: Evangelische Allianz ist nicht "rechts"


Hartmut Steeb
epd-bild/Klaus Ulrich Ruof

Die Deutsche Evangelische Allianz hat nach Ansicht ihres scheidenden Generalsekretärs Hartmut Steeb in den vergangenen Jahrzehnten ihr Profil als Bewegung zur Einheit der Christen geschärft. Zum Allianz-Hauptvorstand gehörten inzwischen Vertreter aus 14 verschiedenen Konfessionen und Denominationen, sagte Steeb dem Evangelischen Pressedienst (epd) am 7. Juni in Stuttgart. Steeb übergibt am 12. Juni im thüringischen Bad Blankenburg nach über 30 Jahren das Amt des Generalsekretärs an den promovierten Betriebswirt Reinhardt Schink.

Dass die Evangelische Allianz wegen ihrer konservativen Positionen zu Ehe, Familie, Abtreibung und Homosexualität manchmal zur "Neuen Rechten" in Deutschland gezählt wird, hält Steeb für eine Verunglimpfung. "Anstelle von sachlicher Diskussion wählt man eine solche Zuschreibung und meint, damit könne man sich mit den Sachfragen über die Grundwerte unserer Gesellschaft einfach entziehen", sagte er. Tatsächlich gehe es etwa beim Thema Abtreibung auch um Frauenrechte, da immer mehr weibliche Föten nur aufgrund ihres Geschlechts abgetrieben würden.

"Glauben offensiv vertreten"

Besorgt äußerte sich Steeb darüber, dass in den vergangenen Monaten mehrfach christliche Gruppen in Deutschland daran gehindert worden seien, öffentliche Vorträge zu veranstalten. Christen sollten sich aber nicht zurückziehen, sondern ihren Glauben offensiv vertreten und dazu stehen, auch wenn es Nachteile mit sich bringe, unterstrich er.

Die Evangelische Allianz wird nach Einschätzung Steebs zur Hälfte von Christen aus evangelischen Landeskirchen getragen. Während die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) Mitglieder verliere, stagnierten die Zahlen bei den Freikirchen. Angesichts einer zurückgehenden Bevölkerung sei Stagnation aber "eigentlich schon Wachstum", sagte der Generalsekretär. Zur Deutschen Evangelischen Allianz gehören nach eigenen Angaben mehr als eine Million evangelikaler Christen.

epd-Gespräch: Marcus Mockler


Bamf lehnt fast alle Fälle von Kirchenasyl ab

Mit der Gewährung von Kirchenasylen setzen sich Gemeinden für Flüchtlinge in besonderen Härtefällen ein. Das Bamf lässt in diesen Fällen jedoch kaum noch Verfahren in Deutschland zu, wie aktuelle Zahlen belegen.

Fast alle Kirchenasyl-Fälle werden mittlerweile vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) abgelehnt. Im Jahr 2019 gab das Bundesamt bis Ende April in nur zwei Fällen dem Ersuchen von Kirchengemeinden statt, ein Asylverfahren in Deutschland zu führen, obwohl laut EU-Regelung eigentlich ein anderer europäischer Staat zuständig gewesen wäre. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion hervor, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt. Im gleichen Zeitraum lehnte das Bamf demnach 145 Anträge von Menschen im Kirchenasyl ab. Die Linkspartei warf dem Bamf vor, humanitäre Grundsätze einem Abschiebewahn zu opfern.

Die Quote der Kirchenasyl-Fälle, bei denen das Bundesamt besondere Härtefälle anerkannte und das Asylverfahren in Deutschland übernommen wurde, lag im Jahr 2019 bei lediglich 1,4 Prozent. 2018 waren es nach Angaben der Bundesregierung mit 77 von 647 Fällen noch fast zwölf Prozent. Insgesamt lag die Zahl der gemeldeten Fälle von Kirchenasyl laut Bundesregierung in den ersten vier Monaten 2019 bei 250. Im gesamten Jahr 2018 waren es rund 1.520 Fälle. Zuerst hatte die Funke Mediengruppe (8. Juni) über das Thema berichtet.

"Abschiebewahn"

Etwa jedes dritte Asylgesuch in Deutschland wird den Angaben zufolge vom Bamf abgewiesen, weil der Antrag laut EU-Recht in einem anderen europäischen Land entschieden werden muss. So wurde nach Angaben der Bundesregierung im ersten Quartal 2019 bei fast 35 Prozent aller Asylerstanträge ein sogenanntes Dublin-Ersuchen an einen anderen EU-Staat erstellt. Die größte Gruppe dieser Asylsuchenden sind Nigerianer. Die meisten Ersuchen auf Übernahme des Asylverfahrens stellt Deutschland an Italien. Laut Dublin-Verordnung muss ein Asylverfahren in der Regel in dem EU-Staat entschieden werden, in dem der Geflüchtete zuerst in der EU registriert wurde.

Linken-Innenexpertin Ulla Jelpke forderte das Bamf dazu auf, zu "einem verständigen und sorgsamen Verfahren zurückzukehren". Die Kirchengemeinden setzten sich in vorbildlicher Weise ganz konkret für die Menschenwürde von besonders schutzbedürftigen Geflüchteten ein. "Es kann nicht sein, dass humanitäre Grundsätze dem um sich greifenden Abschiebewahn geopfert werden", kritisierte Jelpke. Die Zahlen ließen vermuten, dass bewusst ein Exempel gegenüber den aktiven Kirchengemeinden statuiert werden solle, um sie und die Flüchtlinge zu entmutigen. "Das ist inakzeptabel und spricht christlichen Werten Hohn", kritisierte die Linken-Politikerin.

Christliche Beistandspflicht

Kirchen hatten in den vergangenen Monaten Verschärfungen für das Kirchenasyl sowie eine immer restriktivere Anerkennungspraxis beklagt. Beim Kirchenasyl werden Flüchtlinge ohne legalen Aufenthaltsstatus von Kirchengemeinden zeitlich befristet beherbergt. Ziel ist, in Härtefällen eine unmittelbar drohende Abschiebung in eine gefährliche oder sozial unzumutbare Situation zu verhindern und eine erneute Prüfung des Falles zu erreichen. Der Aufenthaltsort der Flüchtlinge wird den Behörden gemeldet. Meistens soll beim Kirchenasyl die Rückführung in ein anderes EU-Land verhindert werden, das für das Asylverfahren zuständig wäre, in dem den Betroffenen aber Obdachlosigkeit, mangelnde Versorgung oder die Abschiebung in ihr Herkunftsland drohen.

Kirchenasylgemeinden sehen die Hilfe für Flüchtlinge als christliche Beistandspflicht an, die in der Bibel geboten werde. Von den Behörden wird die Praxis des Kirchenasyls als Ausnahme in seltenen Fällen weitgehend geduldet. Die Kirchen sind aber kein rechtsfreier Raum, der Staat kann also jederzeit die Abschiebung vollziehen.



Seenotrettung: Politiker und Kirchen unterstützen Palermo-Appell

Der Palermo-Appell zur Entkriminalisierung der Seenotretter und einer europäischen Notlösung für Bootsflüchtlinge erhält Unterstützung in Politik, Gesellschaft und in den Kirchen. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) veröffentlichte am 4. Juni ein Unterstützer-Video auf Youtube, in dem der Grünen-Parteivorsitzende Robert Habeck, die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) und die Erzbischöfin der Schwedischen Kirche, Antje Jackelén, den Aufruf befürworten. Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm hatte auf Sizilien gemeinsam mit dem Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, eine Erklärung veröffentlicht. Darin fordern sie unter anderem, dass die Seenotrettung auf dem Mittelmeer eine staatliche Angelegenheit bleiben müsse.

Beide fordern, für diesen Sommer eine "politische Notlösung" für die Seenotrettung zu organisieren. Es brauche zusätzlich eine vorübergehende Verteilung von Bootsflüchtlingen auf Städte und Kommunen in Europa, die "sichere Häfen" sein wollten, heißt es in der Erklärung. Die Kölner Oberbürgermeisterin Reker betonte, Köln wolle ein solcher "sicherer Hafen" sein.

"Würde Europas"

Die Präses der westfälischen Landeskirche, Annette Kurschus, sagte in dem Unterstützer-Video: "Mit jedem Menschen, der ertrinkt, stirbt ein Stück der Würde Europas." Zu den Unterstützern zählen neben Vertretern von Caritas, den Seenotrettern von Sea-Watch und der Seebrücke auch ehemalige Spitzenpolitiker wie Gesine Schwan (SPD) und Ruprecht Polenz (CDU).

Der EKD-Ratsvorsitzende und bayerische Landesbischof Bedford-Strohm war vor einer Woche nach Sizilien gereist, um dort die Besatzung des Schiffs "Sea-Watch 3" zu treffen. Die italienische Regierung hatte das Schiff zunächst beschlagnahmt, nachdem die Crew Mitte Mai 65 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet hatte und tagelang vor der italienischen Küste auf die Einfahrt in einen Hafen warten musste. Kurz vor dem Besuch des Ratsvorsitzenden war das Schiff von den Behörden freigegeben worden. Die deutsche zivile Seenotrettungsorganisation Sea-Watch wird unter anderen von der EKD unterstützt.



Sea-Eye und Sea-Watch gründen Initiative "Kirche rettet"

Die Hilfsorganisationen Sea-Eye und Sea-Watch haben die Initiative "Kirche rettet" ins Leben gerufen. Sie wollten damit den Kirchen in Deutschland für ihre Unterstützung danken und das Engagement sichtbar machen, teilte Sea-Eye am 5. Juni in Regensburg mit. Insgesamt habe Sea-Eye in diesem Jahr bereits 190.000 Euro aus dem Raum der deutschen Kirchen erhalten. "Ohne die verschiedenen Kirchen wären in diesem Jahr keine Rettungseinsätze möglich gewesen", betonte Sea-Eye-Vorsitzender Gorden Isler laut Mitteilung. "Würden europäische Regierungen die Menschenrechte genauso ernst nehmen wie Kirche die Botschaft der Bibel, wären wir vermutlich überflüssig."

Die christlichen Kirchen in Deutschland seien ein wichtiger Bündnispartner für beide Hilfsorganisationen geworden. Sie würden sich "klar und unmissverständlich" zu den zivilen Seenotrettern bekennen und unterstützten auch die Suchflugzeuge und Rettungsschiffe finanziell. Die Spenden aus der gemeinsamen Kampagne kommen laut Angaben insgesamt vier Hilfsorganisationen zu Gute. Dazu gehören neben den Initiatoren auch AlarmPhone und Solidarity at Sea.

Geld für Suchflugzeug

Im Einzelnen führten die Hilfsorganisationen die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) an, die das Suchflugzeug "Moonbird" mit 100.000 Euro unterstützt habe. "Mehr als 1.000 Menschen wären mit Sicherheit tot, hätte unser Flugzeug sie nicht in letzter Sekunde entdeckt", erklärte Sea-Watch-Vorsitzender Johannes Bayer. Die Diözese München-Freising habe die Einsätze des Rettungsschiffs "Alan Kurdi" von Sea-Eye im Januar mit 50.000 Euro unterstützt, das Mennonitische Hilfswerk die Organisation Sea-Eye in den letzten beiden Jahren mit mehr als 50.000 Euro gefördert.



Kirchenrat fordert mehr Einsatz der Gesellschaft gegen Verrohung

Der Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Erinnerungsarbeit im Saarland, Frank-Matthias Hofmann, fordert von der Zivilgesellschaft einen konsequenteren Einsatz gegen Enthemmung und Verrohung. Auch die politisch Verantwortlichen müssten Extremismusprävention, Erinnerungskultur und den Schulunterricht verstärken, sagte der Beauftragte der Evangelischen Kirchen im Saarland dem Evangelischen Pressedienst (epd). In einer Zeit der Relativierungen von Verbrechen des NS-Regimes brauche es mehr denn je eine professionelle, kenntnisreiche und engagierte Erinnerungsarbeit.

"Es gibt kein Ende des Erinnerns"

"Für die NS-Verbrechen gilt nach wie vor: Es gibt kein Ende des Erinnerns", betonte Hofmann. Die Erinnerung an die Verbrechen sei weder Schande noch Schwäche. Sie stärke die Sensibilisierung für die Würde und die elementaren Rechte des Menschen heute. "Daran mitzuwirken, ist deshalb auch ein Dienst am Menschen und an unserem demokratischen Rechtsstaat", sagte der Theologe.

Dabei gehe es nicht um eine Perpetuierung eines Schuldgefühls oder eines "schlechten Gewissens". "Es geht um Erschrecken und Trauer, dass es möglich war, dass auf und vom deutschen Boden aus so schweres Unrecht stattfand beziehungsweise ausging", erklärte der LAG-Sprecher. Zwar gebe es keine Kollektivschuld, wohl aber eine kollektive Scham. Aus dem Wissen um die NS-Verbrechen müsse ein Verantwortungsgefühl erwachsen, das dazu führt, sich allen Bestrebungen in Richtung Verharmlosung der NS-Zeit, Leugnen der Schoah, Niedermachen Andersdenkender oder dem Verbreiten von Hassparolen entgegenstellt. "Wir brauchen eine nach innen wehrhafte Demokratie", sagte Hofmann.

Gute Erinnerungsarbeit zeichne aus, wenn sie von einem Erinnerungs- zu einem Erkenntnisprojekt werde, erklärte Hofmann. "Gute Erinnerungsarbeit hält sich auch an den Beutelsbacher Konsens, dass man niemanden mit der eigenen Meinung 'überwältigen' darf, sondern argumentativ arbeitet." Dazu sei es nötig, von sich selbst abstrahieren zu können, sich einmal in den Andersdenkenden hineinzuversetzen und zu verstehen suchen, was den anderen zu seiner Meinung bringe, ohne seine eigene Position vorschnell aufzugeben. Gute Erinnerungsarbeit sei politische Bildung und arbeite an der Demokratiebefähigung der Menschen, betonte Hofmann.

Zur Vernetzung der Arbeit zur Erinnerung an die NS-Zeit hatten sich im vergangenen September Vereine, Organisationen und Schulen im Saarland zur Landesarbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen. Sie soll die Erinnerungsarbeit im Saarland bündeln, stärken und bekannt machen.

epd-Gespräch: Marc Patzwald


1.000 Jahre alter Sarkophag in Mainz geöffnet


Spanndender Moment: Die Wissenschaftler bei der Arbeit.
epd-bild/Andrea Enderlein
Mit einer spektakulären Sarkophag-Öffnung wollte ein internationales Forscherteam einige der Rätsel lösen, die die uralte Mainzer Johanniskirche umgeben. Jetzt steht fest: Der archäologische Krimi wird noch eine Weile dauern.

Es ist ein Anblick, der sich so nicht alle Tage bietet: Eine Gruppe Männer und Frauen in weißen Schutzanzügen und mit Atemmasken verfolgt gebannt, wie die 700 Kilogramm schwere Steinplatte sich langsam noch oben bewegt und nach wenigen Augenblicken den Blick freigibt auf das Innere eines Sarkophags. Das Grab im Mittelschiff von St. Johannis in Mainz - so hoffen die Beteiligten am Morgen des 4. Juni - könnte den entscheidenden Beleg dafür liefern, dass die evangelische Kirche der Vorgängerbau des benachbarten Mainzer Doms ist.

Deshalb versucht ein internationales Forscherteam, die in dem Sarkophag bestattete Persönlichkeit zu identifizieren. Im Vorfeld hatten die Wissenschaftler die Theorie aufgestellt, dass es sich bei dem Toten um den 1021 verstorbenen Erzbischof Erkanbald handeln könnte. Von ihm ist überliefert, dass er noch im alten Mainzer Dom aus dem Frühmittelalter bestattet wurde.

Die Erkanbald-Theorie

Mitarbeiter der Mainzer Dombauhütte haben kein Problem damit, den steinernen Deckel anzuheben. "Als er weg war, hat sich niemand richtig getraut etwas zu sagen", schildert der wissenschaftliche Forschungsleiter Guido Faccani später die ersten Momente. Archäologen, Anthropologen und Textilexperten blicken auf stark zersetzte menschliche Überreste und Stofffragmente. Dann beginnen sie mit ihren Untersuchungen.

Auch Pressevertreter und geladene Ehrengäste, die das Vorgehen der Forscher aus einiger Entfernung verfolgen, versuchen sich an ersten Interpretationen. Schnell macht die Meinung die Runde, dass es sich bei einem goldfarbenen Streifen im Kopfbereich des Toten um die Verzierung einer Mitra handeln könnte. Reste einer Bischofs-Kopfbedeckung wären ein perfekter Beleg für die Erkanbald-Theorie. Dann kommt zwischenzeitlich sogar die später dementierte Nachricht auf, unter dem Sarkophag befände sich noch ein zweites Bischofsgrab.

Doch als der Schweizer Archäologe Faccani und der evangelische Mainzer Dekan Andreas Klodt am frühen Nachmittag zur Pressekonferenz einladen, gibt es statt wilder Spekulationen zunächst nur nüchterne Fakten. "Es ist eine Priesterbestattung mit höchster Wahrscheinlichkeit", erklärt Faccani. Darauf deuteten Überreste von verzierten Gewändern hin. Allerdings könne der Tote weder identifiziert werden, noch lasse sich das Grab genau datieren.

"Immer noch möglich"

Einen Bischofsring oder gar eine Metallplatte mit dem Namen des Toten fanden die Forscher nicht. Der Leichnam sei offenbar mit Ätzkalk bedeckt worden, um die Verwesung zu beschleunigen. Daher sei beispielsweise der Kopf komplett zersetzt worden. Nicht einmal Zähne habe das Grab noch enthalten: "Auch Hände haben wir bis jetzt noch nicht gesehen." Dennoch konnten Gewebeproben entnommen werden.

Deren Untersuchung könnte zusammen mit einer Analyse der gefundenen Schuh- und Textilfragmente in den kommenden Wochen doch noch zur Identifizierung des Toten beitragen. "Es ist immer noch möglich, dass er es ist", sagt Faccani zur These, es handele sich um das gesuchte Bischofsgrab. Zumindest habe keiner der Funde dieser Theorie widersprochen. "Uns ist ein Erzbischof genauso lieb wie jeder andere Kleriker oder auch Laie", kommentiert der evangelische Mainzer Dekan Andreas Klodt die ersten Befunde.

Der Direktor des Mainzer Dom- und Diözesanmuseums, Georg Wilhelmy, hatte hingegen bereits am Morgen erklärt, das Innere des Sarkophags erinnere stark an das Anfang des 20. Jahrhunderts geöffnete Grab von Erkanbalds Nachfolger Aribo. Der war nach seinem Tod 1031 bereits im - noch nicht fertig gebauten - heutigen Mainzer Dom bestattet worden. Eine ähnliche Goldborte wie im Sarkophag von St. Johannis sei auch im Aribo-Grab entdeckt worden und liege heute in seinem Museum.

Egal, was die Forscher in St. Johannis noch in dem geheimnisvollen Sarkophag entdecken werden - alle Funde sollen dort verbleiben und das Grab nach Abschluss der Forschungen wieder verschlossen werden. Und egal, ob sie Erkanbalds letzte Ruhestätte in der Kirche sicher verorten können. Die Wahrscheinlichkeit, dass St. Johannis der alte Mainzer Dom ist, bleibt weiterhin äußerst hoch. Darauf deuten zu viele Erkenntnisse aus den 2013 begonnenen umfangreichen archäologischen Grabungen.

Karsten Packeiser (epd)


Taizé-Bruderschaft legt Missbrauchsfälle offen

In der ökumenischen Bruderschaft von Taizé in Frankreich sind mehrere Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen bekanntgeworden. Das teilte der Prior der Bruderschaft, Frère Alois, am 4. Juni in einer Erklärung mit. Darin macht die Bruderschaft fünf Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige öffentlich, für die drei Mitglieder der Bruderschaft verantwortlich seien. Die Fälle erstrecken sich über einen Zeitraum von den 1950er bis in die 1980er Jahre. Zwei der mutmaßlichen Täter seien bereits vor mehr als 15 Jahren gestorben, teilte der Prior mit.

Alle Fälle seien bei der Staatsanwaltschaft angezeigt worden, heißt es in der Mitteilung. So verlange es das französische Recht. Aus dem Schreiben geht nicht hervor, wann der Prior von den Fällen erfahren hat. Man habe den Betroffenen zugehört und ihnen "vorbehaltlos Glauben geschenkt", schreibt er: "Wenn wir hören, was sie erlebt und erlitten haben, empfinden wir Scham und tiefen Schmerz." Man bekenne sich dazu, dass diese in der Vergangenheit durch Brüder begangenen Übergriffe zur Geschichte der Bruderschaft gehören. Frère Alois rief weitere mögliche Betroffene auf, sich zu melden.

Gemeinsames Gebet

In den französischen Ort Taizé fahren jedes Jahr Zehntausende Jugendliche zum gemeinsamen Gebet. Bekannt sind vor allem die meditativen lateinischen Gesänge, die in Kirchengemeinden auf der ganzen Welt mittlerweile zum Liedgut gehören und in viele Gesangbücher übernommen wurden. Die Ökumene und der interreligiöse Dialog sind Kernanliegen des Männerordens.

Die Bruderschaft wurde in den 1940er Jahren von dem reformierten Theologen Roger Schutz gegründet. Schutz starb 2005 mit 90 Jahren an den Folgen eines Attentats. Sein Nachfolger ist der deutsche katholische Theologe Alois Löser, der die Gemeinschaft seither als Prior leitet. Heute gehören zur ökumenischen "Communauté de Taizé" rund 100 Brüder aus etwa 25 Ländern. 65 Brüder leben in Taizé. 35 Brüder arbeiten in den Armenvierteln der Welt.



Gemeinsamkeiten und Unterschiede kennenlernen


Die Oberstufen-Schülerinnen Simge, Aileen und Dilara (von links.) spielen eine Szene aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn nach.
epd/Stefan Arend
Seit einem knappen Jahr ist in NRW gemeinsamer Religionsunterricht für evangelische und katholische Schüler möglich. Die Evangelische Gesamtschule Gelsenkirchen geht noch einen Schritt weiter: Hier wird interreligiös gelernt.

Dilara redet eindringlich auf die beiden Mädchen neben ihr ein. "Danke, dass ihr mit eine zweite Chance gegeben habt", sagt die 17-Jährige. Simge (16) ist dagegen sauer: "Ich musste schuften und für ihn hast du ein Fest veranstaltet", beschwert sie sich bei der gleichaltrigen Aileen. Die drei spielen im Religionsunterricht eine Szene aus der biblischen Geschichte vom verlorenen Sohn nach. Dass nur Aileen katholisch ist und die beiden anderen Musliminnen sind, ist in der elften Klasse an der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen keine Ausnahme, sondern normal. Der interreligiöse Religionsunterricht gehört zu den Besonderheiten der Schule, die beim Deutschen Schulpreis am 5. Juni einen Anerkennungspreis erhielt.

Die Schule in Gelsenkirchen-Bismarck in Trägerschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen versteht sich als Stadtteilschule, die Schülerschaft "spiegelt die gesamte Heterogenität im Stadtteil", sagt Schulleiter Volker Franken. Die gut 1.200 Schülerinnen und Schüler kommen aus 33 verschiedenen Nationen, aus allen sozialen Schichten. Hier werden auch Flüchtlingskinder sowie Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Behinderungen unterrichtet.

Iterreligiöses Lernen

Ungefähr 40 bis 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind evangelisch, je 20 Prozent katholisch oder muslimisch. Schüler anderer Glaubensrichtungen gibt es vereinzelt, die übrigen gehören keiner Religionsgemeinschaft an. Zum Profil der evangelischen Gesamtschule gehören nicht nur mehrere Gottesdienste im Jahr, religiöse Schulwochen und eine Schulpfarrerin, sondern eben auch ein besonderes Konzept beim Religionsunterricht.

Da immer weniger Kinder aus evangelischen oder katholischen Familien kommen, ist in NRW seit dem vergangenen Jahr konfessionell-kooperativer Religionsunterricht für evangelische und katholische Schüler gemeinsam möglich. Mehr als 180 Schulen sind im Schuljahr 2018/19 damit gestartet. Die Evangelische Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck geht aber noch einen Schritt weiter: zum interreligiösen Lernen.

Von der fünften bis zur achten Klasse gibt es getrennten evangelischen, katholischen und islamischen Religionsunterricht, damit die Schülerinnen und Schüler die eigene Religion und Konfession kennenlernen. "Die meisten haben keine religiösen Vorkenntnisse", hat Schulleiter Franken festgestellt, der selbst evangelische Religion unterrichtet. Das gilt auch für die muslimischen Schüler, bestätigt Nergiz Sari, die islamische Religionslehrerin: "Es ist wenig, was die Schüler mitbringen aus den Gemeinden und Moscheen." Die meisten muslimischen Schüler sind türkischstämmig, andere kommen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder Ägypten.

In den Jahrgängen neun und zehn findet der Religionsunterricht im Klassenverband religionsübergreifend statt, evangelische, katholische und muslimische Lehrkräfte unterrichten teilweise gemeinsam. Schwerpunkt ist das gegenseitige Kennenlernen der Konfessionen und Religionen und das Entdecken von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, es geht beispielsweise um die Gottesvorstellungen in den abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam.

