Einzig die sonore Stimme des Vorsitzenden Richters Sebastian Bührmann durchschneidet die aufgeladene Stille in der voll besetzten und zum Gerichtssaal umfunktionierten Weser-Ems-Halle. In einem ruhigen und sachlichen Ton verkündet er am 6. Juni das Urteil des Landgerichts Oldenburg gegen Niels Högel. Der frühere Krankenpfleger hat 85 Patienten ermordet, das sieht das Gericht als erwiesen an. Dafür bekommt er eine lebenslange Haftstrafe. In 15 weiteren Fällen spricht Bührmann Högel aus Mangel an Beweisen frei.

Der Richter hofft, dass das Urteil für viele Angehörige einen Abschluss bildet. Und doch werde wohl eine Frage nie geklärt werden, sagt Bührmann und zitiert eine Zeugin: "Warum hast du das getan, Niels?"

Damit Högel nicht vorzeitig wieder auf freien Fuß kommt, hat das Gericht die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Damit legt nach 15 Jahren zunächst eine Strafvollstreckungskammer fest, wieviel Zeit er noch im Gefängnis verbringen muss, bis die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden könnte. Außerdem muss ein Gutachter feststellen, dass vom Verurteilten keine Gefahr mehr ausgeht.

"Buchhalter des Todes"

Das Verfahren gegen den Ex-Krankenpfleger hat jeden Beteiligten im Innersten berührt. Er selbst sei sich während der 24 Verhandlungstage teilweise vorgekommen wie ein "Buchhalter des Todes", sagt Bührmann in Richtung des Angeklagten. Und zu den Angehörigen: "Wir saßen da und sprachen, und ich sah in fragende Gesichter." Genau deswegen sei es für ihn nie einzig darum gegangen, Högel zu verurteilen. "Ich wäre genauso zufrieden gewesen, wenn wir hätten sagen können, wir sind sicher, Högel hat Ihren Angehörigen nicht umgebracht." Nach einer Pause fügt er hinzu: "Aber wir können das in keinem der 15 Freisprüche."

Die Taten seien schlicht unbegreiflich, sagt Bührmann: "Es sind so viele - Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr - dass sich der menschliche Verstand schlicht ausschaltet, ja kapituliert." Um die Dimension zu veranschaulichen, macht der Richter eine Rechnung auf: Nach deutschem Recht werde aus allen Taten eine Gesamtstrafe gebildet. Nach US-amerikanischem Recht hingegen müssten für jede einzelne Verurteilung die Haftstrafen addiert werden. "Herr Högel, das sind bei 15 Jahren pro Fall zusammen 1.275 Jahre." Doch der Patientenmörder zeigt wie auch während der gesamten Urteilsverkündung keine Regung, sitzt stumm da und schaut mit aufgestütztem Kopf in die Ferne.

Bührmann ist sich bewusst, welche emotionale Tragweite der Prozess für die Angehörigen hat. Schon mit einer Schweigeminute für die Opfer am ersten Prozesstag machte er das deutlich. Auch am Tag der Urteilsverkündung spricht er die Anwesenden direkt an, spricht von quälender Ungewissheit über das Schicksal eines geliebten Menschen, von der Öffnung von Gräbern bei der Spurensuche, die "den Abschied unterbrochen" habe: "Ich hoffe für Sie, dass dieses Verfahren eine erneute Möglichkeit ist, Abschied zu nehmen und abzuschließen."

Änderungen im Klinikalltag

Das Gericht müsse jedoch Fakten heranziehen und emotionale Beweggründe bei der Urteilsfindung ausklammern, unterstreicht Bührmann. "Wir können nicht wegen Mordes verurteilen, bloß weil wir der Meinung sind, es wird schon so gewesen sein." In dubio pro reo - so laute der juristische Grundsatz, sagt der Richter mit einem Bedauern in der Stimme: "Im Zweifel für den Angeklagten." Für die Angehörigen ist dieser Beweismangel, der zu den Freisprüchen führte, unerträglich. Mehrere verlassen unter Tränen den Saal, als Bührmann diese Fälle erläutert. Für die Trauernden bleibt die Ungewissheit.

Nach dem Willen des Richters soll am Ende ein Urteil stehen, das einen größeren Zweck erfüllt als die bloße Bestrafung. Das Ziel sei, dass kein einzelner Mensch das Gesundheitssystem je wieder so missbrauchen könne, wie Högel es getan habe: "Wenn das Verfahren einen Sinn gehabt hat, dann würde ich mir das wünschen", sagt Bührmann. Und die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Schon während des Prozesses und auch am Tag des Urteils melden sich Patientenschützer, Mediziner und Experten mit Forderungen zu Veränderungen im Klinikalltag.

Dennoch bleiben zu viele Fragen unbeantwortet, vieles liegt weiterhin im Nebel verborgen. Wer hat wann was gewusst oder geahnt? Wer hat etwas vertuscht? Wann fing das Morden an? Weitere Prozesse müssen dafür Antworten finden. Gegen vier ehemalige Kollegen Högels aus Delmenhorst ist bereits Anklage erhoben worden. Gegen weitere Kollegen und Vorgesetzte aus Oldenburg wird noch ermittelt. Die Antwort auf die entscheidende Frage "Warum?" werden indes auch diese Verfahren nicht liefern können.