Kirchen

Streitbarer Kämpfer zieht sich zurück


Kardinal Reinhard Marx
epd-bild/Annette Zoepf
Der Münchner Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, gibt den Vorsitz der Deutschen Bischofskonferenz ab. Im März hätte er sich wiederwählen lassen können. Seine Ankündigung kommt überraschend, denn Marx hat gerade viel Neues angestoßen.

"Die einen sagen: Der geht zu weit. Die anderen: Der geht nicht weit genug." So hat der Münchner Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, das Dilemma seiner Amtszeit kürzlich auf den Punkt gebracht. Für viele Gläubige an der Basis der katholischen Kirche ist Marx noch immer zu konservativ. Für manche seiner Bischofskollegen in der katholischen Deutschen Bischofskonferenz ist ihr Vorsitzender zu liberal. Am 11. Februar hat Marx bekanntgegeben, dass er nicht für eine zweite Amtszeit als Vorsitzender der Bischofskonferenz kandidieren will. Der 66-Jährige hätte sich auf der Frühjahrsvollversammlung im März in Mainz ein zweites Mal wählen lassen können.

Priesterweihe für Frauen, Segnung homosexueller Paare oder die Frage des gemeinsamen Abendmahls mit Protestanten - es sind die Themen, für die Marx von beiden Seiten in der Kritik steht. In der Frage der Priesterweihe für Frauen folgt er der Linie des Vatikans, der diese bis auf weiteres ausschließt. Marx selbst hält die Diskussion jedoch nicht für abgeschlossen.

Gegenwind

Er ist gegen die Homo-Ehe, wendet sich aber gegen die Diskriminierung von Homosexuellen. Beim gemeinsamen Abendmahl greift er einer Entscheidung in Rom nicht vor. Doch dass für nichtkatholische Ehepartner der Empfang der Eucharistie geöffnet wurde, ist wesentlich auf sein Bestreben zurückzuführen.

Marx steht auch für das Dilemma, in dem sich die katholische Kirche befindet. Sie muss sich ändern, möchte aber die traditionelle Lehre nicht moderner Beliebigkeit opfern. Dass der Missbrauchsskandal und seine Folgen auch eine Chance für dringend nötige Reformen ist, hat der Kardinal erkannt. Innerhalb eines Jahres hat er zusammen mit den katholischen Laien einen Reformdialog organisiert, in dem die Streitthemen auf den Tisch kommen: Klerikaler Machtmissbrauch, die Ehelosigkeit von Priestern, Frauen in kirchlichen Ämtern und die katholische Sexualmoral. Der Synodale Weg soll Impulse für Reformen geben - und macht gleichzeitig deutlich, wie stark der Gegenwind ist, in dem der bärtige Zigarrenraucher Marx permanent steht.

Konservative Kräfte im Vatikan versuchten, Marx' Satzungsentwurf zu verhindern. Der Versuch scheiterte. Die Satzung ging mit Änderungen durch. Der Kölner Erzbischof Kardinal Rainer Maria Woelki erklärte später, er habe der Satzung zwar nicht zugestimmt, gehe den Synodalen Weg aber unter Vorbehalt mit. Bei so viel Wind ist es für Marx schwierig geworden, die Mühlenräder immer in die richtige Richtung zu wenden. Der Verzicht auf die Wiederwahl kommt zu einem Zeitpunkt, als er viel Neues angestoßen hat. Der Synodale Weg dauert noch bis 2021.

Missbrauchsskandal

Als Marx 2014 zum Vorsitzenden der Bischofskonferenz gewählt wird, hat er eine "lange Reise durch das katholische Deutschland" hinter sich, wie er selbst sagt. Als Sohn eines Schlossermeisters in Geseke geboren, studiert er katholische Theologie und Philosophie. Früh profiliert er sich als Sozialethiker. 1996 wird er Weihbischof von Paderborn, Ende 2001 Bischof von Trier. Marx ist mit 48 Jahren jüngster Diözesanbischof in Deutschland. 2008 übernimmt er als erster Nichtbayer das Bistum von München und Freising, 2010 ernennt ihn Papst Benedikt XVI. zum Kardinal.

Im selben Jahr werden Fälle sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche bekannt. Durch eine 2018 veröffentlichte Studie, die die Bischofskonferenz unter Marx in Auftrag gegeben hatte, weiß man heute: Zwischen 1946 und 2014 wurden 3.677 überwiegend männliche Minderjährige zum Opfer, mindestens 1.670 Kleriker zu Tätern.

Ökumene

Auf der Frühjahrsvollversammlung im März soll auch über die Frage der Entschädigungsleistungen diskutiert werden. Marx versprach erst Anfang Februar, sich dafür einzusetzen, dass man in diesem Jahr noch zu einer Entscheidung kommt.

In der Ökumene dominiert das enge Miteinander zwischen dem Münchner Kardinal und dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und bayerischen Landesbischof, Heinrich Bedford-Strohm, das öffentliche Bild. Bei allen innerkirchlichen Debatten verliert Marx nicht den Blick für drängende gesellschaftliche Themen. Die Seenotrettung ist dem Theologen mit kräftiger Statur ebenso ein Anliegen wie seinem Duz-Freund Bedford-Strohm. Jüngst spendete Marx aus Mitteln des Erzbistums 50.000 Euro für das geplante Seenotrettungsschiff der EKD. Damit ist er gegen den Strom unterwegs: Die Bischofskonferenz hatte von Beginn an erklärt, dem Projekt nicht beitreten zu wollen.

Franziska Hein (epd)


"Echte Freundschaft" - Bedford-Strohm bedauert Rückzug


Marx und Bedford-Strohm beim Kirchentag in Berlin 2017.
epd-bild / Thomas Lohnes

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, hat sein Bedauern über den baldigen Rückzug von Kardinal Reinhard Marx von der Spitze der katholischen Deutschen Bischofskonferenz zum Ausdruck gebracht. "Vor seiner Entscheidung habe ich großen Respekt", erklärte Bedford-Strohm am 11. Februar zum angekündigten Verzicht des Münchner Erzbischofs auf eine Kandidatur für eine weitere Amtszeit als Bischofskonferenz-Vorsitzender. Mit Marx verbinde ihn nicht nur eine langjährige vertrauensvolle Zusammenarbeit, "zwischen uns ist auch eine echte Freundschaft entstanden. Für beides bin ich zutiefst dankbar".

"Die tiefe Verbundenheit zwischen unseren Kirchen ist insbesondere in der Zeit der Vorbereitungen und Durchführung des 500-jährigen Reformationsjubiläums noch weitergewachsen", fügte Bedford-Strohm hinzu, der auch Landesbischof in Bayern ist: "Das Gedenkjahr 2017 haben wir gemeinsam in ökumenischer Übereinstimmung als großes Christusfest gefeiert."

Viel Vertrauen

Er blicke voller Zuversicht auch auf den aktuellen Strategieprozess, den Kardinal Marx maßgeblich mit auf den Weg gebracht habe, sagte Bedford-Strohm mit Blick auf den Synodalen Weg der katholischen Kirche. Die Beziehungen der EKD zur Deutschen Bischofskonferenz seien von so viel Vertrauen geprägt, dass die enge Verbindung über die aktive Zeit von Kardinal Marx als Vorsitzender der Bischofskonferenz hinaus weitertragen werde. "Ich freue mich auf einen umso intensiveren Kontakt mit Reinhard Marx in Bayern", erklärte der EKD-Ratsvorsitzende.



Enttäuschte Hoffnungen: Papst weicht Zölibats-Frage aus


Papst Franziskus feierte im Oktober zum Abschluss der Amazonas-Synode eine Messe im Petersdom (Archiv).
epd-bild/Agenzia Romano Siciliani
Nach dem Streit um die Weihe verheirateter Männer als Mittel gegen extremen Priestermangel schreckt der Papst vor einer Lockerung des Zölibats am Ende zurück. In seinem Amazonas-Text nimmt er Umwelt- und Menschenrechtsthemen in den Fokus.

Papst Franziskus hat Hoffnungen auf eine Reform beim Priesterzölibat für abgelegene Gemeinden in Amazonien enttäuscht. In seinem am 12. Februar veröffentlichten nachsynodalen Apostolischen Schreiben zur Amazonas-Synode im Oktober erwähnt er verheiratete Priester mit keinem Wort. Vor der Veröffentlichung hatten viele in der Kirche erwartet, dass der Papst verheiratete Priester, sogenannte viri probati, zulassen könnte, um dem eklatanten Priestermangel in der Region zu begegnen.