Positives Feedback

Auch in der Oberstufe geht es gemeinsam weiter. Neben evangelischen, katholischen und muslimischen Fachlehrern kommt im Jahrgang elf außerdem noch der Philosophie-Kollege dazu. In vier thematischen Modulen geht es um die Heiligen Schriften Koran, Bibel und Thora und die Auslegung der Texte, Grundlagen der Philosophie, Toleranz und Pluralität, Anthropologie und Ethik. Je zwei Lehrer gestalten ein Modul gemeinsam und "wandern" damit als Team durch die vier parallelen Religionskurse.

Die Reaktion auf diesen Projektunterricht sei positiv, sagt Franken. "Die Schüler empfinden es als abwechslungsreich." Bei der Doppelbesetzung nähmen sie außerdem die konstruktive Zusammenarbeit zwischen den beiden Lehrern wahr, betont sein katholischer Kollege Klaus Bludau: "Sie sehen den Dialog zwischen den Lehrern, die vielleicht unterschiedliche Meinungen haben und sich trotzdem vertrauen." Carina und Svenja gefällt der Unterricht bei wechselnden Lehrern jedenfalls. "Philosophie fand ich spannend", sagt die 17-jährige Carina. "Ich finde gut, alle Themen und Sichten zu behandeln", meint ihre Mitschülerin Svenja (18).

In der Qualifikationsphase vor dem Abitur wird der Religionsunterricht dann wieder getrennt angeboten, damit die Schülerinnen und Schüler das Fach auch als Abiturfach belegen können. Die Gesamtschule wird ab dem kommenden Schuljahr voraussichtlich eine der ersten sein, die den islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in der Sekundarstufe 2 anbietet. Nergiz Sari, die neben Pädagogik und Biologie bisher auch islamischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe 1 erteilt, nimmt derzeit am ersten Zertifikatskurs in NRW teil.

Esther Soth (epd)


Mega-Tauffest am Elbstrand


Tauffest an der Elbe in Hamburg
epd-bild/Philipp Reiss
Zu Tausenden strömten Menschen am Pfingstsamstag an das Rissener Elbufer - viele mit Kinderkarren, Bollerwagen und prall gefüllten Picknickkörben. Ihr Ziel: Eines der größten Tauffeste, das die evangelische Kirche je gefeiert hat.

Barfuß standen die Pastoren in der Elbe und tauften. Babys, Kinder, Jugendliche und Erwachsene - rund 500 Täuflinge waren angemeldet zu einem der größten Tauffeste in der Geschichte der evangelischen Kirche. Mancher Talar wurde nass im knöcheltiefen Wasser - oder ziemlich sandig: Auch auf dem Strand am Rissener Ufer gab es Stehtische mit Taufschalen, um die sich die Eltern, Familien und Freunde gruppierten. 92 Pastorinnen und Pastoren von 65 Kirchengemeinden aus Hamburg und dem Umland waren aktiv - begrüßt von einem 20-köpfigen Posaunenchor aus Groß Flottbek, der das Eintreffen der Besucher begleitete.

Etwa 5.000 Menschen feierten das Mega-Tauffest an der Elbe und behalten damit ein unvergessliches Erlebnis. So ähnlich beschrieb es auch Hamburgs Bischöfin Kirsten Fehrs: "Lass dich von deinen Eltern und deinen Paten an diesen besonderen Elbtauf-Tag erinnern, wenn ihr später einmal hier am Strand spazieren geht", sagte sie in ihrer Predigt.

"Reise durch die Stürme des Lebens"

Zuvor erinnerte die Bischöfin an die Bedeutung der christlichen Taufe und des Wassers: Ohne Wasser gebe es kein Leben, keine Pflanzen, keine Tiere und keine Menschen, sagte sie. Und bei der Taufe gehe es darum, sein Leben Gott anzuvertrauen: "Gott verspricht in der Taufe, dass die Reise durch die Stürme des Lebens gelingt."

Für das Gelingen des Tauffestes unter dem Motto "Moin Welt!" sorgten 180 ehrenamtliche Helfer, zumeist in hellblauen T-Shirts mit dem aufgedruckten Motto samt einer Friedens-Möwe. Sie hatten 500 Biertischgarnituren aufgestellt und für 500 Portionen Gebäck, Erdbeeren und Getränkekisten gesorgt. Farbige Tafeln auf riesigen Zeltleinwänden wiesen den Weg zur Gottesdienstbühne, zum Fahrradparkplatz, zum Baby-Wickeltisch oder zur DLRG-Station. Es gab einen Kinderspielbereich, einen Service für Rollstuhlfahrer und ein eigenes Pastoren-Zelt zum Umkleiden.

Kurz vor Beginn des Gottesdienstes blinzelte sogar die Sonne durch den verhängten Himmel. Etwas windig war's - aber es blieb trocken. In der Nacht zuvor hatte sich ein Sommergewitter über Hamburg abgeregnet. "Perfektes Wetter", kommentierte Propst Karl-Heinrich Melzer, der gemeinsam mit Pröpstin Ulrike Murmann die Liturgie im Gottesdienst hielt. "Hochsommer mit 35 Grad im Schatten hätte hier kaum jemand unterm Talar ausgehalten", sagte Melzer.

"Open Air" wie am Jordan

Die Bischöfin verglich die Festgemeinde der 5.000 versammelten Besucher mit der Taufe Jesu vor 2000 Jahren. Sehr viel munterer als hier an der Elbe könne es damals am Jordan auch nicht gewesen sein: "Taufe open air - so ging es ja los", sagte sie. Zwar werde niemand ganz ohne Probleme durchs Leben kommen. Doch mit dem Segen der Taufe werde den Menschen die Kraft Gottes zugesprochen, Höhen und Tiefen zu bestehen. Sie wünschte den Täuflingen, dass "auch nicht eine deiner Hoffnungen je verloren geht und der Himmel dein Herz weit macht."

Initiatoren der Elbufer-Taufe waren die beiden Hamburger Kirchenkreise. Bereits 2011 hatte Hamburg-West/Südholstein ein Tauffest mit 243 Kindern am Elbstrand gefeiert - diesmal war auch der City-Kirchenkreis Hamburg-Ost dabei. Für den Autoverkehr war das Gebiet am Rissener Ufer jetzt weiträumig abgesperrt. Doch die Menschen kamen trotzdem: Zur Taufe, dem Fest des Lebens.

Klaus Merhof (epd)


EKD will Thema Frieden stärker ins Bewusstsein rücken

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) will das Thema Frieden stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken. Wichtig sei der Zusammenhang von Frieden und Gerechtigkeit, insbesondere auch der Klimagerechtigkeit, sowie die Lösung von Konflikten mit friedlichen Mitteln statt mit Gewalt, teilte die EKD am 5. Juni in Hannover mit. Im November 2019 werde die Friedensthematik als Schwerpunkt unter dem Titel "Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens" auf der EKD-Synode breiten Raum einnehmen.

"Das Wissen um die zivile Bearbeitung von Konflikten ist inzwischen enorm groß, weil interkulturelle Aspekte in der Friedensforschung einen breiten Raum eingenommen haben", betonte Irmgard Schwaetzer, die Präses der EKD-Synode: "Es ist gar nicht einzusehen, dass in der Politik so wenig davon Gebrauch gemacht wird." Mit Blick auf die EKD-Synode im November solle bereits ab Pfingsten auf www.ekd.de/frieden "ein Panorama vielfältiger, bedenkenswerter und impulsgebender Friedensfragen und -themen entstehen", fügte die EKD hinzu. Tägliche kurze Impulse auf Instagram sollen zum Nachdenken und zur Besinnung anregen.

"Suche Frieden und jage ihm nach"

Die EKD erinnerte an die biblische Jahreslosung 2019 aus dem Psalm 34,15: "Suche Frieden und jage ihm nach." Weltweite Kriege und Konflikte und die dadurch ausgelösten Fluchtbewegungen "ebenso wie die Polarisierung der innergesellschaftlichen Debatten verleihen der Frage nach dem Frieden Dringlichkeit", hieß es weiter. Im September 2019 erscheine bei der Evangelischen Verlagsanstalt ein Lesebuch mit dem Titel "Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens". Darin gebe es unter anderem ethische Texte zum Umgang mit neuen autonomen Waffensystemen.



Evangelischer Friedensbeauftragter kritisiert Bundeswehr-Werbung

Eine aktuelle Werbekampagne der Bundeswehr stößt auf scharfe Kritik bei der evangelischen Kirche. "Ich finde es empörend und völlig unangemessen, mit dem Slogan 'Gas, Wasser, Schießen' Handwerker für die Bundeswehr zu suchen", erklärte der Friedensbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Renke Brahms, am 7. Juni in Bonn. Er forderte das Bundesverteidigungsministerium auf, die Kampagne zu stoppen.

"Das Wort Gas im Zusammenhang mit Schießen und Militär lässt wenig Fingerspitzengefühl und geschichtliches Bewusstsein bei den Verantwortlichen erkennen", kritisierte Brahms, der auch leitender Theologe der Bremischen Evangelischen Kirche ist. Es seien deutsche Soldaten gewesen, die im Ersten Weltkrieg 1915 erstmals Gas in einem Krieg eingesetzt hätten. Und in den Gaskammern der Konzentrationslager seien während des Zweiten Weltkrieges Millionen Menschen umgekommen. "Hier wäre eine andere Wortwahl mit Sicherheit angebrachter gewesen", erklärte der evangelische Theologe.



Papst kritisiert Waffenexportländer als verlogen

Papst Franziskus hat waffenexportierende Staaten, die vorgäben, sich um Frieden zu bemühen, als verlogen kritisiert. Der "Zorn Gottes" werde einst gegen die politisch Verantwortlichen der Länder entfesselt, die "über Frieden sprechen und Waffen für diese Kriege verkaufen", sagte er am 10. Juni Vatikanangaben zufolge. Bei einer Audienz für die Vereinigung der Hilfswerke für die katholischen Ostkirchen warf er zudem europäischen Staaten Heuchelei vor, deren Häfen für Bootsflüchtlinge gesperrt seien, nicht aber für Schiffe mit Massenvernichtungswaffen.

Angesichts des seit acht Jahren andauernden Krieges in Syrien beklagte das Kirchenoberhaupt das Leiden der dortigen Bevölkerung. "Die, die keine Nahrung, keine Gesundheitsversorgung und keine Schule haben, die Waisen, Verletzten und Witwen schreien zum Himmel." Bei der Begegnung mit den Hilfswerken für die Ostkirchen äußerte der Papst überdies den Wunsch, im kommenden Jahr den Irak zu besuchen. In der Vergangenheit scheiterten Reisepläne in das Nachbarland Syriens an der dortigen Sicherheitslage.



Hammer Superintendent Millrath tot

Der Superintendent des Kirchenkreises Hamm, Frank Millrath, ist tot. Der Theologe starb am 8. Juni im Alter von 55 Jahren nach langer schwerer Krankheit, wie der Kirchenkreis mitteilte. Millrath stand seit 2013 als Superintendent an der Spitze des Kirchenkreises. Vorher war er über 17 Jahre Pfarrer an der Hammer Johanneskirche in Hamm Norden. Bis zu einer Besetzung der Stelle des Superintendenten wird der Kirchenkreis wird kommissarisch von dem stellvertretenden Synodalassessor Pfarrer Walther-Sollich geleitet.

"Wir trauern um unseren hoch geschätzten Superintendenten Frank Millrath und sind in unseren Gedanken bei seiner Frau und seinen Kindern", erklärte der stellvertretende Superintendent Walther-Sollich. Beispielhaft für Millraths Theologie sei der zum Kirche-Wagen umgebaute Bauwagen, der unter seiner Federführung zum 500-jährigen Reformationsjubiläum an den Start gegangen sei. Unter dem Motto "Wir gehen dahin, wo die Menschen sind" sei der Kirche-Wagen seither an zahlreichen Orten im Einsatz gewesen, an denen Kirche nicht unbedingt erwartet werde, wie zuletzt beim Radrennen in Bockum-Hövel.

Der im Jahr 1964 geborene Millrath studierte in Wuppertal, Marburg und Bochum Theologie. Von 1992 bis 1996 war er zunächst Vikar, später Pfarrer im Entsendungsdienst in Gladbeck-Brauck. Bereits vor seiner Wahl zum Superintendenten sei Millrath im Kirchenkreis unter anderem als Vorsitzender des kreiskirchlichen Strukturausschusses, im Kreissynodalvorstand und bei der 2011 verabschiedeten Konzeption des Kirchenkreises aktiv gewesen, hieß es. Der Theologe trat im Jahr 2013 als Superintendent die Nachfolge von Rüdiger Schuch an, der als Vorstandsvorsitzender zum Evangelischen Perthes-Werks nach Münster wechselte. Millrath habe sich zudem in zahlreichen Ämtern innerhalb und außerhalb der Kirche engagiert.



Rund 15.000 Besucher bei saarländischen Kirchennacht

Mehr als 15.000 Menschen haben nach Veranstalterangaben am Pfingstsonntag an der ökumenischen Nacht der Kirchen im Saarland teilgenommen. Bei der elften Auflage der Kirchennacht hatten 50 Gotteshäuser in der Zeit von 18 bis 23 Uhr geöffnet, wie die evangelischen Kirchenkreise an der Saar am 10. Juni mitteilten. Auf dem Programm standen Gottesdienste, Gospel- und Barockmusik. Aber auch Rapp-Darbietungen und Poetry-Slams, Theatervorführungen und Comedy wurden geboten, um den Besucherinnen und Besuchern die Kirchenräume neu erfahrbar zu machen, wie es hieß. Viele evangelische und katholische Gemeinden gestalteten ihr Kulturangebot gemeinsam. Erstmals beteiligte sich die Neuapostolische Kirche.

Der Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Saar-Ost, Markus Karsch, freute sich über die gute Resonanz: "Kinder, Jugendliche, Senioren, sogar ganze Familien machten mit!" Auch Kirchenferne und Menschen anderer Religionen hätten das Angebot wahrgenommen.

Zum ersten Mal war die "Nacht der Kirchen" im Saarland mit einer Open-Air-Veranstaltung eröffnet worden. Zu dem Konzert der Messdiener-Band "Holytones" waren den Angaben zufolge über 600 Menschen am 9. Juni auf den Saarbrücker Ludwigsplatz gekommen.




Gesellschaft

Heftige Debatte: Bundestag verabschiedet Migrationsgesetze


Der Bundestag verabschiedete das Gesetzespaket zu Fachkräfteeinwanderung, Asyl und Abschiebung.
epd-bild / Christian Ditsch
Union und SPD müssen sich für ihren Doppelbeschluss in der Migrationspolitik heftige Kritik aus der Opposition gefallen lassen - von links und von rechts. Die Koalition hat es in einem vielkritisierten Parforceritt aber erst mal ins Ziel geschafft.

Bei der abschließenden Beratung der Migrationsgesetze am 7. Juni im Bundestag haben sich Regierung und Opposition in einer emotionalen Debatte einen heftigen Schlagabtausch geliefert. Der Bundestag verabschiedete mit den Stimmen der Koalition und der AfD verschärfte Regelungen für mehr Abschiebungen. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, über das im zweiten Schritt abgestimmt wurde, erhielt keine Zustimmung aus der Opposition. FDP, Grünen und der Linken geht es nicht weit genug. Die AfD lehnt eine weitere Öffnung des Arbeitsmarkts für Zuwanderer ab.

Union und SPD verteidigten die verschärften Regelungen für Abschiebungen und lobten ihr Einwanderungsgesetz für Fachkräfte als Zäsur in der Migrationspolitik. Grüne und Linksfraktion sehen durch das sogenannte Geordnete-Rückkehr-Gesetz hingegen Grund- und Menschenrechte verletzt.

Grüne sprechen von "Farce"

Sie warfen Union und SPD vor, mit einer übereilten Verabschiedung der Gesetze vor allem die Handlungsfähigkeit der großen Koalition demonstrieren zu wollen. Von einer seriösen Beratung des umfangreichen Pakets könne keine Rede sein. Die Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, sprach von einer "Farce". Die Innenausschussvorsitzende Andrea Lindholz (CSU) wies das entschieden zurück.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sagte, die Öffnung des Arbeitsmarkts für ausländische Fachkräfte, sei nach seiner Überzeugung "das notwendigste und wichtigste Gesetz". Entscheidend sei nun die Umsetzung. Es dürfe nicht anderthalb Jahre dauern, bis eine Fachkraft wirklich einreisen könne. Menschen ohne Aufenthaltsrecht müssten das Land hingegen verlassen, betonte Seehofer. Nur mit der Begrenzung von Zuwanderung könne eine erfolgreiche Integration gelingen.

SPD-Abgeordnete bekannten sich zu dem Kompromiss. Für ein Einwanderungsgesetz habe man 20 Jahre gekämpft. Künftig sollen Fachkräfte aus Nicht EU-Ländern nach Deutschland kommen können, wenn sie die entsprechenden Qualifikationen mitbringen. Auch eine Einreise zur Arbeits-oder Ausbildungplatzsuche ist möglich. FDP, Grüne und Linke kritisierten dagegen die Hürden als zu hoch. "Wir brauchen ein Punktesystem" forderte der Arbeitsmarkt-Experte der Liberalen, Johannes Vogel. Das Gesetz der Koalition sei "zu wenig". Man könne mit höchstens 25.000 Zuwanderern pro Jahr rechnen: "Wir brauchen aber 200.000", rechnete er vor.

Viel Zustimmung erhielt der SPD-Abgeordnete Helge Lindh für eine persönliche Rede, in der er dafür warb, fair miteinander umzugehen. Er selbst und viel andere aus seiner Partei setzten sich für Flüchtlinge ein, würden aber nun als "Unmenschen und Rassisten" verunglimpft. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Eva Högl sagte, es müsse klare Regeln geben. Das Rückkehr-Gesetz verstoße weder gegen Grund- und Menschenrechte, noch gegen europäisches Recht.

"Katalog der Grausamkeiten"

Das Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht gibt den Behörden und der Polizei mehr Möglichkeiten, Abschiebungen durchzusetzen. Asylbewerber müssen bei der Klärung ihrer Identität mitwirken. Weigern sie sich, hat dies Nachteile wie ein Arbeitsverbot und Leistungskürzungen. Um die Zahl der Haftplätze zu erhöhen, können Flüchtlinge in Abschiebehaft auch in normalen Gefängnissen untergebracht werden, ein auch innerhalb der SPD umstrittener Punkt.

Die migrationspolitische Sprecherin der Linken, Ulla Jelpke, sprach von einem "Katalog der Grausamkeiten" gegen Flüchtlinge und ihre Unterstützer. Filiz Polat von den Grünen nannte die Gesetze eine "humanitäre und rechtsstaatliche Bankrotterklärung". Sie forderte ein Bleiberecht für gut integrierte Flüchtlinge. Stattdessen gerieten sie in Gefahr, abgeschoben zu werden, wenn sie die hohen Hürden für die neu eingeführte Beschäftigungsduldung nicht erfüllten.

Der AfD gehen die Verschärfungen nicht weit genug. Das Rückkehr-Gesetz schaffe weder Ordnung noch Rückkehr, erklärte der Parlamentarische Geschäftsführer, Bernd Baumann. Das Fachkräftegesetz wird nach Ansicht der AfD zu Fehlentwicklungen noch verschärfen. Ausländer würden vor allem in die Großstädte ziehen, die meisten Arbeitskräfte fehlten aber auf dem Land, erklärte der AfD-Abgeordnete René Springer.

Der Bundestag verabschiedete insgesamt sieben Gesetze. Änderungen im Staatsbürgerschaftsrecht stehen noch aus. IS-Kämpfern soll der deutsche Pass entzogen werden können, wenn sie zwei Staatsangehörigkeiten haben.

Bettina Markmeyer (epd)


EKD-Migrationsbeauftragter kritisiert Abschiebegesetz


Manfred Rekowski
epd-bild/Stefan Arend
Mit dem am 7. Juni beschlossenen "Geordnete-Rückkehr-Gesetz" sollen Abschiebungen erleichtert werden. Scharfe Kritik an den Asylrechtsverschärfungen kommt aus der evangelischen Kirche, vom NRW-Integrationsminister und vom Flüchtlingsrat NRW.

Die vom Bundestag verabschiedeten Verschärfungen im Asyl- und Abschieberecht stoßen auf heftige Kritik. Der Migrationsbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Manfred Rekowski, kritisierte unter anderem die vorgesehenen Leistungskürzungen für Flüchtlinge, die nicht an der Klärung ihrer Identität mitwirken oder die bereits in einem anderen EU-Land anerkannt sind. Welche Konsequenzen dies für Betroffene und ihre Familien habe, "scheint die Mehrheit der Politikerinnen und Politiker im Bundestag ebenso wenig bedacht zu haben wie die negativen Auswirkungen auf das Bemühen um eine erfolgreiche Integration", sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd) am 7. Juni in Düsseldorf.

Das gleiche gelte auch für die Einführung einer "Duldung light" mit Arbeitsverbot und Wohnsitzauflage für ausreisepflichtige Ausländer, die nach Meinung der Behörden selbstverschuldet ohne Papiere sind, betonte der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland. Als inakzeptabel bezeichnete er, dass Abschiebehäftlinge künftig auch in regulären Strafanstalten untergebracht werden können.

Der evangelische Theologe forderte die Beachtung der Menschenrechte in der Asylpolitik und warf den Regierungsparteien indirekt Populismus vor. "Grundsätzlich sollte in einem Rechtsstaat gelten: Asylrechtliche Regelungen müssen sich stets konsequent an den Menschenrechten orientieren und nicht an den vermuteten Erwartungshaltungen von gesellschaftlichen Mehrheiten", sagte er.

NRW-Integrationsminister nennt Gesetz "humanitär unverantwortlich"

Auch der NRW-Minister für Flüchtlinge und Integration, Joachim Stamp, steht dem vom Bundestag verabschiedeten "Geordnete-Rückkehr-Gesetz" kritisch gegenüber. Das Gesetz sei "humanitär unverantwortlich und volkswirtschaftlich dämlich", sagte der FDP-Politiker der "Neuen Ruhr/Neuen Rhein Zeitung" (NRZ, 8. Juni) in Essen. Das Gesetz schade "pragmatischen Lösungen in den Ländern und behindert die Arbeitsmarktintegration".

Überdies werde das Gesetzespaket den Herausforderungen der Länder nicht gerecht und sei praxisfern. "Wir müssen präziser rückführen", betonte der Minister. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) habe es bislang aber versäumt, Rücknahmeabkommen mit der Herkunftsländern der abzuschiebenden Personen abzuschließen.

Der Flüchtlingsrat NRW beklagte, mit dem Gesetz würden Flüchtlinge "immer weiter ausgrenzt und entrechtet". Aufgrund des von der Bundesregierung propagierten "problematischen Missstandes" bei der Durchsetzung der Ausreisepflicht gerate "die Wahrung der Rechte von Schutzsuchenden vollkommen aus dem Blick", sagte die Geschäftsführerin des Flüchtlingsrates NRW, Birgit Naujoks, am 7. Juni in Bochum. Die Ausweitung von Abschiebehaft, Kürzungen von Leistungen und die Schaffung eines neuen Aufenthaltsstatus der "Duldung light" führe zur "fortschreitenden Entrechtung".

Der Bundestag hatte am 7. Juni das "Geordnete-Rückkehr-Gesetz" verabschiedet. Das Gesetz sieht erweiterte Befugnisse für die Behörden vor, um Ausreisen durchzusetzen. Dazu zählen Sanktionen für Asylbewerber, die ihre Identität nicht preisgeben wollen, verschärfte Regelungen zur Abschiebehaft und Leistungskürzungen. Um die Zahl der Haftplätze zu erhöhen, können Flüchtlinge in Abschiebehaft auch in normalen Gefängnissen untergebracht werden.



Bund gibt Ländern weitere Milliarden für Flüchtlingskosten

Bund und Länder haben sich auf die künftige Finanzierung der Flüchtlingskosten geeinigt. Der Bund beteiligt sich im kommenden Jahr mit 3,35 Milliarden Euro und im Jahr 2021 mit 3,15 Milliarden Euro an den Kosten für Unterkunft und Integration, wie der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) nach einem Treffen der Länder-Regierungschefs mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am 6. Juni in Berlin mitteilte. Er begrüßte ebenso wie der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), dass es nun Planungssicherheit für Länder und Kommunen gebe.

Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) hatte zunächst vorgeschlagen, dass der Bund sich nur noch mit 1,3 Milliarden Euro beteiligt. Das lehnten die Länder ab. "Unser beharrlicher Einsatz hat sich gelohnt", erklärte Laschet. Der Bund erkenne damit die gemeinsame Verantwortung zur Bewältigung der großen Aufgaben bei der Aufnahme, Unterbringung und Integration von Flüchtlingen an. Die Herausforderungen seien weiter groß: "Viele Menschen, die insbesondere in den Jahren 2015 und 2016 zu uns gekommen sind, werden heute in Kitas, Schulen oder ins Arbeitsleben vor Ort integriert."

