Kirchen

Weltkriegsgedenken: EKD-Ratschef warnt vor Spaltung Europas


Den ökomenischen Gottesdienst im Berliner Dom gestaltete der Warschauer Pfarrer Piotr Gas (rechts) gemeinsam mit den Dompredigern Thomas C. Müller (2.von links) und Petra Zimmermann (Mitte).
epd-bild/Rolf Zoellner
Im Berliner Dom feiern Polen und Deutsche am Jahrestag des Kriegsbeginns zusammen einen Gottesdienst. Bischof Dröge sieht darin ein "Zeichen der Versöhnung". Die stellvertretende EKD-Ratschefin Kurschus ruft in Warschau zum gemeinsamen Erinnern auf.

Mit Friedensgottesdiensten in Polen und Deutschland haben die Kirchen am Wochenende an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren erinnert. Die stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus und der Präsident des Polnischen Ökumenischen Rates, Bischof Jerzy Samiec, riefen in Warschau zu einem gemeinsamen Erinnern auf. Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm warnte in einem ZDF-Fernsehgottesdienst vor Spaltungstendenzen in Europa. Auch in Berlin, Mönchengladbach und im lippischen Kalletal gab es Gedenkgottesdienste.

Auch zwischen Deutschland und Polen drohten alte Ressentiments wiederaufzuleben, sagte Bedford-Strohm am 1. September in Frankfurt an der Oder. Dazu komme "die Geißel des Nationalismus, die so viel Unheil über Europa gebracht hat". In einem Europa, in dem die Spaltungstendenzen überhandzunehmen drohten, müssten die Deutschen dafür einstehen, dass der Weg der Versöhnung weitergegangen werde, forderte der bayerische Landesbischof.

Warnung vor "dumpfem Nationalstolz"

Die stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende Kurschus sagte am 31. August in Warschau, erinnern könne eine Zumutung sein, die am Ende jedoch heilsam wirken könne. Nach den Jahren der Gewalt und des Leidens sei sie "dankbar für die Schritte der Versöhnung, die wir aufeinander zu und gemeinsam mit unseren polnischen Nachbarn gehen durften". Die westfälische Präses warnte zugleich vor "dumpfem Nationalstolz" und Forderungen nach einem Schlussstrich unter die Kriegserinnerungen.

Der Präsident des Polnischen Ökumenischen Rates, Bischof Jerzy Samiec, erklärte: "Wenn wir uns heute an den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erinnern, sollten wir Christen von unserer Verantwortung für unsere Gegenwart und Zukunft sprechen." In dem ökumenischen Gottesdienst der EKD und des Polnischen Ökumenischen Rates kamen auch Zeitzeugen zu Wort, darunter ein ehemaliger polnischer KZ-Häftling und ein deutscher Vertriebener.

Schäuble würdigt Rolle der Kirchen

Im Berliner Dom nannte es der evangelische Landesbischof Markus Dröge ein "Zeichen der Versöhnung", dass der ökumenische Gedenkgottesdienst mit polnischen Kirchenvertretern und Politikern gefeiert wurde. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) sagte in einem Grußwort, die Deutschen seien sich der historischen Schuld und der daraus erwachsenden bleibenden Verantwortung bewusst. Er würdigte die zentrale Rolle der Kirchen im Prozess der Verständigung und Versöhnung zwischen Polen und Deutschland. Glaube mache an Grenzen nicht halt.

Die deutschen und die polnischen katholischen Bischöfe riefen dazu auf, "die Einheit Europas, das auf christlichen Fundamenten errichtet ist, zu festigen und zu vertiefen". In einer gemeinsamen Erklärung beider Bischofskonferenzen mahnten sie, mit den "Früchten der Versöhnung" verantwortungsbewusst umzugehen und "sie nicht leichtfertig in politischem Interesse" preiszugeben.

Rheinischer Präses: Frieden ist dauerhafte Aufgabe

Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Rekowski, rief dazu auf, Frieden als dauerhafte Aufgabe zu verstehen. "Frieden und Versöhnung müssen immer wieder neu gesucht und gewonnen werden", sagte Rekowski in einem Gedenkgottesdienst in Mönchengladbach-Rheydt, der via Internet-Liveschaltung gemeinsam mit der evangelischen Kirchengemeinde im polnischen Pasym gefeiert wurde. Die guten nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen heute seien nicht selbstverständlich, "sondern ein Grund zur Dankbarkeit", betonte der Theologe.

Auch die Lippische Landeskirche und die Reformierte Kirche in Polen feierten einen gemeinsamen Friedensgottesdienst, der die Teilnehmer im lippischen Kalletal und im polnischen Lodz mit einer Liveschaltung verband. In ihrer Dialog-Predigt hoben der Ökumenebeauftragte der polnischen Reformierten, Pfarrer Semko Koroza, und der Friedensbeauftragte der Lippischen Landeskirche, Christian Brehme, die Bedeutung der Versöhnung hervor. Damit Vergebung und Versöhnung funktionieren könnten, "müssen wir unsere Vergangenheit gemeinsam verstehen und gemeinsam studieren", sagte Koroza.

Mit dem deutschen Überfall auf Polen begann am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg.



Trotz Leid und Schuld Versöhnung leben


Die stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende, Präses Kurschus, und der Präsident des Polnischen Ökumenischen Rates, Bischof Samiec, beim Gottesdienst in Warschau.
epd-bild/Michal Karski
Bekenntnis der Schuld und gemeinsames Erinnern der Geschichte: In einem Friedensgottesdienst in Warschau würdigen hochrangige Repräsentanten deutscher und polnischer Kirchen das Engagement zur Versöhnung.

Viele Besucher der Warschauer Trinitatiskirche sind Polen, die das Grauen durch die deutschen Nationalsozialisten noch selbst erlebt haben. Neben ihnen sitzen Gäste aus Deutschland, die sich in Versöhnungsprojekten engagieren. Vor einem Kreuz stehen Präses Annette Kurschus, die stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), und Bischof Jerzy Samiec, Präsident des Polnischen Ökumenischen Rates. 80 Jahre nach dem Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands auf Polen geht es in dem deutsch-polnischen Friedensgottesdienst am 31. August um Schuld und Vergebung aber auch um einen gemeinsamen Weg in die Zukunft.

"Offen und aufrichtig bekennen wir uns zu dieser Geschichte und zu der Verantwortung, die uns daraus zuwächst: für die Versöhnung mit unseren polnischen Nachbarn und den Frieden in Europa", sagt die westfälische Präses, die bei der EKD Beauftragte für die deutsch-polnischen Beziehungen ist. Wichtig sei ein gemeinsames Erinnern von Deutschen und Polen. Sie würdigt zugleich "Schritte der Versöhnung, die wir aufeinander zu und gemeinsam mit unseren polnischen Nachbarn gehen durften".

"Ich kann immer noch ihre Schreie hören"

Auch der polnische Bischof Samiec erklärt, dass neben der Erinnerung ein Blick auf das Engagement zur Versöhnung gerichtet werden müsse. Zusammenarbeit, gegenseitiges Lernen und Freundschaften zwischen den jungen Generationen beider Länder "ermöglicht es uns, mit Hoffnung in die Zukunft zu blicken und ein gemeinsames Bauen des künftigen Europas zu erwarten".

Der Friedens- und Gedenkgottesdienst von EKD und dem Polnischen Ökumenischen Rat lässt auch Menschen zu Wort kommen, die für das Leid, aber auch für Vergebung und Versöhnung stehen. "In meinem Unterbewusstsein kann ich immer noch ihre Schreie hören", erzählt Stanislaw Zalewski, der in KZ-Jacke und -Mütze in der Kirche steht. Als Gefangener im KZ Auschwitz-Birkenau musste er zusehen, wie Frauen des Lagers auf Lastwagen geschoben und zum Krematorium gefahren wurden, wo sie vergast wurden.

Aus einer anderen Perspektive erzählt der 81-jährige Theologe Hans-Henning Neß, wie seine Familie aus dem Kreis Breslau im Jahr 1946 vertrieben wurden. Der heute in Göttingen lebende Theologe engagiert sich in zahlreichen deutsch-polnischen Initiativen, wie der "Gemeinschaft evangelischer Schlesier". Aus der Erfahrung der Vertreibung wuchs sein Engagement, Kontakte zu den Menschen in den ehemaligen Ostgebieten zu knüpfen und sich für ein friedliches Zusammenleben der Menschen einzusetzen, wie er berichtet.

Deutsch-polnische Familiengeschichte

Die Versöhnung zwischen Deutschen und Polen ist Kurschus auch persönlich ein Anliegen. "Deutsch-polnische Geschichte zieht sich durch meine Familie", erzählt die westfälische Präses. Ihr aus Königsberg (Kaliningrad) stammender Vater war mit seiner Familie nach Masuren im heutigen Polen gezogen. Vor dort flüchtete die Familie im Januar 1945 über Dänemark nach Hessen. Die Familie pflegte intensive Kontakte zur ehemaligen Heimat und den inzwischen dort lebenden Menschen.

Von den Kirchen beider Länder ging bereits in den 60er Jahren ein Prozess der Aussöhnung aus, der sich später auch in der Politik der beiden Staaten niederschlagen sollte: Im Jahr 1965 schrieben polnische Bischöfe der katholischen Kirche an die deutschen Bischöfe, dass sie Vergebung gewähren und selbst um Vergebung baten. Im gleichen Jahr hatte die EKD in ihrer Ostdenkschrift das Unrecht gegenüber deutschen Vertriebenen beklagt, zugleich jedoch empfohlen, das Heimatrecht der polnischen Bevölkerung in den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie anzuerkennen.

Zeichen der Hoffnung

Dass Versöhnung möglich ist, dafür stehen die 96-jährige Warschauerin Alina Dabrowska und die 18-jährige Hannah Westphal. Dabrowska hat fünf KZs überlebt, wie sie bei einem Treffen vor dem Gottesdienst erzählt. "Die Zeit im KZ Auschwitz hat noch immer einen besonderen Platz in meinem Gedächtnis", sagt sie. Heute erzählt sie Schülern in Deutschland von dieser Zeit. "Mir ist wichtig, die Geschichte weiterzugeben - ohne Hass", sagt sie.

Im Rahmen Frankfurter Versöhnungs- und Begegnungsinitiative "Zeichen der Hoffnung" hat die 18-jährige Hannah Westphal als Freiwillige bei der evangelischen Gemeinde in Krakau begonnen. Sie lernt die polnische Sprache und freut sich auf die persönlichen Begegnungen. Auch wenn sie keine persönliche Schuld für die Verbrechen des Nationalsozialismus fühle, empfinde sie jedoch als Deutsche eine Verantwortung, unterstreicht sie.

Holger Spierig (epd)


Bischöfe sehen Wahlausgang als Auftrag zum Dialog


Markus Dröge (Archiv)
epd-bild/Christian Ditsch
Das hohe Stimmungsergebnis für die AfD sei "eine echte Problemanzeige für das Lebensgefühl in Brandenburg", sagte der evangelische Bischof Dröge.

Die Kirchen haben den Ausgang der Landtagswahl in Brandenburg als Auftrag zu Dialog und Zusammenarbeit gewertet. Der evangelische Bischof Markus Dröge sprach am Abend des 1. September auf epd-Anfrage von einem klaren Signal zum Dialog mit enttäuschten Bürgern und zur Problemlösung. Das hohe Stimmungsergebnis für die AfD sei "eine echte Problemanzeige für das Lebensgefühl in Brandenburg", sagte der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Der katholische Berliner Erzbischof Heiner Koch sagte, die Notwendigkeit zu Dialog und Zusammenarbeit gelte für alle Parteien und für alle Abgeordneten, die in den Landtag gewählt wurden.

Laut dem Endergebnis liegt die SPD bei der Landtagswahl in Brandenburg bei 26,2 Prozent, die AfD bei 23,5 Prozent, die CDU bei 15,6 Prozent, die Linke bei 10,7 Prozent, die Grünen bei 10,8 Prozent und die Freien Wähler bei 5,0 Prozent.

"Daseinsvorsorge in den Blick nehmen"

Der evangelische Bischof Dröge zeigte sich erleichtert darüber, dass das Ergebnis der Landtagswahl eine Koalition der vernünftigen und zur Demokratie stehenden Parteien ermögliche. Die politisch Handelnden seien nun allerdings in der Pflicht, die Frustrierten und Protestwähler zurückzuholen. Dazu müssten elementare Fragen der Daseinsvorsorge in den Blick genommen werden, wie der öffentliche Nahverkehr, die Internetversorgung oder das Angebot an Ärzten. Auch am unumgänglichen Strukturwandel in der Lausitz müsse zügig gearbeitet werden. Mit Blick auf von der DDR-Bürgerrechtsbewegung entlehnte Wahlkampfparolen der AfD sagte der Bischof, die Wende werde erst dann vollendet, "wenn die Protestwähler wieder Vertrauen in die Demokratie finden" und die Verteidigung der Menschenrechte unterstützten.

Die Rolle der Kirchen nach der Landtagswahl in Brandenburg sieht Dröge in einem noch stärkeren gesellschaftlichen Engagement. Trotz des Schrumpfungsprozesses verfügten die Kirchen über das dichteste Netz in der Fläche des Landes. Diese Ressourcen müssten noch stärker für Dialog und Verständigung genutzt werden, etwa durch die Profilierung von Dorfkirchen auch als Gemeinwesen-orientierte Dorfzentren. Darüber hinaus bleibe es der Auftrag von Kirche, klar die Stimmen zu erheben gegen Menschenfeindlichkeit und für den Zusammenhalt der Gesellschaft.

Bischof Koch verweist auf hohe Beteiligung

Der katholische Erzbischof Heiner Koch interpretierte die hohe Wahlbeteiligung in Brandenburg als Beleg dafür, dass die Menschen politische Verantwortung übernehmen wollten. Er hoffe, "dass das über den Wahltag hinaus sich auswirkt". Nach der Wahl müsse es nun wieder um die drängenden Themen des Landes gehen, wie den Strukturwandel in der Lausitz, den Fachkräftemangel, eine gute Bildung und eine Anpassung der Lebensverhältnisse in Stadt und Land, betonte auch er.

Koch warnte zugleich vor "langwierigen und eigensinnigen Koalitionsverhandlungen". Diese würden dem Ansehen der Politik und vor allem dem Land schaden. Lösungen müssten über Parteigrenzen erarbeitet werden. Der katholische Erzbischof fügte hinzu: "Als Kirche wollen wir uns weiterhin daran beteiligen und Orte für den offenen Dialog anbieten."



EKD-Experte: Noch keine gefahrlose Rückkehr für Syrer


Manfred Rekowski am 26. August in einer Schule in Beirut.
epd-bild/Marcel Kuss/EKiR

Der evangelische Migrationsexperte Manfred Rekowski sieht vorerst keine Rückkehrperspektive für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge. "Dass in großen Teilen Syriens nicht mehr gekämpft wird, heißt für die ins Ausland geflohenen Menschen nicht, dass sie gefahrlos zurückkehren können", sagte der Präses der rheinischen Landeskirche zum Abschluss einer mehrtägigen Reise nach Syrien und in den Libanon dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Jeder Syrer, der das Land verlassen hat, gilt als Teil der Opposition und muss sich bei einer Rückkehr darauf gefasst machen, dass ihn die Staatsgewalt ins Visier nimmt."

Zwar hätten die Kriegshandlungen abgenommen, und es gebe teilweise ein überraschend hohes Maß an Normalität, erklärte Rekowski, der Vorsitzender der Kammer für Migration und Integration der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist. Das Regime unter Machthaber Baschar al-Assad gehe jedoch mit der Opposition "nicht zimperlich" um. Auch das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR habe keine Möglichkeit, die Menschen zu schützen. "Ich warne deshalb davor, aus dem Rückgang der Kämpfe zu schließen, dass die geflüchteten Syrer einfach in ihr Land zurückkehren können", sagte der Theologe.

"Keine Hoffnungsperspektive"

Besorgt äußerte sich Rekowski auch über die Lage der seit Jahrzehnten im Libanon lebenden palästinensischen Flüchtlinge. "Die meisten Menschen rechnen nicht mehr mit einer Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse, sie sehen praktisch keine Hoffnungsperspektive", sagte er nach dem Besuch eines palästinensischen Lagers nahe der libanesischen Hauptstadt Beirut. Diese Situation sei "Sprengstoff für die libanesische Gesellschaft". Das Schicksal der im Libanon lebenden Palästinenser zeige, "dass ein über viele Jahre ungelöstes Flüchtlingsproblem, das sich verstetigt, für eine Gesellschaft zu einer unerträglichen Belastung werden kann".

Die Libanesen befürchten nach Rekowskis Worten, dass die rund 1,5 Millionen Syrer in ihrem Land ähnlich wie die palästinensischen Flüchtlinge auf Dauer bleiben könnten. Auch deshalb müsse im Syrien-Konflikt "Bewegung entstehen, die den Menschen Zutrauen gibt, dass sie sicher in ihre Heimat zurückkehren können und ihr Land sich weiterentwickelt". Die Konfliktparteien einschließlich der Supermächte müssten "die Bereitschaft entwickeln, an einer substanziellen Lösung zu arbeiten".

Als Dilemma bezeichnete Rekowski die Lage der syrischen Christen. Ihre Furcht vor einem islamistischen Regime sei so groß, dass Assad als das kleinere Übel gelte, weil er kirchliches Leben zulasse. In dieser Frage gebe es keine einfachen Lösungen. Rekowski war mit einer Delegation der rheinischen Kirche in den Nahen Osten gereist, um sich über die Lage der Menschen in Syrien zu informieren und ein Bild von den syrischen Flüchtlingscamps im Libanon zu machen.

epd-Gespräch: Ingo Lehnick


"Asyl in der Kirche" schreibt offenen Brief an Seehofer

Die Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" hat in einem offenen Brief Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) vorgeworfen, das Kirchenasyl auszuhebeln. Aus dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) kämen kaum noch positive Voten, heißt es in dem am 29. August veröffentlichten Schreiben des ökumenischen Vereins. Gemeint ist, dass das Bamf kaum noch von den Kirchengemeinden identifizierte Härtefälle als solche anerkennt. "Ein Rechtsstaat, der Kirchenasyl als Korrektiv de facto verhindert, zeigt Schwäche, nicht Stärke", heißt es in dem Brief.

Die Unterzeichner, darunter auch Kirchenasyl-Vereine aus den Ländern, Pro Asyl und der Jesuiten Flüchtlingsdienst Deutschland, fordern von Seehofer humanitäre Lösungen für Flüchtlinge im Kirchenasyl und ein Ende der Kriminalisierung von Unterstützern. Im Brief erinnern sie an die lange Tradition des Schutzes für von Abschiebung bedrohte Asylbewerber in Kirchen. Das erste Kirchenasyl in Deutschland gab es 1983 in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg.

Regeln verschärft

Die Innenminister von Bund und Ländern hatten im vergangenen Jahr die Regelungen fürs Kirchenasyl verschärft. Seitdem werden von den Gemeinden eingereichte Härtefälle vom Bamf nur noch selten im Nachhinein anerkannt. Kirchenvertreter werfen dem Bamf vor, das Kirchenasyl damit systematisch zurückdrängen zu wollen. Bamf-Präsident Hans-Eckhard Sommer erklärte dagegen im Juli, das Bamf erkenne die Härtefälle selbst.



Kurschus würdigt Flüchtlingshilfe in Italien


Die "Casa Valdese" in Torre Pellice, in der sich der Sizungssaal der Waldensersynode befindet.
epd-bild / Gustavo Alàbiso

Die westfälische Präses Annette Kurschus hat den Einsatz der italienischen Waldenserkirche in der Flüchtlingshilfe als "wegweisend" bezeichnend. Mit Projekten wie "Mediterranean Hope" und den humanitären Korridoren für besonders verletzliche Geflüchtete sei die kleine protestantische Kirche "mutig vorangegangen", sagte Kurschus am 26. August vor der Synode der Waldenser- und Methodistenkirche in Torre Pelice bei Turin, wie die westfälische Landeskirche in Bielefeld mitteilte. Christus rufe die Kirche "an die Seite der an Leib und Seele Verletzten, der Armen und Schutzlosen", betonte die Präses, die auch stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist.

Bestandteil des Projekts "Mediterranean Hope" der evangelischen Kirchen in Italien ist unter anderem ein "Haus der Kulturen" auf Sizilien, in dem vor allem unbegleitete jugendliche Flüchtlinge und alleinreisende Frauen mit Kindern Aufnahme und Beratung erhalten. Auf der Insel Lampedusa unterhält das Projekt eine Beobachtungsstelle für Migrationsfragen im Mittelmeerraum. Die "humanitären Korridore" beruhen auf einer Vereinbarung zwischen evangelischen und katholischen Kirchen und dem italienischen Staat, der Visa für eine jeweils begrenzte Zahl besonders gefährdeter Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten erteilt.

Kurschus, leitende Theologin der westfälischen Kirche, würdigte auch den Einsatz von Seenotrettern "für Menschen auf dem Mittelmeer, der tödlichsten Grenze weltweit". Die Retter ließen sich nicht abschrecken "von einem rechtsradikalen Innenminister", der bereits sei, über Leichen zu gehen, wenn es seinen Machtinteressen diene, sagte die Präses mit Blick auf den italienischen Innenminister Matteo Salvini. Kurschus kritisierte Rechtspopulisten, die "auf infame Weise" mit den Zukunftsängsten der Menschen spielten: Minderheiten, Migranten und Flüchtlinge erhielten weder Schutz noch Aufnahme, die Achtung der unverlierbaren Menschenwürde falle "kleinkarierten nationalen Eigeninteressen zum Opfer".



Friedenspilgerweg mit Flüchtlingen endet in Münster

Mit einem Empfang im Rathaus von Münster ist am 1. September der erste Westfälische Friedenspilgerweg zu Ende gegangen. Bürgermeisterin Wendela-Beate Vilhjalmsson, der westfälische Oberkirchenrat Ulrich Möller und Superintendent Ulf Schlien begrüßten die Pilger, die am 30. August in Osnabrück aufgebrochen waren. Die Gruppe bestand aus Menschen aus der Region und den Niederlanden sowie Flüchtlingen und Migranten.

Möller würdigte die Aktion als "Signal für den Frieden in der Welt". Er hob den ökumenischen und internationalen Charakter der Veranstaltung hervor. Ziel der Initiatoren sei es gewesen, Menschen mit unterschiedlicher Geschichte, Religion, Kultur und Herkunft zusammenzubringen und "Frieden als etwas erfahrbar zu machen, für das es sich einzusetzen lohnt". Zu den 25 Teilnehmern zählten Pilger aus Schweden, den Niederlanden, Syrien, Iran, Kongo und Afghanistan.