In dem knapp 30-seitigen Schreiben "Querida Amazonia" (Das geliebte Amazonien) betont Franziskus die Einzigartigkeit der Priester, die allein an den entlegensten Orten die Eucharistie, das katholische Abendmahl, spenden. Er gesteht ein, dass in manchen Gegenden deshalb "manchmal jahrzehntelang" kein Priester vorbeikommt. Im Vorfeld hatte Franziskus betont, die katholische Kirche müsse für diese Fälle die bestehenden Ausnahmeregelungen für verheiratete Priester ausdehnen. Offenbar schätzt er jetzt das Risiko zu groß ein, durch eine eindeutige Stellungnahme zugunsten verheirateter Priester eine Kirchenspaltung herbeizuführen.

Marx: Diskussion noch nicht beendet

Der päpstliche Mediendirektor, der in den Vatikanmedien für die Interpretation von offiziellen Schreiben zuständig ist, betonte, dass es sehr wohl Möglichkeiten für eine Lockerung des Zölibats gibt. Die "vollkommene und ständige Enthaltsamkeit" sei "nicht vom Wesen des Priestertums selbst gefordert", zitierte er das Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils "Presbyterorum ordinis" über das Priestertum von 1965.

Die der katholischen Kirche zugehörige maronitische Kirche im Libanon sieht bereits verheiratete Priester vor. Benedikt XVI. bereitete als amtierender Papst auch verheirateten anglikanischen Geistlichen samt Familie den Weg in die katholische Kirche. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, sagte am 12. Februar in Bonn, die Diskussion sei noch nicht beendet.

Auch einen weiteren Reformvorschlag gegen den Priestermangel setzte Franziskus nicht um: Obwohl er anerkennt, dass Frauen im Amazonasgebiet viele Gemeinden führen, schloss er bereits in der Vergangenheit Weihen für sie aus. Dies würde nur zu einer "Klerikalisierung der Frauen" führen und den großen Wert dessen schmälern, was sie geleistet hätten, schreibt das Kirchenoberhaupt in seinem Apostolischen Schreiben.

"Korruptionsnetz"

Stattdessen schreibt der Papst auf vielen Seiten über die fortschreitende Zerstörung und Ausbeutung der Amazonasregion. Er prangert die Macht internationaler Konzerne an, die unter Mithilfe von korrupten Politikern die Umwelt durch Abholzungen, Bergbau und Erdölförderung zerstörten. Wegen der Bedeutung, die die Region für das weltweite Klima habe, werde mit der dortigen Umweltzerstörung zugleich das "Gleichgewicht des Planeten" bedroht.

Auch die katholische Kirche nimmt Franziskus dabei nicht von Kritik aus. Ihre Mitglieder seien "Teil des Korruptionsnetzes" gewesen, gesteht er ein. Sie hätten sich mitunter Stillschweigen mit Unterstützung für kirchliche Hilfswerke bezahlen lassen.

Der Streit um den Zölibat ließ die übrigen Themen der Amazonassynode bereits während der Bischofsversammlung im Herbst in den Hintergrund treten. Die Zerstörung des Regenwalds ist jenseits aller Glaubensfragen durch ihre Auswirkungen auf den Klimawandel aber nicht nur für den Papst von größerer globaler Bedeutung.

Bettina Gabbe (epd)


Missbrauch: Erzbistum Köln will Aufklärung "ohne Tabu"


Erzbischof Rainer Maria Woelki (archivbild)
epd-bild/Stefan Arend
Ein Jahr lang haben Juristen Akten des Erzbistums Köln unter die Lupe genommen und den Umgang mit Missbrauchsfällen untersucht. In vier Wochen wollen sie berichten, was sie herausgefunden haben.

Die Münchener Kanzlei "Westpfahl Spilker Wastl" hat ihre Untersuchung zum Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum Köln abgeschlossen. Der Abschlussbericht soll am 12. März an Erzbischof Rainer Maria Woelki übergeben und gleichzeitig der Öffentlichkeit vorgestellt werden, kündigte das Erzbistum am 12. Februar an. Die unabhängige Untersuchung solle zeigen, welche persönlichen, systemischen oder strukturellen Defizite in der Vergangenheit dafür verantwortlich waren, dass Vorfälle von sexuellem Missbrauch vertuscht oder nicht konsequent geahndet wurden.

"Da werden auch Namen genannt, da gibt es kein Tabu", sagte der Kölner Generalvikar Markus Hofmann der "Kölnischen Rundschau" (12. Februar). "Aber wir müssen jeden Fall genau analysieren." Wenn jemand zwar aus heutiger Sicht falsch gehandelt habe, aber nach der damaligen Kenntnislage kein schuldhaftes Vorgehen vorliege, werde man das differenziert bewerten müssen. Ganz anders sei es, wenn jemand wissentlich Täter geschützt habe, betonte Hofmann. Strafrechtlich relevante Fälle werde man an die Staatsanwaltschaft weiterleiten.

Kanzlei stellt im März Untersuchungsbericht vor

Nach der Veröffentlichung der sogenannten MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche im Herbst 2018 hatte Kardinal Woelki im Januar 2019 die Münchener Rechtsanwaltskanzlei mit der Untersuchung für das Erzbistum Köln beauftragt. Sie sollte Personal- und sonstige Akten mit Blick auf Missbrauchsfälle daraufhin durchleuchten, ob die damaligen Verantwortlichen gegen staatliches oder kirchliches Recht verstoßen hätten.

Die Untersuchung solle mögliche Fehler und Versäumnisse von Verantwortlichen benennen und organisatorische, strukturelle oder systemische Defizite aufdecken, hieß es. Darüber hinaus solle sie Handlungsempfehlungen für den weiteren Umgang mit Fällen von sexualisierter Gewalt aufzeigen.

Anders als bei der von der Deutschen Bischofskonferenz 2018 vorgestellten sogenannten MHG-Studie würden im Erzbistum Köln auch Fälle beschuldigter Laien im kirchlichen Dienst untersucht, hieß es. Für die MHG-Studie hatten Forscher Akten der Jahre 1946 bis 2014 untersucht und dabei Hinweise auf bundesweit 1.670 beschuldigte Kleriker und 3.677 Opfer sexuellen Missbrauchs gefunden. Für den Bereich des Erzbistums Köln wurden 87 beschuldigte Priester, Ordensleute und Diakone und mindestens 135 Missbrauchsopfer ermittelt.



Orthodoxer Erzbischof erhält Preis für ökumenisches Engagement

Das Oberhaupt der autokephalen orthodoxen Kirche von Albanien, Anastasios Yannoulatos, hat den Klaus-Hemmerle-Preis der Fokolar-Bewegung erhalten. Der 90-jährige Erzbischof von Tirana, Durrës und ganz Albanien sei "ein hoch verdienter Preisträger" und ein "Mann des Dialogs", sagte der katholische Aachener Bischof Helmut Dieser laut Redetext bei der Preisverleihung am 14. Februar im Aachener Dom. Der Preisträger habe sich in vielen verschiedenen Aufträgen in seinem Heimatland Griechenland, in Afrika und schließlich in Albanien als Wegbereiter des Glaubens und der Ökumene sowie des interreligiösen Dialogs verdient gemacht.

Der undotierte Klaus-Hemmerle-Preis erinnert an den früheren Aachener Bischof Klaus Hemmerle (1929-1994). Die in mehr als 180 Ländern vertretene Fokolar-Bewegung, die sich für Ökumene und den Dialog der Religionen einsetzt, vergibt die Auszeichnung alle zwei Jahre. Geehrt werden Persönlichkeiten, die als "Brückenbauer" den Dialog zwischen den Kirchen, Religionen und Weltanschauungen fördern. Bisherige Preisträger sind unter anderem der ehemalige Präsident des Lutherischen Weltbundes, Bischof i. R. Christian Krause, der Ökumenische Patriarch Bartholomäus I. von Konstantinopel und die Lepraärztin Ruth Pfau.

"Abbau der Spannungen auf dem Balkan"

Der Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, Kardinal Kurt Koch, verwies mit Blick auf das Wirken von Erzbischof Anastasios darauf, dass "interreligiöser Dialog und missionarisches Engagement keine Gegensätze darstellen" müssten. Nachdem Anastasios Yannoulatos im Jahr 1992 als Oberhaupt der autokephalen orthodoxen Kirche von Albanien eingesetzt worden sei, habe er sich unermüdlich und mit großer Umsicht für den Wiederaufbau und die Wiederbelebung der orthodoxen Kirche in Albanien eingesetzt, sagte der Ökumene-Beauftragte des Vatikans laut Redemanuskript. Durch sein Engagement habe er sich überdies auch "um den Abbau der vielen und starken Spannungen auf dem Balkan verdient gemacht", so dass man ihn im Jahr 2000 sogar für den Friedensnobelpreis nominiert hatte. Mit Klaus Hemmerle, dem früheren Aachener Bischof, verbinde Erzbischof Anastasios die Überzeugung, dass wahre Mission und das beste Zeugnis der Kirche in der Liebe begründet lägen.



