Die Sonne ist noch nicht aufgegangen an diesem Sonntag (1. September) im polnischen Wielun. Einige der mehreren tausend Menschen auf dem Marktplatz haben Kerzen dabei. Wenige schwenken polnische Fahnen. Um 4.40 Uhr gellen Alarmsirenen. Der schrille Ton erinnert an die ersten Bombenabwürfe im Zweiten Weltkrieg und erzeugt kalten Schauer, trotz der milden Sommernacht.

Um 5.30 Uhr spricht der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede drei Sätze auf Polnisch. "Ich verneige mich vor den Opfern des Überfalls auf Wielun", sagt er in der Sprache der Nachbarn, die vor 80 Jahren zu Kriegsbeginn Ziel des ersten Angriffs deutscher Sturzkampfbomber wurden. Und der 63-jährige Steinmeier fügt hinzu: "Ich verneige mich vor den polnischen Opfern der deutschen Gewaltherrschaft. Und ich bitte um Vergebung."

Mindestens 1.000 Frauen, Männer und Kinder kamen am 1. September 1939 in Wielun ums Leben - in einer Stadt, die damals rund 15.000 Einwohner zählte. Schon am ersten Tag des Zweiten Weltkriegs wurde erkennbar, was ihn zur Jahrhundertkatastrophe machen sollte: Zerstörung und millionenfacher Tod durch Luftangriffe. Eine militärstrategische Bedeutung war hinter dem Bombardement von Wielun, rund 100 Kilometer südwestlich von Lodz gelegen, nicht zu erkennen.

"Terrorangriff"

Vermutlich ging es den Nationalsozialisten einzig und allein darum, die Zerstörungskraft ihrer Bomber zu testen und möglichst viele Zivilisten zu töten. Zu den Zielen in Wielun zählten ein Krankenhaus und eine Synagoge. "Es war ein Kriegsverbrechen", sagt der polnische Präsident Andrzej Duda, der die Gräuel des Angriffs plastisch schildert. Selbst ein rotes Kreuz auf dem Dach des Krankenhauses habe die Deutschen nicht stoppen können. 32 Menschen seien bei dem Angriff auf das Hospital getötet worden, darunter 26 Kranke. Wie auch Steinmeier spricht Duda von einem "Terrorangriff".

"Wielun muss in unseren Köpfen und in unseren Herzen sein", sagt der deutsche Präsident. Es sei an der Zeit, dass Wielun und viele andere dem Erdboden gleichgemachte Städte und Dörfer Polens ihren Platz neben anderen Erinnerungsorten deutscher Verbrechen fänden.

Der 47-jährige Duda hatte sich im vergangenen Jahr mit Steinmeier verständigt, zu historischer Stunde in Wielun insbesondere die zivilen Kriegsopfer zu ehren. Im Anschluss trafen sie einige der letzten verbliebenen Zeitzeugen des Angriffs, bevor sie zur zentralen Gedenkfeier nach Warschau weiterreisten, an der Staatsgäste aus rund 40 Ländern teilnahmen, unter ihnen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und US-Vizepräsident Mike Pence. Die Veranstaltung dort war von einem strengen Protokoll und scharfen Sicherheitsvorkehrungen geprägt.

"Moralische Wiedergutmachung"

Ganz anders in Wielun: Duda richtet dort ungewöhnlich persönliche Worte an Steinmeier. "Dass sie hier sind, ist eine Form der moralischen Wiedergutmachung", sagt er. Für die deutschen Besucher müsse es schwer sein, an diesem Tag der Opfer jener Verbrechen zu gedenken, die von dem Land ihrer Väter und Großväter ausgingen. Doch nur Wahrheit könne zu Vergebung und Freundschaft führen.

Der deutsche Präsident wiederum lässt am 1. September 2019 keine Interpretationen zu, wie es zu der Jahrhundertkatastrophe des Zweiten Weltkrieges kommen konnte, in dem rund 60 Millionen Menschen starben. "In dieser Stunde vor 80 Jahren brach das Inferno über Wielun herein, entfacht von deutschem Rassenwahn und Vernichtungswillen", lautet der erste Satz von Steinmeiers Rede. Deutsche hätten in Polen ein Menschheitsverbrechen verübt. "Wer behauptet, das sei vergangen und vorbei, wer erklärt, die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten über Europa sei eine Marginalie der deutschen Geschichte, der richtet sich selbst", sagt Steinmeier.

Das von der polnischen Regierungspartei PiS gesetzte Thema Reparationszahlungen umschiffen Duda und Steinmeier an diesem Gedenktag. Der Bundespräsident stellt aber klar: "Unrecht und erlittenes Leid können wir nicht ungeschehen machen. Wir können es auch nicht aufrechnen."