Auf den Spuren des Westfälischen Friedens von 1648

Die Friedenspilger hatten sich in Osnabrück zu Fuß auf den 74 Kilometer langen Weg nach Münster gemacht. Damit wollten sie den historischen Spuren des Westfälischen Friedens von 1648 folgen, der den Dreißigjährigen Krieg in Deutschland beendete. Der Friedensvertrag wurde damals in den Rathäusern von Osnabrück und Münster ausgehandelt und verkündet. Er beendete zugleich den 80-jährigen Unabhängigkeitskrieg der Niederlande.

Unterwegs hatte die interreligiöse Wandergruppe Zwischenstation in Lengerich und Ladbergen gemacht, wo vor über 370 Jahren wichtige Verhandlungen zur Beendigung des Dreißigjährigen Krieges stattfanden. "Wir haben überall große Unterstützung erfahren", sagte Regionalpfarrer Jean-Gottfried Mutombo vom Amt für Mission, Ökumene und Weltmission aus Dortmund. Mit dem Projekt wollte die Evangelische Kirche von Westfalen für ein friedliches Miteinander werben.



Friedensarbeit warnt vor "übersteigertem Nationalismus"


Renke Brahms
epd-bild/Jürgen Blume

80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs warnt die evangelische Friedensarbeit vor einer neuen Kriegsgefahr. Deutschland stehe angesichts seiner Geschichte in einer besonderen Verantwortung, wenn übersteigerter Nationalismus, Menschenverachtung und Rassismus wieder laut würden und durch Militarismus und Rüstung die Kriegsgefahr wachse, erklärte die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK) in Bonn. "Die Opfer des Zweiten Weltkriegs sind auch 80 Jahre nach dessen Beginn eine laute und andauernde Mahnung für den Frieden", betonte der evangelische Friedensbeauftragte Renke Brahms.

Brahms erklärte, die deutsche Verantwortung für Frieden in der Welt müsse darin bestehen, sich für Versöhnung und Gerechtigkeit einzusetzen. "Dazu gehört, dass finanzielle Mittel für eine zivile Konfliktbearbeitung auszubauen und die Friedens- und Freiwilligendienste national wie international stärker zu unterstützen sind", sagte der Friedensbeauftragte des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Mit Blick auf die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gegen Ende des Zweiten Weltkriegs forderte Brahms zudem mehr Einsatz für eine atomwaffenfreie Welt. Heute wollten die Atommächte ihre Arsenale modernisieren und aufrüsten, gleichzeitig würden Abrüstungsverträge gekündigt. "Damit steigt die Gefahr eines nuklearen Konflikts", warnte er.

Lutz Krügener, einer der Sprecher der EAK, ergänzte, weltweit gebe es zahlreiche gewaltsam ausgetragene Konflikte und Kriege, viele Menschen verließen aus Furcht vor Gewalt und Verfolgung ihre Heimat. "Deutschland ist eine der größten Rüstungsexportnationen und hat an dieser Entwicklung einen wesentlichen Anteil", kritisierte Krügener.

Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939 mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen und dauerte bis 1945. Mehr als 60 Millionen Menschen wurden weltweit getötet, sechs Millionen Juden wurden von den Nationalsozialisten ermordet.



Graue Busse in den Tod


Patienten der Pflegeanstalt Bruckberg werden 1941 mit Bussen zur Heil- und Pflegeanstalt Ansbach transportiert.
epd-bild / Zentralarchiv Diakonie Neuendettelsau
Die Nationalsozialisten ermordeten mindestens 200.000 behinderte Menschen. Deckname der Geheimaktion: T4. Pfarrer Paul Gerhard Braune dokumentierte Namen und Adressen von Opfern, nannte die Tötungsanstalten und protestierte bei der Reichskanzlei.

"T4" war streng geheim. Zunächst. Doch dann schickte der Brandenburger Pfarrer Paul Gerhard Braune am 9. Juli 1940 seine "Denkschrift gegen die Krankenmorde" an die Reichskanzlei. Er machte das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten öffentlich, das vor 80 Jahren im September 1939 begonnen hatte. Am 30. August erinnerten Christen und Juden in Berlin mit einer Gedenkfeier und einem Gottesdienst an die Opfer.

Die beiden großen Kirchen hatten sich lange nicht zur Euthanasie geäußert. "Kein einziger kirchlicher Funktionsträger ist öffentlich gegen den Massenmord aufgetreten", sagt der ehemalige Professor für kirchliche Zeitgeschichte, Jochen-Christoph Kaiser. "Die Krankenmordaktionen in ihrer konkreten Durchführung blieben immer im Dunkel der offiziellen NS-Politik, wenngleich manches durchsickerte, aber nur 'hinter vorgehaltener Hand' weitergesagt wurde", sagt Kaiser.

Berüchtigte graue Busse

Braune durchbrach das Schweigen. Er hatte 1922 die Leitung der Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal bei Berlin übernommen, ein Schutzraum für geistig Behinderte. Anfangs durchaus offen für das NS-System, stand Braune bis zu seinem Tod am 19. September 1954 an deren Spitze.

Persönlich konfrontiert wurde Braune mit der "T4-Aktion" im Mai 1940: Aus dem Mädchenheim "Gottesschutz" in Erkner, das zu seiner Einrichtung gehörte, sollten 25 "schwachsinnige" Kinder und "anfallkranke" junge Frauen abgeholt werden. Einer der berüchtigten grauen Busse, die die Euthanasieopfer in die Tötungsanstalten abtransportieren sollten, wartete bereits vor dem Haus. Doch Braune und die leitende Diakonisse Elisabeth Schwarzkopf gaben die Menschen nicht heraus.

Systematisches Tötungsprogramm

Begonnen hatte das geheime Morden im Südwesten des Reiches. Nachdem Adolf Hitler die "Aktion T4" angeordnet hatte, benannt nach der Anschrift der Planungszentrale an der Tiergartengartenstrasse 4 in Berlin, wurde das württembergische Heim Grafeneck beschlagnahmt. Es diente fortan wie fünf weitere Anstalten der Ermordung Kranker und Behinderter, die eigens dorthin verlegt wurden.

Die Angehörigen wurden stets mit gleichlautenden Nachrichten über den Tod informiert: Neben einer vorgeschobenen Todesursache enthielten sie den Hinweis, wegen Seuchengefahr hätte der Leichnam sogleich eingeäschert werden müssen. Braune ging den Dingen seit März 1940 auf den Grund. Schnell fand er heraus, dass ein systematisches Tötungsprogramm angelaufen war.

Regime schlug zurück

Er verfasste seine zwölfseitige Denkschrift gegen die Krankenmorde. Auf die Übergabe folgten zahlreiche Gespräche mit Parteigrößen. Sie wurden geführt in der irrigen Annahme, "durch Appelle an Moral und Vernunft der Staatsdiener eine Beendigung der Euthanasie zu erwirken", wie Jan Cantow, Historiker und Archivar der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal, schreibt.

Braune benannte drei Tötungsanstalten: Grafeneck, Brandenburg a. d. Havel und Hartheim. Und er veröffentlichte die Namen, Adressen und geschätzten Todeszeitpunkte von mehr als 25 Patienten. Sein Fazit: "Es handelt sich hier also um ein bewusstes, planmäßiges Vorgehen zur Ausmerzung aller derer, die geisteskrank oder sonst gemeinschaftsunfähig sind."

Das Regime schlug am 12. August 1940 zurück: Gestapo-Beamte durchsuchten Braunes Haus, beschlagnahmten Akten und nahmen ihn fest. Er habe "staatliche Maßnahmen in unverantwortlicher Weise sabotiert". Am 31. Oktober 1940 kam Braune wieder frei. Zuvor musste er eine Erklärung unterzeichnen, "nichts mehr gegen den Staat und die Partei" zu unternehmen.

"Wirkungslos"

Doch der Mantel des Schweigens war da längst zerrissen: Am 3. August 1941 attackierte der katholische Bischof in Münster, Clemens August Graf von Galen (1878-1946), in einer berühmt gewordenen Predigt das Mordprogramm: "Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den 'unproduktiven' Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden. (...) Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher."

Ob die kirchlichen Proteste wirklich zum offiziellen Stopp der Tötungen am 24. August 1941 führten, ist in der Forschung umstritten. "Die zahlreichen vertraulichen Eingaben kirchlicher Würdenträger an die nationalsozialistische Regierung zeugen zwar von persönlicher Integrität, blieben aber völlig wirkungslos", urteilt der Historiker Hans-Walter Schmuhl.

Dennoch wurden die Tötungseinrichtungen entweder geschlossen oder umfunktioniert. Das Morden geschah fortan dezentral, dauerte aber bis Kriegsende an. Nach Schätzungen wurden zwischen 200.000 und 300.000 Menschen getötet.

Dirk Baas (epd)


Berliner "Uhr der Versöhnung" tickt nach 58 Jahren wieder


Nach 58 Jahren Stillstand tickt in Berlin die "Uhr der Versöhnung" wieder.
epd-bild/Jürgen Blume
Keine Berliner Kirche war so tragisch mit der Teilung der Stadt verbunden wie die Versöhnungskirche in der Bernauerstraße. Nun tickt die Turmuhr des 1985 gesprengten Sakralbaus wieder - pünktlich zum 125-jährigen Bestehen der Gemeinde.

Nach 58 Jahren Stillstand tickt die "Uhr der Versöhnung" in Berlin wieder: Das restaurierte Turmuhrwerk stammt aus der 1985 gesprengten Versöhnungskirche im Mauerstreifen, das Ziffernblatt aus der benachbarten Zionskirche. Am 28. August wurde die Uhr im Eingangsbereich des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung (EWDE) unweit ihres früheren Standortes von Diakonie-Präsident Ulrich Lilie und dem Zeitzeugen und früheren Uhrenwart Jörg Hildebrandt feierlich in Gang gesetzt.

Unter dem Motto "Gönn' Dir eine Minute" hatte die Berliner Evangelische Versöhnungsgemeinde seit November 2018 Spender für die Restaurierung und Wiederaufstellung der Uhr gesucht. Sie konnten symbolisch eine Minute zu 45 Euro kaufen oder auch größere Minutenpakete erwerben. Jeder Spender bekam eine Urkunde. Insgesamt kamen den Angaben zufolge 35.000 Euro zusammen.

Brücke der Erinnerung

Diakonie-Präsident Lilie nannte die Uhr ein "besonderes Geschenk". Sie sei eine Brücke der Erinnerung an die deutsche Teilung. "Wenige Meter entfernt von unserem heutigen Sitz trennte der Todesstreifen die heutige Hauptstadt. Es ist gut, dass wir täglich daran erinnert werden: Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Die 'Uhr der Versöhnung' bringt uns und allen Gästen unseres Hauses diese Erinnerung noch näher", sagte Lilie.

Weil Kirche und Turm der alten Versöhnungskirche mit der Grenzschließung am 13. August 1961 eingemauert wurden, stand das Uhrwerk seit dem Herbst 1961 still. Der damalige Uhrenwart Jörg Hildebrandt, Ehemann der 2001 gestorbenen Brandenburger Sozialministerin Regine Hildebrandt (SPD), stellte in einer Protestaktion am 26. Oktober 1961 die Zeiger der Uhr auf "fünf vor zwölf". Der junge Mann wehrte sich damit gegen die Schließung der Kirche und die Vertreibung seiner Familie sowie aller benachbarten Ost-Berliner aus dem Grenzgebiet Bernauer Straße. Er sei froh, nun diese Uhr wieder erwecken zu dürfen, sagte Hildebrandt bei der Inbetriebnahme: "Seit heute glaube ich wieder an Wunder."

Backsteinbau stand auf dem Todesstreifen

Die Wiederinbetriebnahme der früheren Turmuhr war zugleich der Start einer Festwoche zum 125-jährigen Bestehen der Evangelischen Versöhnungsgemeinde. Auf dem Festprogramm stehen unter anderem Konzerte, Ausstellungen und Filmvorführungen. Am Mittwochabend wollte der Journalist und frühere Chefredakteur des Landesdienst Ost des Evangelischen Pressedienstes sein neues Buch "Im Schatten der Mauer" zur Geschichte der Versöhnungskirche vorstellen. Am Sonntag predigt die Berliner Generalsuperintendentin Ulrike Trautwein zum Weltfriedenstag in der Kapelle der Versöhnung.

Die neugotische Versöhnungskirche in der Bernauerstraße war 1894 eingeweiht worden und hatte eine bewegte Geschichte. Nach dem Mauerbau 1961 stand der Backsteinbau genau auf dem Todesstreifen zwischen Ost- und Westberlin. DDR-Grenztruppen nutzten den Kirchturm als Geschützstand. Am 22. Januar 1985 veranlasste die DDR-Regierung die Sprengung der Kirche und sechs Tage später auch des Turmes.

Liturgische Gegenstände aus der Versöhnungskirche wurden vor der Sprengung ausgelagert und unter anderem in der 1981 gegründeten Ost-Berliner Versöhnungsgemeinde Marzahn weiterverwendet. Auch die Glocken und die Turmuhr wurden geborgen und eingelagert. Auf dem Fundament der alten Versöhnungskirche wurde 2000 die Kapelle der Versöhnung eingeweiht. Sie ist Teil der Gedenkstätte Berliner Mauer.



Platzeck: '89 war im Kern eine "evangelische Revolution"

Für Brandenburgs früheren Ministerpräsidenten Matthias Platzeck waren die Ereignisse im Herbst 1989 in der DDR im Kern "eine evangelische Revolution". Es sei kein Zufall, dass sich die friedliche Revolution mit Orten wie der Berliner Gethsemanekirche, der Leipziger Nikolaikirche und der Potsdamer Friedrichskirche verbinde, sagte der SPD-Politiker am 27. August in Potsdam bei einem Zeitzeugengespräch 30 Jahre nach der friedlichen Revolution in der Evangelischen Kirchengemeinde Babelsberg.

Heute sei immer davon die Rede, dass sich beide große Kirchen im Herbst 1989 den Demonstranten geöffnet haben. "Es gab aber einen großen Unterschied zwischen katholischer und evangelischer Kirche. Das muss auch mal gesagt werden", sagte Platzeck. Bei den Katholiken seien zumeist die Türen geschlossen geblieben. Zwar habe es auch innerhalb der evangelischen Kirche viele kontroverse Diskussionen gegeben, inwieweit man der DDR-Opposition Räume und Podien biete, "aber am Ende gingen die Türen für die Demonstranten auf".



Neue rheinische Landespfarrerin für innovative Gemeindeformen berufen

Die Theologin Rebecca John Klug leitet die neue Projektstelle "Gemeindeformen/Erprobungsräume" der Evangelischen Kirche im Rheinland. Mit der Berufung der 35-Jährigen als Landespfarrerin nehme die Projektstelle am Zentrum Gemeinde und Kirchenentwicklung in Wuppertal offiziell ihre Arbeit auf, teilte das Landeskirchenamt am 30. August in Düsseldorf mit. Die Einrichtung soll neue und innovative Formen kirchlichen Lebens unterstützen. Zur Anschubfinanzierung für neue Ideen hat die Landeskirche zwölf Millionen Euro an Fördergeldern für die kommenden zehn Jahre bereitgestellt.

Mit "Erprobungsräumen" sind den Angaben zufolge ergänzende Formen kirchlichen Lebens gemeint, die neben traditionellen Wohnortgemeinden oder speziellen Diensten wie etwa der Krankenhausseelsorge entstehen. Gesucht werden Ideen und Projekte, die vor allem Menschen erreichen, die mit bisherigen kirchlichen Angeboten nichts anfangen können. Beispiele dafür sind Jugendkirchen oder offene Angebote wie das "raumschiff.ruhr" in Essen.

Rebecca John Klug stammt aus Lüdenscheid und studierte Evangelische Theologie in Bochum, Greifswald und Wuppertal. Nach Stationen im Essener Weigle-Haus, einer Essener Kirchengemeinde und in der Jugendkirche Düsseldorf baute sie ab 2016 die kirchliche Initiative "raumschiff.ruhr" auf. Auch ihre Doktorarbeit befasste sich mit ergänzenden Ausdrucksformen des Glaubens.



Ehemalige Kirche in Hannover wird Studentenwohnheim


Ehemalige Gerhard-Uhlhorn-Kirche in Hannover wird umgebaut.
epd-bild/Harald Koch
Weil die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt, stehen überall in Deutschland immer wieder Kirchengebäude zum Verkauf. Zwei Investoren aus Hannover wagen jetzt neue Wege: Sie verwandeln die Kirche in ein Wohnheim und wollen Zimmer an Studenten vermieten.

Wo einst die Orgel spielte, ist künftig eine Gemeinschaftsküche. Und wo Menschen in Kirchenbänken saßen, öffnen sich jetzt Zimmertüren. In der früheren evangelischen Gerhard-Uhlhorn-Kirche in Hannover vollzieht sich derzeit ein ungewöhnliches Bauprojekt: Zwei Investoren bauen die 1963 errichtete Kirche in ein Studentenwohnheim um. 31 Räume sind hier neu entstanden, mit Eichenparkett, Duschbad und einem äußerst leisen "Flüsterkühlschrank". Damit "man nachts schlafen kann", erläutert Projektentwickler Dirk Felsmann (55), während er auf ausgelegter Pappe vorsichtig über die frisch verlegten Böden schreitet. Schon im Oktober werden die ersten Studierenden einziehen.

Eine Kirche als Wohnraum für Studenten, das ist aus Sicht der Investoren bislang einmalig in Europa. "Wir haben viel nachgeforscht, aber nichts gefunden, was in diese Richtung ging", sagt Felsmann. Vor drei Jahren haben er und sein Partner Gert Meinhof die 2012 entwidmete Kirche gekauft. Zunächst wollten sie hier Wohnungen für alleinerziehende Familien schaffen, doch die wären zu teuer geworden. So kamen sie auf die Idee, kleinere Zimmer an Studierende zu vermieten. Schließlich liegt die Kirche im Multikulti-Stadtteil Linden, und mit dem Fahrrad sind es über eine Brücke nur ein paar Minuten bis zur Uni. "Man muss sich etwas überlegen, wie man so ein Haus bespielen kann."

"Das passendste Konzept"

Die Uhlhorn-Kirche, idyllisch am Leine-Ufer gelegen, gehört zu den zahlreichen Kirchen in Deutschland, die in den vergangenen Jahren aufgegeben und verkauft wurden, weil die Zahl der Kirchenmitglieder zurückgeht. Viele von ihnen wurden zu Museen, Bibliotheken oder Kulturtreffs, einzelne zu Synagogen oder Restaurants umgebaut. In Hannover-Linden hatten 2009 zwei evangelische Gemeinden fusioniert, damit war eine Kirche übrig. "Zwei Kirchen im Abstand von fünf Minuten, das macht keinen Sinn", sagt Pastorin Dorothee Blaffert. Vier Jahre stand die Uhlhorn-Kirche zum Verkauf, doch erst die Idee von Felsmann und Meinhof überzeugte die Pastorin: "Das war das passendste Konzept, denn Wohnraum wird gebraucht."

Die Umsetzung forderte viel Kreativität, erzählt Dirk Felsmann. "Wir bewegen uns die ganze Zeit im Spannungsverhältnis zwischen Bauphysik, Denkmalschutz, Brandschutz und Statik." So durfte an den denkmalgeschützten Wänden der Kirche keine Wärmedämmung angebracht werden. Die Lösung: "Wir haben ein Haus im Haus gebaut." Der zweistöckige Zimmerblock wurde in die Kirchenhülle wie eine Schachtel hineingesetzt. Nur die neuen Räume sind schall- und wärmegedämmt - einschließlich dicker Türen. "Der Rest ist nur wasserdicht."

Verwendung für Kirchenbänke

So ist vom alten Sakralraum des Architekten Reinhard Riemerschmid (1914-1996) noch viel zu sehen. Wie ein Zelt wölbt sich das Dach 21 Meter in die Höhe. "Wer nach oben schaut, blickt direkt in den hölzernen Spitzgiebel." Wenn die Sonne scheint, bricht sich das Licht durch die Buntglasfenster und wirft rote, gelbe und blaue Lichteffekte auf die weiß gestrichenen Flurwände. Das Kunstwerk der Berliner Glasmalerin Ingrid Schuhknecht zeigt den zweiten bis sechsten Tag der Schöpfung.

Selbst für die alten Kirchenbänke hat Felsmann noch Verwendung. Einige von ihnen werden in die beiden Gemeinschaftsküchen eingebaut - als Sitzgelegenheit an einer zwölf Meter langen Tafel aus Eichenholz. "Alles, was zu erhalten ist, bleibt erhalten." An einer der Giebelwände hängt noch die große Jesus-Figur von einst. Sie soll jedoch durch Segeltuch verhüllt werden. "Wir verleugnen nicht, dass er da ist. Wir stellen ihn aber auch nicht zur Schau." Der frühere Altar steht ebenfalls noch an Ort und Stelle, am Ende des früheren Mittelganges und heutigen Zimmerflures. Um ihn zu schützen, wird er mit Parkettholz verkleidet.

Pastorin Blaffert findet für den fünf Millionen Euro teuren Umbau nur anerkennende Worte: "Schick" sei ihre alte Kirche geworden. Und auch die hannoversche Landeskirche ist zufrieden. Wichtig sei, dass die Würde des Kirchenraums erhalten bleibe und die neue Nutzung nicht dem christlichen Menschenbild widerspreche, sagt ein Sprecher. Das sei bei der Uhlhorn-Kirche gelungen. Dirk Felsmann betont, dass der Umbau den Charakter des Gebäudes bis auf neue Dachfenster, einige Lichtöffnungen an der Fassade und zwei Treppen im Inneren kaum verändert habe. "Wenn wir alles herausreißen würden, wäre es wieder eine Kirche."

Michael Grau (epd)


Evangelische Kirche in Köln investiert Millionen in eigenen "Campus"

Der Evangelische Kirchenverband Köln und Region baut ab 2023 auf 6.000 Quadratmetern einen "Campus Kartause". Der Neubau am Kartäuserwall 24b soll alle Bildungseinrichtungen des Kirchenverbandes unter einem Dach zusammenfassen, wie Stadtsuperintendent Bernhard Seiger bei der Ausstellungseröffnung zum Architektenwettbewerb für das Projekt am 28. August in Köln erläuterte. Außerdem sollen auf dem Gelände Wohnungen für Studierende, Familien und eine evangelische Kommunität entstehen. Die Baukosten beziffert der Verband mit 44 Millionen Euro.