Rekowski: Bürgerbefragung macht evangelische Kirche klüger


Manfred Rekowski
epd-bild/Hans-Juergen Vollrath

Die Befragung der Düsseldorfer zur Zukunft der evangelischen Kirche in ihrer Stadt ist nach den Worten des rheinischen Präses Manfred Rekowski eine gute Chance, aus den Wünschen zu lernen. Er sei überzeugt davon, "dass wir klüger werden durch diese Form der Beteiligung", sagte der leitende Theologe der Evangelischen Kirche im Rheinland am 13. Februar bei der Auftaktveranstaltung des Projekts im Düsseldorfer Rathaus. Für das "Bürgergutachten 2020 - Wie viel Kirche braucht die Stadt" möchte der evangelische Kirchenkreis Düsseldorf ab April 200 Bewohner befragen. Das Verfahren ist laut Kirchenkreis bisher bundesweit einmalig.

Rekowski sagte, er erhoffe sich, "mitzubekommen, was die Menschen bewegt und zu sehen, ob wir als Kirche das richtige anbieten". Klar sei, dass die evangelische Kirche "eine solche Vielfalt an Meinungen mit den herkömmlichen Beteiligungsformen nicht erfährt", betonte der Präses, der die Schirmherrschaft für das Projekt übernommen hat.

Zwischenbericht im Juni geplant

Für das "Bürgergutachten" sollen zufällig ausgewählte Düsseldorfer mit und ohne Bezüge zur evangelischen Kirche befragt werden. Geplant sind Runde Tische mit jeweils 25 Teilnehmern, die bis August ihre Wünsche und Meinungen zur Kirche der Zukunft diskutieren. Dabei geht es unter anderem um Klimaschutz, Digitalisierung, Geschlechtergerechtigkeit und Spiritualität. Einen Zwischenbericht soll es im Juni, Ergebnisse und Empfehlungen im Herbst geben.

Der Düsseldorfer Superintendent Heinrich Fucks sagte, das Projekt solle Antworten und Empfehlungen auf die Frage nach Relevanz und Zuständigkeit von Kirche in der Stadt geben. Auch Jesus Christus sei "unter die Menschen gegangen und hat gefragt: Was willst Du, was ich Dir tue?", unterstrich der leitende Theologe im evangelischen Kirchenkreis.

Der Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) zog Parallelen zwischen den großen christlichen Kirchen und den beiden Volksparteien. Sie hätten ein Relevanzproblem: "Auch dort gehen die Bindungskräfte verloren", sagte Geisel. Er rief die Kirchen zu mehr Mut zur Verkündigung auf.



Umweltpfarrer kritisiert Polizeigewahrsam von Theologen


Luftaufnahme von einem Kohlekraftwerk
epd-bild / Steffen Schellhorn

Der Umweltpfarrer der westfälischen Kirche, Volker Rotthauwe, hat den Polizeigewahrsam für Mitarbeiter des katholischen Instituts für Theologie und Politik scharf kritisiert. Es dürfe nicht sein, dass friedlicher Protest gegen die Kohleverstromung und für die Energiewende durch präventive Haft und Einschüchterung kriminalisiert werde, erklärte Rotthauwe am 14. Februar in Schwerte. "Eine schnelle und lückenlose Aufklärung der Vorfälle in dieser Nacht ist dringend erforderlich", forderte der Umweltpfarrer.

Die beiden Theologen und ein Begleiter seien offensichtlich ohne einen Tatvorwurf in der Nähe des umstrittenen Kraftwerks Datteln IV angehalten und über Nacht in Gewahrsam genommen worden, erklärte Rotthauwe. Den Schilderungen der Betroffenen zufolge seien sie zudem entwürdigend behandelt worden. Der Umweltpfarrer rief zur Beteiligung an der Mahnwache des Instituts für Theologie und Politik in Datteln auf, die am 16. Februar stattfand. Nach Angaben der Polizei Recklinghausen nahmen rund 120 Menschen an dem friedlichen Protest vor dem Kohlekraftwerk teil.

Anfang des Monats waren am Vorabend einer Protestaktion gegen das Kohlekraftwerk Dattel IV zwei Mitarbeiter des Instituts für Theologie und Politik in Münster sowie ein weiterer Begleiter von der Polizei für eine Nacht in Gewahrsam genommen worden. Außerdem wurde ihnen ein dreimonatiges Aufenthalts- und Betretungsverbot rund um das Betriebsgelände erteilt. Gegen die Polizeiaktion haben die drei Betroffenen Klagen eingereicht. Die Polizei hatte den Polizeigewahrsam als präventive Maßnahme begründet. In einer ersten Entscheidung bewertete das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen am Freitag das polizeiliche Verbot als rechtswidrig (AZ: 17 L 185/20 und 17 L 186/20). Die Landtagsfraktion der Grünen hatte das NRW-Innenministerium zur Aufklärung des Vorgangs aufgefordert.



EKD-Ratsvorsitzender besorgt über politische Kultur

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, hat sich nach dem angekündigten Rückzug von Annegret Kramp-Karrenbauer vom CDU-Vorsitz besorgt geäußert. "Mich beschäftigt, warum innerhalb von kurzer Zeit zwei Frauen, die in schwieriger Zeit das Amt der Parteivorsitzenden einer der großen Volksparteien übernommen und damit Bereitschaft zur Verantwortung gezeigt haben, das Handtuch werfen", schrieb der Theologe am 10. Februar bei Facebook. Er wolle nicht, "dass nur noch die Abgebrühten und Machthungrigen politische Spitzenverantwortung tragen", ergänzte er.

Der Repräsentant der deutschen Protestanten betonte, die politische Situation insgesamt wolle er nicht kommentieren. Vor und nach solchen Rücktritten würden immer die Fehler analysiert, die jemand in Verantwortung gemacht habe. Das dürfe auch so sein. "Aber Fehler haben andere in Verantwortung früher auch gemacht, ohne dass das zu Rücktritten geführt hat", schrieb Bedford-Strohm.

"Kultur der Achtung"

Genauso wichtig sei es deswegen, zu fragen, unter welchen Bedingungen Menschen heute noch politische Spitzenverantwortung übernehmen. "Wer kann in der jetzt normal gewordenen Erregungskultur eigentlich noch bestehen", fragte der bayerische Landesbischof. Er sprach sich für "eine Kultur der Achtung und des Respekts" aus. Zudem äußerte er "Respekt und Wertschätzung" für den Einsatz Kramp-Karrenbauers.

Die CDU-Bundesvorsitzende Kramp-Karrenbauer hatte am 10. Februar erklärt, auf die Kanzlerkandidatur zu verzichten und sich damit auch vom Vorsitz der Christdemokraten zurückziehen zu wollen. Sie begründete den Rückzug auch damit, dass die Trennung von Kanzlerschaft und CDU-Vorsitz die Partei schwäche. Im vergangenen Jahr war Andrea Nahles nach innerparteilichem Druck vom SPD-Vorsitz zurückgetreten.



Gnadauer Verband sucht neuen Präses


Michael Diener
epd-bild/Norbert Neetz
Nach dem überraschenden Rücktritt von Michael Diener hat die Mitgliederversammlung des pietistisch geprägten Gnadauer Verbands nun einen Nominierungsausschuss mit der Suche nach einem neuen Präses beauftragt.

Die Mitgliederversammlung des pietistisch geprägten Gnadauer Verbands hat einen Nominierungsausschuss mit der Suche nach einem neuen Präses beauftragt. Der Ausschuss wurde am 15. Februar zum Abschluss der Versammlung im Elbingerode im Harz eingesetzt, wie der Verband mitteilte. Die Wahl eines neuen Präses sei für den 20. Februar 2021 geplant, sofern bis dahin ein Kandidat benannt sei. Der bisherige Präses Michael Diener hatte im Januar eine geplante erneute Kandidatur für eine dritte Amtszeit aufgrund von Kritik an seiner Amtsführung zurückgezogen.

Im Falle einer Wiederwahl 2021 wäre in den Folgejahren die Zusammenarbeit mit seinen Kritikern "schwierig geworden", erklärte Diener in seinem Präsesbericht. "Ich wollte und will nicht bis zum Ende meiner Dienstzeit für meine tiefsten und innersten Überzeugungen, jedenfalls da, wo sie von den 'so Konservativen' abweichen, angegriffen und infrage gestellt werden", sagte er.

