Frankfurt a.M./Münster (epd). "T4" war streng geheim. Zunächst. Doch dann schickte der Brandenburger Pfarrer Paul Gerhard Braune am 9. Juli 1940 seine "Denkschrift gegen die Krankenmorde" an die Reichskanzlei. Er machte das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten öffentlich, das vor 80 Jahren im September 1939 begonnen hatte. Am 30. August erinnerten Christen und Juden in Berlin mit einer Gedenkfeier und einem Gottesdienst an die Opfer.
Die beiden großen Kirchen hatten sich lange nicht zur Euthanasie geäußert. "Kein einziger kirchlicher Funktionsträger ist öffentlich gegen den Massenmord aufgetreten", sagt der ehemalige Professor für kirchliche Zeitgeschichte, Jochen-Christoph Kaiser. "Die Krankenmordaktionen in ihrer konkreten Durchführung blieben immer im Dunkel der offiziellen NS-Politik, wenngleich manches durchsickerte, aber nur 'hinter vorgehaltener Hand' weitergesagt wurde", sagt Kaiser.
Berüchtigte graue Busse
Braune durchbrach das Schweigen. Er hatte 1922 die Leitung der Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal bei Berlin übernommen, ein Schutzraum für geistig Behinderte. Anfangs durchaus offen für das NS-System, stand Braune bis zu seinem Tod am 19. September 1954 an deren Spitze.
Persönlich konfrontiert wurde Braune mit der "T4-Aktion" im Mai 1940: Aus dem Mädchenheim "Gottesschutz" in Erkner, das zu seiner Einrichtung gehörte, sollten 25 "schwachsinnige" Kinder und "anfallkranke" junge Frauen abgeholt werden. Einer der berüchtigten grauen Busse, die die Euthanasieopfer in die Tötungsanstalten abtransportieren sollten, wartete bereits vor dem Haus. Doch Braune und die leitende Diakonisse Elisabeth Schwarzkopf gaben die Menschen nicht heraus.
Systematisches Tötungsprogramm
Begonnen hatte das geheime Morden im Südwesten des Reiches. Nachdem Adolf Hitler die "Aktion T4" angeordnet hatte, benannt nach der Anschrift der Planungszentrale an der Tiergartengartenstrasse 4 in Berlin, wurde das württembergische Heim Grafeneck beschlagnahmt. Es diente fortan wie fünf weitere Anstalten der Ermordung Kranker und Behinderter, die eigens dorthin verlegt wurden.
Die Angehörigen wurden stets mit gleichlautenden Nachrichten über den Tod informiert: Neben einer vorgeschobenen Todesursache enthielten sie den Hinweis, wegen Seuchengefahr hätte der Leichnam sogleich eingeäschert werden müssen. Braune ging den Dingen seit März 1940 auf den Grund. Schnell fand er heraus, dass ein systematisches Tötungsprogramm angelaufen war.
Regime schlug zurück
Er verfasste seine zwölfseitige Denkschrift gegen die Krankenmorde. Auf die Übergabe folgten zahlreiche Gespräche mit Parteigrößen. Sie wurden geführt in der irrigen Annahme, "durch Appelle an Moral und Vernunft der Staatsdiener eine Beendigung der Euthanasie zu erwirken", wie Jan Cantow, Historiker und Archivar der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal, schreibt.
Braune benannte drei Tötungsanstalten: Grafeneck, Brandenburg a. d. Havel und Hartheim. Und er veröffentlichte die Namen, Adressen und geschätzten Todeszeitpunkte von mehr als 25 Patienten. Sein Fazit: "Es handelt sich hier also um ein bewusstes, planmäßiges Vorgehen zur Ausmerzung aller derer, die geisteskrank oder sonst gemeinschaftsunfähig sind."
Das Regime schlug am 12. August 1940 zurück: Gestapo-Beamte durchsuchten Braunes Haus, beschlagnahmten Akten und nahmen ihn fest. Er habe "staatliche Maßnahmen in unverantwortlicher Weise sabotiert". Am 31. Oktober 1940 kam Braune wieder frei. Zuvor musste er eine Erklärung unterzeichnen, "nichts mehr gegen den Staat und die Partei" zu unternehmen.
"Wirkungslos"
Doch der Mantel des Schweigens war da längst zerrissen: Am 3. August 1941 attackierte der katholische Bischof in Münster, Clemens August Graf von Galen (1878-1946), in einer berühmt gewordenen Predigt das Mordprogramm: "Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den 'unproduktiven' Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden. (...) Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher."
Ob die kirchlichen Proteste wirklich zum offiziellen Stopp der Tötungen am 24. August 1941 führten, ist in der Forschung umstritten. "Die zahlreichen vertraulichen Eingaben kirchlicher Würdenträger an die nationalsozialistische Regierung zeugen zwar von persönlicher Integrität, blieben aber völlig wirkungslos", urteilt der Historiker Hans-Walter Schmuhl.
Dennoch wurden die Tötungseinrichtungen entweder geschlossen oder umfunktioniert. Das Morden geschah fortan dezentral, dauerte aber bis Kriegsende an. Nach Schätzungen wurden zwischen 200.000 und 300.000 Menschen getötet.