Zu den Bildungseinrichtungen des Kirchenverbandes gehören die Melanchthon-Akademie, die Familienbildungsstätte, das Jugendpfarramt, das Schulreferat und das Pfarramt für Berufskollegs. Realisiert wird ein Entwurf des Kölner Architekten-Büros Kaspar Kraemer, das als Gewinner aus einem vom Kirchenverband ausgelobten Wettbewerb hervorging. Die Ausstellung mit den insgesamt sieben eingereichten Entwürfen für das Bauprojekt ist bis zum 11. September zu sehen.



Bischofskonferenz beschließt mehr finanzielle Transparenz

Die katholische Kirche will ihre Finanzen in Zukunft transparenter gestalten. Das hat die Vollversammlung des Verbandes der Diözesen Deutschlands (VDD) beschlossen, teilte die katholische Deutsche Bischofskonferenz am 28. August in Bonn mit. Künftig sollen alle Diözesen ihre Jahresabschlüsse veröffentlichen. Ziel sei es, "transparent und nachvollziehbar" die Verwendung der zur Verfügung stehenden Mittel der deutschen Diözesen nachzuweisen, sagte der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx.

Unbedenklichkeitssiegel

Nicht nur die kirchlichen Verwaltungsbezirke, die Diözesen, sondern auch Bischöfliche Stühle, Domkapitel und Rechts- und Vermögensträger von diözesaner Bedeutung sollen mindestens die Bilanz und die Ergebnisrechnung offenlegen. Außerdem soll eine externe Wirtschaftsprüfungsgesellschaft die Jahresabschlüsse nach den jeweils geltenden Bestimmungen des Handelsgesetzbuches prüfen. Ziel der Prüfungen ist ein sogenannter "uneingeschränkter Bestätigungsvermerk" - eine Art Unbedenklichkeitssiegel.

Viele der 27 katholischen Diözesen veröffentlichen ihre Bilanzen bereits einmal im Jahr, teilte ein Sprecher der Bischofskonferenz mit. Der Beschluss gelte jetzt jedoch verbindlich für alle - mit zwei Ausnahmen: die Diözese Rottenburg-Stuttgart und der nordrhein-westfälische Teil des Bistums Münster. Hier gelten nach Aussage eines Bistumssprechers andere, aber mit der neuen Regelung vergleichbare Bestimmungen.



Papst bleibt im Aufzug stecken

Die vatikanische Feuerwehr hat Papst Franziskus am 1. September aus einem steckengebliebenen Aufzug befreit. Das Kirchenoberhaupt erschien mit geraumer Verspätung zum Angelusgebet auf dem Balkon des Apostolischen Palasts. "Ich muss mich für die Verspätung entschuldigen, ich bin 25 Minuten im Aufzug stecken geblieben", erklärte Franziskus den überraschten Gläubigen auf dem Petersplatz. Es habe einen Spannungsabfall gegeben, aber dann sei die Feuerwehr gekommen.

Der Aufzug führt in die päpstlichen Gemächer im dritten Stock des Apostolischen Palasts, die Franziskus jedoch nicht bewohnt. Sonntags nutzt er den Balkon, um von dort aus das Angelusgebet zu sprechen. Die Einsatzzentrale der vatikanischen Feuerwehr befindet sich wenige Hundert Meter entfernt im Damasushof.




Gesellschaft

Steinmeier in Polen: "Ich bitte um Vergebung"


Der Gedenkstein im polnischen Wielun erinnert an den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und die Zerstörung der Stadt Wielun.
epd-bild/Romy Richter
Starke Versöhnungsgesten prägen das Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren. Bundespräsident Steinmeier bekennt deutsche Schuld, der polnische Präsident Duda nennt dessen Besuch "eine Form der moralischen Wiedergutmachung".

Die Sonne ist noch nicht aufgegangen an diesem Sonntag (1. September) im polnischen Wielun. Einige der mehreren tausend Menschen auf dem Marktplatz haben Kerzen dabei. Wenige schwenken polnische Fahnen. Um 4.40 Uhr gellen Alarmsirenen. Der schrille Ton erinnert an die ersten Bombenabwürfe im Zweiten Weltkrieg und erzeugt kalten Schauer, trotz der milden Sommernacht.

Um 5.30 Uhr spricht der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede drei Sätze auf Polnisch. "Ich verneige mich vor den Opfern des Überfalls auf Wielun", sagt er in der Sprache der Nachbarn, die vor 80 Jahren zu Kriegsbeginn Ziel des ersten Angriffs deutscher Sturzkampfbomber wurden. Und der 63-jährige Steinmeier fügt hinzu: "Ich verneige mich vor den polnischen Opfern der deutschen Gewaltherrschaft. Und ich bitte um Vergebung."

Mindestens 1.000 Frauen, Männer und Kinder kamen am 1. September 1939 in Wielun ums Leben - in einer Stadt, die damals rund 15.000 Einwohner zählte. Schon am ersten Tag des Zweiten Weltkriegs wurde erkennbar, was ihn zur Jahrhundertkatastrophe machen sollte: Zerstörung und millionenfacher Tod durch Luftangriffe. Eine militärstrategische Bedeutung war hinter dem Bombardement von Wielun, rund 100 Kilometer südwestlich von Lodz gelegen, nicht zu erkennen.

"Terrorangriff"

Vermutlich ging es den Nationalsozialisten einzig und allein darum, die Zerstörungskraft ihrer Bomber zu testen und möglichst viele Zivilisten zu töten. Zu den Zielen in Wielun zählten ein Krankenhaus und eine Synagoge. "Es war ein Kriegsverbrechen", sagt der polnische Präsident Andrzej Duda, der die Gräuel des Angriffs plastisch schildert. Selbst ein rotes Kreuz auf dem Dach des Krankenhauses habe die Deutschen nicht stoppen können. 32 Menschen seien bei dem Angriff auf das Hospital getötet worden, darunter 26 Kranke. Wie auch Steinmeier spricht Duda von einem "Terrorangriff".

"Wielun muss in unseren Köpfen und in unseren Herzen sein", sagt der deutsche Präsident. Es sei an der Zeit, dass Wielun und viele andere dem Erdboden gleichgemachte Städte und Dörfer Polens ihren Platz neben anderen Erinnerungsorten deutscher Verbrechen fänden.

Der 47-jährige Duda hatte sich im vergangenen Jahr mit Steinmeier verständigt, zu historischer Stunde in Wielun insbesondere die zivilen Kriegsopfer zu ehren. Im Anschluss trafen sie einige der letzten verbliebenen Zeitzeugen des Angriffs, bevor sie zur zentralen Gedenkfeier nach Warschau weiterreisten, an der Staatsgäste aus rund 40 Ländern teilnahmen, unter ihnen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und US-Vizepräsident Mike Pence. Die Veranstaltung dort war von einem strengen Protokoll und scharfen Sicherheitsvorkehrungen geprägt.

"Moralische Wiedergutmachung"

Ganz anders in Wielun: Duda richtet dort ungewöhnlich persönliche Worte an Steinmeier. "Dass sie hier sind, ist eine Form der moralischen Wiedergutmachung", sagt er. Für die deutschen Besucher müsse es schwer sein, an diesem Tag der Opfer jener Verbrechen zu gedenken, die von dem Land ihrer Väter und Großväter ausgingen. Doch nur Wahrheit könne zu Vergebung und Freundschaft führen.

Der deutsche Präsident wiederum lässt am 1. September 2019 keine Interpretationen zu, wie es zu der Jahrhundertkatastrophe des Zweiten Weltkrieges kommen konnte, in dem rund 60 Millionen Menschen starben. "In dieser Stunde vor 80 Jahren brach das Inferno über Wielun herein, entfacht von deutschem Rassenwahn und Vernichtungswillen", lautet der erste Satz von Steinmeiers Rede. Deutsche hätten in Polen ein Menschheitsverbrechen verübt. "Wer behauptet, das sei vergangen und vorbei, wer erklärt, die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten über Europa sei eine Marginalie der deutschen Geschichte, der richtet sich selbst", sagt Steinmeier.

Das von der polnischen Regierungspartei PiS gesetzte Thema Reparationszahlungen umschiffen Duda und Steinmeier an diesem Gedenktag. Der Bundespräsident stellt aber klar: "Unrecht und erlittenes Leid können wir nicht ungeschehen machen. Wir können es auch nicht aufrechnen."

Karsten Frerichs (epd)


Auszeichnung für beharrlichen Protest gegen Atomwaffen

Der Aachener Friedenspreis würdigt Proteste gegen die in Büchel vermuteten US-Atomwaffen. Einen zweiten Preisträger gibt es dieses Jahr nicht: Der ukrainische Journalist Ruslan Kotsaba erhält den Preis wegen antisemitischer Äußerungen doch nicht.

Zwei deutsche Initiativen gegen Atomwaffen aus dem rheinland-pfälzischen Büchel haben in diesem Jahr den Aachener Friedenspreis erhalten. Die Auszeichnung wurde am 1. September in der Aachener Aula Carolina an den "Initiativkreis gegen Atomwaffen in Büchel" und die Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt" verliehen. Der Preis ist mit 2.000 Euro dotiert.

Mit der Auszeichnung wolle der Aachener Friedenspreis auch ein Signal an politisch Verantwortliche in Deutschland aussenden, erklärte der gleichnamige Verein. Das Thema Atomwaffen gehöre dringender denn je ganz oben auf die politische Agenda. Angesichts des Auslaufens des internationalen INF-Vertrags gegen Mittelstreckenraketen drohe ein erneuter atomarer Rüstungswettlauf.

Falscher "Glaube an nukleare Abschreckung"

Für den Initiativkreis nahm Elke Koller die Auszeichnung entgegen, für die Kampagne "Büchel ist überall" wurde namentlich Marion Küpker geehrt. Die beiden Frauen und ihre Mitstreiter setzten sich seit Jahren für einen Abzug der geschätzten 20 US-Atomwaffen ein, die auf dem Fliegerhorst in Büchel lagern sollen, erklärte der Aachener Friedenspreis. Seit 1996 finden in Büchel regelmäßig Protestaktionen statt.

Koller erklärte, die Auszeichnung für ihre Kampagne setze ein wichtiges Zeichen gegen die Bedrohung durch das neue atomare Wettrüsten. Atomwaffen müssten endlich aus Deutschland und der Welt verschwinden, forderte sie laut Manuskript in ihrer Dankesrede. Küpker betonte: "Der Glaube an die nukleare Abschreckung führt nicht zu Sicherheit, sondern sie bringt die Welt in große Gefahr!" Durch einen Unfall, ein Missverständnis oder militärische Muskelspiele könne jederzeit ein Atomkrieg beginnen, warnte sie laut Redetext.

In diesem Jahr wurde nur ein Friedenspreis für nationale Initiativen vergeben. Ursprünglich sollte auch der ukrainische Journalist Ruslan Kotsaba den Preis für sein Eintreten für Frieden, Versöhnung und Dialog zwischen den Konfliktparteien in der Ostukraine erhalten. Nach Bekanntwerden von antisemitischen Äußerungen des Bloggers und Aktivisten hatten der Vorstand des Aachener Friedenspreises und die Mitgliederversammlung jedoch entschieden, ihm den Preis nicht zu verleihen.

Der Aachener Friedenspreis wird seit 1988 jedes Jahr an Initiativen oder Persönlichkeiten verliehen, die sich für Frieden und Dialog zwischen Konfliktparteien einsetzen. Traditionell werden die beiden Preisträger aus dem Ausland und aus Deutschland am 8. Mai vorgestellt, dem Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Die Preisverleihung findet immer am 1. September statt, dem Internationalen Antikriegstag.



Chef der DFB-Ethik-Kommission verteidigt Entscheidung im Fall Tönnies


Nikolaus Schneider (Archivbild)
epd-bild / Andreas Schoelzel

In der Affäre um die als rassistisch kritisierten Äußerungen von Clemens Tönnies hat der Vorsitzende der Ethik-Kommission des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), Nikolaus Schneider, den Verzicht auf eine Anklage gegen den Schalke-Aufsichtsratsvorsitzenden verteidigt. Es sei bei der Entscheidung darum gegangen, Tönnies eine Grenze zu setzen und ihn zugleich zu ermutigen, sich durch "tätige Reue" zu engagieren, sagte der Theologe und frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, am 30. August dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Düsseldorf. Man habe sich - auch aus theologischer Sicht - dazu entschlossen, "Härte gegen die Sünde", aber "nicht gegen den Sünder" zu zeigen.

Laut Schneider handelt es sich bei der Entscheidung der DFB-Ethik-Kommission durchaus um eine "Gratwanderung". So bewerte das Gremium die Aussage Tönnies' zwar als rassistisch, gehe aber nicht davon aus, dass der Aufsichtsratschef des Bundesligisten ein Rassist sei. Tönnies habe sich im Verfahren vor der Ethik-Kommission glaubhaft von der Aussage distanziert, sagte Schneider, der bis 2013 Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland war. Offenbar habe der Schalke-Boss den diskriminierenden Satz über Afrikaner spontan in seine Rede auf dem Tag des Handwerks in Paderborn einfließen lassen, um bei seinem Auftritt eine "Bierzelt-Atmosphäre" zu schaffen.

Lässt Amt ruhen

Tönnies hatte in seiner Rede am 1. August höhere Steuern im Kampf gegen den Klimawandel kritisiert. Vor knapp 1.600 Gästen fügte er nach einem Bericht der "Neue Westfälischen" hinzu, stattdessen sollten lieber jährlich 20 Kraftwerke in Afrika finanziert werden: "Dann würden die Afrikaner aufhören, Bäume zu fällen, und sie hören auf, wenn's dunkel ist, Kinder zu produzieren." Diese Aussagen wurden bundesweit heftig kritisiert.

Schneider sagte, als Wiedergutmachung habe Tönnies, der sein Amt als Aufsichtsratsvorsitzender für drei Monate ruhen lässt, vor der Ethik-Kommission unter anderem angekündigt, sein bisheriges Engagement für Afrika auszuweiten. Zudem soll er sich bereits mit afrikanischen Spielern von Schalke getroffen und sich bei ihnen entschuldigt haben. Auch mit dem ehemaligen Fußballnationalspieler und DFB-Integrationsbeauftragten Cacau suche Tönnies das Gespräch.

Die Ethik-Kommission überwacht den neuen Ethik-Kodex des DFB. Darin bekennt sich der Verband zu Qualität, Objektivität, Ehrlichkeit, Fairness und Integrität. Man setze sich mit seiner Arbeit ein für die "Integrität des Sports", betonte Schneider. Themen wie Diskriminierung, Gewalt in Stadien oder auch Korruption seien Schwerpunkte der Arbeit.

In ihrer bisherigen Arbeit habe die Kommission "eine hohe zweistellige Zahl" an Fällen behandelt, schätzte Schneider. Stellt das Gremium gravierende Verstöße gegen den Ethik-Kodex fest, kann das Verfahren an die Ethik-Kammer des Sportsgerichts des DFB weitergeleitet werden. Dort können Rügen, Geldstrafen oder auch eine Sperre für DFB-Ämter gegenüber den Beschuldigten verhängt werden. Bisher sei allerdings noch in keinem behandelten Fall Anklage vor der Ethik-Kammer erhoben worden, räumte der Theologe ein.

epd-Gespräch: Michael Bosse


Studie zur Willkommenskultur: Migrationsskepsis lässt nach


Willkommens-Transparent vor einer Flüchtlingsunterkunft (Archivbild)
epd-bild/Rolf K. Wegst
Vier Jahre nach dem Höhepunkt des Flüchtlingszuzugs sieht die deutsche Bevölkerung mehrheitlich einen ökonomischen Nutzen von Zuwanderung. Doch bei aller Zuversicht bleibt eine Restskepsis. Politiker und Experten mahnen mehr Anstrengungen in Sachen Integration an.

Die Deutschen gehen einer Studie zufolge zunehmend pragmatisch mit dem Thema Migration und Integration um. Zwar meine immer noch die Hälfte der deutschsprachigen Bevölkerung, es gebe zu viel Zuwanderung, heißt es in der am 29. August in Gütersloh veröffentlichten repräsentativen Studie der Bertelsmann Stiftung zur Willkommenskultur. Doch gleichzeitig sehen fast zwei Drittel von rund 2.000 bundesweit Befragten Vorteile der Einwanderung als Mittel gegen eine alternde Gesellschaft und Fachkräftemangel. Auch gelten Einwanderer, die in Deutschland arbeiten oder studieren, bei Behörden (79 Prozent) und Bevölkerung (71 Prozent) mehrheitlich als willkommen.

Die Aufnahmebereitschaft gegenüber Flüchtlingen, die während der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 deutlich zurückgegangen war, ist laut Studie ebenfalls wieder gestiegen. Während vor zwei Jahren mehr als jeder Zweite (54 Prozent) die Ansicht vertrat, Deutschland habe bei der Aufnahme von Flüchtlingen seine Belastungsgrenzen erreicht, seien es heute 49 Prozent. Die Bundesmigrationsbeauftragte Annette Widmann-Mauz (CDU) sieht die Integrationspolitik der Bundesregierung durch die Studie bestätigt: "Die Richtung stimmt und macht Mut." Beim Koalitionspartner SPD ist das Echo dagegen verhalten.

Unter 30-Jährige aufgeschlossen

Für die Langzeitstudie zur Willkommenskultur werden seit 2012 alle zwei Jahre Umfragen durchgeführt. Für die aktuelle Untersuchung interviewte das Meinungsforschungsinstitut Kantar Emnid im April im Auftrag der Bertelsmann Stiftung 2.024 Bundesbürger ab 14 Jahren.

64 Prozent sehen aktuell in der Einwanderung positive Auswirkungen für die demografische Entwicklung, wie es hieß. 41 Prozent der Befragten sprechen sich laut Studie für den Zuzug ausländischer Fachkräfte als Mittel gegen den Personalmangel in Pflege oder Handwerk aus. 67 Prozent bejahten die Aussage, Migration mache das Leben interessanter. Vor allem die unter 30-Jährigen hierzulande zeigten sich aufgeschlossen gegenüber Migration.

Sorge vor Verschärfung der Wohnungsnot

Gleichzeitig gibt es weiterhin kritische Töne gegenüber Einwanderung: So glauben 71 Prozent, der Zuzug aus dem Ausland belaste die Sozialsysteme. 2017 waren noch 79 Prozent dieser Ansicht. Rund zwei Drittel (69 Prozent) sehen die Gefahr von Konflikten zwischen Eingewanderten und Einheimischen. 64 Prozent befürchten Probleme in den Schulen durch zu viel fremdsprachige Schüler, 65 Prozent eine Verschärfung der Wohnungsnot.

Besonders in den ostdeutschen Bundesländern überwiegt laut Studie die Skepsis. Allerdings sei auch dort eine Mehrheit von 55 Prozent der Ansicht, Einwanderung habe einen positiven Effekt auf die Wirtschaft, hieß es. In Westdeutschland sind es den Angaben nach 67 Prozent.

Die Studie zeigt nach Ansicht von Annette Widmann-Mauz, dass Vielfalt in Deutschland "längst Normalität" ist. "Einwanderung wird immer stärker als Chance gesehen, vor allem bei jungen Menschen", sagte die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration dem "RedaktionsNetzwerk Deutschland" (RND/29. August). Von Fachkräften aus dem Ausland profitierten Wirtschaft und Sozialsysteme. "Deshalb ist es gut, dass viele dieses Potenzial erkennen."

Warnung vor zu viel Optimismus

Die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) warnte hingegen vor zu viel Optimismus. Die Ereignisse der Jahre 2015 und 2016 seien geprägt gewesen von einem Gefühl der Ohnmacht und Überforderung, sagte Köpping. Das habe sich bei vielen Menschen als Kontrollverlust eingeprägt. Am Ende werde Integration nur gelingen, wenn neben den notwendigen Förderungen auch für Akzeptanz von Vielfalt geworben werde. "Das ist vor allem eine Aufgabe für die Regionen in unserem Land, in dem Migration erstmals sichtbar zur Realität der Menschen wird", sagte die gebürtige Ostdeutsche.

Der Skepsis gegenüber Einwanderung könne durch eine bessere Steuerung begegnet werden, erklärte Jörg Dräger vom Vorstand der Bertelsmann Stiftung. Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das qualifizierten Einwanderern den Zuzug erleichtern soll, sei deshalb der richtige Weg. Eine bessere Steuerung sei auch durch sichere Fluchtwege möglich, betonte Dräger. Das traditionelle Einwanderungsland Kanada biete für besonders schutzbedürftige Geflüchtete schon lange sogenannte Resettlement-Programme an, bei denen die Zivilgesellschaft einbezogen werde.



Chemnitzer erinnern mit Gottesdienst an Daniel H.

Ein Jahr nach der tödlichen Messerattacke in Chemnitz haben Christen ein Zeichen des Miteinanders gesetzt. Nach einem Gottesdienst versammelten sich mehrere Hundert zu einer Menschenkette. Auch die Oberbürgermeisterin reihte sich mit ein.

Mit einem Friedensgottesdienst in der Chemnitzer Stadtkirche St. Jakobi ist am 26. August an den gewaltsamen Tod von Daniel H. vor einem Jahr erinnert worden. Eingeladen hatten dazu am Jahrestag der tödlichen Messerattacke evangelische und katholische Gemeinden der Stadt. An dem ökumenischen Gottesdienst nahm auch die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) teil. Im Anschluss schlossen sich nach Veranstalterangaben rund 400 Teilnehmer zu einer Menschenkette um die Stadtkirche St. Jakobi und das Rathaus zusammen, um ein Zeichen der Nächstenliebe und Toleranz zu setzen.

Die evangelische Pfarrerin Dorothee Lücke betonte: "Wir wollen einen Beitrag leisten für das friedliche Zusammenleben in unserer Stadt." Der Hass, der vor einem Jahr bei den fremdenfeindlichen Demonstrationen zu spüren gewesen sei, habe viele entsetzt. Der Chemnitzer Superintendent Frank Manneschmidt und Propst Clemens Rehor riefen dazu auf, offen und tolerant zu bleiben.

"Zeichen setzen"

Die Stadtgesellschaft sei nach dem Ereignis eine andere als vorher, die Menschen seien nach wie vor angespannt, sagte Manneschmidt dem Evangelischen Pressedienst (epd), gerade jetzt am Jahrestag des Tötungsdelikts. Auf der anderen Seite merke er aber auch, dass es viele Chemnitzer gebe, "die sagen, wir müssen aufstehen und Zeichen setzen". Sie wollten zeigen, dass Chemnitz keine braune Stadt sei. Die Mehrheit der Bürgergesellschaft stehe für etwas anderes als das, was aus der rechten - oder manchmal auch linken - Ecke an Gewalt und Hassparolen kommt, betonte der Superintendent.