Kritik von Konservativen an Diener

Diener, der auch dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) angehört, war in den vergangenen Jahren mehrfach in konservativ-frommen Kreisen in die Kritik geraten. Unter anderem warb er für mehr Toleranz gegenüber Homosexuellen und ermunterte evangelikale Christen zu mehr Selbstkritik. Im vergangenen Jahr kritisierte er eine negative Stimmungsmache gegen den Kirchentag in Dortmund und rief stattdessen zum "Brückenbauen" auf.

Im September 2019 hatte Diener mitgeteilt, von September 2020 an ein unbezahltes Sabbatjahr anzutreten. Damals hatte er jedoch noch angekündigt, nach Ablauf seiner Amtszeit 2021 für eine Wiederwahl zur Verfügung zu stehen. Der 57-Jährige ist seit dem 1. September 2009 Präses des Gnadauer Verbands.

Vakanz im Leitungsamt

Nun scheidet Diener Ende August 2020 aus der aktiven Tätigkeit als Präses aus und geht in sein Sabbatical, seine Amtszeit läuft formell aber noch bis August 2021, wie der Verband mitteilte. Voraussichtlich Mitte September 2020 solle Diener offiziell verabschiedet werden. Der neue Präses soll den Angaben zufolge spätestens im September 2021 eingesetzt werden. Somit entstehe eine einjährige Vakanz in dem Leitungsamt.

Der Gnadauer Verband mit Sitz in Kassel versteht sich als Dachorganisation des deutschsprachigen Pietismus und gilt als größte Laienbewegung in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Seinen Namen hat der seit 1888 bestehende Verband nach seinem Gründungsort Gnadau bei Magdeburg in Sachsen-Anhalt. Der Pietismus gehört zu den großen geistlichen Strömungen und Reformbewegungen innerhalb der evangelischen Kirche. Als sein Begründer gilt der Theologe Philipp Jakob Spener (1635-1705).



Rheinische Kirche trauert um früheren Altenkirchener Superintendenten

Die Evangelische Kirche im Rheinland hat den 7. Februar gestorbenen Theologen Rudolf Steege gewürdigt. Der frühere Superintendent des evangelischen Kirchenkreises Altenkirchen habe nicht nur durch seine seelsorgliche Arbeit und den Verkündigungsdienst segensreich gewirkt, erklärte Präses Manfred Rekowski in einem veröffentlichten Schreiben. Er sei mit "seiner Frömmigkeit und seinem klaren theologischen Profil" ein geachteter und dialogbereiter Gesprächspartner gewesen, der sich darum bemüht habe, Brücken zu bauen. Steege starb im Alter von 83 Jahren.

Der Theologe wurde den Angaben zufolge 1984 zum Superintendenten des Kirchenkreises Altenkirchen gewählt. Dieses Amt übte er bis 2001 aus.



Erstmals gemeinsames Wort der Kirchen in Bonn zur Fastenzeit

Die Kirchen in Bonn haben erstmals mit einem gemeinsamen Wort zur Passions- und Fastenzeit dazu aufgerufen, die sieben Wochen bis Ostern bewusster zu nutzen. Diese vom Kirchenjahr geprägte Zeit drohe zunehmend, in "Gleichgültigkeit und säkularer Beliebigkeit verloren zu gehen", beklagten Stadtdechant Wolfgang Picken und der neue Bonner Superintendent Dietmar Pistorius am 14. Februar in Bonn. Dabei gebe es eine "zwar diffuse, doch große Sehnsucht vieler Menschen nach Orientierung und Sinnstiftung".

"Zeit nutzen" heißt die Erklärung, die ab Aschermittwoch in allen Kirchen verbreitet werden soll. Sie ruft dazu auf, sich in der Zeit zwischen Karneval und Ostern mit Christinnen und Christen auf der ganzen Welt an das Leiden Jesu Christi zu erinnern und dabei ein "neues Mitgefühl für seinen Nächsten" zu entwickeln. "In Zeiten der schnellen Worte, von Hass und Hetze im Internet brauchen wir mehr Zeit, nachzudenken und abzuwägen", heißt es. "Angesichts von Gewalt an so vielen Orten brauchen wir eine neue Umkehr zu Menschenfreundlichkeit und Liebe."

Eine lebensfähige Gesellschaft sei "auf eine Zeit der Erinnerung mit Nachdenken, Umkehr und bewusstem Verzicht geradezu angewiesen", betonten der Bonner Stadtdechant Picken und Superintendent Pistorius. Sie warben für Angebote der Kirchen in Bonn und der Region von Gruppen zum "Klimafasten" bis zu Passionsandachten und -konzerten.



Evangelischer Theologe Eckhard Lessing gestorben

Der langjährige Direktor des Seminars für Systematische Theologie und des Instituts für Ökumenische Theologie an der Universität Münster, Eckhard Lessing, ist tot. Der emeritierte Theologieprofessor starb bereits am 6. Februar im Alter von 84 Jahren, wie die Hochschule am 13. Februar mitteilte.

"Die Evangelisch-Theologische Fakultät an der Westfälischen Wilhelms-Universität trauert um einen Kollegen, für dessen Lehren, Forschen und Kollegialität sie sehr dankbar ist", erklärte Dekan Hans-Peter Großhans. Fast ein Vierteljahrhundert habe Lessing an der Fakultät gelehrt und dabei ihren Weg maßgeblich mitgeprägt.

Neustes Standardwerk nicht vollendet

Auch nach seiner Emeritierung im Jahr 2000 habe er seine Forschungen fortgeführt und drei Bände zur "Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart" veröffentlicht. Mit der Publikation, die er aufgrund zum Teil schwerer Erkrankungen ab 2009 nicht mehr fortsetzen konnte, habe er die herkömmlichen Theologiegeschichtsschreibungen um eine bemerkenswerte neue wissenschaftliche Perspektive bereichert, betonte Großhans.

Der gebürtige Chemnitzer Eckhard Lessing studierte den Angaben nach Theologie in Bethel, Tübingen und Göttingen, wo er promovierte. Vor seinem Wechsel nach Münster 1976 war Lessing an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Mainz tätig. Seine Forschungsschwerpunkte waren die Lehre von der Kirche, Zukunftsfragen der Ökumene sowie die Geschichte der Theologie im 19. und 20. Jahrhundert.



Ecclesia: Nur wenig Sturmschäden an Kirchengebäuden

Schäden an kirchlichen Gebäuden durch das Sturmtief "Sabine" sind nach Angaben des Versicherungsmaklerunternehmens Ecclesia deutlich geringer ausgefallen als bei früheren starken Stürmen. "Bisher verzeichnen wir nur wenige größere Schäden, aus Nordrhein-Westfalen sind noch keine größeren Schäden gemeldet worden", sagte ein Sprecher am 11. Februar in Detmold dem Evangelischen Pressedienst (epd). In Bayern sei beispielsweise ein Baum gegen eine Kirche gekippt. Gemeldet worden seien überwiegend kleinere Schäden an Gebäuden wie herabgefallene Dachziegel oder umgestürzte Bäume.

Bei dem Wintersturm "Friederike" im Januar 2018 habe das Versicherungsmaklerunternehmen 5.300 Schäden im Bereich Kirche gezählt, rund die Hälfte sei davon auf Nordrhein-Westfalen entfallen, erläuterte der Sprecher. Zwar lasse sich die Schadenzahl aktuell noch nicht nennen, insgesamt erscheine die Lage aber nach "Sabine" ruhiger. Unter anderem habe die umfangreiche Berichterstattung in den Medien im Vorfeld des Sturms Wirkung gezeigt. "Die Menschen waren besser vorbereitet, und es wurde vor dem Sturm noch viel gesichert", erläuterte der Sprecher.

Der Sturm "Friederike" vor zwei Jahren hatte in Nordrhein-Westfalen größere Schäden unter anderem an der Stadtkirche Unna und der Gemarker Kirche in Wuppertal verursacht. An der Stadtkirche in Unna brach während des Sturmes eine vier Meter hohe Zinne vom Turmumgang in 45 Metern Höhe ab und schlug durch das Kirchendach. In Wuppertal fiel Kirche das Kupferblech vom Turmdach der Gemarker Kirche herunter, Teile davon flogen die Straße entlang.

Ecclesia mit Sitz in Detmold zählt nach eigenen Angaben zu den größten deutschen Versicherungsmaklern für Unternehmen und Institutionen. Im Bereich Kirche, Gesundheitswesen und Sozialwirtschaft sei das Unternehmen Marktführer.



Agrarexperten: Kirchenland wird nur allmählich bio

Der Wandel von einer konventionellen Agrarwirtschaft zur ökologischen Agrarkultur auf den landwirtschaftlichen Flächen von Kirchengemeinden braucht nach Expertenmeinung noch etwas Zeit. Die beiden großen Kirchen in Deutschland hätten einen großen Hebel in der Hand, um die Biolandwirtschaft zu fördern, sagte der Referent für nachhaltige Landwirtschaft, Dirk Hillerkus, vom Institut für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen am 13. Februar auf dem Kongress der Messe Biofach in Nürnberg. Etwa vier Prozent der landwirtschaftlich genutzten Flächen in Deutschland gehörten den Kirchen.

