Dilara redet eindringlich auf die beiden Mädchen neben ihr ein. "Danke, dass ihr mit eine zweite Chance gegeben habt", sagt die 17-Jährige. Simge (16) ist dagegen sauer: "Ich musste schuften und für ihn hast du ein Fest veranstaltet", beschwert sie sich bei der gleichaltrigen Aileen. Die drei spielen im Religionsunterricht eine Szene aus der biblischen Geschichte vom verlorenen Sohn nach. Dass nur Aileen katholisch ist und die beiden anderen Musliminnen sind, ist in der elften Klasse an der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen keine Ausnahme, sondern normal. Der interreligiöse Religionsunterricht gehört zu den Besonderheiten der Schule, die beim Deutschen Schulpreis am 5. Juni einen Anerkennungspreis erhielt.

Die Schule in Gelsenkirchen-Bismarck in Trägerschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen versteht sich als Stadtteilschule, die Schülerschaft "spiegelt die gesamte Heterogenität im Stadtteil", sagt Schulleiter Volker Franken. Die gut 1.200 Schülerinnen und Schüler kommen aus 33 verschiedenen Nationen, aus allen sozialen Schichten. Hier werden auch Flüchtlingskinder sowie Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Behinderungen unterrichtet.

Iterreligiöses Lernen

Ungefähr 40 bis 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind evangelisch, je 20 Prozent katholisch oder muslimisch. Schüler anderer Glaubensrichtungen gibt es vereinzelt, die übrigen gehören keiner Religionsgemeinschaft an. Zum Profil der evangelischen Gesamtschule gehören nicht nur mehrere Gottesdienste im Jahr, religiöse Schulwochen und eine Schulpfarrerin, sondern eben auch ein besonderes Konzept beim Religionsunterricht.

Da immer weniger Kinder aus evangelischen oder katholischen Familien kommen, ist in NRW seit dem vergangenen Jahr konfessionell-kooperativer Religionsunterricht für evangelische und katholische Schüler gemeinsam möglich. Mehr als 180 Schulen sind im Schuljahr 2018/19 damit gestartet. Die Evangelische Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck geht aber noch einen Schritt weiter: zum interreligiösen Lernen.

Von der fünften bis zur achten Klasse gibt es getrennten evangelischen, katholischen und islamischen Religionsunterricht, damit die Schülerinnen und Schüler die eigene Religion und Konfession kennenlernen. "Die meisten haben keine religiösen Vorkenntnisse", hat Schulleiter Franken festgestellt, der selbst evangelische Religion unterrichtet. Das gilt auch für die muslimischen Schüler, bestätigt Nergiz Sari, die islamische Religionslehrerin: "Es ist wenig, was die Schüler mitbringen aus den Gemeinden und Moscheen." Die meisten muslimischen Schüler sind türkischstämmig, andere kommen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder Ägypten.

In den Jahrgängen neun und zehn findet der Religionsunterricht im Klassenverband religionsübergreifend statt, evangelische, katholische und muslimische Lehrkräfte unterrichten teilweise gemeinsam. Schwerpunkt ist das gegenseitige Kennenlernen der Konfessionen und Religionen und das Entdecken von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, es geht beispielsweise um die Gottesvorstellungen in den abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam.

Positives Feedback

Auch in der Oberstufe geht es gemeinsam weiter. Neben evangelischen, katholischen und muslimischen Fachlehrern kommt im Jahrgang elf außerdem noch der Philosophie-Kollege dazu. In vier thematischen Modulen geht es um die Heiligen Schriften Koran, Bibel und Thora und die Auslegung der Texte, Grundlagen der Philosophie, Toleranz und Pluralität, Anthropologie und Ethik. Je zwei Lehrer gestalten ein Modul gemeinsam und "wandern" damit als Team durch die vier parallelen Religionskurse.

Die Reaktion auf diesen Projektunterricht sei positiv, sagt Franken. "Die Schüler empfinden es als abwechslungsreich." Bei der Doppelbesetzung nähmen sie außerdem die konstruktive Zusammenarbeit zwischen den beiden Lehrern wahr, betont sein katholischer Kollege Klaus Bludau: "Sie sehen den Dialog zwischen den Lehrern, die vielleicht unterschiedliche Meinungen haben und sich trotzdem vertrauen." Carina und Svenja gefällt der Unterricht bei wechselnden Lehrern jedenfalls. "Philosophie fand ich spannend", sagt die 17-jährige Carina. "Ich finde gut, alle Themen und Sichten zu behandeln", meint ihre Mitschülerin Svenja (18).

In der Qualifikationsphase vor dem Abitur wird der Religionsunterricht dann wieder getrennt angeboten, damit die Schülerinnen und Schüler das Fach auch als Abiturfach belegen können. Die Gesamtschule wird ab dem kommenden Schuljahr voraussichtlich eine der ersten sein, die den islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in der Sekundarstufe 2 anbietet. Nergiz Sari, die neben Pädagogik und Biologie bisher auch islamischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe 1 erteilt, nimmt derzeit am ersten Zertifikatskurs in NRW teil.