Am 26. August 2018 war der 35 Jahre alte Daniel H. am Rande des Chemnitzer Stadtfestes erstochen worden. Vergangene Woche wurde ein 23-jähriger Syrer wegen gemeinschaftlichen Totschlags an Daniel H. und gefährlicher Körperverletzung an einer weiteren Person zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt. Er soll die Tat gemeinsam mit einem bis heute flüchtigen Iraker verübt haben. Die Verteidigung ging in Revision.

Rechte Gruppen, darunter "Pro Chemnitz", hatten die Tat wiederholt für ausländerfeindliche Demonstrationen instrumentalisiert. Dabei kam es zu Ausschreitungen und Attacken gegen ausländisch aussehende Personen.

Bürgerfest

Chemnitzer Initiativen hatten am Wochenende das Bürgerfest "Herzschlag" veranstaltet. Es wurde für das zuvor abgesagte Stadtfest ins Leben gerufen und zog nach Veranstalterangaben mehr als 65.000 Menschen an. Für 2020 ist bereits eine Wiederauflage geplant.

Am Abend des 25. August hatte "Pro Chemnitz" erneut demonstriert. Rund 450 Menschen nahmen nach Polizeiangaben daran teil. Zu einer Gegenveranstaltung kamen etwa 300 Menschen. Eine weitere Versammlung unter dem Motto "Herz statt Hetze" vereinte rund 100 Teilnehmer.

Seit Ende 2018 wird die "Bürgerbewegung Pro Chemnitz" vom sächsischen Verfassungsschutz beobachtet. Nach Angaben des Landesamtes haben Mitglieder von "Pro Chemnitz" seit dem Tötungsdelikt "erkennbar rechtsextremistische Inhalte verbreitet".



Anwalt Fahlbusch erhält Pro-Asyl-Menschenrechtspreis

Der Rechtsanwalt Peter Fahlbusch ist mit dem Menschenrechtspreis der Stiftung Pro Asyl ausgezeichnet worden. Damit werde sein Einsatz gegen "rechtswidrige Abschiebungshaft" gewürdigt, sagte der Stiftungsratsvorsitzende Andreas Lipsch bei der Preisverleihung am 31. August in Frankfurt am Main. Die Auszeichnung ist mit einem Preisgeld von 5.000 Euro und der von dem Darmstädter Kunstprofessor Ariel Auslender gestalteten "Pro Asyl-Hand" verbunden.

Der hannoversche Anwalt Fahlbusch habe seit 2001 bundesweit mehr als 1.800 Menschen in Abschiebungshaft vertreten, heißt es in der Begründung der Jury. Rund die Hälfte von ihnen sei zu Unrecht inhaftiert gewesen, im Durchschnitt jede Person knapp vier Wochen lang. Zudem habe der Jurist das wegweisende Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 17. Juli 2014 zur Abschiebungshaft erstritten, wonach abgelehnte Asylbewerber nicht in einem normalen Gefängnis untergebracht werden dürfen.

Fahlbusch erinnerte in seiner Dankesrede daran, dass die Abschiebungshaft dem Freiheitsartikel 104 des Grundgesetzes widerspreche. Verwaltung und Politik lasse dieser Befund jedoch weitestgehend kalt. Die ganze Gesellschaft sei daher aufgerufen, diese Haftform infrage zu stellen und zu beenden. Fahlbusch forderte "eine sofortige, unabhängige Evaluierung der Abschiebungshaftpraxis". Bis dahin müssten Verfahren und Vollzug ausgesetzt werden. "Die massenhaften rechtswidrigen Inhaftierungen stellen massenhafte Verletzungen des Freiheitsgrundrechts dar", sagte der Rechtsanwalt.

"Justizskandal"

Der Vorsitzende des Stiftungsrates, Lipsch, kritisierte, dass der Abschiebungsvollzug immer brutaler werde und selbst in Kriegs- und Krisengebiete wie Afghanistan erfolge. Die oft rechtswidrige Inhaftierung sei dabei das Mittel, um Menschen außer Landes zu schaffen. Pro Asyl befürchtet eine noch rigidere Inhaftierungspraxis, um innereuropäische Abschiebungen oder Abschiebungen aus der EU zu organisieren.

Filiz Polat, die Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion für Migration und Integration, bezeichnete es in ihrer Laudatio als einen der "größten Justizskandale im deutschen Rechtsstaat", den Fahlbusch als massenhaften Rechtsbruch systematisch offengelegt und dokumentiert habe.

Der Menschenrechtspreis der Stiftung Pro Asyl wird seit 2006 jährlich in Frankfurt vergeben. Mit ihm werden Persönlichkeiten geehrt, die sich in herausragender Weise für die Achtung der Menschenrechte und den Schutz von Flüchtlingen einsetzen. Im vergangenen Jahr ging die Auszeichnung an die Vorsitzenden des Ungarischen Helsinki-Komitees (HHC), Márta Pardavi und András Kádár.



31 Männer nach Afghanistan abgeschoben

Bei einer Sammelabschiebung sind 31 erwachsene Männer am 27. August vom Flughafen Frankfurt nach Afghanistan geflogen worden. 13 von ihnen seien verurteilte Straftäter gewesen, teilte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums in Berlin am 28. August auf Anfrage mit. 15 Personen stammten allein aus Bayern, die übrigen aus Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein.

Die Abschiebung verlief nach Angaben der Frankfurter Abschiebebeobachterin der Diakonie, Melisa Ergül-Populo, "ganz ruhig". Anhänger des "Afghan Refugees Movement" demonstrierten im Flughafengebäude dagegen. In der Vorwoche hätten insgesamt zehn Bundesländer einen Bedarf an 71 Abschiebungen nach Afghanistan gemeldet, ergänzte der Sprecher des Bundesinnenministeriums. Jedoch seien viele der zur Abschiebung vorgesehenen Ausreisepflichtigen von der Polizei nicht aufzufinden. Derzeit gebe es 24.000 ausreisepflichtige Afghanen in Deutschland.

27. Sammelabschiebung

Die Organisation Pro Asyl hatte zuvor die 27. Sammelabschiebung nach Afghanistan seit Dezember 2016 scharf kritisiert. Die "katastrophale Sicherheitssituation" in dem Land habe sich nicht verändert. Mehr als 41.000 Menschen seien dort allein seit vergangenem Jahr getötet worden.



Gutachter hält Kinderkopftuchverbot für möglich


Frauen mit Kopftüchern
epd-bild/Jens Schulze
Ein Rechtsgutachter hält ein Kinderkopftuchverbot für verfassungskonform. Die Frauenrechtsorgansiation Terre des Femmes sieht in dem Tuch eine Sexualisierung von Minderjährigen. Ihre Gegner warnen vor einem "Identitätsdilemma" der Mädchen.

Ein sogenanntes Kinderkopftuchverbot in Deutschland wäre einem Rechtsgutachten zufolge verfassungskonform. Ein Verbot würde zwar einen Eingriff in das Elternrecht bewirken, sich aber als eine verhältnismäßige Beschränkung darstellen, sagte der Autor und Tübinger Verfassungsrechtler Martin Nettesheim bei der Vorstellung am 29. August in Berlin. Auch einen Eingriff in die Religionsfreiheit sieht Nettesheim nicht, der das Gutachten im Auftrag der Frauenrechtsorgansiation Terre des Femmes verfasste.

Selbst wenn davon ausgegangen werde, dass das Tragen religiös oder weltanschaulich konnotierter Bekleidung durch ein Kind unter 14 Jahren eine grundgesetzlich geschützte Handlung wäre, sei ein Verbot des Kinderkopftuchs nach Artikel 7 Grundgesetz zu rechtfertigen, sagte Nettesheim. Gesetzgeberische Erziehungsziele ließen es zu, in der Schule äußere Manifestationen mit religiöser Konnotation durch noch nicht glaubensreife Kinder zu unterbinden. Die sogenannte Religionsmündigkeit gilt in Deutschland ab 14 Jahren.

Dreiviertel für Verbot

Bei einer Umfrage unter 252 Lehrern und Erziehern bundesweit sprachen sich laut Terre des Femmes 75 Prozent für ein Kinderkopftuchverbot in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen aus. 83 Prozent sehen eine Beeinträchtigung der persönlichen Entwicklung der jungen Mädchen, 56 Prozent gaben an, ein Verbot würde ihre Arbeit erleichtern. Aus ihrem Berufsalltag berichteten die Pädagogen, dass in 58 Prozent der Fälle kopftuchtragende Mädchen in ihren Klassen nicht am Sport- und Schwimmunterricht sowie an Schulausflügen und Klassenfahrten teilnähmen. In 25 Prozent der Fälle seien sie Opfer von Mobbing.

Unter dem Titel "Den Kopf frei haben!" hat Terre des Femmes im Mai 2018 eine Petition für ein gesetzliches Verbot des Kinderkopftuches im öffentlichen Bildungseinrichtungen gestartet, die bislang von rund 35.000 Menschen unterzeichnet wurde. Das Kinderkopftuch stehe für eine Diskriminierung und Sexualisierung von Minderjährigen, heißt es zur Begründung. Unterzeichner sind unter anderem die Journalistin und Moderatorin Maria von Welser, die Kabarettistin Lisa Fitz, der Psychologe Ahmad Mansour und der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne). Eine von islamischen Verbänden und Gruppen gestartete Gegenpetition gegen ein Kopftuchverbot hat mehr als 173.000 Unterstützer.

Schule als neutraler Raum

Die Autorin und Soziologin Necla Kelek, Vorstandsfrau bei Terre des Femmes, nannte das Kinderkopftuch eine "Menschenrechtsverletzung". Den Mädchen werde das Recht auf Kindheit genommen, sie würden bereits als Kinder zu Frauen gemacht, eine kindgerechte Entwicklung sei nicht möglich. Schule müsse aber ein neutraler Raum sein, wo die individuelle Förderung der Einzelnen im Mittelpunkt stehe.

"Es muss möglich sein, die Diskriminierung von muslimischen Mädchen gesetzlich zu beenden", sagte die SPD-Politikerin Lale Akgün. Akgün warnte davor, der Logik der islamischen Verbände zu folgen und die Muslime als eine Gruppe zu sehen. "Es gibt keine muslimische Identität. Das ist eine Erfindung des politischen Islam", sagte die Psychologin und Autorin.

Die Gegner eines Kinderkopftuchverbotes argumentieren in ihrer Petition, ein Verbot sei ein Eingriff in die Persönlichkeitsbildung junger muslimischer Frauen und bringe diese in einen Konflikt mit ihren persönlichen Überzeugungen sowie der erzieherischen Wertevermittlung der Eltern. Damit würden innere Konflikte bei unseren Kindern erzeugt, "welche unweigerlich zu einem Identitätsdilemma führen".



Buddha, der gute Christ aus Indien


Buddhastatue vor einem Kruzifix
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Die großen Religionen haben mehr gemeinsam als ihre Anhänger oft vermuten würden. Ein legendärer indischer Prinz, dessen Leben frappierende Ähnlichkeiten mit dem von Religionsstifter Buddha hat, schaffte es bis in christliche Heiligenverzeichnisse.

Ein Herrscher irgendwo in Indien verfolgt die Christen in seinem Reich. Als ein Wahrsager ihm prophezeit, ausgerechnet sein Sohn Josaphat werde den bekämpften neuen Glauben annehmen, lässt der König den Thronerben in einem prächtigen Palast isolieren. Dennoch trifft der Spross einen asketischen Einsiedler namens Barlaam, erfährt von ihm über das Christentum und lässt sich taufen. Schließlich bekehrt er sogar den Vater, um dann selbst als Eremit in die Wüste zu ziehen.

Die Legende von Barlaam und Josaphat war eine der beliebtesten Geschichten des europäischen Mittelalters. Wohl niemand ahnte damals, dass sie frappierende Ähnlichkeiten zur Biografie des Religionsstifters Buddha aufweist.

"Story war faszinierend"

"Die Story war einfach faszinierend", erklärt der Historiker Mihai Grigore vom Mainzer Leibniz-Institut für Europäische Geschichte den enormen Erfolg der Erzählung von Barlaam und Josaphat. Sie wurde von unzähligen mittelalterlichen Autoren aufgegriffen. Teilweise sei die Legende populärer gewesen als die Bibel. Die Geschichte befasse sich mit den Grundproblemen aller Menschen - ihrer Sterblichkeit und dem Umgang mit Alter, Tod und Leid.

Genau wie der junge Prinz Siddhartha Gautama aus der buddhistischen Überlieferung hat auch Josaphat in seiner abgeschirmten Prunk-Residenz zunächst nichts von den existenziellen Nöten der Menschen mitbekommen. Erst, als es ihm gelingt, den Palast zu verlassen, trifft er auf Kranke und Alte - ebenso wie der junge Buddha bei seinen vier legendären "Ausfahrten" im sechsten Jahrhundert vor Christus.

Schließlich lassen beide unter dem Einfluss eines Wandermönchs ihr bisheriges Leben hinter sich. "Bei Buddha führt die Erkenntnis zur Depersonalisierung des eigenen Willens und zur Auflösung ins Nichts", sagt Grigore, "bei Josaphat dazu, Willen und Begehren auf Christus zu richten."

Kulturen verbunden

Im 16. Jahrhundert nahm die katholische Kirche Barlaam und Josaphat in ihr Heiligenverzeichnis auf, das Martyrologium Romanum. Im orthodoxen Osteuropa verbreiteten sich Ikonen der beiden, sogar Kirchen wurden dem heiligen indischen Prinzen geweiht.

Einige Gleichnisse aus der Buddha-Legende waren bereits um 1520 in ein Lehrwerk für künftige Fürsten übernommen worden, das in der ganzen christlich-orthodoxen Welt verbreitetet war, wie der Mainzer Ostkirchenkundler in einem aktuellen Fachartikel aufzeigt.

Der Weg der Legende nach Westen sagt viel darüber aus, wie die Kulturen Europas und Asiens schon im ersten Jahrtausend nach Christus miteinander verbunden waren: Arabische Kaufleute brachten die Erzählung von ihren Reisen mit in den Nahen Osten. Dort kursierte sie wohl schon im 8. Jahrhundert auch in den christlichen arabischen Gemeinden, die nach Aufkommen des Islams vielerorts weiterbestanden. Ein georgischer Mönch übersetzte die Legende in seine Muttersprache und passte sie den christlichen Glaubensätzen an.

Eine griechische Fassung des georgischen Textes fand schließlich im 10. Jahrhundert Verbreitung im Byzantinischen Reich und später eine lateinische Roman-Fassung im westlichen Teil Europas. Möglicherweise war allerdings auch alles ganz anders: Die orthodoxe Kirche sieht den um 650 geborenen Kirchenvater Johannes von Damaskus als Autoren der Geschichte.

Der Schauplatz des Geschehens blieb in allen Übersetzungen und Text-Versionen stets das ferne Indien - was auch aus historischer Sicht gar nicht so unplausibel ist. Denn auf der indischen Halbinsel bestand seit Alters her eine der weltweit ersten christlichen Gemeinschaften, die der Überlieferung zufolge noch auf den Apostel Thomas zurückgeht. Der Jünger Jesu soll die Menschen an der indischen Südküste missioniert haben, ehe Einheimische ihn auf dem Gebiet der heutigen Metropole Chennai (Madras) töteten. Mehrere Millionen indischer Thomaschristen sehen sich bis heute in der Nachfolge des Märtyrers.

"Fromme Erbauungsgeschichte"

Zwei Dinge hätten das Buch im Mittelalter so populär gemacht, urteilte der Schweizer Philologe Franz Pfeiffer bereits 1843 im Vorwort zu einem Nachdruck der mittelhochdeutschen Barlaam-und-Josaphat-Geschichte. Zum einen sei der "Sieg der christlichen Religion über das Heidenthum" gerade zu Zeiten der Kreuzzüge ein zentrales Thema für die Menschen gewesen. Außerdem habe viele begeistert, dass der junge Königssohn letztlich dem "Glanz der Krone" ein bescheidenes Leben voller Mühsal vorgezogen habe. Über die Parallelen zur Buddha-Geschichte verlor Pfeiffer noch kein Wort.

Dabei lässt sich bereits der Name Josaphat auf den für den Buddhismus bedeutsamen Sanskrit-Begriff "Bodhisattva" ("Erleuchtungswesen") zurückführen. Inzwischen ist dieser Umstand in der Fachwelt allgemein anerkannt. Die orthodoxe Kirche geht mit den Erkenntnissen pragmatisch um. Die Legende von Barlaam und Josaphat gelte allgemein als "fromme Erbauungsgeschichte", sagt der Mainzer Wissenschaftler: "Es bringt keinen Abbruch des orthodoxen Dogmas oder der orthodoxen Spiritualität, wenn man anerkennt, dass sie keine historischen Personen waren."

Karsten Packeiser (epd)


Syrer stellen größten Anteil unter ausländischen Schülern

Jeder neunte Schüler an allgemeinbildenden Schulen in Nordrhein-Westfalen hatte im Schuljahr 2018/19 einen ausländischen Pass. Von rund 1,9 Millionen Schülern an Grundschulen und weiterführenden Schulen hatten 11,4 Prozent keine deutsche Staatsangehörigkeit, wie das Statistische Landesamt am 26. August in Düsseldorf mitteilte.

Den größten Anteil unter den etwa 217.000 ausländischen Schülern stellten den Angaben zufolge Syrer mit rund 42.000 Mädchen und Jungen. Sie machten einen Anteil von 19,2 Prozent aus. Auf Platz zwei und drei folgten gleichauf jeweils 17.000 Schüler mit irakischer und türkischer Nationalität.

Von den rund 637.000 Grundschülern hatten im vergangenen Schuljahr 14,2 Prozent keinen deutschen Pass. Unter den weiterführenden Schulen lag dieser Anteil bei den Hauptschülern mit 32,6 Prozent am höchsten. Realschulen und Sekundarschulen hatten demnach 11,5 beziehungsweise 11,8 Prozent ausländische Schüler, Gesamtschulen 10,9 Prozent. Unter den Gymnasiasten hatten lediglich 5,5 Prozent keine deutsche Staatsangehörigkeit.

Bei den Lehrern mit ausländischer Staatsangehörigkeit lagen laut der Statistik Türken mit 187 Lehrkräften (14,3 Prozent) vorne, gefolgt von 96 Pädagogen mit spanischer und 90 mit italienischer Nationalität.



Teilhabemanager sollen junge Flüchtlinge unterstützen

Sogenannte Teilhabemanager sollen künftig junge Flüchtlinge in den NRW-Kommunen in Qualifizierung, Arbeit und Ausbildung bringen. "Wir möchten den jungen Menschen eine Perspektive geben und Brüche in der Bildungsbiografie verhindern", erklärte NRW-Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) am 28. August in Düsseldorf. Im Rahmen der Landesinitiative "Gemeinsam klappt's" stelle das Land deshalb den teilnehmenden Kommunen bis 2022 mehr als 13,2 Millionen Euro zur Verfügung, um Stellen für Teilhabemanager zu schaffen.

Das Programm soll Flüchtlingen zwischen 18 und 27 Jahren helfen, die keinen Zugang zu Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch haben, nicht mehr der Schulpflicht unterliegen und auch nicht an Sprach- und Integrationskursen teilnehmen oder eine Ausbildung machen können. "Wir müssen als Gesellschaft verhindern, dass eine Gruppe junger Menschen abgehängt wird", betonte Integrationsstaatssekretärin Serap Güler. Die Teilhabemanager sollen konkrete Angebote zur Qualifizierung und Ausbildung machen sowie Bildungsverläufe dokumentieren.

Insgesamt beteiligen sich nach Angaben des Ministeriums mehr als 80 Prozent der kreisfreien und kreisangehörigen Städte sowie Kreise in Nordrhein-Westfalen an der Initiative "Gemeinsam klappt's". Vor Ort seien jeweils weitere Partner eingebunden wie Bildungsträger, Jugendmigrationsdienste, Berufskollegs, Ausländerbehörden und Jobcenter.



NRW vertieft Partnerschaft mit Ghana

Nordrhein-Westfalen hat seine Kooperation mit Ghana mit einem Besuch des Staatssekretärs für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationales, Mark Speich, vertieft. Speich wolle vor Ort in Accra die Erneuerung und Verlängerung des 2021 auslaufenden Partnerschaftsabkommens anstoßen, erklärte das NRW-Ministerium für Internationales am 27. August in Düsseldorf. NRW kooperiert seit 2007 mit dem westafrikanischen Staat.

"Nordrhein-Westfalen möchte seine Partnerschaft mit Ghana bekräftigen und zugleich neue Akzente setzen", erklärte Speich, der sich unter anderem mit dem stellvertretenden Außenminister Mohammad Tijani sowie mit dem Ghanaischen Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Ibrahim Awal, trifft. NRW wolle die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern weiter stärken. "Wir wollen uns auf das konzentrieren, was gerade ein Bundesland international leisten kann", betonte der Staatssekretär. Deshalb setze das Ministerium auf einen Erfahrungsaustausch zwischen den Verwaltungen von Nordrhein-Westfalen und Ghana.

Neben den politischen Gesprächen besucht Speich auch Projektpartner des Landes in Accra, etwa ein Projekt zur Förderung des Arbeits- und Umweltschutzes im Recyclingsektor in Agbogbloshie, einer der größten Elektro-Müllhalden der Welt. Auch ein Austausch mit Vertretern nordrhein-westfälischer unternehmen und Partneruniversitäten ist geplant.



Landtag erinnert an Kriminalisierung von Homosexualität

Der nordrhein-westfälische Landtag erinnert mit einer Ausstellung an die Kriminalisierung von Homosexualität. Erst 1994 seien in der Bundesrepublik Deutschland die Paragrafen 175 und 175a aus dem Strafgesetzbuch entfernt worden, erklärte der Düsseldorfer Landtag. Vom 5. bis zum 11. September ist in der Bürgerhalle des Landtags eine Schau des Centrums Schwule Geschichte Köln zu sehen, die am 3. September offiziell eröffnet wird.

Es sei aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, welcher Diskriminierung und Intoleranz homosexuell lebende Menschen ausgesetzt waren und dass noch bis vor 25 Jahren Homosexualität kriminalisiert wurde, erklärte die Vizepräsidentin des Landtags, Carina Gödecke (SPD). "Die Ausstellung mahnt uns zu Recht, auch heute allen Formen von Intoleranz sowie verdeckter und offener Diskriminierung entgegenzutreten."

Paragraf aus NS-Zeit

Der Paragraf 175 trat 1872 in Kraft und stellte sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe. 1935 verschärften die Nationalsozialisten den Paragrafen durch Anhebung der Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis und durch Ausweitung der Tatbestände. Der zusätzlich eingefügte Paragraf 175a bezog sich auf "erschwerte Fälle" und sah Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren vor.