Pauschalzahlungen

Merkel sagte, der Bund erstatte weiterhin vollständig die Kosten für Unterkunft und Heizung. Auch der Beitrag für die Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Höhe von 350 Millionen Euro bleibe wie bisher, ebenso wie 670 Euro pro Person und Monat während des Asylverfahrens. Hinzu kommen den Angaben zufolge Pauschalen von 700 Millionen Euro im Jahr 2020 und 500 Millionen im Jahr 2021. Sie stehen den Ländern auch dann noch für Integrationsleistungen zur Verfügung, wenn die Flüchtlingskosten sinken.

Der Bund hatte nach der Fluchtbewegung 2015 die Länder finanziell bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen unterstützt. In diesem Jahr summiert sich dieser Beitrag auf rund 4,7 Milliarden Euro.



Zahl der Asylbewerber in der EU zieht erneut an

Die Zahl der Asylbewerber in der EU ist Zeitungsberichten zufolge in den ersten Hälfte des Jahres deutlich angestiegen. Von Januar bis Ende April haben rund 206.500 Menschen erstmals einen Asylantrag in der Europäischen Union gestellt, wie die Zeitungen der Essener Funke Mediengruppe (11. Juni) unter Berufung auf Daten der EU berichten. Das seien 15 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Die aktuellen Zahlen wurden den Angaben nach auf Basis von monatlichen Frühwarn-Meldungen der Mitgliedstaaten erstellt wurden.

Im vergangenen Jahr war demnach die Zahl der Asylbewerber in der EU noch um elf Prozent zurückgegangen. Grund für den erneuten Anstieg sei, dass immer mehr Asylbewerber über reguläre Wege und visafrei in die Union ein, heißt es in dem Bericht. So stammte laut der Daten von Januar bis Ende April gut jeder vierte Asylantrag von Staatsangehörigen eines Landes, dessen Bürger ohne Visum in die EU-Schengenzone einreisen dürfen. Bereits 2018 war deren Anteil auf ein Fünftel gestiegen.

Venezolaner lassen Zahlen ansteigen

Vor allem aus Lateinamerika kämen immer mehr Menschen, hieß es. In den ersten vier Monaten diesen Jahres sei die Zahl der visafrei eingereisten Asylbewerber aus dem Krisenland Venezuela im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 121 Prozent auf 14.257 hochgeschnellt, die aus Kolumbien um 156 Prozent auf 8.097.

Venezuela ist demnach inzwischen nach Syrien (20.392 erstmalige Asylanträge, ein Minus von acht Prozent) das Hauptherkunftsland von Asylbewerbern in der Europäischen Union. Auf Platz drei liegt Afghanistan. Nach den neuen Daten stellten 14.042 Afghanen erstmals einen Asylantrag, 36 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.



Friedensforscher warnen vor neuem nuklearen Wettrüsten

Friedensforscher rufen die Bundesregierung in einem Gutachten zu entschlossenem Handeln und neuen Partnerschaften auf. Dazu gehört für die Wissenschaftler ein Stopp von Rüstungsexporten an autoritäre Staaten und eine effektive Rüstungskontrolle.

Die Welt war nach Einschätzung deutscher Friedensforscher noch nie soweit von der Atomwaffenfreiheit entfernt wie heute. Im Friedensgutachten 2019, das fünf wissenschaftlichen Institute am 4. Juni in Berlin vorstellten, warnten sie: "Das Risiko einer nuklearen Katastrophe steigt wieder." Die Wissenschaftler riefen die Bundesregierung auf, entschlossen eine auf nukleare Abrüstung ausgerichtete Außen- und Sicherheitspolitik zu verfolgen.

In dem Gutachten legten die Institute besonderes Augenmerk auf nukleare Rüstungskontrollen. Besorgt zeigten sie sich darüber, dass bestehende Verträge gekündigt oder nicht ratifiziert werden. Die für 2020 bei den UN geplante Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags drohe schon im Vorfeld zu scheitern. "Ein neues Wettrüsten zeichnet sich ab", warnten sie.

Appell an Deutschland

Die Bundesregierung habe mit ihrem Festhalten am Iran-Abkommen gezeigt, dass sie gegen den Willen der USA und in ungewohnter internationaler Konstellation zum nuklearen Abrüsten beitragen will. "Diesen Weg sollte sie konsequent fortsetzen", forderten die Wissenschaftler und schlugen vor, Deutschland solle mit EU-Staaten ohne Atomwaffen in der Nato auf ein Abrüsten hinwirken. Zudem könne die Bundesregierung zwischen Befürwortern und Gegnern des Atomwaffenverbotsvertrags vermitteln.

Zugleich verlangten die Institute einen generellen Stopp von Rüstungsexporten an autoritäre Staaten und in Spannungsgebiete wie aktuell im Jemen. "Wir begrüßen den derzeitigen Rüstungsstopp nach Saudi-Arabien", betonten sie. Die Bundesregierung müsse sich jedoch für stärkere multilaterale Rüstungsexportkontrollen einsetzen. Die Institute erneuerten auch ihre Forderung nach einem Rüstungsexportgesetz.

"Tödlichste Außengrenze der Welt"

Mehr strategische Kooperationen empfehlen die Institute der Bundesregierung ferner beim Thema Migration. "Die EU hat die tödlichste Außengrenze der Welt", betonten sie und kritisierten Partnerschaften mit autoritären Transit- und Herkunftsstaaten wie Libyen, dem Sudan oder der Türkei. Diese Kooperationen müssten ein Ende haben. Statt dessen solle die Bundesregierung in der EU für legale Zugangsmöglichkeiten werben.

Neue Partnerschaften empfahlen die Forscher zudem zur Stärkung der Vereinten Nationen und im Kampf gegen Hassrede im Internet, insbesondere zur Regulierung digitaler Angebote. Der von UN-Generalsekretär Antonio Guterres initiierte Aktionsplan gegen die Verbreitung von Hass ermögliche dabei neue Allianzen.

"Der Bundesregierung bieten sich viele Möglichkeiten, entschlossen für Frieden und Sicherheit einzutreten", betonten die Wissenschaftler und riefen die Politik auf, Friedenspolitik innovativ und tatkräftig zu gestalten.

An dem Friedensgutachten, das seit 1987 erscheint, sind die Friedensforschungsinstitute Bonn International Center for Conversion (BICC), das Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) sowie das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen beteiligt.



Deutscher Schulpreis für Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm

Die Gebrüder-Grimm-Grundschule liegt in einem sozialen Brennpunkt in Hamm und hat nur wenig Platz zur Verfügung. Aus der Not macht sie mit innovativem Lernkonzept eine Tugend - und erhält dafür jetzt den Deutschen Schulpreis.

Eine Grundschule im westfälischen Hamm ist mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet worden. Die Gebrüder-Grimm-Schule erhalte den mit 100.000 Euro dotierten Hauptpreis für ihr Engagement und innovatives Lernkonzept, teilte die Robert Bosch Stiftung am 5. Juni mit. Als Grundschule in einem sozialen Brennpunkt und in räumlicher Enge schaffe sie ein hervorragendes Lernklima. NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) würdigte die Schule als Lern- und Lebensort mit innovativem Konzept.

Neben dem Hauptpreisträger wurden auf einem Festakt in Berlin am 5. Juni fünf weitere Schulen ausgezeichnet. Die mit jeweils 25.000 Euro dotierten Auszeichnungen gingen an die GGS Kettelerschule in Bonn und an die Schiller-Schule in Bochum. Weitere Preisträger sind die Alemannenschule Wutöschingen in Baden-Württemberg, die Kurfürst-Moritz-Schule im sächsischen Moritzburg und die Deutsche Schule "Mariscal Braun" in La Paz in Bolivien.

Jedes zehnte Kind hat sonderpädagogischen Förderbedarf

Die Gebrüder-Grimm-Schule liegt in einem sozial benachteiligten Stadtteil in Hamm. Auf engem Raum versammelt sie den Angaben nach rund 220 Kinder. Knapp die Hälfte der Mädchen und Jungen erhalten Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, mehr als 100 kommen aus Zuwanderer-Familien, etwa jedes zehnte Kind hat sonderpädagogischen Förderbedarf.

"Die Gebrüder-Grimm-Schule hat die Not zum Motor ihrer Entwicklung gemacht", lobte Jury-Sprecher Michael Schratz, Erziehungswissenschaftler der Universität Innsbruck. Das Schuljahr sei dort in wiederkehrende, mehrwöchige Epochen unterteilt, in denen die Kinder mal in der Klasse, mal in jahrgangsgemischten Gruppen lernen. Sie wählen sich selbst Themen und bearbeiten sie eigenständig. Über die Lernziele bis zum Ende der vierten Klasse informiert der Kinderlehrplan in kindgerechter Sprache. Im Stundenplan fest verankert ist auch das Lernkaleidoskop. In den besonderen Lernräumen können die Kinder nach eigenem Tempo und Anspruch lernen. Auf monatlichen Schulversammlungen werden Lernleistungen und positive Verhaltensweisen im Alltag gewürdigt.

NRW-Schulministerin Gebauer erklärte, die Auszeichnung zeige, dass Schulen und Lehrkräfte pädagogische und konzeptionelle Freiräume benötigten, damit vor Ort beste Bildung vermittelt werden könne. "Die Gebrüder-Grimm-Schule hat in besonders hervorragender Weise gezeigt, wie Schule mit Engagement und einem innovativen Konzept als Lern- und Lebensort vorbildhaft gestaltet werden kann - trotz oder gerade wegen vielfältiger Herausforderungen."

Die neun nominierten Schulen, die nicht ausgezeichnet wurden, erhalten Anerkennungspreise in Höhe von jeweils 5.000 Euro. Darunter sind auch die Evangelische Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck und die Friedrich Wilhelm Murnau-Gesamtschule in Bielefeld. Darüber hinaus können alle Schulen, die von der Jury besucht wurden und keinen Preis erhalten haben, das Schulentwicklungsprogramm des Deutschen Schulpreises nutzen. Über zwei Jahre erhalten sie eine individuelle Prozessbegleitung und nehmen an Seminaren und Vernetzungsangeboten teil. Die Ausschreibung für den kommenden Deutschen Schulpreis 2020 endet in diesem Jahr am 15. Oktober.



40.000 Schüler beteiligen sich an Anne-Frank-Tag

Rund 40.000 Schülerinnen und Schüler aus 250 Schulen bundesweit werden sich am 12. Juni am diesjährigen Anne-Frank-Tag beteiligen. Das 1945 im KZ Bergen-Belsen umgekommene jüdische Mädchen, das durch seine Tagebücher weltberühmt wurde, wäre am 12. Juni 90 Jahre alt geworden. Der Aktionstag gegen Antisemitismus, Rassismus und für Demokratie an Schulen stehe deshalb unter dem Motto "Anne Frank 90", kündigte das Berliner Anne-Frank-Zentrum am 5. Juni an.

Zeitzeugen-Gespräche

Der bundesweite Auftakt des Aktionstages findet in Gütersloh mit dem Zeitzeugen Pieter Kohnstam statt. Kohnstam lebte als Kleinkind bis 1942 in direkter Nachbarschaft der Familie Frank in Amsterdam, bevor er mit seiner jüdischen Familie nach Südamerika floh. Die teilnehmenden Schulen bekommen vom Anne-Frank-Zentrum für den Tag Lernmaterialien zum Leben von Anne Frank zur Verfügung gestellt. Dazu gehört den Angaben zufolge unter anderem eine großformatige Posterausstellung und eine Zeitung. Darüber hinaus setzen die Schulen vielfach lokale Aktionen um.

Mit dem seit 2017 stattfindenden Anne-Frank-Tag solle auch ein Zeichen gegen Antisemitismus gesetzt werden, erklärte der Direktor des Berliner Anne-Frank-Zentrums, Patrick Siegele. "Gerade in Zeiten, in denen der Hass gegen Jüdinnen und Juden zunimmt und sich immer offener zeigt, ist es wichtig, schon früh damit zu beginnen, Kinder und Jugendliche für ein respektvolles und demokratisches Miteinander zu gewinnen", betonte Siegele.

Anne Frank starb 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen im Alter von 15 Jahren. Ihr Tagebuch schrieb sie zwischen 1942 und 1944 in einem Versteck in Amsterdam. In dieser Zeit lebte sie mit ihrer Familie und vier weiteren Personen in einer im Hinterhaus verborgenen Wohnung auf engstem Raum. Am 4. August 1944 wurden sie entdeckt, verhaftet und deportiert. Nur Anne Franks Vater, Otto Frank, überlebte und veröffentlichte 1947 das Tagebuch seiner Tochter.



Wenn Worte überleben


Das Anne-Frank-Haus in Amsterdam
epd-bild / Bernd Bohm
Gesicht der Schoah, berühmteste Tagebuchschreiberin der Welt und zugleich eine Teenagerin mit alterstypischen Sorgen: Die Geschichte der Anne Frank geht noch heute Menschen weltweit unter die Haut. Am 12. Juni wäre die jüdische Autorin 90 geworden.

"Oh ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen", schrieb Anne Frank am 5. April 1944 in ihr Tagebuch. "Ich will den Menschen, die um mich herum leben und mich doch nicht kennen, Freude und Nutzen bringen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod." Ein Wunsch, der sich erfüllte: Das Tagebuch wurde zur Weltliteratur und machte Anne Frank unsterblich. Die Briefe an ihre fiktive Freundin Kitty zogen Millionen Leserinnen und Leser weltweit in den Bann, das jüdische Mädchen wurde zu einer Symbolfigur für alle Opfer des Nationalsozialismus. Am 12. Juni wäre Anne Frank 90 geworden.

Das berühmte rot-weiß-karierte Tagebuch bekam Anne zu ihrem 13. Geburtstag geschenkt. "Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein", notierte sie. Wenig später taucht das 1929 in Frankfurt am Main geborene Mädchen mit seiner Familie unter und versteckt sich mit einer weiteren Familie in einem Amsterdamer Hinterhaus. Der Massenmord der Nationalsozialisten an den europäischen Juden hatte begonnen.

"Schreiben überlebensnotwendig"

Zwei Jahre lang führte Anne Frank im Versteck in der Prinsengracht 263 ihr Tagebuch, bis die Familie verraten und gefangengenommen wurde. "Schreiben wurde für sie lebensnotwendig, überlebensnotwendig", erklärt Übersetzerin Mirjam Pressler in der Gesamtausgabe von Anne Franks Werken. In der Einsamkeit und der spannungsgeladenen Enge des Hinterhauses sei "Kitty" für Anne zur einzigen Abwechslung und zum Ersatz für Freunde und gesellschaftliche Kontakte geworden.

Der imaginären Freundin vertraute das Mädchen alle Freuden und Leiden an: die erste Liebe, Probleme mit der Mutter, körperliche Veränderungen. "Das Tagebuch von Anne Frank ist die intime Geschichte einer einzigartigen Jugendzeit, und gleichzeitig ist es die Geschichte der Schoah", schreibt Unesco-Generalsekretärin Audrey Azoulay in einem Vorwort zu einer Sonderausgabe, die zu Anne Franks 90. Geburtstag erschien. Annes Einträge seien "ein brillant geschriebener Bericht über das Leben in der erzwungenen Isolation".

Der Text hat nach Ansicht von Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, bis heute nichts von seiner Kraft verloren. "Anne Frank steht für den Kampf nicht nur gegen Antisemitismus, sondern gegen jede Form der Diskriminierung", sagt er. "Und das ist heute aktueller denn je in einer Welt, in der Zeitzeugen aussterben und zugleich eine Neue Rechte erstarkt." Annes Geschichte zeige, wohin Hass führen könne und dass jede Form der Diskriminierung gleich schlimm sei.

"Ich höre den nahenden Donner"

Aggression aus rechten Kreisen bekommt die Bildungsstätte unmittelbar zu spüren: Täglich gehen dort E-Mails von Geschichtsrevisionisten ein, in denen die Echtheit von Anne Franks Tagebuchs bezweifelt wird, wie Mendel erzählt. "Das öffnet Tür und Tor dafür, dass solche Leugnungen stückweise eine Legitimität erhalten", sagt er. "Das sehe ich mit großer Sorge."

Die Bildungsstätte versucht, Rassismus und Diskriminierung aktiv entgegenzuwirken - unter anderem mit Workshops und Ausstellungen. "Das Tagebuch der Anne Frank kann ein wunderbarer Türöffner zu der Thematik sein", sagte Mendel. "Mit der Einzelperson kann sich der Leser - anders als mit sechs Millionen Opfern - identifizieren." Auch Annes menschliche Größe erleichtere diese Identifikation: Bis zuletzt habe das Mädchen nicht den Glauben an das Gute im Menschen verloren.

"Ich sehe, wie die Welt allmählich in eine Wildnis verwandelt wird", schrieb sie noch am 14. Juli 1944 in ihr Tagebuch. "Ich höre den nahenden Donner, der auch uns vernichten wird. Ich kann das Leiden von Millionen spüren. Und dennoch glaube ich, wenn ich zum Himmel blicke, dass alles in Ordnung gehen und auch diese Grausamkeit ein Ende finden wird. Dass wieder Ruhe und Frieden einkehren werden."

Gut zwei Wochen später endet ihr Tagebuch. Am 4. August wurden die Untergetauchten verhaftet und deportiert. Anne Frank starb im Frühjahr 1945 wenige Wochen vor Kriegsende im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Sie wurde nur 15 Jahre alt.

Michaela Hütig (epd)


Bärbel Wohlleben schoss als erste Frau das "Tor des Monats"


Bärbel Wohlleben
epd-bild/Andrea Enderlein
In Frankreich hat die 8. Frauenfußball-Weltmeisterschaft begonnen. Dass Frauen dem Ball nachjagen und Flanken schlagen, war hierzulande lange verpönt. Erst vor 45 Jahren wurde in Mainz die erste Deutsche Meisterschaft ausgespielt.

Bärbel Wohlleben ist eine gradlinige Frau. Was ihr nicht passt, das sagt sie, und was sie machen will, das tut sie. "So war ich schon immer", betont sie. Man glaubt es ihr sofort. Denn ohne diese Eigenschaften wäre der heute 75-Jährigen mit den kurzen grauen Haaren und den wachen blauen Augen vor 45 Jahren sicher nicht geglückt, was für den jungen Frauenfußball einem Steilpass gleichkam: Wohlleben schoss im Endspiel um die erste Deutsche Meisterschaft ein Zaubertor, das später von den Zuschauern der ARD-Sportschau zum "Tor des Monats" gewählt wurde.

Kraftvoll in die rechte Ecke

Das Finale in Mainz bestritten die Teams des rheinhessischen TuS Wörrstadt und des Gelsenkirchener Vereins DJK Eintracht Erle. Erst vier Jahre zuvor hatte der Deutsche Fußball-Bund (DFB) das Verbot aufgehoben, in den Vereinen Frauen-Fußballabteilungen zu gründen. Im Endspiel führten die Wörrstädterinnen 2:0, als Bärbel Wohlleben den Ball auf den Fuß bekam und ihn aus gut 20 Metern Entfernung kraftvoll in der rechten Ecke versenkte. Beim Schlusspfiff stand es 4:0.

Dass ihr Treffer in die Auswahl zum "Tor des Monats" aufgenommen und von den Zuschauern ausgewählt wurde, habe sie überrascht und gefreut, erzählt Wohlleben. Ihrem Sport habe diese Auszeichnung mächtig Auftrieb verschafft. "Viele Frauen wurden aufmerksam und animiert, selber Fußball zu spielen." Moderator Oskar Klose überreichte ihr in der Sportschau die Auszeichnung. Er gestand ein, dass er dem Frauenfußball zunächst skeptisch gegenüber gestanden, inzwischen aber "hübsche Spiele" gesehen habe. Zu der Top-Torschützin sagte er: "Sie haben ja wirklich schon fußballerische Bewegungen. Das sieht alles sehr nett aus."

Ausnahmegenehmigung

Eine Wortwahl, die man als Beleidigung verstehen kann. Doch die solchermaßen "Geehrte" blieb gelassen: "Die Worte passten in die damalige Zeit. Wir waren nichts anderes gewohnt", sagt Wohlleben. Der DFB habe sich gesorgt, dass Kopfbälle die Frisuren der Damen zerstören. Prominente Fußballer wie Weltmeister Paul Breitner seien der Ansicht gewesen, dass Frauen an den Herd gehören.

Bärbel Wohlleben war die Jüngste von fünf Geschwistern und spielte jahrelang mit ihren drei Brüdern im Hof Fußball. Nachdem sie im Sommer 1954 das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft mit dem deutschen Sieg gesehen hatte, beschied die Zehnjährige ihrem Vater: "Ich möchte auch in einer Mannschaft Fußball spielen." Der Vater war Justiziar beim Südwestdeutschen Fußballverband und beschaffte eine Ausnahmegenehmigung für seine Tochter.

"Kein Problem mit einem Mädchen"

Der Trainer der C-Jugend in Ingelheim, wo sie heute noch lebt, hatte kein Problem mit einem Mädchen in seiner Mannschaft. Allerdings schickte er sie vor dem ersten Training in die Weitsprunggrube, wo sie sich in Ringkämpfen mit den Jungs messen musste. "Er wollte einfach sehen, wie stark ich bin", erzählt sie grinsend. Die Kämpfe gingen fifty-fifty aus, das reichte. Vier Jahre spielte sie in der Jugend, dann war Schluss. Für ältere Mädchen gab es keine Ausnahmegenehmigungen mehr. Sie hat sich dann auf Handball und Leichtathletik konzentriert.

Nach der Mittleren Reife wechselte Bärbel Wohlleben auf eine kaufmännische Handelsschule und arbeitete später in der Anwaltskanzlei ihres Vaters. Sie erinnert sich noch gut an einen Tag im November 1969. Damals hatte sie ein Spiel mit den Ingelheimer Handballerinnen gegen das Team aus Alzey. Im Gang der Halle wärmte sich Uschi Demler mit einem Fußball auf und erzählte ihr, dass sie mit anderen Frauen beim TuS Wörrstadt trainiere. Wohlleben hörte es mit Freude.

"Ein Ball!"

Am Tag darauf fuhr sie nach Wörrstadt - und traute ihren Augen nicht. "Da standen zehn Frauen im Kreis und Trainer Egon Rehbein in der Mitte mit einem Ball." Noch heute schwingt Empörung in ihrer Stimme. "Ein Ball!" Sie sagte dem Trainer, dass sie nicht mehr kommen werde, wenn es beim nächsten Training nicht für jede Spielerin einen Ball gebe. Eine Woche später war der Mangel behoben.

Die folgenden Jahre spielte Bärbel Wohlleben Fußball, war bei einigen Länderspielen der zunächst noch inoffiziellen Auswahlmannschaft dabei und wurde Deutsche Meisterin. Sie spielte - immer offensives Mittelfeld - später beim Verein Oberst Schiel in Frankfurt, beim SC 07 in Bad Neuenahr und beim FSV Frankfurt. Geld hat die Alleinstehende mit ihrem Sport nicht verdient. Im Gegenteil. "Wir mussten damals alles selbst bezahlen", sagt sie.

Bei Oberst Schiel habe sie als einzige Spielerin Fahrgeld bekommen. Als der Verein das ihren Mitspielerinnen verweigerte, obwohl er durch die Eintrittsgelder Einnahmen mit dem Frauenfußball erzielte, wechselte Wohlleben verärgert den Verein. Heute steht sie in der Region noch manchmal am Spielfeldrand oder schaut im Fernsehen ein Länderspiel an. Nach Frankreich, zur Weltmeisterschaft der Frauen, wird sie nicht fahren: "Ich mache meinen Tagesablauf nicht mehr abhängig vom Fußball."

Renate Haller (epd)


NRW ehrt Ex-Umweltminister Töpfer mit Staatspreis


Klaus Töpfer
epd-bild/Jürgen Blume

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) ehrt den ehemaligen Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU) mit dem diesjährigen Staatspreis. Töpfer, langjähriger Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen, erhalte die höchste Auszeichnung des Landes für sein herausragendes Engagement weltweit und für das Land Nordrhein-Westfalen, teilte die Düsseldorfer Staatskanzlei am 4. Juni mit. Töpfer sei Vorkämpfer und Mahner für globalen Umweltschutz und nachhaltiges Leben, erklärte Laschet, der den Umweltpolitiker und Wissenschaftler aus Höxter am 16. September in Bonn auszeichnen wird. Die Laudatio hält Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Der Staatspreis von Nordrhein-Westfalen ist mit 25.000 Euro dotiert.

Beharrlicher Kämpfer für Bewahrung der Schöpfung

"Klaus Töpfer kämpft seit Jahrzehnten kompetent, klar und beharrlich für die Bewahrung der Schöpfung, weltweit und in seiner Heimat Nordrhein-Westfalen", würdigte Laschet den Preisträger. Töpfer habe sich als ranghöchster deutscher Vertreter bei den Vereinten Nationen international für nachhaltige Entwicklung und die Bedeutung globalen Umweltschutzes starkgemacht und für gemeinsame und ganzheitliche Lösungen geworben, die auch die Armutsbekämpfung in den Blick nehmen. "Mit seiner Beharrlichkeit, Durchsetzungskraft und seinem visionären Einsatz prägte er als Bundesumweltminister maßgeblich den Umweltschutz eines ganzen Landes, etwa mit dem Verbot von FCKW oder der Einführung der Kreislaufwirtschaft."