"Das Bewusstsein ist aber gestiegen", erklärte Hillerkus. Inzwischen gelte beispielsweise für die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKMD) die Prämisse "Ökologie steht vor Ökonomie", artgerechte Landwirtschaft mit sozialen Standards habe Vorfahrt.

Ralf Demmerle von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft mahnte zur Eile. Kirchengemeinden sollten ökologische Kriterien bei der Verpachtung ihres Ackerlands stärker berücksichtigen, forderte der Biolandwirt aus Thüringen. "Wir können nicht warten, bis die Vernunft unten ankommt."




Gesellschaft

Dresden gedenkt der Opfer des Krieges


Menschenkette mit Bundespräsident Steinmeier vor der Frauenkirche.
epd-bild/Matthias Schumann
Dresden hat an die Bombardierung der Stadt vor 75 Jahren erinnert. Redner warnten vor Hass und Hetze und dem Missbrauch des Gedenktages durch Rechtsextremisten. Bundespräsident Steinmeier reihte sich in die Menschenkette um die Altstadt ein.

Dresden hat am 13. Februar an Tausende Kriegsopfer und die Zerstörung der Stadt vor 75 Jahren erinnert. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnte in seiner Gedenkrede vor einer Aushöhlung des Rechtsstaates und der Demokratie. "Wir alle müssen Hass und Hetze zurückweisen, Beleidigungen widersprechen, Vorurteilen entgegentreten", appellierte er. So erbittert der Streit in der Sache auch sein mag, Diskussionen seien mit Vernunft und Anstand zu führen, die Institutionen der Demokratie zu schützen. Am Abend reihte sich das Staatsoberhaupt vor der Frauenkirche mit Tausenden Menschen in eine Menschenkette um die Altstadt ein.

Die Angriffe der Alliierten im Februar 1945 erinnerten immer auch an "nationalistische Selbstüberhebung und Menschenverachtung, an Antisemitismus und Rassenwahn", sagte Steinmeier vor rund 1.600 geladenen Gästen im Dresdner Kulturpalast. Er befürchte, dass diese Gefahren bis heute nicht gebannt seien.

"Laut widersprechen"

Der Bundespräsident verurteilte einen Missbrauch des Gedenkens: "Wer heute noch die Toten von Dresden gegen die Toten von Auschwitz aufrechnet, wer versucht, deutsches Unrecht kleinzureden, wer wider besseres Wissen historische Fakten verfälscht, dem müssen wir als Demokratinnen und Demokraten die Stirn bieten, dem müssen wir laut und entschieden widersprechen", betonte Steinmeier unter großem Applaus.

Bei Bombenangriffen der Alliierten zwischen dem 13. und 15. Februar 1945 kamen rund 25.000 Menschen ums Leben. Nahezu die gesamte Innenstadt wurde zerstört. Am Abend umschlossen rund 11.000 Dresdner und ihre Gäste Hand in Hand und unter Glockengeläut die Altstadt mit einer Menschenkette. Seit zehn Jahren wird jeweils am 13. Februar dieses Zeichen des Friedens, der Versöhnung und Toleranz gesetzt. Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender reihten sich vor der Frauenkirche in die Kette ein, ebenso Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU).

Auch der Regierungschef rief dazu auf, für ein friedliches Zusammenleben und gegen Spaltung, Gewalt und Ausgrenzung einzustehen: "Wir alle tragen Verantwortung für unsere Demokratie und ein friedliches Miteinander." Kretschmer wandte sich zugleich gegen "jegliche Versuche, den Tag des Gedenkens und die Trauer um die Toten für ideologische Zwecke zu missbrauchen". Es dürfe keine Umdeutung dieses Tages geben". Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP) betonte, von Dresden müsse ein Zeichen der Versöhnung ausgehen.

Linke trommeln gegen AfD

Mehrere Veranstaltungen auf Friedhöfen erinnerten an die Opfer des Zweiten Weltkrieges. Auf dem städtischen Heidefriedhof wurden über den Tag hinweg die Namen von knapp 4.000 Opfern der Bombenangriffe vor 75 Jahren gelesen.

Gegen einen Informationsstand der AfD auf dem Altmarkt trommelten augenscheinlich linke Demonstranten lautstark. Die Polizei trennte beide Gruppen räumlich voneinander. Für den Abend hatte die AfD eine Kranzniederlegung auf dem Altmarkt angemeldet - in unmittelbarer Nähe des Ortes, wo im Februar 1945 die Leichen der Opfer verbrannt worden waren.

Zu einem stillen Gedenken hatte die Fördergesellschaft der Dresdner Frauenkirche am Gedenktag eingeladen. Auf dem Platz vor der wiederaufgebauten Kirche wurden Kerzen angezündet. Jedes Jahr läuten um 21.45 Uhr, zum Zeitpunkt des ersten Alarms vor den Angriffen, die Kirchenglocken der Stadt.

Katharina Rögner (epd)


Tausende bei Protesten gegen rechts in Erfurt und Dresden


Demonstration in Erfurt.
epd-bild/Stefanie Loos
In Erfurt protestierten rund 18.000 Menschen gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD. Zeitgleich gingen in Dresden mehrere Tausend Demonstranten gegen einen sogenannten Trauermarsch von Neonazis auf die Straße.

Tausende Menschen sind am 15. Februar in Erfurt und Dresden gegen Rechtspopulisten und Rechtsextremisten auf die Straße gegangen. In Erfurt beteiligten sich nach Veranstalterangaben rund 18.000 Menschen an einer Demonstration gegen die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD. In Dresden protestierten mehrere Tausend Demonstranten unter anderem mit Sitzblockaden gegen einen sogenannten rechtsextremen Trauermarsch.

Unter dem Motto "#Nichtmituns: Kein Pakt mit Faschist*innen - niemals und nirgendwo!" hatten der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und das zivilgesellschaftliche Bündnis "#unteilbar" zu der Demonstration in der Thüringer Landeshauptstadt aufgerufen. Redner kritisierten das Verhalten von CDU und FDP bei der Wahl und sprachen von einem Tabubruch am 5. Februar. Sie appellierten an die demokratischen Parteien in Thüringen, geschlossen die AfD zu bekämpfen. Die Wahl Kemmerichs zeuge 75 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz von unglaublicher Ignoranz und Machtversessenheit, sagte Stefan Körzel vom DGB-Bundesvorstand.

Regionalbischof warnt vor Polarisierung

Der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde, Reinhard Schramm, sagte, politische Konkurrenz unter Demokraten sei notwendig. Aber der gemeinsame Kampf gegen die extrem rechte AfD dürfe dieser Konkurrenz nicht geopfert werden. Der Regionalbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), Propst Christian Stawenow, warnte vor einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft durch die aktuellen Entwicklungen.

Die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano nannte in einer Grußbotschaft die Gleichsetzung von Linken und extremer Rechten "unverfroren". "Das muss aufhören", erklärte die 95-Jährige: "Das kenne ich noch aus den 1930er Jahren, das hat mich und viele andere ins KZ Auschwitz gebracht."

In Dresden konnte wegen des massiven Protests von Gegendemonstranten der rechte Aufzug zur Erinnerung an die Zerstörung der Elbestadt durch alliierte Bomber vor 75 Jahren nicht wie geplant durch die Altstadt ziehen. Nach einer größeren Blockade von linken Demonstranten veränderte die Polizei laut einem Polizeisprecher kurzfristig die Demonstrationsstrecke. An dem "Trauermarsch", zu dem unter anderem die NPD aufgerufen hatte, beteiligten sich Beobachtern zufolge mindestens 1.000 Rechtsextreme aus ganz Europa.

Kritik an Polizeieinsatz in Dresden

Zu den Gegendemonstrationen hatte das linke Bündnis "Dresden Nazifrei" aufgerufen. Eine Sprecherin des Bündnisses sprach von mehreren Tausend Gegendemonstranten. Offizielle Zahlen der Ordnungsbehörden gab es nicht.

Die Polizei war nach eigenen Angaben mit 1.500 Beamten im Einsatz. 25 Ermittlungsverfahren seien eingeleitet und sieben Personen in Gewahrsam genommen worden.

In sozialen Netzwerken beklagten Demonstranten ein teilweise rabiates Vorgehen von Polizeibeamten. So sind auf Twitter mehrere Polizeireiter zu sehen, die ihre Pferde in eine Menschengruppe hineinlenken. Kritik gab es auch an Einkesselungen von Demonstranten und Filmaufnahmen der Polizei.