Die DDR setzte 1968 ein komplett neues Strafgesetzbuch in Kraft, das gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen mit Jugendlichen sowohl für Frauen als auch für Männer unter Strafe stellte. 1988 wurde dieser Paragraf gestrichen. Die Bundesrepublik Deutschland hielt hingegen an den Paragrafen 175 und 175a aus der Zeit des Nationalsozialismus fest. Nach Reformen in den 1960er und 70er Jahren waren nur noch sexuelle Handlungen mit männlichen Jugendlichen unter 18 Jahren strafbar. Das Schutzalter bei lesbischen und heterosexuellen Handlungen lag bei 14 Jahren. Nach der Wiedervereinigung wurde 1994 der Paragraf 175 auch für das Gebiet der alten Bundesrepublik ersatzlos aufgehoben.




Umwelt

Klöckner kündigt massive Aufforstung deutscher Wälder an


Vom Borkenkäfer geschädigte Bäume
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Stürme, Dürren und Brände haben in zwei Jahren große Waldflächen in Deutschland vernichtet. Jetzt sollen Millionen Bäume gepflanzt werden. Geklärt werden muss noch das Wo, Wie und Was.

Angesichts des dramatischen Zustands des deutschen Waldes hat Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) eine umfangreiche Aufforstung angekündigt. "Wir haben eine Zäsur", sagte sie am 29. August nach einem Treffen mit Waldbesitzern, Vertretern von Forstwirtschaft und Behörden und Naturschützern zum Thema "Wald im Klimawandel" in Berlin. So seien allein im vergangenen Jahr durch Stürme, Dürre, Brände und Borkenkäferbefall mehr als 110.000 Hektar Wald verloren gegangen - was etwa der Fläche von Berlin und Potsdam zusammen entspricht.

Daher plant Klöckner ein Wiederaufforstungsprogramm und einen Waldumbau: Klimaangepasste Mischwälder sollen Nadelhölzer zunehmend ablösen. Dafür habe sie mindestens eine halbe Milliarde Euro beim Klimafonds beantragt. Wer in den Wäldern unterwegs sei sehe Dramatisches, betonte die Ministerin. Laubbäume hätten jetzt schon gelbe Blätter, und gestandene Buchen vertrockneten von oben wie von unten, weil die Wurzelteller nicht tief genug wachsen könnten.

Fläche von 3.300 Fußballfeldern verloren

Durch Brände allein sei Wald auf einer Fläche von 3.300 Fußballfeldern verloren gegangen. Mehrere Millionen Bäume sollen daher neu gepflanzt werden. "Hätten wir den deutschen Wald nicht, dann hätten wir 14 Prozent mehr CO2-Emissionen", betonte Klöckner. Eine Milliarde Setzlinge stünden bereit und könnten zügig eingesetzt werden.

Allerdings müssten bis dahin noch einige Vorbereitungen getroffen werden. So sei es nicht möglich, zu pflanzen, wenn das Schadholz noch nicht entfernt worden sei. Dabei handelt es sich etwa um Bäume, die beim Sturm umgefallen sind, nach wie vor im Wald liegen und womöglich Borkenkäfer anziehen. Auch dürfe es in der Zeit, in der gepflanzt werden könne, im Frühjahr und Herbst, nicht zu trocken sein. Ferner gebe es einen enormen Engpass beim Forstpersonal, weil es bei einigen Verwaltungen einen Einstellungsstopp gebe.

Grüne fordern "Waldzukunftsfonds"

Forstminister aus mehreren Bundesländern hatten Anfang August 800 Millionen Euro Unterstützung vom Bund gefordert. Am 25. September soll bei einem Nationalen Waldgipfel konkrete Maßnahmen auf den Weg gebracht und darüber gesprochen werden, wie das Geld schnell und zuverlässig vor Ort kommt.

Verbände der Waldwirtschaft haben am 28. August zur Behebung der Schäden und für die Aufforstung Unterstützung in Höhe von 2,3 Milliarden Euro gefordert. Die Grünen verlangen einen "Waldzukunftsfonds" von einer Milliarde Euro für die nächsten Jahre als erste Finanzspritze für den kranken Wald. Fraktionschef Anton Hofreiter sagte der "Passauer Neuen Presse", das Zeitalter der Nadelholz-Forstplantagen müsse ein Ende haben. Stattdessen würden mehr naturnahe Wälder benötigt. In den kommenden Jahren müssten fünf Prozent des deutschen Forstes zu Urwäldern werden.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) begrüßte, "dass der Wald auf Bundesebene endlich die notwendige Aufmerksamkeit erhält". Neben der Wiederbewaldung abgestorbener Waldflächen sei vor allem der Waldumbau zwingend erforderlich, weg von naturfernen Nadelforsten hin zu klimastabilen Laubmischwäldern. Für beide Aufgaben ist dringend mehr Personal im Wald notwendig.



Forscher: Meeresspiegel wird mehrere Jahrhunderte steigen

Der Meeresspiegel wird nach Angaben von Experten selbst nach dem Stopp der Erderwärmung noch mehrere Jahrhunderte weitersteigen. Das sagte der Ozeanograph Detlef Stammer, Direktor des Centrums für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN) der Universität Hamburg, am 28. August in Berlin. Es dauere etwa 1.000 Jahre, bis sich der tiefe Ozean an eine neue Atmosphäre anpasse, betonte er. "Wir haben es in der Hand, ob der Meeresspiegel immer schneller und extremer steigen wird - oder ob er gebremst werden kann."

Meeresbiologe Hans-Otto Pörtner, der auch Experte des Weltklimarats IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) ist, betonte, dass Veränderungen der Ozeane sowie etwa schrumpfende Eisschilde in Grönland und der Antarktis sich auf das Leben aller auswirkten - durch Wetterextreme und Klima, Gesundheit und Kultur, die Versorgung mit Nahrung und Wasser.

Eismassen schmelzen

Die Experten äußerten sich vor einem neuen Sonderberichts des Weltklimarats, der am 25. September zum Thema "Ozean und Kryosphäre im Klimawandel" vorgestellt wird. Glaziologin Angelika Humbert vom Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung sagte: "Welche Küstenregionen der Erde künftig noch bewohnbar sein werden, hängt vor allem davon ab, wie stark die Eismassen Grönlands und der Antarktis abnehmen werden."

Der aktuelle Forschungsstand zeige sicher, dass die Eisschilde an Masse verlören - und dass sich dies in Zukunft noch beschleunigen werde. Entscheidend sei nun, dass die Erwärmung von Ozean und Atmosphäre begrenzt werde. Dafür müsse der Ausstoß von Treibhausgasen real sinken.

Ozeanograph Stammer fügte hinzu, der neue Sonderbericht des Weltklimarats werde Politikern wichtige Grundlagen liefern, um die zunehmenden Risiken durch Sturmfluten besser einschätzen zu können. Er wies zugleich auf ein anderes Problem hin. So bräuchten Millionenmetropolen Wasser und dieses werde in der Regel aus dem Boden gepumpt. Deshalb komme es zum Absinken von Megastädten. So sei Tokio bereits um vier Meter abgesunken. In New York werde sogar über einen Rückzug Manhattans in den nächsten hundert Jahren nachgedacht. Die niederländische Küste sei indes sehr gut gesichert durch Deiche, die gebaut und erhöht werden könnten.

Hauptstadt wird verlegt

Jüngst hat Indonesien entschieden, seine Hauptstadt auf die Insel Borneo zu verlegen. Als Grund wurde genannt, dass Jakarta mit seinen mindestens zehn Millionen Einwohnern nicht nur von Smog und Staus geplagt, sondern auch regelmäßig von Überschwemmungen heimgesucht werde. Fachleuten zufolge gehört Jakarta nicht zuletzt wegen unkontrollierter Entnahmen des Grundwassers zu den am schnellsten sinkenden Megastädten weltweit.



Tierschützer und UN feiern Beschlüsse des Artenschutzgipfels

Beim Artenschutzgipfel in Genf ist der Schutz für Dutzende Arten verbessert worden. Unter den gefährdeten Tieren, die nicht mehr gehandelt werden dürfen, sind auch in Deutschland beliebte Schildkrötenarten.

Vereinte Nationen und Tierschützer haben die Ergebnisse des Artenschutzgipfels begrüßt, der am 28. August in Genf zu Ende gegangen ist. Die Beschlüsse seien ein großer Erfolg, sagte die Generalsekretärin des Washingtoner Artenschutzabkommens (CITES), Ivonne Higuero. Ähnlich äußerte sich die Daniela Freyer von der Organisation Pro Wildlife: Die Konferenz sei eine der erfolgreichsten ihrer Art bisher gewesen. Kritik gab es im Abschlussplenum von südafrikanischen Staaten, die erfolglos versucht hatten, den Schutz von Elefanten und das Verbot des Handels mit Elfenbein und Trophäen aufzuweichen.

Higuero erklärte, der Handel mit Dutzenden gefährdeten Tier- und Pflanzenarten sei aus Schutzgründen weiter eingeschränkt oder ganz verboten worden, um Ausbeutung, Überfischung und Jagd entgegenzuwirken. Die Menschheit müsse dem krisenhaft wachsenden Artensterben mit einer veränderten Steuerung der Tier- und Pflanzenwelt begegnen.

Die 1.700 Delegierten aus 169 Vertragsstaaten vereinbarten am letzten Gipfeltag einen besseren Schutz von 18 bedrohten Hai- und Rochenarten. Zudem wurden zahlreiche Hartholz-Bäume aus Afrika und Südamerika unter Schutz gestellt. Sie dürfen jetzt nur noch kontrolliert gehandelt werden.

Südafrikanische Länder drohen

In den zwei Wochen seit Gipfelbeginn am 17. August vereinbarte die Versammlung auch einen besseren Schutz von Giraffen, deren Bestand in den letzten dreißig Jahren um mehr als ein Drittel abgenommen hat. Zudem wurde der Handel mit zahlreichen Reptilien untersagt. Viele Arten wie die Indische Sternschildkröte oder die afrikanische Spaltenschildkröte seien auch in deutschen Terrarien beliebt, so Freyer. Jetzt gehe es darum, die neuen Verbote auch umzusetzen.

CITES-Chefin Higuero hob die Bedeutung des Artenschutzabkommens hervor. Hinter dem Handel mit vom Aussterben bedrohten Tierarten steckten kriminelle Organisationen. Mit Wilderei und Handel machten diese ähnliche Milliardenumsätze wie mit Drogen. Die Staaten im südlichen Afrika rief sie auf, Mitglied des Abkommens zu bleiben und innerhalb des Systems nach Lösungen zu suchen. Länder wie Simbabwe hatten angedroht, das Abkommen zu verlassen, weil ihre Forderungen nach mehr Handel und weniger Schutz nicht gehört würden.

Das Washingtoner Artenschutzabkommen wurde 1973 unterzeichnet und trat 1975 in Kraft. Die Konvention regelt den nachhaltigen Handel von mehr als 35.000 gefährdeten Tier- und Pflanzenarten. Alle drei Jahre treffen die Vertragsstaaten zu einem Gipfeltreffen zusammen. Der nächste Gipfel findet 2022 in Costa Rica statt.



Dürre: NRW zahlt 8,7 Millionen Euro an geschädigte Bauern

Das Land Nordrhein-Westfalen hat insgesamt rund 8,7 Millionen Euro an Landwirte ausgezahlt, die von der anhaltenden Dürre im vergangenen Jahr schwer geschädigt wurden. Von 622 gestellten Anträgen wurden 457 bewilligt, teilte das Landwirtschaftsministerium am 26. August in Düsseldorf mit. Die Prüfungen aller Anträge sind abgeschlossen. Aus Landes- und Bundesmitteln wurden insgesamt rund 8,73 Millionen Euro ausbezahlt, im Durchschnitt rund 19.000 Euro pro Landwirt. Der niedrigste Auszahlungsbetrag lag bei 2.504,97 Euro, der höchste bei 328.074,58 Euro.

In jedem Einzelfall wurde geprüft, ob die Schäden existenzgefährdend waren, wie Agrarministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) erläuterte. Die Landwirte mussten Schäden in Höhe von mehr als 30 Prozent der durchschnittlichen Jahreserzeugung aus der Bodenproduktion nachweisen und konnten dann auf einen Ausgleich der Schäden in den Betrieben bis zu maximal 50 Prozent hoffen. Auch für Futterzukäufe konnte eine Hilfe von 50 Prozent beantragt werden.

Die Landwirtschaft hat im vergangenen Jahr aufgrund der langanhaltenden Trockenheit unter teils erheblichen Ernteausfällen gelitten. Die widrigen Witterungsbedingungen wurden als außergewöhnliches Witterungsereignis von nationalem Ausmaß eingestuft. Die Dürrehilfe wurde als nicht rückzahlbarer Zuschuss ausgezahlt.



Aktionstage Ökolandbau in NRW eröffnet

NRW-Umweltstaatssekretär Heinrich Bottermann hat am 1. September in Warendorf den Startschuss für die Aktionstage Ökolandbau NRW 2019 gegeben. "Das Vertrauen in Bio-Lebensmittel wird gestärkt, wenn Betriebe ihre Tore weit öffnen und Verbraucherinnen und Verbraucher hinter die Kulissen schauen dürfen", erklärte Bottermann bei der Eröffnungsveranstaltung auf dem Naturland-Hof Lohmann. Unter dem Motto "Bio-Bauern öffnen Türen und Tore" sind bis zum 15. September landesweit 200 Veranstaltungen rund um den ökologischen Landbau geplant.

Bio-Höfe, Naturkosthändler, Bio-Bäcker und -Metzger laden zu Hoffesten, Betriebsbesichtigungen, Schaukochen, Feld- und Hofführungen, Verkostungsaktionen oder Schulklassenführungen ein. Die Aktionstage sind eine landesweite Kampagne der Landesvereinigung Ökologischer Landbau NRW, der Landwirtschaftskammer und des Landwirtschaftsministeriums.



Bundesweite Interreligiöse Naturschutzwoche in Köln

Die dritte Interreligiöse Naturschutzwoche in Deutschland startet am 8. September in Köln. Bei 25 Veranstaltungen gehe es bis zum 17. September unter anderem um Fledermäuse, begrünte Moscheen, Artenvielfalt auf dem jüdischen Friedhof und im Hambacher Forst, teilte das Abrahamische Forum in Deutschland am 30. August in Darmstadt mit. Auch Mitmachaktionen, Tanz, Musik, Dialogrunden und Andachten würden angeboten. Zur Eröffnung im Kölner Quäker-Nachbarschaftsheim spreche der Musiker Janus Fröhlich von der Band Höhner.

Zu den Teilnehmern gehören den Angaben zufolge christliche Kirchen, eine Bahai-Gemeinde, islamische Religionsgemeinschaften, die Deutsche Buddhistische Union, der Inayati-Orden Deutschland sowie Natur- und Umweltschutzorganisationen. Ausgerichtet werden die Tage von den Vereinen Abrahamisches Forum in Deutschland und "Tomorrow - Interfaith Cooperation for Sustainability".

Die Interreligiöse Naturschutzwoche gehört zu dem Projekt "Religionen für biologische Vielfalt" des Abrahamischen Forums. Das Projekt wird vom Bundesamt für Naturschutz und vom Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau gefördert. Die Interreligiöse Naturschutzwoche findet zum dritten Mal statt. Das Ziel ist, Religionsgemeinden und Engagierte im Naturschutz zu vernetzen.




Soziales

Gemeinsam ausgehen statt einsam verstecken


Peter Schilling
epd-bild/Meike Boeschemeyer
Viele Menschen mit Kopf-Hals- oder Mundkrebs verkriechen sich, weiß Peter Schilling. Auch er verlor einen Teil seines Unterkiefers. Sich öffentlich zu zeigen, trauten sich viele Betroffene kaum noch. Mut finden sie in Selbsthilfegruppen.

Sie treffen sich in einem Bonner Restaurant - dabei können manche von ihnen nichts essen und nur schlückchenweise trinken. Doch die Mitglieder der Selbsthilfegruppe für Menschen mit Kopf-Hals- oder Mundkrebs wollen sich öffentlich zeigen. "Leute mit Kau- und Schluckbeschwerden verkriechen sich meist und vereinsamen", erklärt Peter Schilling. Der 69-Jährige hat Mundbodenkrebs, die Hälfte seiner Zunge und ein Teil seines Unterkiefers mussten operativ entfernt werden.

"Seitdem sehe ich halt so aus, wie ich aussehe", erklärt er trocken. Er wird mit einer Magensonde versorgt und kann nur noch kleine Mengen trinken. Sich mit Angehörigen öffentlich zu zeigen, das trauten sich Betroffene dann kaum mehr, erzählt Schilling. Das Robert-Koch-Institut rechnet derzeit jährlich mit 13.000 Neuerkrankungen mit Tumor in Mundhöhle und Rachen. "Und da frage ich mich: Wo sind die eigentlich?", fragt Schilling. "Man sieht sie nicht." Hier setzten Selbsthilfegruppen an.

"Bleibt alles unter uns"

2018 gründete er in Bonn seine lokale Gruppe unter dem Dach des bundesweiten Netzwerks "Kopf-Hals-Mund-Krebs". Ein Dutzend Kranke, zum Teil mit Angehörigen, komme regelmäßig zusammen. "Wir hören uns erst einmal zu, diskutieren darüber, was uns bedrückt", berichtet Schilling. "Jeder weiß, dass das alles unter uns bleibt." Einmal im Quartal beraten Fachkräfte. "Die Gruppe kann Wege aufzeigen, aber nicht versprechen, dass alles gut wird", betont Schilling.

In Nordrhein-Westfalen bringen sich nach Angaben des Wohlfahrtsverbandes Der Paritätische NRW etwa 700.000 Menschen in bis zu 15.000 Selbsthilfegruppen ein. Mit 37 örtlichen Selbsthilfe-Kontaktstellen und -Büros ist der Paritätische als Dachverband Anlaufstelle für rund Dreiviertel aller Gruppen in NRW, erklärt Susanne Meimberg, Pressesprecherin des Verbands in Wuppertal. Die Tendenz, Selbsthilfegruppen zu gründen, sei weiterhin steigend - wenn auch nicht mehr ganz so stark wie noch vor Jahren. "Zuwachs gibt es aktuell im Bereich der psychischen Erkrankungen und hier besonders beim Thema Depression", sagt Meimberg.

Etwa 70 Prozent der Gruppen beschäftigten sich mit der Gesundheitsselbsthilfe, 30 Prozent mit der sozialen Selbsthilfe - dort treffen sich etwa Senioren, Migranten oder Alleinerziehende, erläutert die Verbandssprecherin. Für die Gründung einer Gruppe gebe es keine formellen Voraussetzungen. In einer Selbsthilfegruppe unterstützten sich die Betroffenen gegenseitig, sagt Meimberg. Damit könnten sie helfen, alltägliche Probleme zu bewältigen. "Eine Selbsthilfegruppe ersetzt allerdings keine therapeutische oder ärztliche Hilfe", mahnt sie.

Keine Zeit nach der Behandlung

Das bestätigt Gunthard Kissinger, Leiter der Bundesgeschäftsstelle vom Verein "Kopf-Hals-Mund-Krebs" in Bonn. Neben Schillings Bonner Selbsthilfegruppe vertritt das Netzwerk auch bundesweit Gruppen, etwa in Recklinghausen, München und Berlin. "Wir decken bislang rund 200 Menschen ab", sagt Kissinger. Gefördert wird der Verein von der Deutschen Krebshilfe.

Als Betroffener leitet er außerdem die Koblenzer Gruppe. In Kliniken habe das Personal nach der Behandlung meist keine Zeit, Erkrankte weiter zu beraten, meint er. "Die stehen dann alleine da und wissen nicht, wie sie mit ihrer Krankheit weiter umgehen sollen", sagt Kissinger. Gerade bei Krebsarten oberhalb des Kehlkopfes brauchten die Menschen aber Unterstützung, denn die Sterberate sei mit 30 Prozent sehr hoch. "Deshalb ist unsere Selbsthilfearbeit besonders wichtig", betont er.

Ebba Hagenberg-Miliu (epd)


Bethel zieht positive Bilanz des Jahres 2018


Pastor Ulrich Poh an der sogenannten Bethel-Pforte in Bielefeld (Archivbild)
epd-bild/Bethel
Das diakonische Unternehmen Bethel hat für das Jahr 2018 Bilanz gezogen. Auch für die Zukunft plant das diakonische Unternehmen große Projekte wie ein neues Kinderzentrum.

Die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel haben im Jahr 2018 das zweithöchste Jahresergebnis erzielt und die Gesamterträge gesteigert. "Wir sind sehr zufrieden mit dem Ergebnis", sagte Bethel-Chef Ulrich Pohl am 28. August in Bielefeld. Als Zukunftsprojekt baut das diakonische Unternehmen ein neues Kinderzentrum, das laut Bethel zu den zehn größten Einrichtungen bundesweit zählt. Nach einer Vertragsunterzeichnung im Juli wird das Evangelische Klinikum Bethels nun offiziell auch Uni-Klinikum.

Das Jahresergebnis in Höhe von 8,5 Millionen Euro sei nur im Jahr 2017 mit 12,8 Millionen Euro übertroffen worden, erläuterte Norden. Das sei jedoch eine Ausnahme im 150. Jubiläumsjahr Bethels gewesen. Die Gesamterträge stiegen leicht auf 1,25 Milliarden Euro (Vorjahr: 1,24 Milliarden Euro). Das Jahresergebnis werde vollständig in die diakonische Arbeit Bethels investiert.

Die Investitionen Bethels hätten mit 88,4 Millionen Euro im vergangenen Jahr einen Höchststand erreicht, sagte Norden auf der traditionellen Bilanzpressekonferenz Bethels. Im Jahr 2017 lagen sie bei rund 78 Millionen Euro. Schwerpunkte seien neue Wohn- und Betreuungsangebote in allen Regionen sowie die Weiterentwicklung der Akutkrankenhäuser in Bielefeld und Berlin. Auch die Zahl der Beschäftigten wuchs durch den Ausbau Bethels in der Region auf 19.670 (Vorjahr: 19.052).

Weniger Spenden und Nachlässe

Für die diakonische Arbeit erhielt Bethel im vergangenen Jahr 54,49 Millionen Euro aus Spenden und Nachlässe. Die Gesamtsumme liege zwar unter der des Vorjahres (62,7 Millionen Euro) sei jedoch das zweithöchste Ergebnis.