Töpfer habe sich dafür starkgemacht, dass durch den Umzug der Bundesregierung nach Berlin freiwerdende Liegenschaften in Bonn neu genutzt werden. Die Ansiedlung der UN-Einrichtungen in Bonn als einzigem Standort in Deutschland präge auch heute die internationale Ausrichtung der Bundesstadt, erklärte Laschet. Es sei Klaus Töpfer in jahrzehntelanger intensiver Arbeit gelungen, Umwelt und Nachhaltigkeit in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken, lange bevor diese Themen breite Öffentlichkeit fanden.

Klaus Töpfer wurde am 29. Juli 1938 in Waldenburg/Walbrzych in Schlesien geboren. Nach der Vertreibung seiner Familie 1945 wuchs er in Westfalen auf und studierte Volkswirtschaftslehre. 1971 ging er in die Politik und war erst in der Staatskanzlei des Saarlandes, dann als Staatssekretär und ab 1985 als Umweltminister in Rheinland-Pfalz tätig. 1987 übernahm er bis 1994 das Bundesumweltministerium in Bonn. 1998 beriefen ihn die Vereinten Nationen zum Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) nach Nairobi. Von 1998 bis 2006 war Töpfer außerdem Unter-Generalsekretär der Vereinten Nationen und Generaldirektor des Büros der Vereinten Nationen in Nairobi. Seit 2007 lehrt Töpfer, der in Höxter lebt, als Professor für Umwelt und nachhaltige Entwicklung an der Tongji-Universität Shanghai.



Big-Brother-Awards rügen Überwachung und Spähsoftware

Diese Auszeichnung sind bei den "Preisträgern" alles andere als begehrt. Mit den "Big-Brother-Awards" hat die Datentschützer-Initiative "Digitalcourage" problematisches Datensammeln von Firmen und Behörden gerügt.

Die diesjährigen Big-Brother-Awards haben problematisches Datensammeln von Softwarefirmen und Behörden angeprangert. Die Datenschützer-Initiative Digitalcourage vergab am 8. Juni in Bielefeld die Negativauszeichnungen in fünf Kategorien. Gerügt wurden Programme, die für die Überwachung Polizeidaten mit Daten von Facebook und WhatsApp verknüpfen oder unbemerkt im Hintergrund Emotionen von Anrufern analysieren. Prominente "Preisträger" waren der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) und das Internetportal "Zeit Online".

Bei der Aachener Firma Precire wurde moniert, dass ihre Sprachanalyse-Software Emotionen von Anrufern analysiere. Digitalcourage forderte ein Verbot von Sprachanalyse und "künstlicher Intelligenz" zur Charakter-, Emotions- und Motivationserkennung. Die Sprachanalyse könne beim Vorstellungsgespräch mitentscheiden, wer den Job erhalte, warnte die Vorsitzende des Vereins "Digitalcourage", Rena Tangens. Bei Anrufern einer Hotline könne die Software Erkenntnisse liefern, ob der Anrufer lüge oder ob er mit einem weiteren Angebot geködert werden könne.

Verkauf von Gendaten an kommerzielle Phamaforschung

Die Firma Ancestry.com wurde als Preisträger ausgewählt, weil die Firma den Angaben zufolge Gendaten an die kommerzielle Phamaforschung verkaufen soll. Die Anbieter missbrauchten die Familienforschung, um einen Genom-Schatz für die kommerzielle Forschung anzuhäufen, hieß es in der Begründung. Das Europäische Institut für Telekommunikationsnormen (ETSI) erhielt den Preis, weil es über eine neue Verschlüsselungstechnik im Internet Behörden ermöglichen soll, abgehörte Verbindungen zu entschlüsseln.

Der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) bekam die Negativauszeichnung für die Anschaffung von Analyse-Software einer US-Firma, die dem Geheimdienst CIA nahestehen soll. Der Innenminister habe diese hoch umstrittene Überwachungsfirma damit beauftragt, ihre Polizeidatenbanken mit Social Media-Daten und anderen externen Daten zu verknüpfen und zu analysieren. Begründet werde das damit, Bedrohungslagen leichter zu erkennen. Damit gehe jedoch Hessen einen weiteren großen Schritt in Richtung "Kontroll- und Überwachungsstaat", hieß es. Zudem erhielte die US-Firma Zugang zum höchst sensiblen Datennetz der hessischen Polizei.

Negativpreis auch für "Zeit Online"

Beim Portal "Zeit Online" kritisierte "Digitalcourage" die Nutzung von Google-Diensten bei dem Online-Diskussionsforum "Deutschland spricht". Damit können nach Einschätzung von Digitalcourage politische Ansichten von Menschen auf Servern der USA gespeichert werden. Kritisiert wird auch, dass ein Nebenprojekt der Diskussionsplattform "Deutschland spricht" von Google finanziert worden sei. Zudem moniert Digitalcourage den Einsatz von Werbetrackern bei "Zeit Online". Damit können die Seitenaufrufe der Besucher registriert werden und den Nutzern speziell auf sie zugeschnittene Werbung präsentiert werden.

Die Chefredaktion von "Zeit Online" hatte in einem öffentlichen Blog die Vorwürfe zum Teil zurückgewiesen. Das Projekt "Deutschland spricht" sei eine Eigenentwicklung mit einem aufwendigen Sicherheits- und Datenschutzkonzept, erklärte die "Zeit Online"-Chefredaktion. Google-Dienste würden dafür nicht genutzt. Lediglich der erste Testlauf im Jahr 2017 habe unter anderen einen Dienst von Google-Apps verwendet, um Daten zu speichern. "Zeit Online" räumte jedoch ein, eine Reihe von Werbetrackern zu nutzen.

Der deutsche Big-Brother-Award wird seit dem Jahr 2000 jährlich vom Verein "Digitalcourage" gemeinsam mit weiteren Bürgerinitiativen ausgeschrieben. Eine Jury aus Menschenrechtlern, Computerexperten sowie Daten- und Verbraucherschützern wählt die jeweiligen Preisträger aus.



Ermittler gehen in NRW gegen Verfasser von Hass-Postings vor

Im Zuge des vierten Aktionstages gegen Hass-Postings im Internet sind Polizei und Staatsanwaltschaft am 6. Juni in 13 Bundesländern gegen mutmaßliche Verfasser solcher Nachrichten vorgegangen. Wie das Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden mitteilte, wurden Häuser durchsucht und Beschuldigte von der Polizei vernommen. In Nordrhein-Westfalen gab es nach Angaben der Staatsanwaltschaft Köln Durchsuchungen von Wohnungen in Dortmund, Bielefeld und Lohmar (Rhein-Sieg-Kreis). Zudem waren fünf Personen zu Vernehmungen bei der Polizei vorgeladen. An den Aktionen in NRW waren auch die Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen (ZAC NRW) sowie das Landeskriminalamt beteiligt.

Die Vorwürfe gegen die Tatverdächtigen lauten Volksverhetzung und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Den Beschuldigten wird vorgeworfen, Hasskommentare im Internet gepostet zu haben - dazu gehören unter anderem Aufforderungen zur Begehung von Straftaten, Beleidigungen von Amtspersonen oder antisemitische Beschimpfungen. Im Falle einer Verurteilung drohten den Beschuldigten Haftstrafen von bis zu fünf Jahren, hieß es.

Der bundesweite Aktionstag gegen Hass-Postings fand in diesem Jahr zum vierten Mal statt. Nach Angaben des BKA zeigt das verstärkte Vorgehen gegen Hasskommentare im Internet bereits Wirkung: So wurden 2017 noch 2.270 Fälle von Hasskommentaren gezählt, im vergangenen Jahr war diese Zahl um 35 Prozent auf 1.472 Fälle gesunken. Ein Großteil (77 Prozent) der Hass-Postings lässt sich dem rechtsextremen Spektrum zuordnen, knapp 9 Prozent der Kommentare sind linksextrem, die verbleibenden 14 Prozent sind ausländischen oder religiösen Ideologien beziehungsweise keiner konkreten politischen Motivation zuzuordnen.




Umwelt

Verbrauch dünner Plastiktüten sinkt kaum


Umsonst und bequem: Plastiktüten für Obst und Gemüse
epd-bild/Norbert Neetz
Die Nutzung von Plastiktüten geht deutlich zurück. Doch bei den meist kostenlosen dünnen Kunststoffbeuteln an der Obst- und Gemüsetheke greifen die Deutschen immer noch gerne zu: Mehr als drei Milliarden "Hemdchenbeutel" werden im Jahr verbraucht.

An der Kasse verzichten Supermarkt-Kunden zwar zunehmend auf Plastiktüten, in der Obst- und Gemüseabteilung ist der Griff zum dünnen Kunststoffbeutel aber immer noch üblich. Laut Bundesumweltministerium nutzten die Verbraucher 2018 im Schnitt pro Kopf 37,3 dieser sogenannten Hemdchenbeutel und damit nur 2,2 weniger als 2017 mit einem Pro-Kopf-Verbrauch von 39,5 Tüten. Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland etwas mehr als drei Milliarden der kleinen Beutel verbraucht, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion hervorgeht, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt.

Die Deutschen verwendeten den Angaben des Bundesumweltministeriums zufolge somit mehr Hemdchenbeutel als in den Jahren 2016 und 2015, als der Pro-Kopf-Verbrauch jeweils bei 36,3 lag. Das stehe im Gegensatz zu einem drastischen Rückgang bei der Nutzung von Plastiktüten, der sich von 2015 bis 2018 um etwa zwei Drittel reduziert habe. Viele Händler geben Kunststoff-Tragetaschen nicht mehr umsonst aus, während im Supermarkt in den Obst- und Gemüseabteilungen die Hemdchenbeutel in der Regel kostenlos erhältlich sind.

"Symbol-Politik"

Judith Skudelny, umweltpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, kritisierte angesichts der Zahlen Umweltministerin Svenja Schulze (SPD), die mit einer "Symbol-Politik zur Reduzierung des Plastikmülls" zu scheitern drohe: "Ihre Maßnahmen bleiben Stückwerk und sind inkonsequent", sagte Skudelny der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (4. Juni). Plastiktüten würden vom Kunden oft durch Hemdchenbeutel ersetzt.

Eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2015 zielt auf eine Verringerung des Verbrauchs an leichten Plastiktüten ab, ermöglicht aber Ausnahmen aus hygienischen Gründen oder zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen. Auch eine Vereinbarung zwischen dem Handelsverband Deutschland und dem Bundesumweltministerium sieht entsprechende Ausnahmen vor. Vertreter des Handels kündigten Maßnahmen an, um Hemdchenbeutel durch ökologisch sinnvolle Alternativen zu ersetzen.



Dünne Obstbeutel kosten bei Aldi künftig Geld

Im Kampf gegen Plastikmüll verlangt der Discounter Aldi für sogenannte Hemdchenbeutel demnächst einen "symbolischen Cent". Die Maßnahme soll Verbraucher an der Obst- und Gemüsetheke zum Umdenken bewegen - wie bei klassischen Plastiktüten.

Der Lebensmitteldiscounter Aldi verlangt von seinen Kunden für dünne Plastiktüten für Obst und Gemüse künftig einen "symbolischen Preis" von einem Cent. Die sogenannten Hemdchen- oder Knotenbeutel seien von diesem Sommer an in allen Filialen von Aldi Nord und Aldi Süd kostenpflichtig, teilten die beiden Unternehmensgruppen am 11. Juni in Essen und Mühlheim an der Ruhr mit. Angeboten werde dann eine umweltfreundlichere Alternative aus nachwachsenden Rohstoffen. Über die Änderung hatte zunächst die "Süddeutsche Zeitung" (11. Juni) berichtet.

Aldi reagiert nach eigenen Angaben auf Kritik am vielen Plastik in den Geschäften. Seitdem Kunststoff-Tragetaschen kostenpflichtig sind, packten zudem immer mehr Kunden ihre Einkäufe in die kostenlosen Knoten- oder Hemdchenbeutel aus der Obst- und Gemüseabteilung. Nach Angaben des Bundesumweltministeriums verbrauchten die Deutschen im vergangenen Jahr mehr als drei Milliarden der dünnen Plastiktüten. Das entsprach einem Pro-Kopf-Verbrauch von 37 Beuteln und damit einem Anstieg im Vergleich zu 2015 und 2016.

Forderung nach branchenweiter Lösung

"Wir würden uns freuen, wenn andere Händler mitziehen", sagte Kristina Bell, die im Einkauf von Aldi Süd für Qualitätssicherung und Unternehmensverantwortung zuständig ist. "Denn nur durch eine branchenweite Lösung können wir bei der Reduzierung der Plastiktüte einen großen Schritt nach vorne machen." Mit dem symbolischen Cent für die Obst- und Gemüsebeutel verfolge Aldi ein ähnliches Prinzip wie bei den Einweg-Plastiktaschen, um die Verbraucher zum Umdenken zu bewegen, erklärte Bell. Hier ging der Verbrauch seit 2015 um zwei Drittel zurück, seitdem die Tragetaschen aus Kunststoff an den Kassen nicht mehr kostenlos angeboten werden.

Bei den Hemdchenbeuteln hat laut "Süddeutscher Zeitung" bislang lediglich die Supermarktkette Real angekündigt, diese bis 2020 durch Papier zu ersetzen. Aldi plant nach eigenen Angaben weiter, als Alternative zu Hemdchenbeuteln von Herbst an wiederverwendbare Netze für Obst und Gemüse zu verkaufen. Andere Handelsketten bieten solche waschbaren Netze ebenfalls an.



Umweltministerium dringt auf Braunkohleausstieg in NRW


Tagebau Garzweiler im Rheinischen Braunkohlerevier
epd-bild / Stefan Arend

Um die deutschen Klimaziele bis 2030 zu erreichen, verlangt das Bundesumweltministerium mehr Anstrengungen in der Energiepolitik. Nach dem beschlossenen Kohleausstieg gelte es nun, "für die Betreiber, die Regionen und die Menschen vor Ort schnell Planungssicherheit herzustellen", heißt es in einem für Ressortchefin Svenja Schulze (SPD) verfassten Positionspapier für die Verhandlungen im Klimakabinett, das dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt. Darin wird unter anderem der vorrangige Ausstieg aus der Braunkohleverstromung in NRW gefordert.

"Die Gespräche mit den Kraftwerksbetreibern sollen darauf abzielen, in einem ersten Schritt bis 2023 die ältesten Braunkohle-Kraftwerksblöcke im Rheinischen Revier stillzulegen", heißt es in dem Papier mit dem Titel "Handlungsoptionen für mehr Klimaschutz im Energiesektor". Dadurch solle auch eine weitere Rodung des Hambacher Waldes und das Abbaggern weiterer Dörfer verhindert werden. Im Anschluss sollte eine schrittweise Stilllegung in den Ostdeutschen Braunkohlerevieren erfolgen, nach Alter der Anlagen. Die in Düsseldorf erscheinende "Rheinische Post" hatte zuerst über die Vorlage berichtet.

Mehr Solar-Förderung und weniger Auflagen für Windräder

Außerdem werden in dem Papier mehr Solar-Förderung und Erleichterungen für den Bau von Windkraftanlagen gefordert, um das Ziel zu erreichen, bis 2030 die Energieversorgung zu 65 Prozent mit Erneuerbaren zu gewährleisten. Kritik übt das Ministerium an zu starren Mindestabstandsvorschriften für Windkraftanlagen zu Wohngebieten: "Pauschale Abstände führen zu massiver Einschränkung der verfügbaren Flächen für den Ausbau der Windenergie an Land."

Bei der Solar-Förderung müsse die Deckelung "umgehend gestrichen" werden. Bisher können Photovoltaik-Anlagen nur bis zu einer Grenze von insgesamt 52 Gigawatt ausgebaut werden, dann fällt die Einspeisevergütung für Solar-Strom weg. Laut Ministeriums-Papier wird diese Grenze voraussichtlich bereits im kommenden Jahr erreicht. Um "das hohe Potenzial von Gebäuden und Dächern für den Ausbau der Solarenergie" zu nutzen, werden stattdessen ein Aufschlag insbesondere bei großen Dachanlagen, der Abbau bürokratischer Hürden und eine Verbesserung der Mieterstromregelungen empfohlen.

Deutlich mehr Anstrengungen sind nach Ansicht des Umweltministeriums auch beim Einsparen von Energie nötig. "Deutschland wird seine Effizienzziele 2020 deutlich verfehlen", heißt es in dem Papier. Der Primärenergieverbrauch, der bis 2020 um 20 Prozent reduziert werden soll, sei zwischen 2008 und 2017 nur um 5,5 Prozent zurückgegangen. Der Anstieg der Energieproduktivität liege mit nur einem Prozent jährlich weit unter dem Ziel von 2,1 Prozent. Auch der Bruttostromverbrauch, für den bis 2020 ein Minus von zehn Prozent angestrebt wird, habe bis 2017 nur einen Rückgang um 3,3 Prozent verzeichnet.



Rechtsgutachten: Enteignungen für Kohletagebau ist kritisch

Ein Rechtsgutachten im Auftrag des BUND für Umwelt und Naturschutz Deutschland bewertet Zwangsenteignungen für den Braunkohletagebau kritisch. Mit Blick auf veränderte energiepolitische Rahmenbedingungen und klimaschutzrechtliche Vorgaben seien Enteignungen über das Jahr 2019 hinaus nur noch in beschränktem Umfang möglich, schreibt Rechtsanwalt Dirk Teßmer in dem am 4. Juni veröffentlichten Gutachten. "Insbesondere kann eine Enteignung von Grundstücken dann nicht mehr gerechtfertigt werden, deren Inanspruchnahme auf eine nicht mehr klimazielverträgliche Förderung und Verstromung von Braunkohle abzielt."

Bei Entscheidungen über Enteignungsanträge für die Weiterführung der Tagebaue Hambach und Garzweiler müsse die Gesamtabwägung zugunsten der Eigentümer von Grundstücken ausfallen, die innerhalb oder unmittelbar vor den bestehenden Orten gelegen seien, heißt es. Das gelte auch für Grundstücke, die mit dem Erhalt des Hambacher Forsts zusammenhingen.

BUND fordert Abrissstopp

Der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger begrüßte das Ergebnis des Gutachtens: "Die Zerstörung weiterer Dörfer für die Braunkohletagebaue ist nicht nur überflüssig, sondern verbietet sich auch aus verfassungsrechtlicher Sicht", betonte er. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) müsse nun mit dem Energieunternehmen RWE einen Abrissstopp vereinbaren.

Auch die nordrhein-westfälische Grünen-Vorsitzende Mona Neubaur forderte Laschet zum Handeln auf. "Die Landesregierung muss kurzfristig mit RWE verbindliche Vereinbarungen darüber treffen, wie der Braunkohleabbau reduziert wird", sagte sie. Ziel müssten der Erhalt des Hambacher Waldes und der Heimat für möglichst viele Tagebau-Betroffene sein. "Im Sinne der betroffenen Bewohner muss die Landesregierung hier für Klarheit sorgen", betonte sie.

Aktiontag in Garzweiler

Bereits am 28. Mai hatten sich der BUND sowie 40 weitere Verbände und Organisationen in einem offenen Brief an Ministerpräsident Laschet ein Moratorium für den Braunkohletagebau gefordert. Dieses solle so lange gelten, bis die politische Entscheidungen zum Kohleausstieg getroffen und umgesetzt seien. Die Umweltorganisation ruft zusammen mit anderen Organisationen und der Initiative "Alle Dörfer bleiben" zu einem Aktionstag am 22. Juni am Tagebau Garzweiler auf.



Städtetag für Abgabe auf CO2-Emissionen

Der Deutsche Städtetag will eine Abgabe auf CO2-Emissionen. Eine CO2-Bepreisung halte das Präsidium "für einen geeigneten und notwendigen Ansatz, um die Klimaziele schneller zu erreichen", sagte der Vizepräsident des Deutschen Städtetages, der Nürnberger Oberbürgermeister Ulrich Maly (SPD), am 4. Juni bei der Eröffnung der 40. Hauptversammlung des Deutschen Städtetags in Dortmund. Soziale Ungleichheiten müssten allerdings mit einem Teil der Einnahmen abgefedert werden, sagte Maly. Ein Teil der Mittel müsse in nichtfossile Energien investiert werden, um die Energiewende weiter voranzutreiben. Die Bepreisung könne allerdings kein Allheilmittel, sondern nur ein erster Schritt sein.

Kommunen fordern "Verkehrswende"

Der Städtetagspräsident, der Münsteraner Oberbürgermeister Markus Lewe (CDU), forderte zudem von Bund und Ländern ein Gesamtkonzept für mehr nachhaltige Mobilität in den Städten. "Die Verkehrswende ist keine Science-Fiction. Sie muss jetzt losgehen", sagte Lewe. Der Fahrradverkehr nehme deutlich zu. Autos transportierten im Durchschnitt nur 1,4 Menschen pro Fahrt, brauchten aber die meiste Fläche pro Fahrgast. "Das Gesicht unserer Städte soll nicht Parkplatz oder vierspurige Straße sein", sagte Lewe. Stattdessen brauche es eine "Radwege-Offensive von Bund, Ländern und Kommunen", bessere Umgehungen für Autofahrer, eine Aufwertung des ÖPNV und "kluge Sharing-Modelle".

Genaue Pläne müssten allerdings auch vor Ort mit den Bürgern ausgehandelt werden, sagte Lewe. Die Verkehrswende dürfe keine "Top-Down Geschichte" sein. Es gehe nicht um eine ideologische Diskussion, sondern um die Lebensqualität für die Allgemeinheit. Der Bund müsse zudem rasch seine Koalitionsversprechen einlösen und das Programm für Großprojekte im Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) von rund 330 Millionen auf eine Milliarde Euro anheben.

Maly forderte Bund und Länder zudem dazu auf, sich schnell im Gesetzgebungsprozess um die neue Gestaltung der Grundsteuer zu einigen. "Sonst fällt ein ganz wichtiges Standbein unserer Kommunalfinanzierung weg und das darf nicht sein.". Sollte es bis zum Jahresende keine Lösung geben, würden den teils ohnehin unterfinanzierten Städten etwa 14,5 Milliarden Euro entgehen. Die Steuer muss jeder Eigentümer eines Grundstücks zahlen. Zur Diskussion steht, ob bei der Berechnung nur die Fläche berücksichtigt oder auch ein Wertmaßstab berücksichtigt werden soll.

Bundespräsident warnt vor "moralischem Rigorismus"

Die Hauptversammlung, die bis zum 6. Juni in den Westfalenhallen Dortmund tagte, stand unter dem Motto "Zusammenhalt in unseren Städten". Kommunalpolitiker diskutierten dabei mit Fachleuten aus Verbänden und Wissenschaft. Am 5. Juni sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er rief auf dem Deutschen Städtetag zu mehr Kompromissbereitschaft in gesellschaftlichen Debatten auf. Ein Hang zu moralischem Rigorismus erschwere die Auseinandersetzungen, sagte Steinmeier. Das gelte für Diskussionen über Klimaschutz ebenso wie über Migrationspolitik und den angespannten Wohnungsmarkt. In einer dauererregten Öffentlichkeit drohten wichtige Themen zum "moralischen Kampfplatz" zu werden und andere Probleme zu verdrängen.

Der Deutsche Städtetag vertritt die Interessen der Städte gegenüber Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat, Europäischer Union und anderen Organisationen. Er setzt sich für die kommunale Selbstverwaltung ein.

Die Hauptversammlung ist das oberste Organ des Städtetages. Sie tagt alle zwei Jahre und setzt sich aus bis zu 800 Delegierten zusammen, die von den Mitgliedstädten und den außerordentlichen Mitgliedern entsandt werden.



Papier gibt Empfehlungen zum Ausbau der Windkraft in Unesco-Geoparks


Windräder
epd-bild/Jens Schulze

Die Unesco hat zur Streitfrage um Windräder in den sechs Geoparks in Deutschland ein Positionspapier veröffentlicht. Das Nationalkomitee für die Unesco-Geoparks gibt darin Empfehlungen zum Ausbau der Windkraft in den Gebieten, die Klimaschutzziele und den Erhalt bedeutender geologischer Formationen in Einklang bringen, wie die Deutsche Unesco-Kommission am 7. Juni in Bonn mitteilte. Laut dem Positionspapier gibt es in den Geoparks allerdings nur wenige Flächen, die für den Bau von Windenergieanlagen genutzt werden könnten. Im Einzelfall sollten nicht mehr als ein oder zwei Prozent der gesamten Flächenkulisse eines Planungsraums für Anlagengenehmigungen infrage kommen, hieß es.

Unesco-Geoparks sind Regionen, die Erdgeschichte anschaulich zeigen, bedeutende Fossilfundstellen oder Gesteinsformationen vorweisen. In Deutschland liegen solche Gebiete unter anderem in der Vulkaneifel, im Bereich der Ausläufer des Teutoburger Waldes und des Wiehengebirges sowie auf der Schwäbischen Alb. Die Areale machen derzeit 8,5 Prozent der Landesfläche aus und sind nach Angaben der Unesco-Kommission ein "wichtiger Faktor für das Gelingen der Energiewende". Weltweit gibt es 147 Unesco-Geoparks in 41 Ländern.

