Frankfurt a.M. (epd). "Oh ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen", schrieb Anne Frank am 5. April 1944 in ihr Tagebuch. "Ich will den Menschen, die um mich herum leben und mich doch nicht kennen, Freude und Nutzen bringen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod." Ein Wunsch, der sich erfüllte: Das Tagebuch wurde zur Weltliteratur und machte Anne Frank unsterblich. Die Briefe an ihre fiktive Freundin Kitty zogen Millionen Leserinnen und Leser weltweit in den Bann, das jüdische Mädchen wurde zu einer Symbolfigur für alle Opfer des Nationalsozialismus. Am 12. Juni wäre Anne Frank 90 geworden.
Das berühmte rot-weiß-karierte Tagebuch bekam Anne zu ihrem 13. Geburtstag geschenkt. "Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein", notierte sie. Wenig später taucht das 1929 in Frankfurt am Main geborene Mädchen mit seiner Familie unter und versteckt sich mit einer weiteren Familie in einem Amsterdamer Hinterhaus. Der Massenmord der Nationalsozialisten an den europäischen Juden hatte begonnen.
"Schreiben überlebensnotwendig"
Zwei Jahre lang führte Anne Frank im Versteck in der Prinsengracht 263 ihr Tagebuch, bis die Familie verraten und gefangengenommen wurde. "Schreiben wurde für sie lebensnotwendig, überlebensnotwendig", erklärt Übersetzerin Mirjam Pressler in der Gesamtausgabe von Anne Franks Werken. In der Einsamkeit und der spannungsgeladenen Enge des Hinterhauses sei "Kitty" für Anne zur einzigen Abwechslung und zum Ersatz für Freunde und gesellschaftliche Kontakte geworden.
Der imaginären Freundin vertraute das Mädchen alle Freuden und Leiden an: die erste Liebe, Probleme mit der Mutter, körperliche Veränderungen. "Das Tagebuch von Anne Frank ist die intime Geschichte einer einzigartigen Jugendzeit, und gleichzeitig ist es die Geschichte der Schoah", schreibt Unesco-Generalsekretärin Audrey Azoulay in einem Vorwort zu einer Sonderausgabe, die zu Anne Franks 90. Geburtstag erschien. Annes Einträge seien "ein brillant geschriebener Bericht über das Leben in der erzwungenen Isolation".
Der Text hat nach Ansicht von Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, bis heute nichts von seiner Kraft verloren. "Anne Frank steht für den Kampf nicht nur gegen Antisemitismus, sondern gegen jede Form der Diskriminierung", sagt er. "Und das ist heute aktueller denn je in einer Welt, in der Zeitzeugen aussterben und zugleich eine Neue Rechte erstarkt." Annes Geschichte zeige, wohin Hass führen könne und dass jede Form der Diskriminierung gleich schlimm sei.
"Ich höre den nahenden Donner"
Aggression aus rechten Kreisen bekommt die Bildungsstätte unmittelbar zu spüren: Täglich gehen dort E-Mails von Geschichtsrevisionisten ein, in denen die Echtheit von Anne Franks Tagebuchs bezweifelt wird, wie Mendel erzählt. "Das öffnet Tür und Tor dafür, dass solche Leugnungen stückweise eine Legitimität erhalten", sagt er. "Das sehe ich mit großer Sorge."
Die Bildungsstätte versucht, Rassismus und Diskriminierung aktiv entgegenzuwirken - unter anderem mit Workshops und Ausstellungen. "Das Tagebuch der Anne Frank kann ein wunderbarer Türöffner zu der Thematik sein", sagte Mendel. "Mit der Einzelperson kann sich der Leser - anders als mit sechs Millionen Opfern - identifizieren." Auch Annes menschliche Größe erleichtere diese Identifikation: Bis zuletzt habe das Mädchen nicht den Glauben an das Gute im Menschen verloren.
"Ich sehe, wie die Welt allmählich in eine Wildnis verwandelt wird", schrieb sie noch am 14. Juli 1944 in ihr Tagebuch. "Ich höre den nahenden Donner, der auch uns vernichten wird. Ich kann das Leiden von Millionen spüren. Und dennoch glaube ich, wenn ich zum Himmel blicke, dass alles in Ordnung gehen und auch diese Grausamkeit ein Ende finden wird. Dass wieder Ruhe und Frieden einkehren werden."
Gut zwei Wochen später endet ihr Tagebuch. Am 4. August wurden die Untergetauchten verhaftet und deportiert. Anne Frank starb im Frühjahr 1945 wenige Wochen vor Kriegsende im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Sie wurde nur 15 Jahre alt.