Das Jahresspendenprojekt im Jahr 2019 ist erneut der "Neubau Kinderzentrum Bethel", wie Pohl ankündigte. Von der geplanten Bausumme in Höhe von 70 Millionen Euro wolle Bethel die Hälfte aus Spendenmitteln finanzieren. Bislang seien bereits 24 Millionen Euro dafür eingegangen. Das neue Gebäude wird auf dem Gelände des bisherigen Kinderzentrums gebaut. In dem neuen Zentrum, das im Jahr 2022 an den Start gehen soll, sollen jährlich rund 50.000 Kinder und Jugendliche ambulant und stationär versorgt werden.

Diakonisches Werk Niederlausitz schließt sich an

Das Evangelische Klinikum Bethel erzielte laut Norden im vergangenen Jahr ein Betriebsergebnis von 1,15 Millionen Euro. Das Klinikum ist nun auch offiziell Teil des Universitätsklinikums der Universität Bielefeld. Ziel sei es, den Ärztemangel in der Region zu bekämpfen, sagte Bethel-Chef Pohl. Vom Aufbau des Uniklinikums profitiere auch Bethel. Dadurch könne das Klinikum Bethels noch mehr qualifizierte Fachkräfte gewinnen.

Neu zu Bethel kam nach Worten Pohl das Diakonische Werk Niederlausitz im brandenburgischen Cottbus mit rund 300 Beschäftigten. Aufgebaut worden seien zudem spezielle Angebote für Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen. Als Beispiele nannte Pohl in der Jugendhilfe die Erweiterung der Förderschule im niedersächsischen Vechta mit angeschlossenem Internat. Im vergangenen Jahr startete nach Worten Pohls auch das Projekt "Bethel im Rheinland" mit einem Büro in Düsseldorf. Dort werde analysiert und geprüft, wo noch Angebote und Dienste für Menschen mit Behinderungen fehlten.

Die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel zählen zu den größten diakonischen Werken Europas. Rund 230.000 Menschen hat das diakonische Werk nach Angaben des Vorstands im vergangenen Jahr behandelt, betreut oder ausgebildet.



Diakonie RWL fordert Grundsicherung für Kinder

Zum Start des neuen Schuljahrs in NRW fordert das Diakonische Werk Rheinland-Westfalen-Lippe eine finanzielle Grundsicherung für Kinder. "Das neue 'Starke-Familien-Gesetz' der Bundesregierung bekämpft Kinderarmut nicht nachhaltig", kritisierte Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann am 27. August in Düsseldorf. Die Beantragung von Unterstützung bleibe weiterhin höchst bürokratisch. "Es ist ein schwaches Familiengesetz, das keine tatsächlichen Chancen zur Teilhabe schafft", sagte der Diakonie-Vorstand. Auch das Bildungs- und Teilhabepaket werde von den Familien nicht angenommen.

Die Diakonie RWL fordert anstelle von einzelnen Teilleistungen eine feste soziale Sicherung für jedes Kind. Die Kindergrundsicherung solle ein einheitliches Modell für alle Kinder bieten, erklärte Heine-Göttelmann. Mit einer solchen gebündelten Sicherung könne echte Teilhabe und Chancengleichheit entstehen. Bislang müsse weiterhin jede Leistung einzeln beantragt werden.

"Familien werden zu Bittstellern"

Das mache die Familien zu Bittstellern, kritisierte der Familienexperte der Diakonie, Tim Rietzke. Es gebe keine zentrale Anlaufstelle. Anträge müssten je nach Zuständigkeit beim Jobcenter, dem Jugendamt oder anderen Ämtern eingereicht werden.

Nach dem "Starke-Familien-Gesetz" haben Familien, die Grundsicherung, den Kinderzuschlag, Wohngeld oder Asylbewerberleistungen beziehen, Anspruch auf Leistungen zur Bildung und Teilhabe. Ausflüge, Klassenfahrten, das Nahverkehrsticket zur Schule und Lernförderung werden übernommen. Der Eigenanteil für das Mittagessen in den Schulen entfällt seit August 2019. Für den Schulbedarf gibt es 150 statt 100 Euro im Jahr. Die kulturelle Teilhabe wird mit 15 Euro im Monat unterstützt.



"Grundsätzlich ist der Zuhörer zu Hause ja auch blind"


Florian Schneider im Stadion des SV Darmstadt
epd-bild/Thomas Lohnes
Der Fußball hat das berufliche Leben von Florian Schneider verändert. Für seine Reportagen für Blinde aus dem Stadion wurde er für den Deutschen Integrationspreis nominiert.

Vor zehn Jahren saß Florian Schneider zum ersten Mal im Stadion des SV Darmstadt 98, um ein Fußballspiel des Zweitligisten zu verfolgen. Schneider, eigentlich gelernter Hotelfachmann, macht heute Fußballreportagen für Blinde. Dafür wurde der 38-Jährige sogar für den Deutschen Integrationspreis nominiert.

Dabei war es bei Schneider keine Liebe auf den ersten Blick für die "Lilien", wie der Verein wegen seines Wappens genannt wird. Doch nach seinem ersten Besuch im Stadion am Böllenfalltor kam er immer öfter, kaufte sich eine Dauerkarte für die Lilien. "Der Verein mit seiner Identität ist faszinierend", sagt er. "Das ist ein kleines Herzstück Fußball im großen Kommerzdschungel."

Blindenreporten zunächst nicht auf dem Schirm

2013 war Schneider dann dabei, als das Fanradio entstand. "Auf der Homepage haben sie Moderatoren gesucht", erinnert er sich. "Den Traum vom Radio- oder Fernsehmoderator haben ja viele. Und da konnte ich mich ausprobieren." Ein Jahr später stieg der Verein dann in die 2. Liga auf. Und damit begannen auch die Blindenreportagen.

"Wir hatten Blindenreportagen zunächst gar nicht auf dem Schirm", berichtet Schneider. Die Geschäftsführung des Vereins habe die Fanradio-Macher angesprochen, damit auch blinde Menschen im Stadion das Spielgeschehen live verfolgen können. Auf einer Schulung der Deutschen Fußball Liga DFL wurden die Fanreporter dann fit gemacht.

In der Saison 2018/2019 gab es nach Angaben der DFL erstmals in allen Stadien der Bundesliga spezielle Reportagen für Blinde und Sehbehinderte. Die erste Live-Blindenreportage war 1999 in Leverkusen angeboten worden.

Detailliertere Schilderungen

Was unterscheidet eine Blinden- von einer Hörfunkreportage? "Es kommt vor allem auf die Verortung an", sagt Schneider. Bei Radioreportagen stehe meist im Vordergrund, Stimmung zu transportieren. Bei einer Blindenreportage sage man detaillierter, was auf dem Spielfeld passiere. Es werde nicht kommentiert, sondern reportiert. "Aber natürlich freuen wir uns bei einem Tor für Darmstadt schon ein bisschen mehr", sagt Schneider.

Das klassische "Müller … Gnabry … Müller … Tor" gebe es in einer Blindenreportage nicht. Das würde bei Schneider etwa so klingen: "Rechts, gerade über die Mittellinie läuft Tobias Kempe zwei Meter von der Außenlinie entfernt, zieht jetzt in die Zentrale und schiebt den Ball flach über zehn Meter mit dem linken Fuß zu Felix Platte, der in die Gasse Richtung 16-Meter-Eck gesprintet ist. Platte fackelt nicht lange und zieht aus 14 Metern halb rechts im Strafraum ab. Flach unten links. TOOOOR! Der Ball schlägt direkt neben dem Pfosten ein."

"Qualitativ hochwertige Radioberichterstattung"

Die Reportagen des Fanradios bei Darmstadt 98 sind so aufgebaut, dass jeder am Spiel teilhaben kann - ob im Stadion oder im Livestream über das Internet. "Grundsätzlich ist der Zuhörer zu Hause ja auch blind", sagt Schneider. "Eine Blindenreportage ist für mich eine qualitativ hochwertige Radioberichterstattung."

Die Reportagen verschafften Schneider auch seinen heutigen Job: Auf den alljährlichen Schulungen der DFL wurde 2018 das Projekt T_OHR vorgestellt. Ziel ist es, die Expertise der Sehbehinderten- und Blindenreportage auf weite Teile der Gesellschaft und eine Vielfalt von Sportarten auszuweiten. Gefördert wird das Projekt von der Aktion Mensch und der DFL-Stiftung, getragen von AWO-Passgenau, dem Trägerverbund der Fanprojekte der Arbeiterwohlfahrt.

Schneider ist bei T_OHR einer von zwei Festangestellten. Das Projekt wurde sogar für den diesjährigen Deutschen Integrationspreis nominiert. In der zweiten Runde ging es darum, per Crowdfunding mindestens 10.000 Euro einzusammeln. Das Ziel verfehlte T_OHR nur um wenige Hundert Euro. Für die Lilien ist Schneider derzeit als stellvertretender Abteilungsleiter der Fan- und Förderabteilung FuFa aktiv.

Stephan Köhnlein (epd)


Bärbel Brüning wird Geschäftsführerin der Lebenshilfe NRW

Bärbel Brüning wird neue Landesgeschäftsführerin der Lebenshilfe Nordrhein-Westfalen. Die bisherige Geschäftsführerin der Lebenshilfe in Schleswig-Holstein übernimmt das Amt zum 1. September von Interimsgeschäftsführer Dietmar Meng, wie die Selbsthilfevereinigung für geistig behinderte Menschen am 27. August in Hürth mitteilte. Die gebürtige Kölnerin wird auch Geschäftsführerin der vier gemeinnützigen Tochterunternehmen des NRW-Landesverbands: Lebenshilfe Wohnen, Wohnverbund, Bildung und Berufskolleg.

Brüning erklärte, sie wolle sich für die Themen einsetzen, die Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen selbst wichtig seien. "Dazu gehören ganz sicher: Stärkung der Teilhabemöglichkeiten, Erweiterung von Wahlmöglichkeiten und damit auch der Angebote in fast allen Lebensbereichen und ein soweit wie möglich selbstbestimmtes Leben mit der entsprechenden Assistenz und Unterstützung." Zudem wolle sie die weitere Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes begleiten und sich starkmachen für eine umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. "Denn da gibt es noch viel Luft nach oben", sagte Brüning.

Die Lebenshilfe NRW ist der größte Landesverband der Selbsthilfevereinigung. Der vorherige Landesgeschäftsführer Herbert Frings war im Frühjahr zur Gold-Kraemer-Stiftung in Frechen gewechselt.



Jahresbericht des Evangelischen Johanneswerks online

Das Evangelische Johanneswerk in Bielefeld hat den seinen Jahresbericht 2018 im Internet veröffentlicht. Neben Daten und Fakten zum Johanneswerk werde auch über Projekte berichtet, die der diakonische Träger in seinen Arbeitsfeldern umgesetzt habe, teilte das Johanneswerk mit. Das 1951 gegründete Evangelische Johanneswerk pflegt und unterstützt nach eigenen Angaben in mehr als 70 Einrichtungen an über 30 Standorten in ganz Nordrhein-Westfalen alte und kranke Menschen, Menschen mit Behinderungen sowie Kinder und Jugendliche.

Der Bericht ist im Internet abrufbar unter: www.johanneswerk.de/jahresbericht



Verband wirbt auf Youtube für Selbsthilfe

Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Selbsthilfe informiert ab sofort auf einem Youtube-Kanal über Hilfsangebote für Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung. "Ziel ist es, eine starke, facettenreiche und gut vernetzte Selbsthilfe-Community auf Youtube entstehen zu lassen", sagte BAG-Bundesgeschäftsführer Martin Danner am 27. August in Düsseldorf. Gerade für junge Menschen sei Youtube eine wichtige Informationsquelle.

In Videos wolle die BAG künftig Best-Practice-Beispiele vorstellen, Einblicke in ihre Arbeit geben und Stellung zu aktuellen politischen Themen nehmen, erklärte der Verband. Zudem könnten betroffene Menschen in Absprache mit der BAG Filme über ihre persönlichen Erfahrungen, gelungene Projekte oder anstehende Aktionen auf dem Kanal hochladen. Der Youtube-Kanal wird den Angaben zufolge vom AOK-Bundesverband mit Mitteln aus der Selbsthilfeförderung unterstützt.



Pläne für Berliner Mietendeckel entschärft

Die Regelungen zum Berliner Mietendeckel sollen nun offenbar doch moderater ausfallen als zwischenzeitlich angenommen. Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke) stellte am 30. August wesentliche Inhalte des Referentenentwurfs für das Gesetz vor. Demnach soll der Mietenanstieg in der Hauptstadt für fünf Jahre durch den Mietendeckel begrenzt werden, neue Nettokaltmieten sollen künftig je nach Alter der Gebäude bei höchstens 5,95 bis 9,80 Euro pro Quadratmeter liegen.

Seit dem vergangenen Wochenende hatten Medienberichte über drastischere Planungen für empörte Reaktionen bei Vermietern und Wirtschaftsverbänden gesorgt. Wie Stadtentwicklungssenatorin Lompscher am Freitag erläuterte, sind nach dem jetzt vorliegenden Referentenentwurf Ausnahmen vom Mietendeckel unter anderem bei Modernisierungen vorgesehen. Mietabsenkungen für bereits vermietete Wohnungen sollen auf Antrag möglich sein, wenn die bisherige Nettokaltmiete 30 Prozent des Haushaltseinkommens übersteigt.

Der Referentenentwurf, an dem noch gearbeitet werde, soll am Montag veröffentlicht werden, sagte Lompscher. Dann starte mit dem Beginn der Verbändeanhörung auch das Gesetzgebungsverfahren. Bisher ist geplant, dass das Gesetz Anfang 2020 in Kraft treten soll.

Bestandsmieten einfrieren

Die Bestandsmieten sollen auf dem Stand des 18. Juni 2019 eingefroren werden, sagte Lompscher. Zusätzlich soll eine Mietentabelle eingeführt werden, die sich am Mietspiegel von 2013 orientiert und die Lohn- und Preisentwicklung berücksichtigt. Mieterhöhungen sollen maximal auf Höhe der jährlichen Inflation liegen dürfen. Sowohl für Vermieter als auch für Mieter soll eine Härtefallregelung eingeführt werden, die Abweichungen oder zusätzliche staatliche Hilfen vorsieht.

Mit dem Mietendeckel, auf den sich die Koalition verständigt habe, sei ein "sehr guter, tragfähiger und rechtssicherer Kompromiss" gefunden worden, sagte Lompscher. Sollten sich Vermieter nicht an das Gesetz halten, könnten Mieter dagegen vor Gericht vorgehen. Ziel der Regelungen sei, eine sozial gemischte Stadt zu erhalten. Niemand solle Angst davor haben müssen, sein "Dach über dem Kopf zu verlieren". Zwar könnten damit nicht alle Ungerechtigkeiten auf dem Wohnungsmarkt beseitigt werden. Es seien jedoch "Dämpfungseffekte" bei der Entwicklung der Mieten zu erwarten.

Der Mietendeckel sei eine "temporäre Regelung", die nach einigen Jahren überprüft werden müsse, sagte Lompscher. Gegebenfalls werde dann wieder wie bisher ein Mietspiegel erstellt.



Jeder dritte Flüchtling auf Ausbildungssuche wird fündig

Jeder dritte Flüchtling (37 Prozent), der sich 2017/18 auf eine Ausbildungsstelle beworben hat, ist auch fündig geworden. Das geht aus der Fluchtmigrationsstudie hervor, die das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) in Bonn und die Bundesagentur für Arbeit am 27. August veröffentlichten. Weitere 29 Prozent der befragten Ausbildungsstellenbewerber mit Fluchthintergrund befanden sich demnach in Integrationskursen oder teilqualifizierenden Bildungsgängen, wie zum Beispiel Einstiegsqualifizierungen oder Praktika.

An der Befragung nahmen rund 5.300 Menschen teil, die bei der Bundesagentur für Arbeit als ausbildungssuchend registriert sind und seit Anfang 2013 in Deutschland eingereist waren. Die Mehrheit von ihnen waren junge Männer (86 Prozent), die überwiegend aus Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien nach Deutschland kamen. Am Häufigsten waren Syrer (38 Prozent) und Afghanen (23 Prozent). Das Durchschnittalter lag bei etwa 24 Jahren.

Die meisten von ihnen (88 Prozent) gaben in der Studie an, schon einen oder mehrere Deutschkurse absolviert zu haben. Über ein Sprachniveau von B1 oder B2 verfügten demnach 69 Prozent. In einer Flüchtlingsunterkunft wohnten nur noch 19 Prozent der Befragten. Die meisten wohnten alleine (28 Prozent) oder mit der Familie zusammen (37 Prozent), wie es hieß.




Medien & Kultur

Virtuelle Rettungsaktion für Weltkulturerbe-Stätten


Bild der zerstörten Stadt Mossul in der Bundeskunsthalle
epd-bild/Meike Boeschemeyer
Die Sprengung der antiken Stadt Palmyra durch die Terrormiliz IS sorgte 2015 für Entsetzen. Archäologen versuchen, das Gedächtnis an zerstörte Weltkulturerbe-Stätten mit 3-D-Technik zu bewahren. Wie, zeigt eine Ausstellung in der Bundeskunsthalle.

Der heiße Wüstenwind bläst feinen Sand über die Trümmer des Tempels des Baalschamin. Am strahlend blauen Himmel kreist kreischend ein Greifvogel über der zerstörten antiken Oasenstadt Palmyra. Plötzlich wachsen aus den Trümmern die Wände des Tempels empor. Virtuell wird das 2015 von der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) gesprengte Denkmal zu neuem Leben erweckt. Bie Besucher der Bundeskunsthalle können dieses Spektakel nun live miterleben. Die Ausstellung "Von Mossul nach Palmyra. Eine virtuelle Reise durch das Weltkulturerbe" führt bis zum 3. November in die vom Krieg zerstörten syrischen Städte Aleppo und Palmyra, ins irakische Mossul sowie in die vom Verfall bedrohte antike Stadt Leptis Magna in Libyen.

Sechs Denkmäler können die Besucher mit Hilfe von 3-D-Brillen erkunden. Außerdem gewähren animierte Filme Einblicke in die Straßen der vom Krieg verwüsteten Städte und in die Überreste historischer Stätten. Dabei werden einzelne Denkmäler virtuell rekonstruiert, so dass ein Eindruck vom ursprünglichen Zustand entsteht.

Kirche zerstört

Die Reise beginnt in der nordirakischen Stadt Mossul, die im Juli 2017 nach dreijähriger IS-Herrschaft von der irakischen Armee und ihren Verbündeten zurückerobert wurde. Auf eine riesige, wandfüllende Leinwand wird der Überflug über die zerstörte Stadt projiziert. Die Kamera taucht dann ein in die verwüstete Große Moschee des an-Nuri ein, die für ihr schiefes Minarett bekannt war. Dann werden die Ruinen überblendet mit dem virtuell rekonstruierten Originalzustand des Gebäudes.

Die multiethnische Vergangenheit der Stadt, in der ursprünglich Angehörige unterschiedlicher Religionen zusammenlebten, veranschaulicht die Kirche unserer Lieben Frau von der Stunde. In dem christlichen Gotteshaus sind die Fenster zerschlagen. Einrichtung und Kunstgegenstände wurden zerstört und geplündert. Schutt bedeckt den Boden.

Der Geologe und Archäologe Faisal Jeber dokumentierte die Zerstörung der Denkmäler durch den IS von Beginn an und gründete eine Organisation zur Rettung des kulturellen Erbes. Dafür wurde er vorübergehend vom IS gefangengenommen und gefoltert. "Unser Ziel ist es, die Stadt wiederaufzubauen", sagt er nun in einer Filmdokumentation für die Ausstellung. Die Hoffnung ist, dass die virtuelle Rekonstruktion der Gebäude dazu beitragen kann, die Denkmäler eines Tages wiederaufzubauen.

Für Aufsehen hatten vor allem die Zerstörungen des IS in der antiken syrischen Oasenstadt Palmyra gesorgt, die vor dem Krieg Touristen aus aller Welt anzog. Das Weltkulturerbe wurde 2015 und 2017 Opfer zweier Zerstörungswellen. Dabei wurden unter anderem zwei Tempel und ein Triumphbogen gesprengt. Auch in der syrischen Stadt Aleppo fielen zahlreiche Denkmäler dem Terror zum Opfer. Ein Streifzug durch die Straßen der Altstadt führt den Besucher zur Umayyaden-Moschee. Deren zerstörtes Minarett wird virtuell wiederaufgebaut.

Historische Aufnahmen

Die Projektionen der zerstörten Orte werden flankiert von historischen Aufnahmen, die den alten Glanz erahnen lassen. Da brummt im inzwischen zerstörten Suk von Aleppo das Leben. Händler bieten bunte Kleider oder Trockenfrüchte an. Und durch die belebten Straßen rattern Straßenbahnen. Das Schicksal der Menschen in der nun zerstörten Stadt beleuchtet der Dokumentarfilm "Greetings from Aleppo" des einheimischen Künstlers Issa Touma.

Nicht zerstört, aber bedroht ist die antike Stadt Leptis Magna in Libyen. Die als "afrikanisches Rom" bekannte Stadt ist aufgrund der instabilen politischen Lage in Libyen gefährdet. Bislang gab es keine Angriffe auf die Denkmäler. "Wir haben aber Sorge, dass es einen Terroranschlag geben könnte", sagt Grabungsaufseher Eceddin Ahmad Omar Fagi. Stücke, die sich transportieren lassen, haben die Konservatoren in Depots in Sicherheit gebracht. Allerdings droht der antiken Stadt auch Verfall, weil sie nicht hinreichend gepflegt werde, warnt der Leiter der französischen archäologischen Mission in Libyen, Vincent Michel.

Nicht nur die vier gezeigten Weltkulturerbe-Stätten seien zerstört oder bedroht, sagt die Kuratorin der Ausstellung, Aurélie Clemente-Ruiz vom Institut du monde arabe in Paris, wo die Schau bereits gezeigt wurde. "Die Ausstellung ist ein Manifest, das Kulturerbe auf der ganzen Welt zu schützen." Und für die endgültig zerstörten Denkmäler gibt es dank der neuen Allianz zwischen Archäologie und High-Tech zumindest einen schwachen Trost, meint Clemente-Ruiz: "Wir können sie dank virtueller Rekonstruktion im Gedächtnis behalten."

Claudia Rometsch (epd)


Der Dichter als Forscher

Mineralien, Fossilien, Pflanzen- und Tierpräparate: Multitalent Goethe trug eine beeindruckende naturwissenschaftliche Sammlung zusammen. Eine Auswahl der insgesamt 23.000 Objekte ist nun im Weimarer Schiller-Museum zu sehen.