"Deutschland hat als Vorreiter der Energiewende eine hohe Verantwortung für die Erreichung der Klimaschutzziele", sagte die Vorsitzende des Nationalkomitees und Beauftragte für Auswärtige Kulturpolitik des Auswärtigen Amts, Irmgard Maria Fellner. Zur Energiewende leisteten auch die großflächigen Unesco-Geoparks ihren Beitrag. "Zugleich fordert das Nationalkomitee, dass die Geoparks dafür Sorge tragen, dass ihre Flächenanteile mit geologischem Erbe von internationaler Bedeutung und ihr Umfeld nicht beeinträchtigt werden."

Die Präsidentin der Deutschen Unesco-Kommission, Maria Böhmer, unterstrich, dass die Geoparks mit dem Positionspark nun über einen Leitfaden verfügten, "wie sie die doppelte Herausforderung von Klimaschutz und Geotopschutz im Sinne der Agenda 2030 lösen können". Damit sei dem Nationalkomitee eine "richtungsweisende Positionierung" gelungen.



NRW erweitert Umweltportal

Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat ihr Web-Portal für Bürger mit Umweltdaten erweitert und überarbeitet. Mit dem neu gestalteten Umweltportal wolle das Land Transparenz über den Zustand der Umwelt herstellen und den Menschen einen umfassenden Zugriff auf behördliche Umweltdaten ermöglichen, erklärte Staatssekretär Heinrich Bottermann am 5. Juni in Düsseldorf zum Neustart. Abrufbar sind beispielsweise lokale oder landesweite Daten zur Luftbelastung, Hochwasserlage, zu Umweltverträglichkeitsprüfungen oder Wolfsnachweisen.

Die Landesregierung war bereits 2013 mit ihrem zentralen Umweltportal www.umweltportal.nrw an den Start gegangen. Das Portal sei neben dem Karten-Portal "Umweltdaten vor Ort" und dem alle vier Jahre erscheinenden Umweltbericht die dritte Säule der Umweltberichterstattung in NRW, hieß es.



Hochschul-Aktion "#LecturesForFuture" ausgezeichnet

Die "Hochschulperle" des Stifterverbandes in Essen geht in diesem Monat nach Kleve. Die Hochschule Rhein-Waal/Rhine-Waal University of Applied Sciences werde für die Initiative "#LecturesForFuture" ausgezeichnet, teilte der Stifterverband am 4. Juni mit. Dabei machen Dozentinnen und Dozenten bundesweit in unterschiedlichen Fachbereichen in ihren Lehrveranstaltungen auf den menschengemachten Klimawandel aufmerksam.

Zwischen dem 14. und 20. Juni 2019 wollen die Beteiligten eine ihrer regulären Lehrveranstaltungen dem Thema widmen, wie es hieß. Zwei der Initiatoren der Aktion "#LecturesForFuture" aus Kleve sind Fellows aus dem Programm "Innovationen in der digitalen Hochschullehre" des NRW-Wissenschaftsministeriums und des Stifterverbandes.

Interaktiv und global vernetzt

Studenten sind aufgerufen, Kommentare, Bilder oder Videos der Veranstaltungen in den sozialen Medien zu teilen, wie der Stifterverband erläuterte. Die Dozenten und Professoren seien frei in der Wahl der Inhalte und der Gestaltung ihrer Lehrveranstaltung. So könne eine Mathematikerin Klimamodelle behandeln oder ein Soziologe die gesellschaftlichen Auswirkungen des Temperaturanstiegs diskutieren.

Neben Hochschulen aus NRW und anderen Bundesländern beteiligen sich den Angaben nach auch Universitäten aus Ghana, Frankreich und Tansania an der Aktion. Partner ist die Initiative "Scientists4Future" mit Wissenschaftlern und Prominenten, die die Klimapolitik aus wissenschaftlicher Perspektive kommentieren und sich den Forderungen der Schülerproteste "#FridaysForFuture" angeschlossen haben.

Hochschulperlen sind beispielhafte Projekte, die in einer Hochschule realisiert werden. Jeden Monat prämiert der Stifterverband eine Hochschulperle. Aus den Monatsperlen wird einmal im Jahr per Abstimmung die "Hochschulperle des Jahres" gekürt. In diesem Jahr steht die Hochschulperle unter dem Schwerpunktthema "Future Skills". Damit sind Kompetenzen gemeint, die in den nächsten Jahren vor dem Hintergrund von Digitalisierung und neuen Arbeitsformen für das Berufsleben und die gesellschaftliche Teilhabe wichtiger werden.



Nabu ruft zu Zählaktion für Schmetterlinge auf


Der Kleine Fuchs aus der Familie der Edelfalter
epd-bild / Steffen Schellhorn

Der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) in Nordrhein-Westfalen ruft ab dem 15. Juni wieder zur Zählaktion "Zeit der Schmetterlinge" auf. Bis zum 15. Juli können Bürger unter anderem in ihren Gärten die Tagfalter zählen und je nach Art erfassen, wie der Nabu am 7. Juni Düsseldorf mitteilte. Das Projekt findet in diesem Jahr landesweit zum vierten Mal statt.

"Mit der Zählaktion möchten wir den Blick für diese vergleichsweise auffällige Gruppe der Insekten schärfen und auf ihre dramatische Situation aufmerksam machen", sagte der stellvertretende Nabu-Landesvorsitzende Christian Chwallek. Wissenschaftliche Untersuchungen der letzten Jahrzehnte belegten "erschreckende Rückgänge" nicht nur bei der Artenvielfalt, sondern auch bei der Menge der erfassten Insekten. Ziel sei deshalb, "über die Jahre hinweg Tendenzen zur Bestandsentwicklung einzelner Tagfalterarten erkennen zu können".

Gezählt werden kann den Angaben zufolge überall - ob im eigenen Garten, an der Bushaltestelle oder im Schwimmbad. Empfehlenswert sei es, sich passende Pflanzen wie Blutweiderich, Wilden Majoran oder Natternkopf zu suchen und alle Falter zu zählen, die sich niederließen. Als Hilfe bei der Bestimmung hat der Nabu NRW auf der Homepage über 50 Falterporträts eingestellt. Als weitere Erleichterung der Zählung und Bestimmung gibt es außerdem einen Zählbogen und alternativ die Möglichkeit, die Beobachtung direkt über das Online-Formular einzutragen.




Soziales

Urteil mit vielen offenen Fragen


Niels Högel am Tag der Urteilsverkündung
epd-bild/Hauke-Christian Dittrich/dpa-Poolfoto
Niels Högel wird nie wieder Patienten töten. Und doch ist das Urteil im größten Serienmordprozess der deutschen Nachkriegsgeschichte erst ein juristischer Auftakt. Denn das Verfahren hat viele neue Fragen nach Schuld und Verantwortung aufgeworfen.

Einzig die sonore Stimme des Vorsitzenden Richters Sebastian Bührmann durchschneidet die aufgeladene Stille in der voll besetzten und zum Gerichtssaal umfunktionierten Weser-Ems-Halle. In einem ruhigen und sachlichen Ton verkündet er am 6. Juni das Urteil des Landgerichts Oldenburg gegen Niels Högel. Der frühere Krankenpfleger hat 85 Patienten ermordet, das sieht das Gericht als erwiesen an. Dafür bekommt er eine lebenslange Haftstrafe. In 15 weiteren Fällen spricht Bührmann Högel aus Mangel an Beweisen frei.

Der Richter hofft, dass das Urteil für viele Angehörige einen Abschluss bildet. Und doch werde wohl eine Frage nie geklärt werden, sagt Bührmann und zitiert eine Zeugin: "Warum hast du das getan, Niels?"

Damit Högel nicht vorzeitig wieder auf freien Fuß kommt, hat das Gericht die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Damit legt nach 15 Jahren zunächst eine Strafvollstreckungskammer fest, wieviel Zeit er noch im Gefängnis verbringen muss, bis die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden könnte. Außerdem muss ein Gutachter feststellen, dass vom Verurteilten keine Gefahr mehr ausgeht.

"Buchhalter des Todes"

Das Verfahren gegen den Ex-Krankenpfleger hat jeden Beteiligten im Innersten berührt. Er selbst sei sich während der 24 Verhandlungstage teilweise vorgekommen wie ein "Buchhalter des Todes", sagt Bührmann in Richtung des Angeklagten. Und zu den Angehörigen: "Wir saßen da und sprachen, und ich sah in fragende Gesichter." Genau deswegen sei es für ihn nie einzig darum gegangen, Högel zu verurteilen. "Ich wäre genauso zufrieden gewesen, wenn wir hätten sagen können, wir sind sicher, Högel hat Ihren Angehörigen nicht umgebracht." Nach einer Pause fügt er hinzu: "Aber wir können das in keinem der 15 Freisprüche."

Die Taten seien schlicht unbegreiflich, sagt Bührmann: "Es sind so viele - Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr - dass sich der menschliche Verstand schlicht ausschaltet, ja kapituliert." Um die Dimension zu veranschaulichen, macht der Richter eine Rechnung auf: Nach deutschem Recht werde aus allen Taten eine Gesamtstrafe gebildet. Nach US-amerikanischem Recht hingegen müssten für jede einzelne Verurteilung die Haftstrafen addiert werden. "Herr Högel, das sind bei 15 Jahren pro Fall zusammen 1.275 Jahre." Doch der Patientenmörder zeigt wie auch während der gesamten Urteilsverkündung keine Regung, sitzt stumm da und schaut mit aufgestütztem Kopf in die Ferne.

Bührmann ist sich bewusst, welche emotionale Tragweite der Prozess für die Angehörigen hat. Schon mit einer Schweigeminute für die Opfer am ersten Prozesstag machte er das deutlich. Auch am Tag der Urteilsverkündung spricht er die Anwesenden direkt an, spricht von quälender Ungewissheit über das Schicksal eines geliebten Menschen, von der Öffnung von Gräbern bei der Spurensuche, die "den Abschied unterbrochen" habe: "Ich hoffe für Sie, dass dieses Verfahren eine erneute Möglichkeit ist, Abschied zu nehmen und abzuschließen."

Änderungen im Klinikalltag

Das Gericht müsse jedoch Fakten heranziehen und emotionale Beweggründe bei der Urteilsfindung ausklammern, unterstreicht Bührmann. "Wir können nicht wegen Mordes verurteilen, bloß weil wir der Meinung sind, es wird schon so gewesen sein." In dubio pro reo - so laute der juristische Grundsatz, sagt der Richter mit einem Bedauern in der Stimme: "Im Zweifel für den Angeklagten." Für die Angehörigen ist dieser Beweismangel, der zu den Freisprüchen führte, unerträglich. Mehrere verlassen unter Tränen den Saal, als Bührmann diese Fälle erläutert. Für die Trauernden bleibt die Ungewissheit.

Nach dem Willen des Richters soll am Ende ein Urteil stehen, das einen größeren Zweck erfüllt als die bloße Bestrafung. Das Ziel sei, dass kein einzelner Mensch das Gesundheitssystem je wieder so missbrauchen könne, wie Högel es getan habe: "Wenn das Verfahren einen Sinn gehabt hat, dann würde ich mir das wünschen", sagt Bührmann. Und die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Schon während des Prozesses und auch am Tag des Urteils melden sich Patientenschützer, Mediziner und Experten mit Forderungen zu Veränderungen im Klinikalltag.

Dennoch bleiben zu viele Fragen unbeantwortet, vieles liegt weiterhin im Nebel verborgen. Wer hat wann was gewusst oder geahnt? Wer hat etwas vertuscht? Wann fing das Morden an? Weitere Prozesse müssen dafür Antworten finden. Gegen vier ehemalige Kollegen Högels aus Delmenhorst ist bereits Anklage erhoben worden. Gegen weitere Kollegen und Vorgesetzte aus Oldenburg wird noch ermittelt. Die Antwort auf die entscheidende Frage "Warum?" werden indes auch diese Verfahren nicht liefern können.

Björn Schlüter und Jörg Nielsen (epd)


Politik verpflichtet sich, mehr für Pflegekräfte zu tun


Krankenpflege in einem Altenheim
epd-bild / Gustavo Alabiso
Drei Bundesminister stellen die Ergebnisse der "Konzertierten Aktion Pflege" vor. Nun muss es an die Umsetzung gehen. Die Bezahlung und der Arbeitsalltag von Pflegekräften sollen sich schnell und spürbar verbessern.

Die Pflegekräfte sollen entlastet und mehr Menschen für den Beruf gewonnen werden. Das ist das Ziel von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), Familienministerin Franziska Giffey und Arbeitsminister Hubertus Heil (beide SPD), die am 4. Juni in Berlin die Vereinbarungen der "Konzertierten Aktion Pflege" vorstellten. Sie wollen mit dafür sorgen, dass bessere Gehälter und Mindestlöhne gezahlt werden, mehr für die Ausbildung getan wird und es Fachkräfte aus dem Ausland leichter haben, einen Job in Deutschland anzunehmen.

Entscheidend sei nun die Umsetzung, betonten die Minister. Spahn sagte, der Erfolg bemesse sich am Ende allein daran, ob die Pflegekräfte einen Unterschied feststellen könnten. Sowohl für die Alten- wie die Krankenpflege werde an Personalbemessungsverfahren gearbeitet, um Vorgaben für Mindestpersonalbesetzungen machen zu können.

Alles zusammen werde mehr Geld kosten, sagte Spahn und bezifferte allein die höheren Personalkosten mit zwei bis fünf Milliarden Euro pro Jahr. Es sei Aufgabe der Koalition, eine Lösung zu finden, sagte Spahn.

Forderung nach Tarifvertrag

Arbeitsminister Heil zufolge "wird es spätestens 2021 zu deutlichen Lohnsteigerungen in der Altenpflege kommen". Das könne entweder durch einen flächendeckenden Tarifvertrag oder über die Pflegemindestlohnkommission erreicht werden. Er favorisiere die Tariflösung, die aber von den privaten Anbietern in der Pflege abgelehnt wird. Bisher gibt es nur einen Mindestlohn, der im Osten niedriger ist als im Westen und nicht zwischen Pflegehelfern und Fachkräften unterscheidet.

Der Präsident des bpa-Arbeitgeberverbandes, Rainer Brüderle, widersprach Heil und erklärte, es gebe in der Branche keine Mehrheit für einen flächendeckenden Tarifvertrag. Sollte die Bundesregierung dennoch auf diesen Weg setzen, werde sein Verband "juristische Schritte nicht scheuen", sagte Brüderle. Der bpa-Arbeitgeberverband vertritt die mittelständischen und kleineren Einrichtungen. Auch der Arbeitgeberverband der Pflegekonzerne lehnt einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag ab.

Rückkehrer gesucht

Um mehr Personal zu gewinnen, soll laut den Vereinbarungen der "Konzertierten Aktion Pflege" die Rückkehr in den Beruf gefördert und unfreiwillige Teilzeit reduziert werden. Das Gesundheitsministerium will eine finanzielle Förderung prüfen. Außerdem soll die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland verbessert werden. Bereits Anfang des Jahres hatten die Beteiligten verabredet, bis 2023 die Erhöhung der Ausbildungsplätze und -bewerber um zehn Prozent anzustreben.

Im Rahmen der "Konzertierten Aktion Pflege" hatten Vertreter des Bundes und der Länder, die Akteure der Pflegebranche sowie Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften darüber beraten, wie die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte verbessert werden sollen. Schwerpunkt war die Altenpflege, einzelne Vorhaben betreffen auch die Krankenpflege.

"Jetzt müssen Taten folgen"

Ver.di-Vorstand Sylvia Bühler nannte es "äußerst positiv", dass eine breite Allianz die Forderung nach bedarfsgerechten und bundeseinheitlichen Personalvorgaben unterstütze. Es müsse Schluss sein mit der ständigen Überlastung durch zu wenig Personal, sagte Bühler. Die Diakonie erklärte, die Situation werde sich für die Pflegekräfte nur dann spürbar verbessern, wenn auch eine Reform der Pflegeversicherung angepackt werde. Mehrere Sozialverbände warnten davor, die steigenden Kosten auf die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen abzuwälzen. Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband bescheinigte der Politik aber zugleich den Mut, sich auf Verbesserungen festzulegen: "Jetzt müssen Taten folgen", sagte er.

In Deutschland fehlen nach unterschiedlichen Schätzungen 35.000 bis 80.000 Fach- und Hilfskräfte in Altenheimen, bei ambulanten Pflegediensten und in Krankenhäusern. Der Personalmangel wird ohne Gegenmaßnahmen durch die steigende Zahl pflegebedürftiger alter Menschen künftig noch zunehmen.



NRW: Kurzzeitpflege künftig auch in Kliniken möglich

In Nordrhein-Westfalen können neben Pflegeheimen künftig auch Krankenhäuser Kurzzeitpflege anbieten. Das ermögliche eine neue Vereinbarung mit den Pflegekassen und der Krankenhausgesellschaft NRW, teilte Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) am 7. Juni in Düsseldorf mit. In vielen Kreisen und Städten gebe es bisher zu wenig Plätze für dieses Angebot.

"Gerade im Anschluss an eine Krankenhausbehandlung führte das Fehlen von Kurzzeitpflegeplätzen oft zu menschlich schwierigen Situationen", erklärte Laumann. Er hoffe, dass viele Krankenhäuser sich beteiligen. Mit der neuen Vereinbarung könnten sie Kurzzeitpflege gegenüber den Pflegekassen abrechnen. Interessierte Kliniken könnten sich beim Ministerium melden.

In Nordrhein-Westfalen werden nach Angaben des Gesundheitsministeriums rund Dreiviertel aller Pflegebedürftigen - knapp 600.000 - zu Hause versorgt. Wenn die Pflege zuhause vorübergehend nicht möglich ist, können sie bis zu acht Wochen im Jahr Kurzzeitpflege in einer vollstationären Einrichtung in Anspruch nehmen. Das kann beispielsweise nach einem Krankenhausaufenthalt sein, bis der Übergang in die häusliche Pflege geregelt ist, oder wenn die pflegenden Angehörigen selbst krank werden, eine Reha-Maßnahme oder Urlaub brauchen.



Fortpflanzungsmedizin: Akademien fordern mehr Befugnisse

Nicht alles, was in der Fortpflanzungsmedizin möglich ist, ist in Deutschland erlaubt. Die Wissenschaftsakademie Leopoldina fordert eine Öffnung, um etwa die Eizellspende zu erlauben. Nötig wäre dafür eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes.

Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina fordert eine Öffnung des Embryonenschutzgesetzes, um in Deutschland verbotene Methoden der Fortpflanzungsmedizin zu erlauben. In einer Stellungnahme, die am 4. Juni gemeinsam mit der Union der deutschen Akademien der Wissenschaft in Berlin veröffentlicht wurde, plädieren die Experten unter anderem für die Erlaubnis der Eizellspende, die anders als die Samenspende in Deutschland verboten ist. In dem mehr als 120-seitigen Papier formulieren die Experten außerdem weitere Empfehlungen für eine Reform der Rechtslage bei künstlichen Befruchtungen, Embryonenspenden und Präimplantationsdiagnostik.

Die Eizellspende, bei der einer unfruchtbaren Frau ein Embryo aus der Eizelle einer anderen Frau übertragen wird, ist in Deutschland verboten. Grund ist die Vermeidung der gespaltenen Mutterschaft. Die die Halle ansässige Leopoldina argumentiert, auch bei einer Samenspende oder bei Adoptionen gebe es gespaltene Elternschaften.

Embryo-Auswahl

Die Wissenschaftler räumen in ihrer Stellungnahme zwar ein, dass die Eizellspende mit größeren Risiken für Spenderin und Empfängerin verbunden ist als eine Samenspende. Bei einer entsprechenden Aufklärung plädieren sie aber für die Zulassung, um Frauen, die sonst keine Kinder bekommen könnten, eine Schwangerschaft zu ermöglichen.

Die Experten fordern zudem, auch in Deutschland bei künstlichen Befruchtungen die Auswahl eines Embryos mit den besten Entwicklungschancen zu fördern. Dieser sogenannte Single-Embryo-Transfer wird in Deutschland nicht praktiziert, weil ihn das strenge Embryonenschutzgesetz nach bisheriger Auffassung nicht zulässt. Es schreibt vor, dass Embryonen nur zum Zweck der Befruchtung produziert werden dürfen und fordert, möglichst keine überzähligen Embryonen zu zeugen.

In der Folge werden Frauen bei künstlichen Befruchtungen meist mehrere Embryonen übertragen, um die Erfolgschancen für eine Schwangerschaft zu steigern. Die dadurch häufigeren Mehrlingsschwangerschaften seien eine Belastung für die Frauen, heißt es unter anderem zur Begründung in der Stellungnahme.

Bei der Embryospende plädiert die Leopoldina für eine klare rechtliche Grundlage. Die Spende, bei der eine Mutter einen bei künstlichen Befruchtungen übrig gebliebenen Embryo austrägt, ist in Deutschland nicht verboten, bewegt sich aber in einer Art Grauzone. Auch der Deutsche Ethikrat hatte bereits 2016 dafür klare gesetzliche Regelungen angemahnt.

Öffnung der PID gefordert

Zur in Deutschland verbotenen Leihmutterschaft, bei der eine Frau für die Wunscheltern ein Kind austrägt, äußern sich auch die Leopoldina-Wissenschaftler zurückhaltend, lehnen die Zulassung aber nicht komplett ab. Sie mahnen aber eine rechtliche Regelung für die Familien an, deren Kinder auf diesem Weg im Ausland zur Welt gekommen sind.

Eine klare Öffnung fordert die Leopoldina für die Präimplantationsdiagnostik (PID), die in Deutschland nur in eng begrenzten Fällen bei Verdacht auf schwere genetische Schäden des Kindes angewendet werden darf. Die Leopoldina empfiehlt, die Entscheidung über eine PID Arzt und Patient unter Einbeziehung von Beratung zu überlassen und nicht wie jetzt eine Ethikkommissionen einzuschalten. Zudem fordern sie, dass die Kosten für eine PID von der Krankenkasse übernommen werden. Für die Kostenübernahme plädierte auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), zog seine Pläne aber nach Protest aus der Union zurück.

Eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes zugunsten weiterer Fortpflanzungsmethoden steht derzeit nicht auf der konkreten Agenda der Bundespolitik. Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) hatte im August aber Vorschläge für eine Reform des Abstammungsrechts vorgestellt, um neuen Familienkonstellationen etwa nach Samen- oder Eizellspende, Leihmutterschaften oder Adoptionen gleichgeschlechtlicher Paare Rechnung zu tragen.



Schwere Gewalttaten gegen Kinder gehen nicht zurück

BKA-Chef Münch fordert mehr Möglichkeiten für die Ermittler im Internet. Der Missbrauchsbeauftragte Rörig appelliert an die Bundesländer, deutlich mehr für den Kinderschutz zu tun. Unverbindliches Mitgefühl reiche nicht aus.

Schwere Gewalt gegen Kinder ist ein besonders düsteres Kapitel für Ermittler und Kinderschützer, und sie geht nicht zurück. In Deutschland werden jeden Tag allein mindestens 40 Kinder Opfer sexueller Gewalt. Der Präsident des Bundeskriminalamts, Holger Münch, sagte am 6. Juni in Berlin, die Zahlen seien erschreckend. Die Deutsche Kinderhilfe verlangte mehr Aufmerksamkeit für die Gefährdung von Kindern. Der Vorstandsvorsitzende Rainer Becker sagte, Polizei und Jugendämter bräuchten dafür mehr Personal.

136 Kinder wurden 2018 getötet, 63 vorsätzlich und 73 fahrlässig. Hinzu kamen 98 Tötungsversuche. Die Zahl der polizeilich bekannten Misshandlungen von Kindern sank 2018 geringfügig gegenüber dem Vorjahr auf 4.180 Fälle. Die Hälfte der Opfer war jünger als sechs Jahre.

Im vorigen Jahr wurden bei der Polizei 14.606 Fälle von sexuellem Missbrauch angezeigt, knapp 800 mehr als im Vorjahr. Die Täter sind Münch zufolge überwiegend männliche Erwachsene aus dem engen Umfeld der Kinder, die Opfer zu zwei Dritteln Mädchen. Die Polizeiliche Kriminalstatistik gibt nur Auskunft über die angezeigten Fälle. Das Dunkelfeld wird von Experten als weit größer eingeschätzt. Münch sagte: "Es gibt weitaus mehr Taten als wir sehen - und wir sehen schon viel."

Hinweise aus den USA

Den stärksten Anstieg von rund 14 Prozent verzeichnet die Kriminalstatistik bei den Zahlen zur Herstellung, dem Besitz und der Verbreitung von kinderpornografischem Material. Die Polizei registrierte knapp 7.500 Fälle. Die meisten Hinweise auf Missbrauchsdarstellungen kommen laut Münch aus den USA, wo Provider verpflichtet sind, kinderpornografisches Material zu melden. Er forderte eine Meldepflicht auch für Deutschland.

In jedem fünften Fall mussten die Ermittler laut Münch die Verfolgung aufgeben, weil die Adressen der Computer, auf denen die Bilder und Daten gespeichert sind, nicht mehr vorhanden waren. Die Möglichkeit, IP-Adressen und Verbindungsdaten bis zu zehn Wochen zu speichern, ist in Deutschland aufgrund eines Gerichtsurteils ausgesetzt, bis eine Regelung auf EU-Ebene vorgegeben wird. Ein weiteres Problem der Ermittler sei die riesige und weiter wachsende Datenmenge, die ausgewertet werden müsse, sagte Münch.