Seit Jahren missbrauchen Rechtsextreme den Dresdner Kriegsgedenktag und das Datum 13. Februar für ihre Zwecke. Bei den Bombenangriffen der Alliierten auf Dresden kamen zwischen dem 13. und dem 15. Februar 1945 etwa 25.000 Menschen ums Leben.



Mutmaßliche Rechtsterroristen sind in Untersuchungshaft

Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs hat gegen zwölf mutmaßliche Mitglieder sowie Unterstützer einer rechtsterroristischen Vereinigung Haftbefehle erlassen und sie in Untersuchungshaft genommen. Das teilte die Bundesanwaltschaft am 15. Februar in Karlsruhe mit. Die Beschuldigten waren nach Razzien am 14. Februar zunächst vorläufig festgenommen worden.

Bei den Razzien in 13 Wohnungen in sechs Bundesländern wurde laut "Spiegel" auch eine ähnliche Schusswaffe gefunden, wie sie der antisemitische Attentäter von Halle besaß. Der "Welt am Sonntag" zufolge soll neben weiteren Waffen und Versorgungsmitteln auch Material sichergestellt worden sein, das sich zur Herstellung von Sprengvorrichtungen eignet.

Gesellschaftsordnung erschüttern

Ziel des Netzwerkes soll es laut Bundesanwaltschaft gewesen sein, die Staats- und Gesellschaftsordnung in Deutschland zu erschüttern und letztlich zu überwinden. Dafür sollten den Angaben zufolge Anschläge auf Politiker, Asylsuchende und Muslime verübt werden, um bürgerkriegsähnliche Zustände herbeizuführen. Die Anschläge seien noch nicht näher konkretisiert worden, hieß es.

Die Ermittler werfen fünf Personen vor, die Terrorzelle im September 2019 gegründet zu haben. Vier dieser Beschuldigten wurden festgenommen. Zudem durchsuchten die Ermittler die Wohnungen von acht Unterstützern, die alle ebenfalls festgenommen wurden. Der "Spiegel" berichtete, der mutmaßliche Anführer der Terrorgruppe sei von den Sicherheitsbehörden seit mehreren Monaten als rechtsextremer "Gefährder" geführt worden.

Über WhatsApp vernetzt

Laut "Welt am Sonntag" agierten die vier mutmaßlichen Mitglieder und acht Unterstützer unter dem Gruppennamen "Der harte Kern". Die zwischen 20 und 50 Jahre alten Männer hätten sich über den Messengerdienst WhatsApp kennengelernt und vernetzt, hieß es unter Berufung auf Ermittlerkreise. Später habe es etliche Treffen der Mitglieder gegeben.

Die Ermittler hätten mehrere Bezüge der Männer zur rechtsextremen Gruppierung "Soldiers of Odin" (SOO) festgestellt, berichtete die Zeitung. Die SOO ist eine 2015 in Finnland gegründete rechtsextremistische Bürgerwehr, die sich dann auch in Deutschland bildete.



Islamverbände wollen nach Bombendrohungen mehr Schutz

Die Bombendrohungen gegen Moscheen in Nordrhein-Westfalen haben eine Diskussion über die Sicherheit von Moscheen entfacht. Islamverbände fordern mehr Schutz. Die Linkspartei mahnt einen Maßnahmeplan zur Sicherung von Moscheen an.

Islamverbände mahnen nach den Bombendrohungen gegen Moscheen mehr Schutz sowie mehr Engagement gegen Islamfeindlichkeit an. Der Ditib-Verband erklärte am 14. Februar, die Gesellschaft müsse Farbe bekennen und Zeichen gegen Gewalt und Hetze setzen. NRW-Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) bezeichnete Bedrohungen von Religionen als eine Gefahr für die offene Gesellschaft. Die Linkspartei forderte einen Maßnahmeplan der NRW-Landesregierung, wie Moscheen vor rechter Gewalt geschützt werden können.

Der Islamverband Ditib mahnte mehr Engagement der Gesellschaft gegen Hass von Rechtsextremisten an. "Hier ist die Gesellschaft, allen voran wichtige Akteure aus Politik und Gesellschaft aufgerufen, Farbe zu bekennen und Zeichen gegen Gewalt und Hetze zu setzen, um dem drohenden Terror von Rechts und der wachsenden Islamfeindlichkeit vorzubeugen", sagte der stellvertretende Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Ditib-Landesverbands, Zekeriya Altug, dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Köln. "Leider erleben wir erneut, wie in den letzten Jahren auch allzu oft nach Angriffen auf unsere Moscheen, ein großes Schweigen", kritisierte Altug, der auch Sprecher des Koordinationsrates der Muslime ist.

Sorge um anhaltende islamfeindliche Stimmung

Muslime seien besorgt wegen der anhaltenden islamfeindlichen Stimmung im Lande und der muslimfeindlichen Attacken gegen sie und ihre Einrichtungen, erklärte der Zentralrat der Muslime über Twitter. Deshalb bekräftige der Verband seine Forderung nach mehr Polizeischutz vor den Moscheen.

Dass es Bombendrohungen gegen die Moscheen gegeben habe, sei furchtbar, hatte NRW-Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) am 13. Februar über Twitter erklärt. Bedrohungen von Kirchen, Synagogen und Moscheen seien auch eine Bedrohung für die gesamte offene Gesellschaft.

Linke fordert Maßnahmeplan gegen rechte Gewalt

Die Linkspartei forderte die NRW-Landesregierung auf, einen konkreten Plan vorzulegen, wie Moscheen in NRW vor rechter Gewalt geschützt werden könnten. Zudem forderte die Linkspartei, das Problem des antimuslimischen Rassismus ernst zu nehmen und Aufklärungsarbeit dazu zu beginnen.

Am 12. und 13. Februar hatten Moscheen in Unna, Hagen, Essen und Bielefeld über E-Mails Bombendrohungen erhalten. In allen vier Fällen wurden der Polizei zufolge die Gebäude mit Spürhunden durchsucht, dabei wurde nichts Verdächtiges entdeckt. Nach der Gewährung der Sicherheit stehe die Ermittlung der Identität des Verfassers der E-Mails im Fokus, erklärte die Polizei. In Marl hatten zuvor Unbekannte offenbar ein alevitisches Gemeindehaus beschossen.



NRW-Regierungparteien erteilen AfD eine Absage

Nach dem Debakel in Thüringen bekräftigen die NRW-Landesregierung und die Regierungsfraktionen im Landtag ihr Nein zur Kooperation mit der AfD. Ministerpräsident Laschet zeigt sich auch zuversichtlich: Die Gesellschaft sei gestärkt.

Die Landesregierung und Vertreter der Regierungsfraktionen im Düsseldorfer Landtag haben eine Zusammenarbeit mit der AfD in Nordrhein-Westfalen ausgeschlossen. Man wolle keinerlei Kooperation, Zusammenarbeit oder Duldung mit der AfD, sagte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) am 13. Februar in einer Aktuellen Stunde im Landtag. "So was wird es in Nordrhein-Westfalen nie geben", betonte Laschet mit Verweis auf die Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum thüringischen Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD.

Laschet: Gesellschaft durch Vorkommnisse in Thüringen gestärkt

Zugleich zeigte sich Laschet zuversichtlich, dass die Zivilgesellschaft durch die Vorkommnisse in Thüringen stärker geworden sei. Das hätten die öffentliche Proteste auch in Nordrhein-Westfalen gegen die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen gezeigt.

Als "vollständig ausgeschlossen" bezeichnete der NRW-Integrationsminister und stellvertretende Ministerpräsident Joachim Stamp (FDP) eine Zusammenarbeit mit der AfD. Die Wahl von Kemmerich vor einer Woche stelle einen "Anschlag auf die Demokratie" dar, weil die AfD bei der Wahl zum Ministerpräsidenten einen "Strohmann" als eigenen Kandidaten aufgestellt habe. Die Ankündigung zum Rückzug aus dem Amt durch Kemmerich sei deshalb zwingend notwendig gewesen, betonte Stamp, der auch FDP-Landesparteivorsitzender ist. "Es kann keinen liberalen Ministerpräsidenten geben, der von der AfD ins Amt gewählt wird."

Der CDU-Fraktionsvorsitzende Bodo Löttgen betonte, dass für CDU und FDP eine Zusammenarbeit mit der AfD undenkbar sei. "Es gab sie nie, es gibt sie nicht und es wird sie nicht geben", sagte Löttgen.

Kutschaty fordert ein Ende der Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus

Der Fraktionsvorsitzende der FDP im Landtag, Christof Rasche, bezeichnete die AfD als "Feinde der Demokratie". Deshalb sei es nötig, eine "klare Kante gegen Rechts" zu zeigen. Darin seien sich die Fraktionen von CDU, FDP, SPD und Grünen einig. Die Wahl Kemmerichs in Erfurt bezeichnete Rasche als riesigen Fehler.