Unter dem Titel "Abenteuer der Vernunft" zeigt die Klassik Stiftung Weimar im Schiller-Museum seit dem 28. August eine Ausstellung zu den naturwissenschaftlichen Forschungen Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832). Die Präsentation baue auf der aus etwa 23.000 Objekten bestehenden Sammlung auf, die der Dichter in fünf Jahrzehnten zusammengetragen habe, sagte die Präsidentin der Stiftung, Ulrike Lorenz, am Montag in Weimar. Davon würden nun rund 400 Gesteinsproben, Mineralien und Fossilien, Pflanzen- und Tierpräparate sowie physikalische und chemische Apparaturen gezeigt.

Viele dieser seltenen und zum Teil auch kuriosen Objekte würden zum ersten Mal öffentlich präsentiert. Aufgrund des Erhaltungszustands gelte die Sammlung als eine der herausragenden ihrer Art, sagte Lorenz. Zudem werden in Weimar einige außergewöhnliche Leihgaben zu sehen sein. Die Ausstellung veranschauliche die intensive Beschäftigung Goethes - der am Weimarer Hof auch für den Bergbau und die universitäre Bildung im nahen Jena Verantwortung trug - mit nahezu allen naturwissenschaftlichen Themenfeldern.

Oryktognosie

Die Präsentation erlaube es, zentrale Fragen und Probleme der Naturwissenschaften der Zeit um 1800 zu rekonstruieren und zu verstehen, betonte Mitkurator Thomas Schmuck. Das schließe auch die damals hitzig geführten Kontroversen zu Fragen der Oryktognosie und Geognosie - damals die gebräuchlichen Fachbergriffe für Mineralogie und Geologie - mit ein. Diesem Bereich gehe der Ausstellungsteil "Zeit und Erde" nach.

Das zweite Kapitel "Ordnung und Entwicklung" befasst sich mit den Vorstellungen über Konstanz und Wandel in der belebten Natur. Hier erwarten die Besucher Erläuterungen zu Goethes botanischen Studien, der Anatomie und der Abstammungslehre. Dazu werden verschiedene Schädel, Zeichnungen, Fossilien und Blätter aus Herbarien sowie Goethes Mikroskop präsentiert.

Das drittel Kapitel "Licht und Substanz" zeigt eine Auswahl aus dem elektrischen und chemischen Experimentierapparat des Dichters, der sich, so Lorenz, lieber als Forscher gesehen habe. Neben Elektrisiermaschinen und Batterien steht hier auch die Farbenlehre Goethes im Mittelpunkt. Zudem wird ein - nach Angaben der Klassik Stiftung weltweit nur drei verbliebenen - Exemplar von Joseph Fraunhofers um 1814 entstandenen Sonnenspektren präsentiert.

"Luftstein"

Es ist zugleich auch eines von drei Projekten, die der Physiker und bekannte Wissenschaftsjournalist Harald Lesch am Ende des Rundgangs per Video vorstellt - und mit dem er den Bogen in unsere Zeit spannt. Neben dem Spektrum kommentiert er einen Silberchlorid-Aufstrich - quasi das erste Farbfoto der Welt - sowie einen Meteoriten, der zu Goethes Zeiten noch "Luftstein" hieß.

All dies komplexen Zusammenhänge würden - "für Laien wie mich" - verständlich dargestellt, lobte die Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar die "innovativen Vermittlungskonzepte" der Ausstellungsmacher von "whitebox" aus Dresden. Diese setzen unter anderem auf "Spacebooks", in denen die Besucher blättern können. Zum gedruckten Text erscheinen dabei auf den Seiten erklärende Animationen.



Kulturrat und EKD wollen mehr Kolonialismus-Aufarbeitung


Johann Hinrich Claussen
epd-bild/Norbert Neetz

Der Deutsche Kulturrat und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) haben sich für eine umfassendere Aufarbeitung der Rolle der Kirchen im Kolonialismus ausgesprochen. Dazu solle eine gemeinsame Debatte in Gang kommen, kündigten der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, und der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen am 29. August in Berlin an. Unter anderem sei dazu im Frühjahr 2020 in den Franckeschen Stiftungen in Halle eine gemeinsame Tagung mit zahlreichen Experten geplant.

Wichtig sei, die Vielschichtigkeit der kirchlichen Missionsgesellschaften und ihre Verstrickungen im Kolonialismus offenzulegen, sagte Zimmermann. Häufig hätten die Missionen eine ambivalente Rolle gespielt. Dies sei jedoch keine ausschließlich kirchliche Frage, sagte der Kulturrats-Geschäftsführer: "Die Debatte muss breiter geführt werden." Notwendig sei, dass sich auch weltliche Strukturen, etwa im Zusammenhang mit dem geplanten Humboldt Forum in Berlin, mit dem Thema befassen.

Keine Rückgabeforderungen

Der EKD-Kulturbeauftragte Claussen verwies darauf, dass in den Missionswerken postkoloniale Themen schon seit vielen Jahrzehnten bearbeitet würden. Neu sei nun der Fokus auf die Debatte zum Umgang mit Kulturgütern. Diese würden meist als innerkirchliche Objekte betrachtet, etwa weil sie durch Partnerkirchen aus anderen Ländern überreicht wurden. Offizielle Rückgabeforderungen von Kulturgütern - wie sie etwa an öffentliche Museen und Sammlungen in Deutschland gerichtet werden - gebe es an die EKD nicht, unterstrich Claussen.

Zugleich sprach sich der EKD-Kulturbeauftragte für eine differenzierte Debatte aus. So seien christliche Missionare keine "willigen Helfer des staatlichen Kolonialismus" gewesen, betonte Claussen in einem Gastbeitrag für die aktuelle Ausgabe der Publikation "Politik & Kultur" (Ausgabe 9/2019) des Kulturrats. Die evangelische Mission sei auch eine Vorgängerin der heutigen Nichtregierungsorganisationen gewesen.

"Sehr spät"

In "Politik & Kultur" befassen sich 18 Autoren mit dem Thema "Kolonialismus und Mission", darunter auch die Präsidentin des evangelischen Hilfswerks "Brot für die Welt", Cornelia Füllkrug-Weitzel, sowie der Hamburger Historiker und Kolonialismusforscher Jürgen Zimmerer. In seinem Beitrag wirft der Wissenschaftler der EKD vor, die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus "sehr spät" zu beginnen. Zudem konzentriere sich die kirchliche Auseinandersetzung bislang "auf individuelles Fehlverhalten statt systemische Ursachen".

"Die EKD hat sich zur Aufgabe gemacht, solche Diskussionen zu befördern", betonte Claussen. Die Debatte zu Verstrickungen der Kirchen in den Kolonialismus sei ein "offener Prozess, der weiter geführt wird". So werde auch das Thema Provenienz von Kulturgütern in den Missionsgesellschaften diskutiert.

Der Deutsche Kulturrat hatte im vergangenen Februar eine Stellungnahme zum "Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten" veröffentlicht. Darin wurde von allen öffentlichen Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen in Deutschland, aber auch von der Zivilgesellschaft, den Kirchen und dem Kunsthandel eine breite Aufarbeitung und Debatte zum Umgang mit Kulturobjekten aus der Kolonialzeit gefordert.



Siebenpfeiffer-Preis 2019 für Journalistin Anja Reschke

Die Journalistin und ARD-Moderatorin Anja Reschke erhält den diesjährigen Siebenpfeiffer-Preis. Die Jury sehe Reschke als Kämpferin gegen die moderne Form der Zensur, die Bedrohung der Pressefreiheit durch "Hater" und Trolle im Netz, teilte der Saarländische Rundfunk (SR) am 30. August in Saarbrücken mit. Die Journalistin bekommt den mit 10.000 Euro dotieren Preis am 10. November im Homburger Forum.

"Aufstand der Anständigen"

Reschke hatte inmitten der aufgewühlten Stimmung im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik 2015 in einem Kommentar einen "Aufstand der Anständigen" gegen die Anfeindungen Rechtsextremer gefordert. Daraufhin erhielt sie Hasskommentare im Netz.

"Anja Reschke zeigt seit Jahren durch ihre journalistische Arbeit Rückgrat", urteilte die Jury. Ihre Haltung beinhalte Mut sowie Stärke und fordere jeden dazu auf, sich auf das Grundgesetz zu besinnen. Um ihre Meinung frei äußern zu können, nehme sie sogar Morddrohungen und damit ihre körperliche Versehrtheit in Kauf. "Siebenpfeiffers Bekenntnis lebt sie, erinnert an etwas, was viel zu viele von uns vergessen haben: für etwas stehen, zu etwas stehen und überhaupt eine Meinung haben", erklärte die Jury. SR-Intendant Thomas Kleist ist Juryvorsitzender.

Den Siebenpfeiffer-Preis gibt es seit 1989. Er zeichnet alle zwei Jahre Journalisten aus, die sich "für die freiheitlichen Grundrechte und die demokratischen Grundwerte in herausragender Weise engagieren" ohne auf ihre Karriere Rücksicht zu nehmen. Zu den bisherigen Preisträgern gehören unter anderem Can Dündar, Peter Scholl-Latour, Glenn Greenwald und Günter Wallraff.

Philipp Jakob Siebenpfeiffer (1789-1845) war der erste Landcommissär des ehemaligen Landkreises Homburg. Als seine politischen Reformvorschläge bei Regierung und bayerischem König kein Gehör fanden, prangerte er die Defizite in der Presse an. Dieses journalistische Engagement kostete ihn sein Amt, seine soziale Sicherheit und später seine Freiheit.



Herkunftsnennung bei Straftätern: Länder geteilter Meinung

Schutz vor Diskriminierung vs. öffentliches Interesse: Soll die Polizei in Presseauskünften die Nationalität von Tätern und Verdächtigen nennen? Die Bundesländer regeln das unterschiedlich. Relevant ist für die meisten aber der Pressekodex.

Die Initiative Nordrhein-Westfalens, wonach die Polizei bei ihrer Pressearbeit künftig grundsätzlich die Nationalität von Tatverdächtigen nennen soll, stößt in den anderen Bundesländern auf geteilte Reaktionen. In einer Umfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) unter den Ländern verwiesen die meisten am 28. August auf den Pressekodex des Deutschen Presserates. Dieser empfiehlt, die Herkunft eines Tatverdächtigen nur zu nennen, wenn "ein begründetes öffentliches Interesse" besteht.

In Baden-Württemberg, Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein soll sich die Polizei weiterhin an diese Regelung halten, wie die Innenministerien der Länder mitteilten. Die Orientierung am Pressekodex habe sich bewährt, Änderungen seien derzeit nicht geplant. Es führe nicht zu mehr Transparenz, die Nationalitäten der Tatverdächtigen zu nennen, wenn es für den geschilderten Sachverhalt nicht relevant sei, betonte der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD). "Genauso wenig berichtet die Polizei über Kleidung, Haarfarbe oder Größe der Tatverdächtigen", sagte er. "Es sei denn, diese Angaben sind relevant."

Thüringen folgt NRW

In Bayern gibt es bislang keine landesweiten Vorgaben zur Herkunftsnennung, wie das Innenministerium in München erklärte. Die Polizei wäge bei ihrer Pressearbeit im Einzelfall "sehr bedacht und sensibel" ab, ob sie die Nationalität von Tatverdächtigen nenne. Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte dazu dem epd: "Wir werden uns die beabsichtigte Neuregelung in Nordrhein-Westfalen näher anschauen und gegebenenfalls entscheiden, ob in Bayern Änderungen oder Ergänzungen notwendig sind."

Auch in Sachsen gibt es nach Angaben des Innenministeriums in Dresden bislang noch kein einheitliches Vorgehen. Dies werde aber künftig angestrebt, hieß es.

Thüringen plant indes wie Nordrhein-Westfalen eine Änderung seiner bisherigen Praxis. Da es für die Polizei oft schwer sei, den Pressekodex richtig auszulegen, solle in Pressemitteilungen künftig immer die Nationalität angegeben werden, sofern keine ermittlungstaktischen Gründe dagegen sprechen, sagte ein Sprecher des Innenministeriums in Erfurt dem epd. Auch der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lorenz Caffier (CDU), erklärte, er könne sich ein Verfahren wie in NRW vorstellen. Aus dem Saarland lag zunächst keine Antwort vor.

In Hamburg, Brandenburg sowie bei der Bundespolizei wird bereits heute grundsätzlich die Staatsangehörigkeit von Tatverdächtigen genannt, wie die Behörden mitteilten. Dies entspreche den Bedürfnissen der Presse, die dann auf Grundlage des Pressekodex eigenverantwortlich abwäge, ob die Information veröffentlicht werde, erklärte die Polizei Hamburg. Ein Sprecher des Brandenburger Innenministeriums sagte, Hintergrund der Regelung sei ein "Missbrauch polizeilich relevanter Taten durch Populisten" gewesen.

"Begründetes öffentliches Interesse"

Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) hatte am 26. August angekündigt, dass künftig die Ermittlungsbehörden immer die Identität von Tatverdächtigen nennen sollen, sofern diese zweifelsfrei feststeht. Das Ministerium wolle mit Offenheit und Transparenz Spekulationen und populistischer Bauernfängerei entgegentreten, hieß es.

Der Presserat hatte seine Richtlinie 12.1 zur Herkunftsnennung vor zwei Jahren geändert. Sie fordert seitdem statt eines "begründbaren Sachbezugs" nun ein "begründetes öffentliches Interesse" als Voraussetzung für die Erwähnung der Herkunft. Der Pressekodex empfiehlt, in der Berichterstattung über Straftaten darauf zu achten, "dass die Erwähnung oder Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt".



Gericht: Facebook darf weiter Daten sammeln

Facebook darf erst einmal weiter ohne Einschränkung die Daten seiner Nutzer sammeln und verarbeiten. Das soziale Netzwerk muss eine einschränkende Entscheidung des Bundeskartellamts zunächst nicht umsetzen, wie das Oberlandesgericht Düsseldorf am 26. August in einem Beschluss zu einem Eilantrag von Facebook entschied. Die Wettbewerbsbehörde in Bonn hatte im Februar dem US-Unternehmen Beschränkungen auferlegt, nach denen Facebook nicht mehr ohne Einwilligung der Nutzer Daten sammeln durfte. Jetzt beschloss das Gericht, diese Anordnung aufzuschieben, bis es über den Rechtsstreit zwischen Facebook und dem Bundeskartellamt endgültig entschieden hat (AZ: VI-Kart 1/19 (V)).

Der 1. Kartellsenat des Oberlandesgerichts bezweifelt die Rechtmäßigkeit der kartellbehördlichen Anordnung, wie es hieß. Selbst wenn die beanstandete Datenverarbeitung gegen Datenschutzbestimmungen verstoße, liege darin nicht zugleich ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht. Das Bundeskartellamt müsse die Freiheit des Wettbewerbs schützen, erläuterte ein Gerichtssprecher. Damit sei die Behörde für wettbewerbsschädigendes Verhalten zuständig - nicht aber für Fragen des Datenschutzes.

OLG Düsseldorf entscheidet

Das Bundeskartellamt hatte Facebook vorgeschrieben, dass die Nutzer des sozialen Netzwerks der Zuordnung ihrer Daten von anderen Onlineseiten zu ihrem Facebook-Konto künftig ausdrücklich zustimmen müssen. Betroffen sein sollten sowohl zum Facebook-Konzern gehörende Dienste wie der Messengerdienst Whatsapp und das soziale Netzwerk Instagram als auch Daten von Drittseiten anderer Unternehmen.

Facebook hatte schon im Februar argumentiert, dass für die datenschutzrechtlichen Bedenken des Bundeskartellamts die Datenschutzbehörden und nicht die Wettbewerbsbehörden zuständig seien. Dem folgten die Richter in ihrer Entscheidung und schoben die Anordnung des Bundeskartellamts erst einmal auf. Gegen die Aufschiebung kann das Bundeskartellamt noch Beschwerde beim Bundesgerichtshof einlegen. Endgültig geklärt wird der Streit zwischen Facebook und der Wettbewerbsbehörde in einem Verfahren am Oberlandesgericht Düsseldorf, für das noch kein Verhandlungstermin bestimmt ist.



Flucht ohne Ende

Joseph Roth kämpfte als Schriftsteller und Journalist gegen Nationalismus und Nationalsozialismus. Ruhelosigkeit bestimmten sein Werk wie sein Leben: Er hatte praktisch nie eine eigene Wohnung, starb verarmt und alkoholkrank im Exil in Paris. Vor 125 Jahren wurde er geboren.

Er war einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts, bekannt für Romane wie "Radetzkymarsch" und "Hiob". "Joseph Roth war fünftausend Jahre alt", schrieb Heinrich Böll über ihn. "Alle Weisheit des Judentums war in ihm, dessen Humor, dessen bitterer Realismus, alle Trauer Galiziens, alle Grazie und Melancholie Austrias." Roth selbst formulierte es so: "Ich bin ein Franzose aus dem Osten, ein Humanist, ein Rationalist mit Religion, ein Katholik mit jüdischem Gehirn."

Der Autor wurde vor 125 Jahren am 2. September 1894 in Brody in Galizien geboren, das damals zu Österreich gehörte. Er starb 1939 im Exil in Paris, erst 44 Jahre als. Seine letzte Erzählung, "Die Legende vom heiligen Trinker" erschien erst nach seinem Tod.

Als Dichter und bekannter Journalist der Weimarer Republik war Roth ein Kämpfer für eine gerechtere Welt, konkret: gegen Nationalismus und Nationalsozialismus. Die Schriftstellerin Irmgard Keun erinnerte sich einst: "Ich kenne niemanden, der so unerbittlich klar, so überzeugend stark, so leidenschaftlich kompromisslos darüber und dagegen schrieb wie Roth." Die Aussichtslosigkeit dieses Kampfes trug dazu bei, aus seiner Neigung zum Trinken tödlichen Alkoholismus zu machen.

Ruheloses Leben

Als Kämpfer zeigte Roth sich schon in seinem ersten Roman "Das Spinnennetz", der 1923 in der Wiener "Arbeiterzeitung" erschien. Er porträtierte einen rechtsradikalen Karrieristen, analysierte seine Allmachtphantasien. Rasch erschienen danach die Romane "Hotel Savoy" und "Die Rebellion". Die "Frankfurter Zeitung" verpflichtete ihn als Korrespondenten, der Journalist berichtete aus Paris und der Sowjetunion.

Diese glücklichsten Jahre seines Lebens dauerten nicht lang. Friedl Reichler, die er 1922 geheiratet hatte, erkrankte 1928, vermutlich an Schizophrenie. Das Paar trennte sich. Ins Exil ging er 1933 mit Andrea Manga Bell und deren zwei Kindern. Von 1936 bis 1938 lebte er mit Irmgard Keun zusammen. Auch in seinen besten Jahren war es ein ruheloses Leben: Roth hatte praktisch nie eine Wohnung, er zog von Hotel zu Hotel, in Cafés entstanden seine Artikel und Bücher.

Die Ruhe- und Heimatlosigkeit ist auch das Thema vieler seiner Romane. Nach dem Ersten Weltkrieg, den Roth als Soldat mitgemacht hatte, war die Welt aus den Fugen. Das "Hotel Savoy" ist überfüllt mit Menschen, die irgendwie davongekommen sind, arme Teufel, aber auch reiche Banker. In "Die Flucht ohne Ende" gerät der k.u.k.-Offizier Tunda in die Oktoberrevolution, wird sogar Kommandant, und dann verschlägt es ihn bis nach Paris, immer auf der Flucht vor sich selbst.

1929 und 1932 erschienen die Romane "Hiob" und "Radetzkymarsch", die Roth endgültig in die Weltliteratur geführt haben. Seine Fähigkeit, Menschen zu zeichnen mit all ihren Freuden und Kümmernissen, in all ihren Widersprüchen, hat er hier perfektioniert.

Endzeit-Roman

Dabei schreibt er nicht raffiniert, sondern ganz einfach. Unvergesslich ist der fromme Jude Mendel Singer, der von Russland nach New York kommt. Er muss die Leiden Hiobs noch einmal erdulden, er rebelliert gegen Gott, aber am Ende begegnet ihm ein Wunder. "Man erlebt statt zu lesen", schrieb Stefan Zweig.

In "Radetzkymarsch" wird ein Offizier aus einem ruhmreichen Adelsgeschlecht, Joseph von Trotta, ein liebenswerter aber schwacher Mensch, zur Symbolfigur für den Niedergang und das Ende der Habsburger Monarchie. Ein Endzeit-Roman, vergleichbar den "Buddenbrocks".

In den 1930er Jahren aber sah Roth - in seiner Verzweiflung über den siegreichen Antichrist, wie er den Nationalsozialismus nannte - im katholischen Habsburger Kaiserreich eine Hoffnung im Kampf gegen die Barbarei. Viele Emigranten nahmen ihm diese "Wendung ins Reaktionäre" übel. Aber Roth verstand sich, so verteidigte ihn sein Freund Stefan Zweig, "als Soldat im Kampf um die europäische Kultur".

1938 fuhr er sogar noch einmal nach Wien, um sich für Otto von Habsburgs Rückkehr nach Österreich einzusetzen. Nur drei Tage vor dem Einmarsch der deutschen Truppen verließ er Wien, ein Jahr später starb er, am 27. Mai 1939.

Joseph Roths Nachruhm reicht weit: Viele seiner Erzählungen und Romane sind verfilmt worden, einige wurden für die Bühne bearbeitet. Vor allem Koen Tachelets Bühnenfassung von "Hiob" ist an vielen Theatern aufgeführt worden. Die von Roth geschaffenen Figuren und ihre Schicksale faszinieren über die Zeit hinaus.

Wilhelm Roth (epd)


Musical "Bethlehem" von Falk und Kunze interessiert 500 Chorleiter

Das neue Chormusical von den Autoren und Produzenten Michael Kunze und Dieter Falk stößt in der Musikszene auf großes Interesse. 500 Chorleiter sowie Einzelsänger meldeten sich bereits für den Vorstellungstermin zum neuen Musical "Bethlehem" an, wie die Evangelische Kirche im Rheinland als Kooperationspartner am 29. August in Düsseldorf mitteilte. Damit sei die Präsentation ausgebucht.

Der Autor Kunze und der Komponist Falk entwickelten bereits gemeinsam die erfolgreichen Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther". Am 02. September haben sie das Projekt im ISS Dome in Düsseldorf erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Weltpremiere findet ebenfalls im ISS Dome am 5. Dezember 2020 statt.