Der BKA-Chef begrüßte den Plan von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), den polizeilichen Ermittlern die Übernahme digitaler Identitäten von Tätern auch gegen deren Widerstand zu ermöglichen. In Fällen, in denen überführte Täter mit der Polizei freiwillig zusammengearbeitet hätten, habe man beachtliche Ermittlungserfolge erzielt, sagte Münch.

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, richtete einen eindringlichen Appell an die Bundesländer, Missbrauchsbeauftragte auf Landesebene zu berufen. Unverbindliches Mitgefühl reiche im Kampf gegen sexuelle Gewalt nicht aus, sagte Rörig. Die Länder seien zuständig für die Verfolgung der Täter und müssten sich verbindliche Ziele setzen für die Prävention: "Kinderschutz gehört nach ganz oben auf die Agenda einer jeden Landesregierung", sagte Rörig.

Bettina Markmeyer (epd)


Merkel zeichnet NRW-Projekte bei Startsocial-Wettbewerb aus

Soziale Initiativen für Flüchtlinge und Senioren in NRW sind am 3. Juni in Berlin im Rahmen des Startsocial-Wettbewerbs von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ausgezeichnet werden. Die Medizinische Flüchtlingshilfe Düsseldorf und das Projekt "Obstkäppchen" aus Hennef bei Bonn waren unter den sieben Initiativen, die ein Preisgeld von je 5.000 Euro erhielten, wie der Verein Startsocial in München mitteilte. Den Sonderpreis der Bundeskanzlerin erhielt das Projekt "Elektriker ohne Grenzen" aus Kassel.

Die Medizinische Flüchtlingshilfe wurde den Angaben nach von Düsseldorfer Medizinstudenten ins Leben gerufen. Sie begleiten Flüchtlinge zu Arztbesuchen und haben unter anderem bilinguale Anamnesebögen in verschiedenen Sprachen erstellt, um das ärztliche Erstgespräch zu erleichtern. Der Verein "Obstkäppchen" in Hennef solle von Altersarmut betroffenen Menschen zu einer ausgewogenen Ernährung verhelfen, hieß es. Ehrenamtliche beliefern Senioren mit kostenlosen Tüten mit gesunden Lebensmitteln. Dadurch sollen auch soziale Kontakte entstehen.

Die Preisträger gehören zu 100 sozialen Projekten, die seit Herbst 2018 mit einem Startsocial-Beratungsstipendium gefördert wurden. Die 25 überzeugendsten Initiativen wurden am 3. Juni ins Bundeskanzleramt in Berlin eingeladen, sieben von ihnen wurden mit einem Geldpreis in Höhe von jeweils 5.000 Euro ausgezeichnet. Unter ihnen waren auch der Münchner Verein "Zeltschule", der im Libanon Zeltschulen für syrische Flüchtlingskinder betreibt, und das Berliner Projekt "Rent a Jew", das jüdische Referenten an Schulen und Vereine vermittelt.

Der Wettbewerb Startsocial zeichnet seit 2001 ehrenamtliche soziale Initiativen aus. Hauptförderer sind der Versicherungskonzern Allianz, die Deutsche Bank, der IT-Dienstleister Atos, das Medienunternehmen ProSiebenSat1 Media und die Unternehmensberatung McKinsey & Company. Soziale Initiativen, die mit Ehrenamtlichen arbeiten, können sich noch bis zum 7. Juli bei Startsocial im 16. Wettbewerbs-Durchgang um Beratung und finanzielle Förderung bewerben.



Youtube-Video wirbt für Respekt gegenüber Rettungskräften

Mit einem Youtube-Video mahnt ein Kreisverband des Deutschen Roten Kreuzes Respekt gegenüber Rettungskräften an. Die Zahl der Angriffe auf Rettungs- und Einsatzkräfte nehme stetig zu, erklärte der DRK-Kreisverband Grevenbroich bei der Veröffentlichung des Videos am 5. Juni. "Für uns als Rettungsdienst, also Betroffene, höchste Zeit, sich klar zu positionieren." Mit dem Video solle ein klares Zeichen gegen jedwede Form von Gewalt im Rettungsdienst gesetzt werden. Das Statement stehe stellvertretend auch für die "Kollegen der Polizei, Feuerwehr und allen anderen Einsatzkräften".

In dem Video stellen Rettungskräfte des DRK-Kreisverbandes zu dem bekannten Song "Respect" von Aretha Franklin die häufigsten Übergriffe im Einsatz durch Selfie-Macher, Messerstecher oder Angriffe von alkoholisierten Menschen nach. Dazwischen werben die Retter immer wieder für Respekt, etwa mit Statements wie "Wir stehen zu dir! Steh Du zu uns!"

"Wir sind bei unseren Einsätzen für Menschen da, die in höchster Not sind", sagte der Sprecher der Aktion, Marcel Offermann, dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Wir wollen damit sagen: Bringt uns doch ein Mindestmaß an Respekt entgegen, dass wir unsere Arbeit machen können."



"Wir sind die Brücke zwischen Überfluss und Mangel"


Dunja Dogmani und Arne Rudolf von der "Lindenstraße" verteilten am 8. Juni Suppe.
epd-bild/Guido Schiefer
Rund 1.000 Gäste an einer hundert Meter langen Tafel: Mit einem öffentlichen Mahl unter freiem Himmel haben die Tafel-Initiativen den Abschluss ihres Bundestreffens gefeiert.

Insgesamt rund 1.000 Menschen sitzen an langen Tischen, essen, trinken und verfolgen das Musikprogramm der Bühne. Bei der Essensausgabe sind Dunja Dogmani und Arne Rudolf, zwei Stars aus der ARD-Serie "Lindenstraße", im Einsatz. Bei dem öffentlichen gemeinsamen Mahl der Tafel-Initiativen auf dem Kölner Heumarkt lassen es sich die Gäste gutgehen - bei Bratwurst, dem kölschen Klassiker "Halver Hahn", Linsensuppe, Kuchen und Obst aus Tafelbeständen. Die Aktion am 8. Juni war zugleich Abschluss des Bundestreffen der Tafel-Initiativen in Köln, bei dem sich 700 Vertreter von fast 950 Tafeln mit der Zukunft der Projekte zur Lebensmittelrettung befasst haben.

Die Tafeln leben von dem großen ehrenamtlichen Engagement. Viele von ihnen sind oder waren selber Kunden der Tafeln. "Ich bin Koch und war arbeitslos", erzählt Klaus, der sich mit einem Apfel der Tafel am Heumarkt sonnt. Er habe eineinhalb Jahre die Tafel in Ehrenfeld in Anspruch genommen und dort auch mitgearbeitet. "Für mich war das ein Segen, weil ich unter Menschen war." Der neben Klaus sitzende André arbeitet fünf Stunden im Monat ehrenamtlich bei einem Obdachlosenfrühstück, das unter anderem die Kölner Diakonie organisiert. "Ich decke Tische, schenke Kaffee aus und schmiere Brötchen", berichte der junge Mann.

"Kitt der Gesellschaft"

Junge Leute wie André werden von den Tafeln dringend gesucht, erklärt der Vorsitzende der "Tafel Deutschland", Jochen Brühl. Derzeit arbeiten 60.000 Ehrenamtliche in den Projekten. Sie leisteten jährlich 24 Millionen Stunden Arbeit. Das entspricht etwa 13.500 Vollzeit-Mitarbeitern. "Sie sind der Kitt der Gesellschaft", würdigt sie die Kölner Oberbürgermeister Henriette Reker (parteilos) zum Auftakt. Zugleich verweist Reker darauf, dass die Tafeln Überbrückung in vorübergehend schwierigen Lebensumständen sein sollen. Sie seien jedoch kein dauerhafter Ersatz für staatliche Leistungen, betont die Schirmherrin des Tafeltreffens.

"Wir sind die Brücke zwischen Überschuss und Mangel", beschreibt Brühl die Rolle der Tafeln. Die Tafeln retteten jährlich rund 264.000 Tonnen Lebensmittel vor der Vernichtung. Verschwendet werden in Deutschland trotzdem rund 18 Millionen Tonnen Lebensmittel im Jahr, moniert Brühl, der beim Bundestreffen erneut zum Vorsitzenden des Dachverbands der Tafeln gewählt wurde. Gleichzeitig habe sich die Zahl der Tafel-Nutzer seit 2007 verdoppelt, auf derzeit rund 1,5 Millionen Menschen.

"Diese Zahlen sind eine erbärmliche Bilanz und ein moralischer Skandal für Deutschland", kritisiert Brühl. Die Politik müsse den Gegensatz der unfassbaren Verschwendung einerseits und des Mangels und der Armut andererseits nachhaltig auflösen. Brühl kritisiert, dass das "Containern", also die Rettung von Lebensmitteln aus Supermarktmüll, weiterhin unter Strafe gestellt ist. In Frankreich etwa sei es gesetzlich verboten, Lebensmittel wegzuwerfen. Eine gesetzliche Regelung sei aber nur das letzte Mittel. "Wir setzen in Gesprächen mit den Unternehmen auf Erfolge", betont Brühl.

Trikotwerbung beim 1. FC Köln

Wie das funktionieren kann, zeigen Vertreter der Supermarktketten Rewe und Penny, die unter großem Beifall auf der Bühne eine Lebensmittelspende von 23 Tonnen ankündigen. Außerdem wollen die Spieler des Wiedererstligisten 1. FC Köln bei einem Heimspiel in der nächsten Saison auf ihren Trikots statt für den Hauptsponsor Rewe für die Tafeln werben.

Die Umverteilung, die bei den Tafeln praktiziert werde, müsse sich endlich auch in der politischen Debatte wiederfinden, fordert Brühl. Sowohl die Klimafrage als auch die sozialen Ungleichheiten könnten nur mit echten Visionen eines Zusammenlebens beantwortet werden. Neben den Klimazielen müsse es daher auch verbindliche Ziele zur Bekämpfung von Armut geben. Nach Überzeugung von Brühl kann das Engagement der Tafeln auch Modell für weitere Bereiche der Gesellschaft sein: "Dafür, wie eine Gemeinschaft mit mehr Gerechtigkeit, Solidarität und ökologischem Bewusstsein gelebt werden kann."

Andreas Rahmann (epd)


Containern bleibt strafbar

Die Justizminister der Länder haben die Entnahme von Lebensmitteln aus Müllbehältern nicht legalisiert. Ein Antrag von Hamburgs Justizsenator Till Steffen (Grüne), das Containern straffrei zu stellen, erhielt bei der Konferenz der Justizminister in Lübeck-Travemünde am 6. Juni keine Mehrheit. Die Minister plädierten für die Schaffung alternativer Abgabeformen von Lebensmitteln. Diese sollen es insbesondere großen Händlern ermöglichen, Lebensmittel freiwillig an Dritte abzugeben.

Das sei ein Alternativbeschluss, der das Problem des Containerns ausklammere, erklärte Steffen. "Es versteht kein Mensch, warum die Entnahme von Müll bestraft werden muss", sagte der Senator.



Studie: Besserverdiener leben deutlich länger

Wer in seinem Leben wenig verdient hat, lebt im Durchschnitt deutlich kürzer als seine vermögenden Mitbürger. Das geht aus einer Studie hervor, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) am 5. Juni in Berlin vorgestellt hat. Diese Tatsache führt zudem dazu, dass Menschen aus den unteren Lohngruppen überproportional weniger Rente im Verhältnis zu ihren eingezahlten Beiträgen erhalten.

Der Abstand bei der Lebenserwartung zu den Besserverdienenden nimmt den Angaben zufolge noch zu. Für die Studie haben die Forscher Daten der Rentenversicherung darauf untersucht, wie sich die Lebenserwartungen verschiedener Geburtsjahrgänge im Verhältnis zu den Lebenslohneinkommen im Zeitverlauf entwickeln und welche Verteilungswirkungen das für die Rente hat. Analysiert wurden dabei ausschließlich die Daten westdeutscher männlicher Arbeitnehmer, die zwischen 1926 bis 1949 geboren wurden, also die heutigen Rentenbezieher.

Aufwertung unterer Rentenansprüche

"Es zeigt sich nicht nur, dass die Lebenserwartung mit höheren Lebenslohneinkommen steigt. Auffällig ist auch, dass der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen dem obersten und dem untersten Lebenslohndezil im Zeitverlauf zunimmt", heißt es in der Erhebung. Lag die Differenz für die ältesten Geburtsjahrgänge noch bei vier Jahren, erhöht sie sich für die Jahrgänge 1947 bis 1949 auf sieben Jahre.

Dieser Zusammenhang zwischen Lebenslohneinkommen und Lebenserwartung werde künftig auch bei Frauen auftreten, weil diese zunehmend längere Erwerbsbiografien und damit höhere Lebenslohneinkommen erzielen, hieß es. Die Ergebnisse unterstrichen, wie wichtig eine Aufwertung der unteren Rentenansprüche sei, um das Altersarmutsrisiko zu senken.

Die derzeit diskutierte Grundrente, unabhängig von der Frage einer Bedürftigkeitsprüfung, wäre dabei eine Möglichkeit, betonten die Autoren. "Allerdings sollte das Armutsproblem nicht nur über die Rentenversicherung aufgefangen werden", geben die Forscher zu bedenken. Als gesamtgesellschaftliche Herausforderung wäre es auch denkbar, steuerliche Hebel in Bewegung zu setzen, um nicht einseitig die Arbeitnehmer zu belasten.



NRW-Gesundheitswirtschaft wächst

Die Leistung der nordrhein-westfälischen Gesundheitswirtschaft ist im vergangenen Jahr überdurchschnittlich gewachsen. Wie das Statistische Landesamt am 7. Juni in Düsseldorf auf Basis vorläufiger Berechnungen mitteilte, legte die Bruttowertschöpfung der Gesundheitsbranche gegenüber 2017 preisbereinigt um 2,2 Prozent auf 63,2 Milliarden Euro zu. Das war fast ein Zehntel der gesamten Wirtschaftsleistung in NRW. Die gesamte Wirtschaft im Bundesland verzeichnete im gleichen Zeitraum einen Zuwachs von 0,9 Prozent.

Seit dem Jahr 2010 wuchs die Gesundheitswirtschaft in NRW damit konstant, wie es hieß. Die Leistung in der Gesundheitswirtschaft war 2018 preisbereinigt um 13 Prozent höher als 2010. Im vergangenen Jahr arbeiteten im Land rund 1,3 Millionen Menschen in der Gesundheitswirtschaft. Das waren 14,1 Prozent aller Erwerbstätigen des Landes. Gegenüber 2017 erhöhte sich die Zahl der Erwerbstätigen im Gesundheitsbereich damit um 2,4 Prozent.



Umfrage: Spendenbereitschaft der Deutschen sinkt

Die generelle Bereitschaft zur Geldspende ist in Deutschland gering. Nur jeder sechste Deutsche (17 Prozent) will in Zukunft mit Bestimmtheit eine wohltätige Organisation finanziell unterstützen, wie eine am 10. Juni in Köln veröffentlichte repräsentative Umfrage des Marktforschungsinstituts "YouGov" ergab. Die Hälfte (48 Prozent) zeigte sich unentschlossen und gab an, vielleicht oder wahrscheinlich etwas zu spenden. Jeder Dritte (35 Prozent) hat demnach nicht vor, künftig zu spenden. Im Vergleich zu einer Umfrage im Jahr 2014 sei der Anteil finanzieller Unterstützer von 49 auf 44 Prozent zurückgegangen, hieß es.

Besonders deutlich werde dieser Negativtrend im Bereich der einmaligen Spenden für ein bestimmtes Projekt: Spendete hier 2014 noch etwas mehr als die Hälfte (56 Prozent) der Deutschen, seien es heute nur 43 Prozent. Auch zum Beispiel beim Kauf von Losen für einen wohltätigen Zweck (2014: 41 Prozent zu 34 Prozent in 2019) oder Mitgliedschaft in einer wohltätigen Organisation (Minus von zehn Prozent) zeigen sich die Deutschen zurückhaltender als noch vor fünf Jahren, wie es hieß. Für die aktuelle YouGov-Studie wurden im April bundesweit 2.500 Bürgerinnen und Bürger ab 16 Jahren befragt.

Jüngere wollen sich selbst engagieren

Die Untersuchung zeigt demnach einen Unterschied zwischen den Generationen: 82 Prozent der über 54-Jährigen bejahen die Frage, dass wohltätige Organisationen einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Vier von zehn (39 Prozent) sehen es mehr als ihre Pflicht, diese finanziell zu unterstützen. Bei der Altergruppe zwischen 16 bis 34 Jahre ist die Spendenbereitschaft mit 34 Prozent geringer. Dafür meinen fast zwei Drittel (63 Prozent) der Jüngeren, sie wären stolz, für eine wohltätige Organisation zu arbeiten. Von den älteren Befragten können sich das 48 Prozent vorstellen.

Laut Studienleiterin Martha Posthofen von YouGov hat die "klassische Spendenwerbung" längst ausgedient. "Jede Altersgruppe legt ein anderes Spendenverhalten an den Tag und die Einstellungen gegenüber den einzelnen Organisationen unterscheiden sich teils deutlich", sagte sie. Hinzu kämen unterschiedliche Interessen wie etwa Tierschutz und Flüchtlings- oder Katastrophenhilfe, die eine Auswirkung auf die Spendenbereitschaft hätten. Eine zielgerichtete Ansprache mit entsprechenden Inhalten und dazu passenden Spendenformen könne deshalb potenzielle Spender überzeugen.




Medien & Kultur

Ein Museum voller erlebter Geschichten


Haus der Geschichte in Bonn
epd-bild / Christoph Papsch
Das Haus der Geschichte in Bonn ist eines der beliebtesten Museen Deutschlands. Vor 25 Jahren startete es mit einem bis dahin ungewöhnlichen Konzept.

Ein kleines Stück laminiertes Papier ist alles, was von dem jungen Deutschen geblieben ist. Am 11. September 2001 starb der Bankmitarbeiter beim Anschlag auf das New Yorker World Trade Center. Heute erinnert der zerfetzte Dienstausweis zusammen mit einem verbogenen Stück Stahlträger an den Terroranschlag, der auch für Deutschland gravierende Folgen hatte. "Für mich gehört es zu den berührendsten Ausstellungsstücken", sagt der Präsident der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Hans Walter Hütter. "Über die Geschichte eines Menschen kann man große Geschichte am eindrucksvollsten erzählen."

Große Ereignisse im Alltäglichen einzufangen und greifbar zu machen, war von Beginn an das Konzept des Hauses der Geschichte. Diese vor 25 Jahren noch recht neue Herangehensweise an museale Ausstellungsarbeit, hat sich bezahlt gemacht. Fast 20 Millionen Besuche registrierte das Haus seit seiner Eröffnung am 14. Juni 1994. Es zählt zu den drei beliebtesten Museen Deutschlands. Während sich die chronologische Dauerausstellung der deutschen Nachkriegsgeschichte widmet, griffen die bislang insgesamt 140 Wechselausstellungen immer wieder aktuelle Themen auf.

Zeitzeugen-Gespräche stehen im Mittelpunkt

Ob es um die Muslime in Deutschland ging, das deutsch-amerikanische Verhältnis, die Entwicklung der Ernährungsgewohnheiten der Deutschen oder die sich wandelnde Sexualmoral: Nie speist das Haus der Geschichte seine Besucher mit trockener Chronologie oder langweilig aneinandergereihten Exponaten ab. Zentrales Element der Ausstellungen sind die Erzählungen von Zeitzeugen, die die Besucher an Audio- oder Touch-Screen-Stationen abrufen können. Immer sind die Ausstellungen reich an Film- und Tondokumenten.

Dies dürfte ganz im Sinne des Initiators des Museums sein, des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl. Er gab 1987 für das künftige Haus der Geschichte die Marschroute aus: "Die deutsche Geschichte soll so dargestellt werden, dass sich die Bürger darin wiedererkennen."

Das Haus hat weit mehr zu bieten als die rund 7.000 Objekte auf 4.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche sowie Wechselausstellungen auf 800 Quadratmetern. Über das Sammeln und Dokumentieren hinaus widmet sich das Museum vor allem der Geschichtsvermittlung durch Veranstaltungen, Publikationen und inzwischen auch über digitale Medien.

Entscheidend für den Erfolg des Museums sei gewesen, dass die Ausstellungsmacher von Anfang an die breite Bevölkerung als Zielgruppe im Fokus gehabt hätten, sagt Hütter. Es sollte kein Museum für Experten oder besonders historisch bewanderte Besucher werden, sondern für den Alltagsmenschen. "Geschichte durch Geschichten erzählen" sei von Beginn an das Motto gewesen.

Diese Nähe zur Alltagskultur brachte dem Museum allerdings auch gelegentlich Kritik ein. Schnäppchenjagd nach effekthaschenden Objekten und Profanisierung der Geschichte wurde dem Haus bisweilen vorgeworfen. Das Konzept, Geschichte erlebnisorientiert zu vermitteln, kam hingegen beim Publikum an. Rund 800.000 Besuche pro Jahr kann das Haus verbuchen. Schnell wurde es deshalb zum Vorbild. 1996 empfahl der Europarat allen Mitgliedsstaaten, historische Museen nach dem Muster des Hauses der Geschichte zu gründen. In Wien ist das zum Beispiel schon geschehen. Auch das vor zwei Jahren in Brüssel eröffnete Haus der europäischen Geschichte orientierte sich an dem Bonner Museum.

Die Geschichte zweier Staaten

Das Bonner Haus der Geschichte wird sich jedoch immer durch eine Besonderheit von vergleichbaren nationalen Geschichts-Museen abheben: Es erzählt stets die Geschichte zweier Staaten. Von Anfang an sei geplant gewesen, die Geschichte der DDR miteinzubeziehen, sagt Hütter. Als nur Wochen nach dem ersten Spatenstich für das Museum, der am 21. September 1989 stattfand, die Berliner Mauer fiel, warf das deshalb die inhaltlichen Pläne nicht komplett über den Haufen. Man habe das Konzept lediglich anpassen müssen, sagt Hütter. Inzwischen gehören zur Museums-Stiftung auch Außenstellen in Leipzig und Berlin.

Auch wenn die Bonner Republik inzwischen Geschichte ist: Das Haus der Geschichte bleibt weiterhin ein Ort der aktuellen Diskussion in der früheren Bundeshauptstadt. Zuletzt sprach dort am 15. Mai Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anlässlich von 70 Jahren Grundgesetz mit Studierenden. Beim Festakt zum 25-jährigen Bestehen am 14. Juni wird Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Festansprache halten.

Claudia Rometsch (epd)


Bilder einer Rebellin


Spero-Installation "Maibaum: Macht keine Gefangenen II" (2008) in Essen
epd-bild/Stefan Arend
Krieg und Gewalt sowie das Verhältnis der Geschlechter spielen eine große Rolle im Werk von Nancy Spero. Das Folkwang Museum in Essen widmet der US-amerikanischen Künstlerin eine große Überblicksausstellung.

Mit einer großen Hinweistafel in kräftigem Orange an der Außenfassade weist das Museum Folkwang auf die neue Sonderausstellung "Nancy Spero" hin. Auf einen erklärenden Ausstellungstitel sei bewusst verzichtet worden, sagte Kurator Tobias Burg. Es solle Nancy Spero (1926-2009) entdeckt werden und die unangepasste US-amerikanische Künstlerin lasse sich nicht unter bestimmten Aspekten einordnen.

Spero setze sich mit existenziellen Aspekte des Menschseins auseinander, hieß es zum Start der Schau am 7. Juni. In ihrem Werk gehe es um Krieg und Gewalt, aber auch um Ungerechtigkeiten im Verhältnis der Geschlechter. In ihrem chronologischen Aufbau greift die Ausstellung die Entwicklung der thematischen und werkgeschichtlichen Phasen Speros auf.

In ihrem Selbstverständnis als Aktivistin und politische Künstlerin habe sie Kunst als Mittel in der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung verstanden, sagte Burg. Dass Spero nicht die von ihr gewünschte Aufmerksamkeit erhalten habe, sieht der Kurator in ihrem "antizyklischen Arbeiten" begründet: "Das macht es schwer, beachtet zu werden." Entgegen der in ihrer Zeit vorherrschenden Richtungen abstrakter Expressionismus, Minimalismus und Pop-Art habe Spero auf eigene Ausdrucksformen gesetzt und vielfach subversive Darstellungen verwendet. Ihre Arbeiten hätten immer wieder autobiografische Elemente.

"Black Paintings" aus Pariser Jahren

Die erste Ausstellungsabteilung zeigt ihre während ihrer Jahre in Paris 1959 bis 1964 gemalten großformatigen, expressiven "Black Paintings" mit Motiven zwischenmenschlicher Nähe. Verstörend wirken dabei die dunklen Farben, die sich in derben Alptraumwesen verdichten. Zurückgekehrt nach Amerika in der Zeit des Vietnamkriegs wird das Thema Krieg bei Spero bestimmend. Es findet in den "War Series" 1966 bis 1970 ihren Niederschlag, die bis in eine aggressive und von Zorn im Ausdruck bestimmte Anklage hineinreichen.