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Kutschaty forderte vor allem von der CDU eine klare Abgrenzung gegen Rechts und ein Ende der Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus. Die demokratischen Parteien müssten jetzt gemeinsam dafür streiten, die "rechten Hetzer und Spalter" der AfD in die Bedeutungslosigkeit zu drängen. "Wer jetzt wackelt, trägt Mitschuld am Einsturz unserer Demokratie", mahnte Kutschaty.

Der AfD-Abgeordnete Markus Wagner warf den übrigen im Parlament vertretenen Parteien vor, dass sie das Ergebnis einer demokratischen Wahl nicht akzeptieren wollten. Die rot-rot-grüne Landesregierung in Thüringen sei bei der Landtagswahl klar abgewählt worden.



Dortmunder Sonderbeauftragter für Vielfalt geht in den Ruhestand

Der ehrenamtliche Sonderbeauftragte der kommunalen Koordinierungsstelle für "Vielfalt, Toleranz und Demokratie" in Dortmund, Hartmut Anders-Hoepgen, geht in den Ruhestand. Nachfolger des 75 Jahre alten Anders-Hoepgen wird der langjährige Arbeitsdirektor der städtischen Gesellschaften DSW21/DEW21, Manfred Kossack, wie die Stadt am 14. Februar mitteilte. Der 66-Jährige tritt sein neues Amt zum 1. März an.

Aktionplan gegen rechte Szene in der Revierstadt

Am 13. September 2007 hatte der Stadtrat Dortmund der Verwaltung den Auftrag erteilt, einen lokalen Aktionsplan für Vielfalt, Toleranz und Demokratie zu erstellen. Grund war die wachsende Zahl an Aufmärschen und Aktionen von Neonazis, denen sich die Stadt ausgesetzt sah. Um das Engagement dagegen zu organisieren, wurde die neue Koordinierungsstelle geschaffen und Hartmut Anders-Hoepgen zum Sonderbeauftragten berufen. Der damalige Superintendent und Vorstandsvorsitzende der Vereinigten Evangelischen Kirchenkreise für Dortmund und Lünen hatte kurz vor seiner Pensionierung gestanden.

Im Rahmen des Aktionsplanes wurde unter anderem 2011 eine Beratungsstelle für Opfer von rechtsextremer und rassistischer Gewalt geschaffen. Die Einrichtung mit dem Namen "Back-Up" wird von Stadt und Land finanziert. 2014 hat ein Verein die Trägerschaft für die Opferberatung übernommen. Anders-Hoepgen hatte in dem Verein den Vorsitz übernommen.

OB Sierau würdigt früheren Superintendenten

Der Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) betonte anlässlich des Wechsels an der Spitze der Koordinierungsstelle, dass Stadt und Zivilgesellschaft im Kampf gegen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus nicht nachlassen und weiter Flagge zeigen müssten. Dazu gehörten auch die Arbeit der Koordinierungsstelle sowie die Stelle des Sonderbeauftragten. "Wir wehren uns entschieden gegen jede Art von Ausgrenzung, Rassismus, Antisemitismus oder Extremismus", betonte der OB.

Er danke Anders-Hoepgen, dass er sich zwölf Jahre lang für eine offene und tolerante Gesellschaft eingesetzt habe. "Da die gesellschaftliche Arbeit von Hartmut Anders-Hoepgen auch mit Angriffen verbunden war, ist sein Einsatz gar nicht hoch genug zu bewerten", unterstrich Sierau.

Anders-Hoepgen erklärte, es treibe ihn um, dass Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in der Gesellschaft wieder verstärkt "Anklang" fänden. Das Ziel, die Demokratie als Ganzes abzuschaffen, werde dabei immer deutlicher sichtbar.



Bund soll mehr gegen Einsatz von Kindersoldaten tun


Am 12. Februar wird international der "Red Hand Day" begangen: Der ugandische Kindersoldat Innocent Opwonya protestiert 2019 vor dem Reichstag gegen die Rekrutierung von Kindern.
epd-bild/Christian Ditsch
Entführt, vergewaltigt, zum Töten gezwungen - Kindersoldaten sind oft für den Rest ihres Lebens traumatisiert. Das gilt besonders für Mädchen, sagen Experten und fordern eine Ende der Straflosigkeit für den Einsatz von Kindersoldatinnen.

Das Deutsche Bündnis Kindersoldaten hat die Bundesregierung aufgefordert, sich auf internationaler Ebene mehr gegen die Rekrutierung von Kindersoldaten und besonders gegen den Einsatz von Mädchen einzusetzen. So müssten in den betroffenen Ländern Programme gestärkt werden, die den Einsatz von Kindern und Jugendlichen in bewaffneten Konflikten verhinderten, erklärte der Sprecher des Bündnisses Kindersoldaten, Frank Mischo, am 11. Februar in Berlin. Außerdem müsse die Reintegration von Betroffenen gefördert werden.

Kritisiert wurde auch die weitgehende Straflosigkeit des Einsatzes von Jungen und Mädchen als Kindersoldaten. Bislang habe es nur wenige Anklagen am Internationalen Strafgerichtshof gegeben, sagte Mischo. Am 12. Februar ist alljährlich der sogenannte Red Hand Day, der weltweite Aktionstag gegen den Einsatz von Kindersoldaten.

250.000 Kinder müssen kämpfen

Mädchen seien nicht nur häufig Opfer sexueller Gewalt, "sondern sie übernehmen auch dieselben Aufgaben wie Jungen und werden wie sie oft körperlich und psychisch misshandelt", sagte Mischo. Die Reintegration in die vorherige Lebenssituation sei für Mädchen dabei besonders schwierig. Sie würden stigmatisiert und seien ohne soziale Absicherung weiter besonders ausgeliefert.

Weltweit werden in bewaffneten Konflikten den Angaben zufolge etwa 250.000 Kinder und Jugendliche zum Kämpfen gezwungen. Darunter sind je nach Konflikt zwischen fünf und 20 Prozent Mädchen, heißt es unter Berufung auf Zahlen der Vereinten Nationen (UN). Aktuell sei der Einsatz von Kindern in 23 Konflikten dokumentiert. Allerdings gebe es ein sehr großes Dunkelfeld, sagte Thomas Berthold, Kinderrechtsexperte von Terre des Hommes und Sprecher des Bündnisses.

Die Bundesregierung müsse ihre Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat nutzen und die Mittel für die Rehabilitation ehemaliger Kindersoldaten und Kindersoldatinnen erhöhen. Vor allem müssten die Berichterstattung über Verstöße gegen das Einsatz-Verbot und die Strafverfolgung verbessert werden, sagte Berthold.

"Red Hand Day"

Auch die UNO-Flüchtlingshilfe forderte mehr Geld von der internationalen Gemeinschaft für die Resozialisierung und psychologische Betreuung ehemaliger Kindersoldaten. "Wir brauchen nicht nur konsequentes internationales Vorgehen gegen den Einsatz von Kindersoldaten, sondern auch finanzielle Mittel, um den Kindern und Jugendlichen professionell zu helfen", erklärte der Geschäftsführer des deutschen Partners des Flüchtlingshilfswerks UNHCR, Peter Ruhenstroth-Bauer in Bonn. Die Linksfraktion im Bundestag sprach sich dafür aus, die Wiedereingliederung zu einem Schwerpunkt der Entwicklungshilfe zu machen und dafür mindestens 200 Millionen Euro jährlich auszugeben.

Am 12. Februar 2002 trat das Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention zu Kindern in bewaffneten Konflikten in Kraft. Es verbietet den Einsatz von unter 18-Jährigen. Seitdem gilt der Tag als internationaler Tag gegen den Einsatz von Kindern und Jugendlichen als Soldaten. Das Bündnis Kindersoldaten unterscheidet dabei zwischen der Rekrutierung Minderjähriger in Berufsarmeen wie etwa der Bundeswehr ab 17 Jahren und der Zwangsrekrutierung als Kindersoldat in bewaffneten Konflikten. Anlässlich des "Red Hand Day" sind weltweit Aktionen mit dem Symbol der roten Hand geplant. Das Deutsche Bündnis Kindersoldaten besteht aus elf nichtstaatlichen Organisationen.



Amnesty ehrt Seenotretter "Iuventa10"

Weil sie Flüchtlinge auf dem Mittelmeer aus Seenot retteten, wird gegen zehn Crewmitglieder der "Iuventa" in Italien wegen Schlepperei ermittelt. Ihnen drohen bis zu 20 Jahre Haft. Amnesty ehrt sie mit dem diesjährigen Menschenrechtspreis.