Zuvor hatten der Autor und der Komponist in dem Pop-Oratorium "Luther" das Leben und Wirken des Reformators Martin Luther auf die Bühne gebracht. Nach der Premiere im Jahr 2015 in Dortmund war das Pop-Oratorium im Jahr 2017 zum 500. Reformationsjubiläum in mehreren Städten auf Tour gewesen. Weitere lokale Aufführungen gab es in Kirchen und Stadthallen. Neben Musicalstars, einer Rockband und einem Symphonieorchester standen jeweils auch regionale Chöre mit Tausenden Sängern auf der Bühne. Auch das im Jahr 2011 gestartete Musical "Die 10 Gebote" wurde von mehreren tausend Musikern und Sängern präsentiert.



19. Europäische Kinder- und Jugendbuchmesse zum Thema "Entdecken"

Die 19. Europäische Kinder- und Jugendbuchmesse vom 26. bis 29. September in Saarbrücken steht unter dem Motto "Entdecken". Dieses Thema beziehe sich sowohl auf klassische Abenteuerbücher als auch auf die Entdeckung von Neuerscheinungen und die ästhetische Verbindung von Literatur mit anderen Kunstformen wie Musik, sagte der neue Leiter Igor Holland-Moritz am 29. August in Saarbrücken. Gleichzeitig sei es das Gegenteil von "Deckung": Dem europäischen Gedanken folgend, gehe es darum, sich zu öffnen und offen in die Welt zu schauen.

Rund 35 Autoren aus Deutschland, Frankreich, Spanien, Dänemark, Österreich, den Niederlanden, Norwegen, Russland und Großbritannien haben laut Holland-Moritz ihr Kommen zugesagt. Gastland ist in diesem Jahr Großbritannien mit fünf Autoren. Zusätzlich wird eine aus einem Comicwettbewerb zu Europa entstandene Ausstellung zu sehen sein, bei der ein Brite gewonnen hat, wie es hieß. Dies solle einen Kontrapunkt zum Brexit setzen.

Der saarländische Bildungsminister Ulrich Commerçon (SPD) ergänzte, unabhängig von Institutionen müssten die Menschen innerhalb der Europäischen Union zusammenkommen. Die Messe sei ein kleiner Beitrag, um die Bedeutung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu unterstreichen. Die Vorstandsvorsitzende Doris Pack sagte, die Einladung der britischen Autoren solle dazu beitragen, dass diese sich als Europäer fühlen könnten.




Entwicklung

Dunkle Wolken über Afrika


Unwegsame Gebiete im Kongo werden erschlossen
epd-bild/Bettina Rühl
Nicht nur am Amazonas, auch im Kongobecken wüten zerstörerische Waldbrände. Umweltschützer machen nicht zuletzt die industrielle Abholzung dafür verantwortlich, dass der zweitgrößte Regenwald der Erde immer schwächer wird.

Die Satellitenkarte der Nasa zeigt einen leidenden Kontinent: Ein tiefroter Streifen zieht sich von Angola im Südwesten über die Demokratische Republik Kongo und Sambia in der Mitte bis nach Mosambik und Tansania im Osten Afrikas. Jeder Pixel ein Feuer, die Organisation Global Forest Watch hat für die laufende Woche in den fünf Ländern fast 330.000 Brandherde gezählt - zusammen fast drei Mal so viele wie in Brasilien und Bolivien zusammen. Allerdings gibt es Unterschiede. Der wichtigste: In Südamerika steht das Herz des Amazonas in Flammen, im Kongobecken brennen vor allem die Ränder. Doch auch das ist gefährlich, warnen Umweltschützer.

"Der Klimawandel und die wachsenden industriellen Aktivitäten im Kongobecken erhöhen die Gefahr von Waldbränden", sagt Irène Wabiwa Betoko, Waldexpertin von Greenpeace in Kinshasa. So sei 2016 auf einer Konzession der deutschen Danzer-Gruppe das bisher größte in der Region beobachtete Feuer ausgebrochen. Auch das vergebene FSC-Siegel für nachhaltiges Management habe das nicht verhindern können. Die Bewirtschaftung des Kongobeckens dürfe nicht "zerstörerischen multinationalen Konzernen" überlassen werden, fordert Wabiwa Betoko deshalb.

Gefahr durch neue Siedlungen

Ein weiteres Problem ist der Bau neuer Zufahrtsstraßen, an denen dann Siedlungen entstehen. So wird der einst vollkommen unzugängliche zweitgrößte Regenwald der Welt immer verletzlicher. Subsistenzfarmer in neuen Siedlungen und am Rand des Waldes roden, indem sie die Vegetation auf ihren Feldern anzünden. Mit potenziell katastrophalen Folgen, betont Wabiwa Betoko. "Feuer in den Savannen, die von Farmern bei der Brandrodung angezündet werden, drohen außer Kontrolle zu geraten und das Kongobecken zu erreichen."

Wie schlimm die Folgen sein können, wissen die, die ihren Wald bereits verloren haben. Weiter nördlich im Sahel, an der Grenze zur Sahara, hatten Generationen von Bauern die Felder von aller Vegetation befreit. "Dort hält ein ordentlicher Bauer seine Felder traditionell frei von allem, was er nicht gepflanzt hat, nur nachlässige Bauern tun das nicht", erklärt Tony Rinaudo, der im vergangenen Jahr für seine Arbeit zur Wiederaufforstung mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet worden ist. 200 Millionen Bäume sind dank ihm inzwischen alleine in Niger gepflanzt worden.

Sein Verfahren ist einfach: Die Bauern pflegen die Triebe der einheimischen Bäume, anstatt sie wie bisher auszureißen oder durch importierte Arten zu ersetzen. Die, die mitmachen, werden auch bei Dürren mit besserer Ernte belohnt, mit Schatten auf den Feldern und kostenlosem Futter für das Vieh. Monokulturen mit Millionen Bäumen, vor allem Eukalyptus, die mit ausländischem Geld bis heute in Afrika gepflanzt werden, können all das nicht und gefährden die Natur sogar - etwa, indem sie das spärliche Grundwasser vollends aufsaugen.

Eine Milliarde neue Bäume in Äthiopien

Andere Länder folgen dem Beispiel der Sahelstaaten mittlerweile. So hat Äthiopiens Regierung angekündigt, jährlich eine Milliarde Bäume aufzuforsten, bis 2030 sollen 50 Millionen Hektar Fläche zu Wald werden. Die Kulturnation am Horn von Afrika hat ihren Wald über Jahrhunderte abgeholzt, ähnlich wie die Europäer. Jetzt steuert sie um.

Die grüne Lunge des Kongobeckens wird das aber nicht ersetzen können, warnt Rinaudo. Dort gehen jährlich 15.000 Quadratkilometer Wald alleine durch Einschlag verloren, das entspricht der Fläche Schleswig-Holsteins. Auch deshalb hat die jüngste UN-Artenschutzkonferenz in Genf diverse Hartholzarten unter Schutz gestellt, die auf den Märkten Europas und Asiens besonders begehrt sind. Dass sie und viele im Kongobecken endemische Tierarten dennoch begrenzt gehandelt werden können, hält Craig Hoover, der der zuständigen UN-Kommission vorsitzt, für notwendig.

"Am Ende des Tages sind die Menschen, die mit und von den geschützten Arten leben, diejenigen, die sie am besten schützen können", betont er. Gegen Raubbau und Abholzung, und damit auch gegen die Waldbrände, die Afrikas grüne Lunge in Flammen aufgehen lassen.

Marc Engelhardt (epd)


Ein Handelspakt als Brandbeschleuniger?

Der Handelspakt CETA zwischen der EU und Kanada trieb viele Tausend Demonstranten auf die Straße. Angesichts der Waldbrände im Amazonas-Gebiet gerät jetzt das EU-Mercosur-Abkommen ins Visier der Zivilgesellschaft.

Auf 100.000 Unterstützer steuerte die Petition "Rettet den Amazonas" zum Wochenende zu. Eine Hauptforderung des an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gerichteten Aufrufs im Internet lautet: Die Bundesregierung soll das EU-Handelsabkommen mit den Mercosur-Staaten blockieren. Anlass sind die gewaltigen Brände im Amazonas-Gebiet, vor allem im größten Mercosur-Land Brasilien.

Wie beides zusammenhängen könnte, macht der Grünen-Europaabgeordnete Martin Häusling deutlich. Die Feuer seien "Teil der Politik" des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, erklärte Häusling. "Brasilien schafft Platz für Weideflächen und Sojaplantagen - denn Europa soll beliefert werden mit dem Fleisch von 600.000 Rindern sowie unzähligen Hühnern."

Ende Juni hatten die EU und Brasilien sowie Argentinien, Paraguay und Uruguay eine politische Einigung über das Abkommen verkündet, genau zwanzig Jahre nach Beginn der Verhandlungen. Positiv reagierten wichtige Wirtschaftsverbände wie der Bundesverband der Deutschen Industrie und der Dachverband Business Europe. Der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau nannte die Einigung "ein deutliches Zeichen für den freien Handel in Zeiten des zunehmenden Protektionismus".

Zölle erschweren Exporte

Tatsächlich machen derzeit hohe Zölle Exporte in die Mercosur-Länder schwer - auf Autos aus Europa gilt laut EU-Kommission zum Beispiel ein Satz von 35 Prozent. Durch das Abkommen sollen nun für die Europäer nach und nach über vier Milliarden Euro Zölle jährlich verschwinden. Im Gegenzug öffnet sich Europa unter anderem für landwirtschaftliche Güter aus Südamerika.

Umwelt, Klima und soziale Nachhaltigkeit würden bei all dem großgeschrieben, betont die EU-Kommission. Zwar wird der endgültige Vertragstext gerade erst erarbeitet und ist deshalb nicht öffentlich. Laut einer Zusammenfassung durch die Brüsseler Behörde enthält er aber unter anderem ein Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung. Es halte fest, dass der verstärkte Handel "nicht zulasten der Umwelt oder Arbeitsbedingungen gehen" solle.

Ein spezieller Artikel verpflichtet laut Zusammenfassung beide Seiten, das Pariser Klimaabkommen "wirksam umzusetzen". Zudem enthalte der Vertrag Bekenntnisse zum Kampf gegen Abholzung. Hier erwähnt die Zusammenfassung Initiativen des Privatsektors, die "diese Bekenntnisse stärken", beispielsweise kein Fleisch von Farmen "in kürzlich abgeholzten Flächen" zu beziehen.

Trotzdem warnte ein Bündnis von europäischen Wissenschaftlern und zwei brasilianischen Indigenen-Organisationen schon im April: Die EU müsse das Abkommen an Bedingungen koppeln, um Menschenrechte und Umweltschutz in Brasilien zu gewährleisten. Mitunterzeichner Tobias Kümmerle erklärt: "Wir halten das Abkommen nicht prinzipiell für schlecht, aber es kommt auf die Einzelheiten und die Umsetzung an." Es sei zum Beispiel sehr schwer, genau nachzuverfolgen, ob Fleischlieferungen aus kürzlich abgeholzten Gegenden stammen. Darüber hinaus kritisiert der Geographie-Professor der Humboldt-Universität zu Berlin die vage Wortwahl der Zusammenfassung. Es mache für die Bewahrung von Wald einen großen Unterschied, ob "kürzlich abgeholzt" dreißig oder fünf Jahre umfasse.

Bedenken im Europaparlament

Bedenken hegen auch EU-Parlamentarier. Mehr als 60 Abgeordnete der scheidenden und der neu gewählten Volksversammlung forderten die EU-Kommission am 20. Juni auf, den Pakt zunächst nicht abzuschließen. Erst müsse unter anderem die Wirksamkeit des Nachhaltigkeits-Kapitels untersucht werden. Das Parlament muss dem Text ebenso wie der EU-Ministerrat zustimmen. Dabei ist das Handelsabkommen Teil eines größeren Assoziierungsabkommens. Daher ist gut möglich, dass am Ende zusätzlich jeder EU-Mitgliedstaat einzeln grünes Licht geben müsste.

Der CDU-Europaabgeordnete Daniel Caspary hält unterdessen an dem Abkommen fest - gerade angesichts der Brände. "Die Lage im Amazonas-Gebiet ist verheerend", erklärte Caspary. "Es würde aber niemandem helfen, nun das geplante Handelsabkommen zu verhindern", argumentiert der Chef der CDU/CSU-Gruppe im Parlament. Im Gegenteil enthalte gerade das Abkommen verbindliche Vereinbarungen zu Klima-, Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Auf der Grundlage könne man "mehr erreichen als durch Blockade und Verhinderung".

Phillipp Saure (epd)


Ökologie-Experte: Brände in Brasilien verheerend fürs Klima

Die Waldbrände im Amazonasgebiet in Brasilien haben nach Einschätzung des Ökologen Constantin Zohner verheerende Konsequenzen für das weltweite Klima. Die Feuersbrünste in dem ökologisch wichtigsten Waldgebiet der Welt setzten einen Teufelskreis in Gang, sagte der Wissenschaftler der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Das wird langfristig alle Menschen auf dem Planeten treffen", sagte Zohner.

Zunächst würden durch die Feuer riesige Mengen des klimaschädlichen Kohlendioxids freigesetzt. Gleichzeitig schrumpfe die Waldfläche, die Kohlendioxid aus der Atmosphäre zieht und speichert, immer weiter. "Die freiwerdenden Flächen werden nicht wieder aufgeforstet, sondern landwirtschaftlich genutzt", sagte der deutsche Forscher. "Weniger Regenwald bedeutet aber natürlich auch weniger Niederschlag." Dürren und Trockenheit seien die Folgen. Dadurch werde das Wachstum der Flora weiter behindert. Zudem haben die Böden in den Tropen laut dem Wissenschaftler weniger Nährstoff. Dieser Umstand wirke sich zusätzlich nachteilig aus.

Normalerweise und ohne menschliche Eingriffe dauere es 50 bis 100 Jahre, bis ein zusammenhängender Wald auf einer freien Fläche entstehe, fügte Zohner hinzu. Bis zur Mitte des Jahrhunderts werde sich das Klima aber so drastisch ändern, dass im Amazonasgebiet Bäume wie im bisherigen Tempo und Ausmaß nicht mehr wachsen werden, erläuterte der Forscher.

"Jetzt jedes Jahr"

Bislang sei es nicht möglich, die negativen Effekte der Feuer im Amazonasgebiet genau wissenschaftlich zu quantifizieren. Es sei aber erwiesen, dass Brasiliens Wälder die größte Speicherkapazität für Kohlendioxid weltweit haben. "Brasilien ist klar die Nummer eins", hielt Zohner fest. Wichtig für die Absorbierung des Kohlendioxids seien auch die USA, Kanada, Indonesien, Russland und die Demokratische Republik Kongo.

Daten der US-Raumfahrtbehörde Nasa zeigten, dass in Brasilien Waldbrände des aktuellen Ausmaßes in früheren Zeiten nur sehr selten stattfanden. "Jetzt aber erleben wir sie jedes Jahr", erklärte der Ökologe.

Zohner war an einer ETH-Studie über Aufforstung beteiligt. Danach ist das weltweite Pflanzen von Bäumen eines der effektivsten Mittel gegen den Klimawandel. Die Wissenschaftler entwickelten eine Landkarte, die genau zeigt, wo wie viele Bäume gepflanzt werden könnten.

epd-Gespräch: Jan Dirk Herbermann


Bangladesch streicht das Wort "Jungfrau" von Heiratsurkunde

Bangladesch muss den Zusatz "Jungfrau" von der Heiratsurkunde streichen. Ein Gericht in der Hauptstadt Dhaka urteilte, das Wort "Kumari" (Jungfrau) vor dem Namen der Braut dürfe nicht mehr länger gebraucht werden, wie lokale Medien am 27. August berichteten. "Das Wort "unverheiratet" soll anstelle von "Kumari" benutzt werden", erklärten die Richter in Antwort auf die Petition einer Menschenrechtsorganisation aus dem Jahr 2014. Der "Bangladesh Legal Aid and Services Trust" hatte in seiner Petition an das Gericht erklärt, die Bezeichnung sei diskriminierend und verletzte die Privatsphäre von Frauen.

Die anderen beiden Optionen für Frauen auf dem Formular zur Registrierung einer Eheschließung sind verwitwet und geschieden. Das Gericht befand weiter, dass künftig auch Männer ihren Zivilstand auf dem Formular angeben müssen. Bislang galt diese Vorschrift nur für Frauen. Das Urteil soll umgesetzt werden, sobald die Entscheidung des Gerichts amtlich bekanntgegeben wurde.

Die meisten Ehen vor dem 18. Geburtstag

Der mehrheitlich muslimische Staat gehört laut Unicef zu den Ländern mit den meisten Kinderehen. 59 Prozent aller Mädchen heiraten vor ihrem 18. Geburtstag. Jungfräulichkeit hat in der extrem konservativen Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert. Viele Eltern erhoffen sich mit einer raschen Verheiratung ihre Töchter vor Vergewaltigungen, sexueller Belästigung und romantischen Abenteuern zu schützen.



Diakonie Katastrophenhilfe: Krieg bereitet Ebola und Cholera den Weg

Krankheiten wie Ebola und Cholera breiten sich laut Diakonie Katastrophenhilfe in Kriegsgebieten dramatisch aus. Die Konflikte im Kongo und im Jemen seien dafür aktuelle Beispiele, sagte die Präsidentin der Hilfsorganisation, Cornelia Füllkrug-Weitzel, am 29. August bei der Vorstellung des Jahresberichts in Berlin. "Menschen, die schon vorher nicht genügend zu essen haben, sind geschwächt und dadurch sehr viel anfälliger", betonte sie. Unter diesen Umständen könnten sich die Erreger rasend schnell verbreiten.

Im Jemen leiden nach Zahlen der Diakonie Katastrophenhilfe mehr als 20 Millionen Menschen Hunger und 18 Millionen haben keinen sicheren Zugang zu Trinkwasser oder sanitären Einrichtungen. Seit Beginn des Krieges 2015 seien mehr als 3.000 Menschen an Cholera gestorben. Und allein im ersten Halbjahr 2019 habe es fast eine halbe Million gemeldeter Verdachtsfälle gegeben.

Flucht erschwert Identifizierung von Kranken

Die Organisation will in den kommenden Jahren einen ihrer Arbeitsschwerpunkte auf den Jemen legen und hat vor wenigen Wochen ein eigenes Büro in Aden eröffnet. Laut Füllkrug-Weitzel leistet die Diakonie Katastrophenhilfe in dem arabischen Land Ernährungshilfe und arbeitet an der Prävention lebensbedrohlicher Infektionskrankheiten.

In der Demokratischen Republik Kongo habe man es indes mit dem ersten Ebola-Ausbruch überhaupt in einem Konfliktgebiet zu tun. "Angriffe verschiedener Milizen zwingen die Menschen immer wieder zur Flucht und erschweren, dass unter den vertriebenen Menschen neue Infizierte gefunden und behandelt werden können", beschrieb der Leiter des dortigen Büros des evangelischen Hilfswerks, Guido Krauss, die Lage. "Dadurch beschleunigt sich die Ausbreitung von Ebola."

Die Diakonie Katastrophenhilfe hat nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr in 41 Ländern Hilfe geleistet und dafür etwa 37 Millionen Euro bereitgestellt. Die meisten Hilfen flossen demnach nach Syrien und in die Nachbarländer.



Tansania will 200.000 burundische Flüchtlinge abschieben

Tansania plant die Abschiebung von rund 200.000 aus Burundi geflüchteten Menschen. Die Flüchtlinge hätten bis zum 1. Oktober Zeit, das Land zu verlassen, andernfalls würden sie dazu gezwungen, sagte der tansanische Innenminister Kangi Lugola dem britischen Sender BBC laut einem Bericht vom 28. August. In Burundi ist es im Zuge der umstrittenen Wiederwahl von Präsident Pierre Nkurunziza 2015 wiederholt zu Gewalt und Kämpfen gekommen. Hunderttausende Menschen wurden vertrieben oder sind in die Nachbarländer geflohen.

Lugola erklärte, Burundi sei wieder friedlich und die Geflohenen könnten zurückkehren. Medienberichten zufolge haben die Regierungen von Tansania und Burundi in den vergangenen Tagen ein Abkommen geschlossen, das ab Oktober die Rückführung von 2.000 Menschen pro Woche vorsieht. In Burundi herrscht eine politische Krise, die durch die verfassungsrechtlich fragwürdige Wiederwahl Nkurunzizas ausgelöst wurde. Er regiert seit 2005 und geht hart gegen Kritiker vor, die Burundi auf dem Weg in eine Diktatur sehen.



Unicef fordert Schutz von Kindern in griechischen Flüchtlingslagern

Nach dem Tod eines Jugendlichen in einem Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos fordert Unicef die EU-Staaten auf, unbegleitete Flüchtlingskinder besser zu schützen. Mehr als 1.100 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge hielten sich in Aufnahme- und Registrierungszentren auf den griechischen Inseln oder in Gefängnissen im ganzen Land auf, erklärte das UN-Kinderhilfswerk am 29. August in Köln. Das markiere einen neuen Höchststand seit Anfang 2016. In den unsicheren und überfüllten Lagern sei der Schutz von Kindern nicht sichergestellt.

Bei einer Messerattacke war nach einem Streit im Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos ein 15-jähriger Afghane getötet worden, zwei weitere Jugendliche wurden verletzt. Ein afghanischer Jugendlicher wurde als Tatverdächtiger festgenommen.

"Diese jüngste Tragödie erinnert uns schmerzlich daran, dass die Situation in den Aufnahmezentren in Griechenland an einem kritischen Punkt ist", sagte die Unicef-Regionaldirektorin für Europa und Zentralasien, Afshan Khan. "Wir rufen die griechischen Behörden auf, Kinder auf das Festland zu überführen und sie dort angemessen unterzubringen." Khan rief die EU-Staaten auf, sich zu Umsiedlungen von unbegleiteten und von ihren Familien getrennten Kindern zu verpflichten und Familienzusammenführungen zu beschleunigen. Die europäischen Länder, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen, müssten zudem stärker finanziell unterstützt werden, forderte Unicef.

Das Aufnahmezentrum in Moria ist den Angaben zufolge für 3.000 Menschen ausgelegt. Zurzeit leben dort aber mehr als 8.700 Menschen, darunter 3.000 Kinder. In einer eigenen Sektion des Lagers sind laut Unicef aktuell mehr als 520 unbegleitete Minderjährige untergebracht, obwohl der Bereich nur für 160 ausgelegt ist.

Die Überlastung führe dazu, dass Kinder der Gefahr von Gewalt und Missbrauch ausgesetzt seien und nur eingeschränkten Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und psychosozialer Unterstützung hätten, beklagte das Hilfswerk. Häufig müssten sie zudem länger als die gesetzlich vorgeschriebenen 25 Tage in dem Lager bleiben, da angemessene Unterkünfte auf dem Festland belegt seien.