In der Auseinandersetzung mit Texten des französischen Dramatikers und Erfinders des "Theaters der Grausamkeit", Antonin Artaud (1896-1948), entstehen zwischen 1969 und 1973 zwei Werkgruppen mit bedrohlichen, figurativen Motiven. Diese "Artaud Paintings" und den "Codex Artaud" kombiniert die Ausstellung mit Zitaten des Theatertheoretikers.

In Speros künstlerischem Schaffen wird die Frage nach der Stellung von Frauen in der Gesellschaft immer wichtiger. Sie beteiligt sich an Aktionen der Frauenbewegung und ist Mitbegründerin der New Yorker A.I.R. Gallery, die nur Werke von Künstlerinnen ausstellt. Aus Protest gegen die von männlichen Kollegen dominierte Kunstwelt tauscht sie die von diesen verwendete Leinwand gegen den Malgrund Papier ein. Ab 1972 bildet Spero nun noch Frauen in ihren Werken ab. Unter anderem entstehen große waagerecht ausgerichtete Papierstreifen, auf denen sie 1976 in "Torture of Women" (Folter von Frauen) Berichte und Bilder der Mythologie und Zeitgeschichte miteinander verbindet und verdichtet.

In den 1980er Jahren verlagert sich der Schwerpunkt ihres Schaffens. Das zeigt die Ausstellung mit den nunmehr durch kräftige Farben geprägten anderen Frauenbildern. Entnommen aus Mythologie, Zeitgeschichte, Mode und Werbung wird die Typik lebhaft und zum selbstbewussten Defilee von "Göttinnen und Tänzerinnen". Die Verwendung von Figurenstempeln bringt einen damit technisch zwangsläufigen und inhaltlich gewollten Schematismus hervor. Während Spero in ihren früheren Arbeiten maskuline Bildnisse als pauschalen Code für das Böse verwendete und Frauen in der Opferrolle zeigte, erscheinen ihre Figuren nun in selbstbestimmter Weiblichkeit.

Gezeigt wird die große Überblicksausstellung mit 75 Werken im Museum Folkwang bis zum 25. August. Anschließend wandert sie weiter in drei skandinavische Museen in Schweden, Dänemark und Norwegen.

Peter Noçon (epd)


Ausstellung zu Fontanes märkischen Wanderungen


Der Dichter an seinem Arbeitsplatz
epd-bild/Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte
Als Wanderer durch die Mark Brandenburg ist er bekanntgeworden und hat dem Land ein literarisches Denkmal gesetzt. Zum 200. Geburtstag von Theodor Fontane wirft nun eine Ausstellung ein neues Licht auf das Hauptwerk des Dichters.

Wer die Mark Brandenburg bereisen will, muss Liebe zu Land und Leuten mitbringen, das Gute gut finden und kritische Vergleiche meiden, empfiehlt Theodor Fontane (1819-1898) gleich im Vorwort zu seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg". Im Jubiläumsjahr zum 200. Geburtstag des Schriftstellers rückt eine Ausstellung im Potsdamer Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte nun sein Hauptwerk in den Blick, an dem er mehr als 30 Jahre immer wieder arbeitete. Sie ist bis zum 200. Geburtstag Fontanes am 30. Dezember zu sehen.

Gleich zu Beginn räumt die Ausstellung mit einem Klischee auf: In der Gewölbehalle des historischen Kutschstalls am Potsdamer Neuen Markt stehen die Besucher vor Modellen von Pferdeomnibussen, Dampfschiffen und einer Eisenbahn. Auch eine große Kutsche beweist: Gewandert ist Fontane eher selten.

"Da er Journalist war, wenig Zeit und materielle Mittel besaß, kombinierte er alle Verkehrsmittel seiner Zeit, um möglichst sinnvoll viele Orte zu verbinden", erklärt Kuratorin Christiane Barz. Die Fontane-Ausstellung mit dem Titel "Bilder und Geschichten" folgt dem "märkischen Wanderer" auf seinen Erkundungstouren durch das Land.

Einblick in die Notizbücher

Neben der den Romanen und Gedichten gewidmeten Leitausstellung in Neuruppin, der Geburtsstadt des Schriftstellers, ist die Ausstellung im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam die zweite große Station im Jubiläumsprogramm "fontane.200" des Landes Brandenburg. Mit rund 300 Exponaten lädt sie dazu ein, den reisenden Geschichtensammler und die Methoden kennenzulernen, mit denen Fontane sich die Mark als Erzählraum eroberte.

Ein Großfoto zeigt Fontane mit Globus und Federkiel, wie er sich am Schreibtisch in Berlin inszenierte. Von dort fällt der Blick auf eine lange Reihe von Vitrinen und Medientischen in der Mittelachse der Halle, eine imaginäre Fortsetzung des Schreibtischs. Sechs originale Notizbücher geben Einblicke in seine Arbeitsweise. Sie dokumentieren kurze Gedanken in krakeliger Schrift während der Kutschfahrt, großzügig mit Bleistift und eingestreuten Skizzen notierte Beobachtungen in einer Kirche, säuberlich mit Tinte gefertigte Abschriften aus Chroniken und Kirchenbüchern.

Aus diesem Rohmaterial baute der Schriftsteller Texte, die zunächst in Zeitschriften und erst dann in Buchform erschienen sind. Bis zu seinem Tod 1898 in Berlin, das belegen Arbeitsmappen, sammelte er Material, um die Neuausgaben des erfolgreichen Werks zu aktualisieren.

In den Seitenkabinetten der Ausstellung machen ausgewählte Orte deutlich, wo Fontane recherchierte, wen er befragte und wie er seine eigenen Geschichten daraus baute. Etwa am Beispiel Küstrin, wo Friedrich der Große als Kronprinz nach dem gescheiterten Fluchtversuch mit seinem Freund Katte dessen Enthauptung mit ansehen musste.

Geschichtsbuch und Reiseführer

Fontane, anders als die Geschichtsschreiber der Zeit, konzentriert sich ganz auf Kattes Tragödie. Das Porträt, das die Kuratorin in Privatbesitz aufstöberte, kannte er nur über eine Abbildung, es diente ihm zur Erforschung der Person. In Küstrin rekonstruierte er mit Skizzen Kattes letzten Gang zur Richtstätte. Neben dem Richtschwert ist auch ein Abguss des Schädels von Katte in der Ausstellung zu sehen, den Fontane in der Familiengruft im havelländischen Wust selbst in die Hand genommen hat.

Mit diesen Schlaglichtern auf die Orte räumt die Ausstellung auch mit der bis heute verbreiteten Vorstellung auf, die "Wanderungen" könne man als Geschichtsbuch oder Reiseführer lesen. Dagegen wehrte sich bereits Fontane vergeblich. "Wir folgen Fontanes Methode, sich diesem Raum literarisch anzunähern", betont Kuratorin Christiane Barz. Auch wenn heute viele Schlösser abgerissen sind und Fontane in manchem Urteil irrt: In der Potsdamer Ausstellung lassen sich die "Wanderungen" als literarische Erkundung der Mark Brandenburg entdecken. Darin liegt ihr Wert bis heute.

Sigrid Hoff (epd)


Barenboim bleibt an der Spitze der Berliner Staatsoper


Daniel Barenboim (Archivbild)
epd-bild/Cristian Gennari/Siciliani
Trotz der Vorwürfe des Machtmissbrauchs und eines autoritären Führungsstils wird der Vertrag des Stardirigenten, Pianisten und Ausnahmekünstlers bis 2027 verlängert.

Der Stardirigent und Pianist Daniel Barenboim bleibt auch in den kommenden Jahren an der Spitze der Berliner Staatsoper. Der bis 2022 laufende Vertrag mit dem 76-Jährigen werde um weitere fünf Jahre verlängert, teilte Kultursenator Klaus Lederer (Linke) am 4. Juni mit. Barenboim leitet seit 1992 die Staatsoper. Die Staatskapelle Berlin hat ihn bereits zum Chefdirigenten auf Lebenszeit ernannt. Über die Weiterführung des Vertrags hatte zuletzt Unklarheit geherrscht, nachdem Orchestermusiker Barenboim einen autoritären Führungsstil vorgeworfen hatten.

"Daniel Barenboim ist ein Ausnahmekünstler, dem die Musikwelt und die Stadt Berlin viel zu verdanken hat", betonte Lederer. Es gebe keinen Grund für eine Umbesetzung. Die endgültige Entscheidung für die Vertragsverlängerung sei am Vortag gefallen.

Vorwürfe zurückgewiesen

Barenboim drückte seine Freude über die Entscheidung aus. Zugleich betonte er: "Wenn meine Kräfte nachlassen, werde ich sofort gehen." Er wolle nicht aus Loyalität als Reliquie am Orchester verbleiben, denn es gehe um etwas "sehr Wichtiges", sagte der Musiker mit Blick auf die fast 450-jährige Geschichte der Staatskapelle Berlin. Das Ensemble gilt als eines der traditionsreichen Orchester der Welt. Die Staatskapelle residiert seit 1742 in der Staatsoper Unter den Linden. Das Sinfonieorchester spielt außerdem Opern und Ballettaufführungen.

Orchestermusiker hatten Barenboim im Frühjahr Machtmissbrauch und einen autoritären Führungsstil vorgeworfen. Der Musiker hatte die Vorwürfe zurückgewiesen. Auch am 4. Juni erklärte Barenboim, was der Dirigent tue, sei für viele ein großes Fragezeichen. Ein großer Teil der Arbeit passiere in der Probe. "Der Dirigent muss eine kollektive Lunge des Orchesters schaffen." Das gesamte Orchester müsse gemeinsam atmen. Natürlich gebe es Musiker, die traurig seien, wenn sie gesagt bekommen, sie sollten nicht so laut spielen. "Aber das ist unwichtig. Die Hauptsache ist, dass am Ende des Prozesses es für alle hörbar ist, warum der Dirigent unterbrochen hat", sagte Barenboim.

Künstlerischer Anspruch

Kultursenator Lederer betonte, die gegen den Musiker erhobenen Vorwürfe seien nicht rechtlich relevant gewesen. Die Vertreterin des Orchestervorstandes der Staatsoper, Susanne Schergaut, erklärte zudem, die Gespräche seien intensiver und offener geworden. Wichtig sei dem Ensemble, dass die Arbeitsatmosphäre gut ist "und dass der künstlerische Anspruch im Mittelpunkt steht", sagte Schergaut.

Daniel Barenboim wurde am 15. November 1942 in Buenos Aires geboren. Seine Eltern waren Kinder russisch-jüdischer Auswanderer nach Argentinien und ebenfalls als Musiker und Pädagogen tätig. Barenboim besitzt die spanische, argentinische, israelische und palästinensische Staatsangehörigkeit. Er studierte Klavier bei seinem Vater.

Internationales Ansehen erlangte er unter anderem durch Auftritte an führenden Häusern auf der ganzen Welt. Zudem gründete er 1999 mit dem palästinensisch-amerikanischen Kulturkritiker Edward Said das West-Eastern Divan Orchestra. Das Ensemble besteht aus jungen Musikern aus dem Nahen Osten, darunter aus Israel, Palästina, Ägypten, Syrien und Jordanien. Damit sollte ein Zeichen für eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern gesetzt werden, die auf Dialog, Respekt und gegenseitigem Verständnis basiert. Für seine musikalische und humanitäre Arbeit wurden Barenboim zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen zuteil.

Christine Xuân Müller (epd)


Illustratorin Nora Krug gewinnt Evangelischen Buchpreis

Die Karlsruher Autorin und Illustratorin Nora Krug hat den mit 5.000 Euro dotierten Evangelischen Buchpreis 2019 erhalten. Sie wurde für ihr 2018 erschienenes Buch "Heimat - Ein deutsches Familienalbum" ausgezeichnet, in dem sie den Verstrickungen ihrer Familie im nationalsozialistischen Deutschland nachspürt. Die Autorin erzeuge mit ihrer Suche einen wahren Sog, dem sich der Leser kaum entziehen könne, sagte der Jury-Vorsitzende Christopher Krieghoff am 5. Juni in Hannover. "Nora Krug betreibt eine ergebnisoffene, neugierige Suche. Sie will nicht anschwärzen, nicht reinwaschen, sondern sie will die Wahrheit erfahren."

Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister sagte, das Buch beleuchte mit der Suche nach Heimat und nach der eigenen Familiengeschichte zentrale gesellschaftliche Themen. Religion hänge sehr eng mit dem Nachdenken über Herkunft zusammen. "Wir zeichnen nicht Werke aus, die besonders religiös sind, sondern die wichtige Werte und ethische Grundsätze vermitteln", erläuterte der Theologe, der dem preisstiftenden Evangelischen Literaturportal vorsitzt. Das Christentum sei eine Religion des Buches und setze deshalb auch in Zukunft auf Bücher zur Vermittlung von Informationen, betonte Meister.

"Graphic Memoire"

Krug, die als Professorin für Illustration an der Parsons School of Design in New York lehrt, wurde zur Preisverleihung in der Neustädter Hof- und Stadtkirche in Hannover per Skype-Konferenz aus den USA zugeschaltet. Die Laudatio hielt die Kölner Journalistin Katja Thimm, die 2012 selbst Preisträgerin war. Sie habe sich der Wirkung des Buches kaum entziehen können, sagte Thimm laut Redemanuskript.

Das knapp 300-seitige Buch ist wie ein Familienalbum handschriftlich gestaltet und mit zahlreichen Familienfotos und Zeichnungen der Autorin ausgestattet. Auch Dokumente wie etwa ein Fragebogen zur Entnazifizierung, der ihren Großeltern vorgelegt wurde, sind enthalten. Dies sorge beim Leser für eine ganz besondere Unmittelbarkeit der Erfahrung, erläuterte Britta Egetemeier vom Penguin Verlag, in dem das Buch erschienen ist. "Die Verbildlichung macht die Situation viel klarer." Die Familiengeschichte spiele in zwei kleinen Ortschaften bei Karlsruhe. Die Seiten der mütterlichen und väterlichen Familienstränge seien farblich unterschiedlich gestaltet. Erstmalig habe das Evangelische Literaturportal solch eine "Graphic Memoire" ausgezeichnet.

Krugs Werk setzte sich gegen 98 weitere von Lesern und Leserinnen vorgeschlagene Bücher durch. Der Buchpreis wird seit 1979 verliehen. Der Ort der Preisverleihung wechselt jährlich zwischen den evangelischen Landeskirchen. In Hannover gastierte der Buchpreis zuletzt 2007. Im kommenden Jahr findet die Verleihung in Bonn statt.



Juli Zeh erhält Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln

Die Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh erhält den diesjährigen Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln. Eine Jury unter dem Vorsitz von Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) benannte die gebürtige Bonnerin als Preisträgerin, wie die Stadtverwaltung am 7. Juni mitteilte. Zur Begründung hieß es, dass wohl keine deutschsprachige Autorin "in der vergangenen Zeit so viel von sich reden gemacht" habe wie Zeh. Die 1974 geborene Autorin wird den mit 30.000 Euro dotierten Preis am 8. November im Historischen Rathaus der Stadt Köln entgegennehmen.

Weiterhin erklärte die Jury: "Juli Zeh gehört zu den Schriftstellerinnen, die einen der ersten Plätze in der deutschen Gegenwartsliteratur für sich in Anspruch nehmen dürfen." Sie bewege sich in ihren Schriften im Grenzbereich von Literatur und Politik, von Dichtung und Wahrheit. "Die nie dominierende Politik durchdringt die Prosa selbst dort, wo kein politisches Wort fällt", heißt es in der Preisbegründung. Ihre Texte seien "voller Botschaften wie dem Antagonismus von Chaos und Ordnung, der Frage nach einer neuen Moral angesichts bedeutungslos gewordener Werte und einer starken Tendenz einer überzogenen Individualisierung in der säkularisierten Gesellschaft".

Der Heinrich-Böll-Preis wird seit 1985 an Autoren mit herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der deutschsprachigen Literatur verliehen. Zu den Preisträgern zählen unter anderem Rainald Goetz, Herta Müller und Ilija Trojanow. Die Auszeichnung wird im Zwei-Jahres-Rhythmus vergeben.



App holt Freundinnen von Anne Frank ins Klassenzimmer

Am 12. Juni wäre Anne Frank 90 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass hat der WDR ein weiteres Kapitel für seine neue Augmented-Reality-App "1933-1945" realisiert, das ab dem 12. Juni abrufbar ist. In "Meine Freundin Anne Frank" sind die zwei engsten Freundinnen Anne Franks, Jacqueline van Maarsen und Hannah Goslar, zu sehen, die von ihrer gemeinsamen Zeit mit Anne erzählen. Die App, die für den Schulunterricht entwickelt wurde, verwendet eine spezielle Technik aus dem Bereich der "Augmented Reality", die zwischen realem Raum und virtuellen Bildern eine Verbindung schafft.

So nimmt die Kamera des Smartphones oder Tablets dabei die Umgebung des App-Nutzers auf, wie etwa den Klassenraum. In diese Umgebung setzt die App dann eine Holografie: ein Interview mit den Zeitzeuginnen van Maarsen und Goslar. "Für mich ist es sehr wichtig zu erzählen, was damals passiert ist," sagte die 90-jährige Niederländerin van Maarsen am 5. Juni bei der Vorstellung der App in Köln. "Der Antisemitismus ist noch immer da."

"Geschichte wird zugänglich"

Van Maarsen ist die einzige, an die Anne Frank nach ihrem Untertauchen in Amsterdamer Hinterhaus einen Abschiedsbrief geschrieben hat, in ihrem Tagebuch. "Sie war sehr lebendig, ich habe nie wieder einen Menschen getroffen, der so das Leben genoss", sagte van Maarsen. Ob Anne Frank tatsächlich Schriftstellerin geworden wäre, hätte sie den Krieg und das Konzentrationslager überlebt, weiß sie nicht. "Aber ich hätte ihr sehr gern gesagt, dass sie berühmt geworden ist."

Die neue Technik ist van Maarsen etwas fremd: "Aber ich verstehe, dass das bei jungen Menschen gut ankommt." Ihrem 18 Jahre alten Enkelsohn Joop gefällt die App: "Für meine Generation wird Geschichte so sehr zugänglich und echt," sagte er. "Man hat das Gefühl, man sei wirklich mit dabei." Die App mache Geschichte greifbar, sagte auch Autorin Stefanie Vollmann , die das neue Kapitel für den WDR umsetzte: "Ich habe Anne Frank vorher immer als Mythos wahrgenommen. Durch die Begegnung mit ihren Freundinnen wurde sie für mich zum Mädchen." Und dieses Gefühl wolle die App für alle erfahrbar machen.

Anne Frank starb Anfang März 1945 im KZ Bergen-Belsen. Ihr Tagebuch wurde später von ihrem Vater Otto Frank veröffentlicht, der als einziger der Familie überlebte. Es wurde in 70 Sprachen übersetzt.



Wächterpreise der Tagespresse für Enthüllungen verliehen

Für die Aufdeckung von Skandalen haben Journalisten des "Handelsblatts", der "Welt" und der "Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen" am 3. Juni in Frankfurt am Main den Wächterpreis der Tagespresse 2019 erhalten. Den ersten Preis (10.000 Euro) erhielt ein Redaktionsteam vom "Handelsblatt" für eine Artikelserie über die Abgasmanipulation bei Dieselmotoren durch VW, wie die in Bad Vilbel ansässige Stiftung "Freiheit der Presse" erläuterte.

Die Zeitung habe seit Bekanntwerden der Affäre 2015 über "Dieselgate" berichtet. Die Redakteure René Bender, Markus Fasse, Mona Fromm, Alina Liertz, Sönke Iwersen, Jan Keuchel, Stefan Menzel und Volker Votsmeier hätten allerdings in den vergangenen zwölf Monaten anhand der Auswertung von rund 12.000 Seiten interner Dokumente die betrügerische Strategie des Volkswagenwerks tief durchdrungen und öffentlich gemacht.

Der zweite Preis (6.000 Euro) ging an Florian Flade von der Tageszeitung "Die Welt". Nach seinen Recherchen zu dem Anschlag des Terroristen Anis Amri auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 habe der Autor aufgezeigt, dass und wie die Ermittlungsbehörden keineswegs alle relevanten Aspekte dieses Verbrechens aufgeklärt, sondern in entscheidenden Punkten versagt hätten.

Documenta-Defizit

Den dritten Preis (4.000 Euro) des Wächterpreises erhielten Florian Hagemann, Horst Seidenfaden und Frank Thonicke von der Lokalredaktion der "Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen" (HNA) in Kassel. Die Autoren hätten nach intensiven Recherchen Entstehung und Ursachen eines Millionendefizits bei der Weltkunstausstellung documenta in Kassel veröffentlicht, hieß es. Dabei hätten Politik und Kulturszene versucht, die Veröffentlichung des Finanzskandals zu verhindern.

Die Preisträger wurden von einer unabhängigen Jury unter dem Vorsitz von Hermann Rudolph, dem ehemaligen Herausgeber des Berliner Tagesspiegels, ausgewählt. Die weiteren Jury-Mitglieder waren Monika Zimmermann (Berlin), Hans Eggert (Dresden), Laurent Fischer (Bayreuth) und Roland Hof (Darmstadt). Die Stiftung "Freiheit der Presse" vergab den Wächterpreis der Tagespresse zum 49. Mal. Geehrt würden "couragierte Reporter, die in Wahrnehmung von staatsbürgerlichen Rechten" Missstände schonungslos aufdeckten, hieß es.



Nachhilfe von Youtube


Internetseite der Video-Plattform YouTube
epd-bild/YouTube
Junge Youtube-Influencer haben erst vor kurzem den Europa-Wahlkampf aufgemischt. Welche Bedeutung die Video-Plattform mittlerweile für Jugendliche gewonnen hat, wird nun erstmals durch eine empirische Studie belegt.

Youtube ist aus dem Alltag der allermeisten Kinder und Jugendlichen nicht mehr wegzudenken. Sie schauen sich auf der Video-Plattform Musikvideos an, folgen Influencern und holen sich Mode-Tipps. Dass Youtube aber auch im Bildungsbereich eine entscheidende Rolle spielt, gehört zu den überraschenden Ergebnissen einer neuen Studie des Rates für Kulturelle Bildung, die am 4. Juni veröffentlicht wurde.

Die Umfrage unter dem Titel "Jugend, Youtube, Kulturelle Bildung. Horizont 2019" ermögliche erstmals empirische Einsichten zur Video-Plattform-Nutzung junger Menschen, erklärt der Rat für Kulturelle Bildung. Der Rat mit Sitz in Essen ist ein unabhängiges Beratungsgremium für die Qualität kultureller Bildung in Deutschland auf Initiative mehrerer Stiftungen, darunter die Bertelsmann Stiftung, die Robert Bosch Stiftung und die Stiftung Mercator.

Die Studie ergab, dass 86 Prozent der 800 befragten Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 19 Jahren regelmäßig Youtube-Videos anschauen. Damit sei der Videokanal nach WhatsApp (92 Prozent) das am meisten genutzte Medium, noch vor Instagram und Facebook, hieß es.

Bildungsmedium

Die veränderte Mediennutzung habe tiefgreifende Folgen für den Bildungssektor. "Youtube ist inzwischen ein weiteres, wichtiges Lern- und Bildungsmedium, das die Bildungslandschaft im Ganzen berührt und verändert", sagte der Vorsitzende des Rates für Kulturelle Bildung, Eckart Liebau. Für rund die Hälfte der jugendlichen Youtube-Nutzer ist die Video-Plattform wichtiger Bestandteil des Lernens für die Schule. Von ihnen suchen rund 70 Prozent bei Youtube nach Erklär-Videos mit Unterrichtsinhalten, die sie nicht verstanden haben, oder nach Hilfen für die Hausaufgaben. Youtube fungiere als "medialer Hilfs- und Nachhilfelehrer", stellt Liebau fest.

Junge Leute nutzen den Kanal der Umfrage zufolge aber auch für künstlerische Fächer. Rund 40 Prozent suchen nach Tutorials für Musik, Kunst, Theater sowie für Schulchor oder Schulband.

Trotz der starken Nutzung für die Schule seien sich die Jugendlichen aber der Grenzen des Mediums bewusst, erklärt Ratsmitglied Benjamin Jörissen, Professor für Pädagogik an der Universität Erlangen-Nürnberg. Auffällig sei, dass 60 Prozent forderten, in der Schule kritischer über Youtube nachzudenken. Die Hälfte der Youtube-Nutzer wünscht sich sogar die Unterstützung der Schule bei der Erstellung eigener Videos. "Dieser Befund appelliert an die der Schule eigenen Potenziale der gemeinsamen Reflexion," sagt Jörissen. Diese kritische Hinterfragung sei umso wichtiger als zwei Drittel der Jugendlichen angeben, dass sie bei der Auswahl der Inhalte auf Youtube den Hinweisen von Influencern folgen, heißt es in der Studie. Die kulturelle Medienbildung müsse systematisch ausgebaut werden.

Die Schulen und auch die Lehrerausbildung müssten sich auf diese neue Situation einstellen, fordert auch Ratsmitglied Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn. "Es ist heute nicht mehr angezeigt, einen pädagogischen Beruf zu erlernen, ohne sich auch nur einmal mit dem Thema der Medienvermittlung oder mit Medienkompetenzfragen zu beschäftigen."

Für diese Inhalte müsste es künftig in der Lehrerausbildung verpflichtende Leistungsnachweise geben, fordert Krüger. Bislang sei es der Eigeninitiative der Lehrer überlassen, ob sie sich mit diesem Thema befassen. Positiv sei, dass viele das tatsächlich täten. Etliche Tutorials zu schulrelevanten Themen würden von Lehrerinnen und Lehrern produziert.

Wahrnehmung schulen

Künftig müssten Bildungs- und Kulturinstitutionen audiovisuelle Wissensvermittlung jedoch stärker in die eigene Regie nehmen, wenn sie den Anschluss nicht verlieren wollten, empfiehlt die Studie. Denn Youtube habe sich zwar mittlerweile zu einem Lernmedium entwickelt, das die gesamte Bildungslandschaft verändere, sei aber eben kein primär pädagogisches Medium.

Youtube lenke den Videokonsum über Algorithmen, die nicht auf pädagogische oder lernbezogene Werte, sondern auf maximale Seh- und Verweildauer abzielten, warnt die Studie. Hier müssten die Bildungsinstitutionen das Heft des Handelns in die Hand nehmen und neue Lern- und Lehrmethoden für die Zukunft erarbeiten. Dazu müssten besonders die ästhetischen Schulfächer gestärkt werden. Denn Fächer wie Deutsch, Literatur, Kunst oder Musik könnten die Wahrnehmung von Texten, Bildern und Tönen schulen und auch aufzeigen, wie sie manipuliert werden können.

Eines steht für die elf Mitglieder des Rates für Kulturelle Bildung fest: Der klassische Bildungsbereich ist mittlerweile fest verschränkt mit dem selbst gesteuerten Lernen der Schüler per Video. Bestrebungen, Video-Plattformen wie Youtube aus dem schulischen Lernen auszuklammern, wären zum Scheitern verurteilt. "Eine wichtige Schlussfolgerung aus der Studie ist, dass man dieses Medium nicht ignorieren darf", stellt Liebau fest. Der richtige Weg wäre demnach die Flucht nach vorne.

Claudia Rometsch (epd)


NRW-Regierung will gemeinnützigen Journalismus fördern


Armin Laschet
epd-bild/Stefan Arend

Die nordrhein-westfälische Landesregierung will Journalismusförderung steuerlich begünstigen. "Wir erleben in unserem eigenen Land, in Deutschland, dass auch der Qualitätsjournalismus unter finanziellen Zwängen steht", sagte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) am 7. Juni im Bundesrat. Globale Medienkonzerne setzten die Presse zunehmend unter Druck, der Lokaljournalismus leide. Formen des gemeinnützigen Journalismus müssten daher gestärkt werden.

Nordrhein-Westfalen hatte im Bundesrat einen Gesetzesantrag eingereicht, der eine Erweiterung des Katalogs der gemeinnützigen Zwecke in der Abgabenordnung um die "Förderung des Journalismus" vorsieht. Folge wäre eine Steuerbegünstigung sowohl der Körperschaft als auch der Spenden an sie.

Es sei dabei nicht die Absicht des Antrages, dass der gesamte Journalismus als gemeinnützig anerkannt werde, betonte Laschet. Stattdessen gehe es um Institutionen, die "staatsfern in neuen Formen von Medien versuchen, journalistischen Kriterien gerecht zu werden". Vorraussetzung für die Förderung solle sein, dass die Organisationen den deutschen Pressekodex einhalten und sich der Beschwerdeordnung des deutschen Presserates verpflichten. Zudem dürften die geförderten Institutionen nicht gewinnorientiert sein. Als Beispiel nannte er das Recherchenetzwerk Correctiv.

Der Gesetzesantrag wurde vom Plenum in die Fachausschüsse verwiesen. Sobald diese ihre Beratungen abgeschlossen haben, kommt die Vorlage wieder auf die Tagesordnung des Bundesrates. Er entscheidet dann, ob er den Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag einbringen will.

Modelle für eine steuerliche Presseförderung gibt es bereits in anderen Staaten. In Kanada beschloss die Regierung Ende vergangenen Jahres, einheimischen Printmedien bis 2023 mit Subventionen und Vergünstigungen im Wert von 595 Millionen kanadischen Dollar (395 Millionen Euro) unter die Arme zu greifen. Bestimmte nicht profitorientierte Medienverbände können den Status der Gemeinnützigkeit erlagen, Geber dürfen somit einen Teil ihrer Spenden von der Steuer absetzen.



Correctiv und Reporter-Forum bieten Bürgerakademie

Das Recherchezentrum Correctiv startet zusammen mit dem Reporter-Forum eine Bürgerakademie für Medienkompetenz. Sie solle die Arbeit der klassischen und sozialen Medien durchschaubar machen, erklärte Correctiv am 4. Juni in Essen. Zudem soll sie helfen, Versuche von Desinformation zu erkennen sowie journalistisches Handwerk und Wissen an interessierte Bürger zu vermitteln. Die Akademie starte nun in einer vorläufigen Version als Ergänzung zur Lernplattform "Reporterfabrik" mit weiteren Kursen und Workshops.

In der Endausbaustufe soll die Bürgerakademie den Angaben zufolge ein elektronisches Lernangebot mit über 800 Lehrvideos anbieten. Zu den über 60 Dozenten zählen den Angaben zufolge unter anderen Giovanni di Lorenzo, Doris Dörrie, Wolf Schneider, Sandra Maischberger, Claus Kleber und Sascha Lobo. Die gemeinnützige Hertie-Stiftung unterstütze das Projekt.

Der Europa-Wahlkampf habe erneut die Bedeutung sozialer Medien verdeutlicht, erklärte Correctiv. Viele Bürger, aber auch Journalisten und Politiker, hätten Schwierigkeiten im Umgang mit den neuen Medien. Viele Angebote der Bürgerakademie sollen den Angaben zufolge frei und kostenlos zugänglich sein. Zusätzlich solle es Workshops für bis zu 15 Euro geben. "Wir hoffen, dass viele Volkshochschulen ihren Kursteilnehmern ermäßigte oder kostenlose Zugänge anbieten können", sagte Akademie-Geschäftsführer David Schraven. Das Geld solle in den Ausbau der Akademie fließen.



Intendant der Bundeskunsthalle geht nach Amsterdam

Der Intendant der Bundeskunsthalle in Bonn, Rein Wolfs, wechselt zum 1. Dezember als neuer Direktor an das Stedelijk Museum Amsterdam. Der Weggang sei ein großer Verlust für die Bundeskunsthalle, bedauerte Kulturstaatsministerin Monika Grütters am 7. Juni in Berlin den Wechsel von Wolf. "Mit vielen seiner unkonventionellen Ausstellungen hat er zentrale gesellschaftliche Themen aufgegriffen und sich mutig auf wichtige Debatten eingelassen." Grütters verwies unter anderem auf die Schau "Touchdown" über die Geschichte von Menschen mit Down-Syndrom und die "Bestandaufnahme Gurlitt - Der NS-Kunstraub und die Folgen".

Wolfs erklärte, die Jahre an der Bundeskunsthalle seien für ihn eine sehr wertvolle und intensive prägende Zeit gewesen, in der er den Begriff Vielfalt ganz neu zu verstehen gelernt habe: "Einerseits im Sinne einer fast grenzenlosen Programmvielfalt, andererseits im Sinne gesellschaftspolitischer Diversität." Der gebürtige Niederländer leitet die Bundeskunsthalle seit März 2013. Die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland ist eine Einrichtung des Bundes und der Länder und wird vom Bund finanziert.

Der 1960 im nordholländischen Hoorn geborene Wolfs ist Kunsthistoriker und Ausstellungskurator und leitete Museen in Zürich, Rotterdam und Kassel, bevor er nach Bonn kam. Über seine Nachfolge dort wird das Kuratorium der Bundeskunsthalle entscheiden, eine Findungskommission soll Vorschläge dazu machen.




Entwicklung

Ein Kind der Vereinten Nationen


Ban Ki Moon
epd-bild/Christian Ditsch
Der Syrien-Krieg hat Ban Ki Moons Amtszeit als UN-Generalsekretär überschattet. Experten geben ihm für die zehn Jahre als UN-Generalsekretär nur ein mittelmäßiges Zeugnis. Jetzt wird der Südkoreaner 75 Jahre alt.

Ban Ki Moon zeigte viel Gefühl. Der sonst so spröde Generalsekretär der Vereinten Nationen erzählte 2016 in der UN-Vollversammlung von seiner Kindheit. Diese Kindheit wurde vom Koreakrieg (1950-1953) erschüttert. Das Dorf der Familie wurde angegriffen, die Häuser gingen in Flammen auf. Ban und seine Angehörigen mussten fliehen. Sie versteckten sich in der Wildnis. Nachdem der grausame Konflikt endlich beendet war, halfen die Vereinten Nationen den notleidenden Menschen: Die Weltorganisation brachte Essen, Schulbücher, Hoffnung. "Ich bin ein Kind der Vereinten Nationen", sagte der Südkoreaner Ban mit zerbrechlich wirkender Stimme.

Viele Emissäre der 193 Mitgliedsländer waren bewegt. Kurz nachdem Ban in der Vollversammlung von diesen prägenden Erlebnissen berichtet hatte, trat er am 31. Dezember 2016 als Generalsekretär ab. Am 13. Juni 2019 wird er nun 75 Jahre alt, er kam 1944 in Haengchi als ältestes von sechs Kindern eines Bauern zur Welt.

"Wenig Profil"

Vor allem seine Zeit bei der Weltorganisation machte Ban bekannt, zuvor war er Außen- und Handelsminister seines Landes. Diplomaten und Experten stellen ihm für die zehn Jahre als Chef des UN-Sekretariats aber nur ein mittelmäßiges Zeugnis aus. Ban habe es "nie geschafft, sein abgehobenes Image loszuwerden", urteilt die US-amerikanische Publizistin Barbara Crossette. Er habe zu viel im Verborgenen gewirkt, sei wenig kommunikativ gewesen. Und der deutsche UN-Fachmann Helmut Volger urteilt: "Er war ein Generalsekretär mit wenig Profil, der es nicht wagte, den Großmächten wie den USA zu widersprechen."

Als Ban 2006 zum Generalsekretär bestimmt wurde, repräsentierte noch Kofi Annan die UN. Der geschmeidige, rhetorisch bestechende Generalsekretär aus Ghana galt vielen als "Rockstar" der internationalen Politik, sogar als der "weltliche Papst". Gegenüber Annan wirkte Ban noch ein bisschen biederer als er ohnehin schon war. Schon vor seinem Amtsantritt im Januar 2007 leistete sich Ban einen bösen Schnitzer: Freimütig räumte er ein, dass er in seiner Heimat als "schlüpfriger Aal" bekannt sei. Der Hinweis förderte nicht eben seine Autorität. Später sagte er: "Ich weiß, dass ich nicht die perfekte Person bin."

Blockade im Sicherheitsrat

Dies traf besonders für die diplomatische Lösung bewaffneter Konflikte zu: Ban Ki Moon konnte sich nie als oberster Vermittler der Staatengemeinschaft in Szene setzen. Besonders das Scheitern der UN bei der Lösung des 2011 begonnenen Bürgerkriegs in Syrien ist mit seinem Namen verbunden. Ban zog sich schon früh aus dem diplomatischen Ringen für eine Befriedung zurück. Seit 2012 ernannte er drei Syrien-Sondergesandte hintereinander. Keiner von ihnen brachte den ersehnten Erfolg.

Für Bans Entlastung in der Syrien-Krise spricht allerdings, dass er als Generalsekretär über keine eigentliche Macht gegenüber den Staaten verfügt. Die Blockade im UN-Sicherheitsrat konnte Ban nicht überwinden. In dem Gremium hielt die Vetomacht Russland ihre schützende Hand über Syriens Gewaltherrscher Baschar al-Assad. Auch auf anderen Politikfeldern war Ban nicht derjenige, der mutig voranging.

Zwar versuchte er frühzeitig, den Klimaschutz zu seinem Thema zu machen. Zum Zustandekommen des Pariser Klima-Abkommens 2015 trug er jedoch kaum etwas bei. Bei der Formulierung der neuen UN-Agenda für den Kampf gegen Hunger und Armut wirkte er mit, er war aber nicht treibende Kraft. Von der überfälligen Reform des UN-Sicherheitsrates wollte Ban nichts wissen.

Ausrutscher

In seiner Amtszeit häuften sich Ausrutscher auf internationalem Parkett. So lud Ban 2014 den Iran zu einer Syrien-Konferenz der UN ein, kurz darauf lud er die Vertreter Teherans auf Druck der USA wieder aus. Auch gegenüber Saudi-Arabien knickte er ein. Der Generalsekretär strich das Land von der Schwarzen Liste der Verletzer von Kinderrechten, damit sicherte er weitere Zahlungen aus dem Ölstaat an die UN. Die Israel-freundliche Lobby-Organisation UN-Watch sprach vom "schlimmsten Moment" der UN im Jahr 2016.

Welche Errungenschaften kann Ban sich gutschreiben? Es ist bezeichnend, dass der frühere Direktor bei der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung, Khalil Hamdani, als Bans wichtigsten Erfolg die Renovierung des New Yorker Hauptquartiers anführt. Es ist keine politische Leistung.

Samantha Power, frühere US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, strich Bans Kampf für Homosexuelle heraus. Nach anfänglichem Zögern habe sich Ban zu einem Verfechter ihrer Rechte gemausert. Andere Diplomaten schreiben Ban sein Engagement für Frauen gut.

Der Vater von drei Kindern, der seine Ehefrau schon als Jugendlicher kennenlernte, formte sich nach dem Abschied aus New York eine Art Mini-UN: Das Ban Ki-moon Centre for Global Citizens. Die Institution in Wien, der Ban und der frühere Präsident Österreichs, Heinz Fischer, vorstehen, verfolgt dieselben Ziele wie die UN: Förderung des Friedens, Achtung der Menschenrechte und Kampf gegen Armut.

Jan Dirk Herbermann (epd)


Amnesty kritisiert Menschenrechtslage in China

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat eine Verschlechterung der Menschenrechtslage in China kritisiert. Anlässlich des 30. Jahrestages der brutalen Niederschlagung der Proteste auf dem "Platz des Himmlischen Friedens" betonte der China-Experte bei Amnesty International Deutschland, Dirk Pleiter, am 3. Juni in Berlin, dass manche Freiheiten seitdem zwar ausgeweitet worden seien, "es gibt aber weiterhin schwere Menschenrechtsverletzungen in dem Land". In den vergangenen Jahren sei eine deutliche Verschlechterung der Menschenrechtslage in China festzustellen.

"Statt Panzern setzt die chinesische Regierung inzwischen zahlreiche andere Instrumente der Repression ein", sagte Pleiter. Positiv sei, dass Teile der Bevölkerung größere bürgerliche Freiheiten genießen. So könnten sie sich inzwischen ihre Wohn- und Arbeitsorte selbst aussuchen. Formal gebe es zudem strengere Auflagen, um die Willkür der Behörden einzuschränken, zum Beispiel wenn es um die Verhängung der Todesstrafe geht.

Der aktuelle Amnesty-Todesstrafenbericht habe aber erneut gezeigt, dass China mit Tausenden Hinrichtungen pro Jahr die Liste der Henkerstaaten anführe, betonte Pleiter weiter. "Daneben hat die chinesische Regierung seit 1989 zahlreiche Sicherheitsgesetze verabschiedet, die die Überwachung ausweiten und willkürliche Verhaftungen, Hausarrest, Verschwindenlassen und Folter begünstigen", sagte Pleiter. Meinungs- oder Pressefreiheit gebe es weder im analogen noch im digitalen Raum. Menschenrechtler und ihre Angehörigen würden verfolgt. "Kommen sie in Haft, drohen ihnen Misshandlungen und Folter", sagte Pleiter.

Unterdrückung ethnischer Minderheiten

Besonders eklatant sei aktuell die Unterdrückung der ethnischen Minderheiten der Uiguren und Kasachen. Bis zu eine Million von ihnen seien in der Region Xinjiang inhaftiert. "Jedes Land, das Beziehungen zu China pflegt, ist aufgefordert, die Menschenrechtslage kritisch zu beobachten und Maßnahmen zu ergreifen, um die chinesische Regierung zu einer Verbesserung der Situation anzuhalten", forderte Pleiter. Das gelte für die Europäische Union, die Vereinten Nationen und auch für die deutsche Bundesregierung.

Amnesty verwies auch darauf, dass die chinesische Regierung das Gedenken an die Tiananmen-Proteste unterbinden wolle. In den Wochen vor dem 30. Jahrestag hätten die Behörden Dutzende Aktivisten bedroht, inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt, um ein öffentliches Gedenken an die vielen Todesopfer von damals zu verhindern.

Am 4. Juni 1989 hatten chinesische Sicherheitskräfte die Demokratiebewegung mit Panzern und Gewehren blutig niedergeschlagen. Mehrere Hundert, wenn nicht gar Tausende Menschen wurden in den Straßen um den Tiananmen-Platz getötet. Sie hatten eine politische Öffnung ähnlich wie die Perestroika in der Sowjetunion gefordert. In der Kommunistischen Partei Chinas setzten sich aber die Hardliner durch.



Indien: Schuldsprüche für Sexualmord an Mädchen

Wegen der Ermordung und Vergewaltigung eines achtjährigen Mädchens hat ein indisches Gericht sechs Männer schuldig gesprochen. Ein Angeklagter wurde von dem Gericht in der Stadt Pathankot freigesprochen, wie die "Times of India" (10. Juni) berichtete. Ein weiterer wird nach dem Jugendstrafrecht verurteilt und muss sich in einem getrennten Prozess verantworten. Über das Strafmaß will das Gericht später entscheiden.

Der grausame Tod des muslimischen Kindes im indischen Teil von Kaschmir im Januar 2018 hatte in ganz Indien für tagelange Proteste gesorgt. Der Fall erlangte auch eine politische Dimension, nachdem hindunationalistische Gruppen die Verhaftung der acht Verdächtigen zu verhindern suchten. Die Leiche von Asifa Bano war in einem Wald im von Indien kontrollierten Kaschmir-Tal gefunden worden. Das muslimische Mädchen gehörte zu einem nomadischen Stamm und hatte Pferde in der Gegend bewacht.

Rückendeckung für Täter

Nach Angaben der Polizei wurde das Kind von einer Gruppe hinduistischer Männer verschleppt, mit Drogen ruhiggestellt und über drei Tage hinweg von einer Gruppe von Männern immer wieder vergewaltigt. Das Mädchen wurde später erwürgt und ihr Schädel zusätzlich mit Steinen eingeschlagen. Offenbar sollte der brutale Mord dazu dienen, den Hirtenstamm aus dem Gebiet zu vertreiben.

Der Fall brachte die mehrheitlich muslimische Bevölkerung in Kaschmir auf, nachdem die hinduistischen Angeklagten Rückendeckung von Abgeordneten der regierenden Partei in Neu-Delhi erhalten hatten. Unter den acht Angeklagten sind auch ein pensionierter Regierungsbeamter und vier Polizisten.

Das mehrheitlich muslimische Kaschmir ist seit sechs Jahrzehnten ein Zankapfel zwischen Indien und Pakistan. Separatisten kämpfen seit Jahrzehnten für die Unabhängigkeit von Indien, das mehrheitlich hinduistisch ist. Indien unterhält eine massive Polizei- und Militärpräsenz in dem unruhigen Himalaya-Gebiet. Es kommt immer wieder zu Unruhen und Aufständen.



Entwicklungsinvestitionsfonds für Afrika stößt auf Kritik

Der Entwicklungsinvestitionsfonds für Afrika greift nach Ansicht von Entwicklungsexperten zu kurz. Das evangelische Hilfswerk "Brot für die Welt" forderte am 5. Juni in Berlin eine Gleichberechtigung afrikanischer Unternehmer bei der Vergabe der Mittel. Der Abteilungsleiter Afrika, Reinhard Palm, wies darauf hin, dass 60 Prozent der Mittel für deutsche und europäische Unternehmen reserviert worden seien.

Der entwicklungspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Uwe Kekeritz, äußerte ebenfalls die Befürchtung, dass der Großteil der Mittel vor allem europäischen Unternehmen zugutekommt. Unklar sei zudem, inwieweit positive Entwicklungseffekte entstehen, erklärte er. Der Fokus auf die Reformpartnerländer führe derweil dazu, dass die am wenigsten entwickelten Länder nicht in ausreichendem Maße von der Initiative profitierten. Die FDP-Fraktion hatte am Vortag bereits zu hohe Hürden für kleine und mittlere Unternehmen kritisiert.

Eine Milliarde Euro

Die Bundesregierung startete am 4. Juni den Entwicklungsinvestitionsfonds, aus dem Firmen Kredite für Aktivitäten in afrikanischen Ländern erhalten können. Als erstes Programm wurde zunächst "AfricaConnect" lanciert mit einem Volumen von bis zu 400 Millionen Euro. Die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) vergibt die Kredite und übernimmt gewisse Risikoabsicherungen. Geförderte Unternehmen müssen einen wirtschaftlich tragfähigen Businessplan vorlegen und entwicklungspolitische, ökologische und soziale Kriterien erfüllen.

Der Entwicklungsinvestitionsfonds soll mit insgesamt einer Milliarde Euro ausgestattet werden. Damit werden auch Maßnahmen zur Unterstützung afrikanischer Mittelständler und Start-ups finanziert. Im Fokus stehen dabei die Partnerländer der Initiative "Compact with Africa", zu denen Ägypten, Äthiopien, Benin, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Ghana, Guinea, Marokko, Ruanda, Senegal, Togo und Tunesien zählen. Im Gegenzug erklären sie sich bereit, verstärkt gegen Korruption vorzugehen und Maßnahmen für mehr Transparenz einzuleiten.



Jubiläumsprogramm zu 50 Jahre Entwicklungshelfergesetz

Die Arbeitsgemeinschaft der Entwicklungsdienste (AGdD) lädt am 18. Juni zu einem Tag der offenen Tür nach Bonn ein, um 50 Jahre Entwicklungshelfergesetz zu feiern. "Das Gesetz von 1969 hat die Grundpfeiler für die rechtliche Absicherung der Fachkräfte in ihrem Einsatz in den Ländern des Globalen Südens gesetzt", sagte Geschäftsführerin Gabi Waibel am 4. Juni in Bonn. Fachkräfte, die nach ihrem Dienst nach Hause zurückkämen, seien eine wichtige Ressource für ihre Herkunftsländer. Bislang wurden den Angaben zufolge 30.000 Fachkräfte in rund 100 Länder geschickt.

Die Geschäftsführerin des internationalen christlichen Friedensdienstes Eirene, Anthea Bethge, unterstrich, dass die sieben staatlich anerkannten Träger des Entwicklungsdienstes vor allem mit der Personalentsendung von Fachkräften befasst sein müssten: "Man braucht die besondere Expertise, mit der Ressource 'Mensch' zu arbeiten und kann nicht einfach Personen 'irgendwie rausschicken'." Zudem sei es wichtig, mit den Partnern vor Ort die Fachkräfte gemeinsam auszusuchen.

Zur Jubiläumsfeier werden den Angaben zufolge ein Vertreter des Bundesentwicklungsministeriums, der Bonner Bürgermeister Reinhard Limbach (CDU) und Claudia Lücking-Michel vom AGdD-Vorstand erwartet. Neben der Siegerverkündung des Fotowettbewerbs "50 Jahre Entwicklungshelfergesetz" stehe auch eine "Speed-Beratung" für Interessierte am Entwicklungsdienst auf dem Programm. Zur Jubiläumsveranstaltung am 12. Juli in Berlin mit 250 zurückgekehrten Fachkräften werde auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erwartet.



Gepa eröffnet Cafés in Frankfurt und Mainz

Das Fairhandelsunternehmen Gepa steigt ins Café-Geschäft ein. In Frankfurt und Mainz eröffnen unter dem Namen "The Good Coffee" zwei Cafés der Awake Social Coffee Company, an der die Gepa zur Hälfte beteiligt ist, wie das Fairtrade-Unternehmen in Wuppertal mitteilte. Weiterer Gesellschafter ist der Frankfurter Verein "Kirche in Aktion". Die Frankfurter Filiale wurde am 11. Juni eröffnet, das Mainzer Café folgt am 15. Juni.

In den beiden Cafés sollen ausschließlich fairer Bio-Kaffee der Gepa sowie Bio-Tee und fair gehandelte Schokolade verkauft werden, wie die Gepa ankündigte. Daneben stünden Kuchen, Bagels und Salate auf der Speisekarte. "Wir möchten so Menschen für den fairen Handel gewinnen, die bislang noch keinen Zugang zum Thema hatten", sagte Gepa-Geschäftsführer Peter Schaumberger. Die Gepa suche mittelfristig nach weiteren Partnern für das neue Café-Konzept. Dafür wolle man auch mit Weltläden kooperieren.

Das Fairhandelsunternehmen Gepa wird getragen von kirchlichen Organisationen wie Misereor und "Brot für die Welt". Die Gepa ist der größte europäische Importeur von fair gehandelten Lebensmitteln.