Die zehnköpfige Crew des Seenotrettungsschiffs "Iuventa" wird mit dem diesjährigen Amnesty-Menschenrechtspreis ausgezeichnet. Den zehn Frauen und Männern aus Deutschland, England, Portugal und Spanien werde in Italien der Prozess gemacht, nachdem sie Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet hätten, sagte der Generalsekretär von Amnesty Deutschland, Markus Beeko, am 11. Februar in Berlin. Die "Iuventa10" stünden für all die freiwilligen Helfer, die sich auf dem Wasser und auf dem Land für das Überleben von Schutzsuchenden einsetzen und dafür kriminalisiert werden. Die Verleihung des mit 10.000 Euro dotierten Preises findet am 22. April im Berliner Gorki-Theater statt.

Die "Iuventa" hatte mit insgesamt rund 200 Helfern in 16 Missionen zwischen Juli 2016 und August 2017 mehr als 14.000 Menschen vor dem Tod durch Ertrinken im Mittelmeer bewahrt. Am 2. August 2017 wurde das Schiff des Berliner Vereins "Jugend rettet" im Hafen von Lampedusa von den italienischen Behörden beschlagnahmt. Seitdem geht nach Angaben von Amnesty die italienische Justiz gegen die zehn Seenotretter vor. Ihnen drohen bis zu 20 Jahre Haft.

"Soll Exempel statuiert werden"

Der Vorwurf laute Beihilfe zur illegalen Einreise, sagte Beeko. Die Indizienlage sei mehr als wackelig. Grundlage sei eine EU-Richtlinie von 2002, die sich gegen Schlepper richtet. Diese werde inzwischen von mehreren europäischen Regierungen dazu missbraucht, Menschenrechtsaktivisten juristisch zu drangsalieren und einzuschüchtern. Im Fall der "Iuventa"-Crew wurde das Schiff laut Amnesty von den italienischen Strafverfolgungsbehörden verwanzt, Telefonate seien abgehört und verdeckte Ermittler eingesetzt worden.

Die zehnköpfige Crew warte derzeit auf die Eröffnung des Hauptverfahrens und rechne mit Prozesskosten von rund 500.000 Euro. "An uns soll ein Exempel statuiert werden" sagte Crewmitglied Sascha, Rettungsassistent aus Potsdam. Dabei habe den Ermittlungsakten zufolge selbst die italienische Staatsanwaltschaft mittlerweile eingeräumt, dass die Seenotretter aus Solidarität handelten und nicht mit Gewinnabsichten.

Mit dem Menschenrechtspreis zeichnet die deutsche Amnesty-Sektion alle zwei Jahre Persönlichkeiten und Organisationen aus, die sich unter schwierigen Bedingungen für die Menschenrechte einsetzen. Preisträger 2018 war das Nadeem-Zentrum für die Rehabilitierung von Opfern von Gewalt und Folter in Kairo.



Rüstungsexporte an Beteiligte des Libyen-Konflikts genehmigt

Die Bundesregierung hat nach der Libyen-Konferenz Exporte von Rüstungsgütern an Konflikt-Beteiligte genehmigt. Die Linke kritisiert, sie mache sich damit unglaubwürdig bei ihren Vermittlungsversuchen. Die Bundesregierung weist die Vorwürfe zurück.

Parallel zu ihren Vermittlungsbemühungen im Libyen-Konflikt hat die Bundesregierung neue Rüstungsexporte in einige der am Konflikt beteiligten Staaten genehmigt. Wie aus einer aktuellen Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Anfrage der Linken-Abgeordneten Sevim Dagdelen hervorgeht, wurden seit dem 1. Januar dieses Jahres Genehmigungen für die Lieferung von Rüstungsgütern im Wert von rund 4,3 Millionen Euro an Ägypten, Katar, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate erteilt.

Der überwiegende Teil geht den vorläufigen Zahlen nach an Katar: Kriegswaffen im Wert von 81.400 Euro und "sonstige Rüstungsgüter" im Wert von etwa 4,2 Millionen Euro. Die Vereinigten Arabischen Emirate erhalten den Angaben zufolge Rüstungsgüter im Wert von gut 50.500 Euro, die Türkei für 18.600 Euro und Ägypten im Wert von 4.620 Euro. Kriegswaffen seien bei diesen drei Ländern nicht darunter gewesen. Zugleich heißt es aber in der Regierungsantwort auch, dass im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 4. Februar "keine Ablehnungen für die Länder Ägypten, Jordanien, Katar, Türkei und Vereinigte Arabische Emirate erteilt" wurden.

"Als Vermittler unglaubwürdig"

Dagdelen kritisierte, die Regierung mache sich "als Vermittler vollkommen unglaubwürdig", wenn sie weiter Rüstungsexporte an Länder genehmige, die in Libyen militärisch intervenierten. "Waffenlieferungen an im Libyenkrieg beteiligte Staaten müssen komplett gestoppt werden", forderte die Parlamentarierin.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte für den 19. Januar zu einer Libyen-Konferenz ins Kanzleramt eingeladen. Dort hatten sich die am Konflikt beteiligten internationalen Parteien verpflichtet, sich nicht mehr in die inneren Angelegenheiten Libyens einzumischen und das geltende Waffenembargo zu respektieren. Doch bis heute halten sich die Akteure nicht an das Embargo und die Waffenruhe, die einige Tage gehalten hatte, wurde schnell wieder gebrochen. Für Sonntag ist in München ein Folgetreffen geplant, um den internationalen Vermittlungsprozess am Leben zu halten.

"Wer sonntags ein Waffenembargo auf den Weg bringt, darf montags nicht diejenigen mit Rüstungsexporten belohnen, die es dreist und offen brechen", erklärte die Linken-Politikerin Dagdelen. Ein Sprecher des Auswärtigen Amts wies ihre Vorwürfe zurück. Die Bundesregierung selbst halte sich an das Waffenembargo, sagte er am 12. Februar in Berlin. "Wenn wir nur einen Hauch eines Zweifels hätten, würden wir dem nachgehen", ergänzte er.

Kriegswaffen nur an Katar

Der Sprecher verwies darauf, dass bis auf Katar an keines der Länder Ausfuhren von Kriegswaffen genehmigt worden seien. Kriegswaffen wie Panzer, Kampfflugzeuge oder vollautomatische Handfeuerwaffen unterliegen den strengeren Regeln des Kriegswaffenkontrollgesetzes. Sonstige Rüstungsgüter - darunter fallen etwa Revolver, Gewehre sowie Funk- und Radartechnik - brauchen diese gesonderte Genehmigung nicht, sondern fallen unter das Außenwirtschaftsgesetz.

Der Bürgerkrieg in Libyen droht zu einem regionalen Konflikt zu werden. Im Januar hat die türkische Regierung Truppen zum Schutz der Regierung von Ministerpräsident Fajis al-Sarradsch in Tripolis entsandt. Die Türkei wird von Katar unterstützt. Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate sind wiederum an der Seite von Rebellengeneral Chalifa Haftar, ebenso wie Russland. Nach dem Sturz von Machthaber Muammar al-Gaddafi 2011 übernahmen in Libyen nach und nach schwer bewaffnete Milizen die Kontrolle und stifteten Chaos im ölreichen nordafrikanischen Land.



Fehlende Unterstützung für Kriegsdienstverweigerer beklagt


In Artikel 4 des deutschen Grundgesetzes ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung verankert. Länder wie die Türkei oder Nordzypern verweigern bislang eine entsprechende gesetzliche Regelung.
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Kriegsdienstverweigerer in Europa sind nach Angaben von Friedensaktivisten nach wie vor oft Diskriminierungen ausgesetzt. Weiterhin kritisch sei die Lage in der Türkei, wo Kriegsdienstverweigerer verfolgt würden, hieß es in dem am 16. Februar in Bonn veröffentlichten Jahresbericht des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung (EBCO). Die Regierung in Ankara missachte damit seit mehr 14 Jahren ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes, das das Land dazu verurteilt hatte, das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen gesetzlich zu regeln.

Auch Aserbeidschan habe sein beim Beitritt zum Europarat 2001 versprochenes Gesetz über einen Ersatzdienst zum Wehrdienst bisher nicht verabschiedet, hieß es weiter. Für Menschen, die den Militärdienst verweigern wollten, habe sich die Situation ebenfalls unter anderen in der Ukraine, in Russland und in Griechenland verschärft. Gleiches gelte für das türkisch besetzte Nordzypern, wo nach einem Regierungswechsel ein Gesetzentwurf, der das Recht auf eine Kriegsdienstverweigerung enthalten habe, wieder zurückgezogen worden sei. Selbst die benachbarte Schweiz plane Bestimmungen, die den Zugang zum Zivildienst massiv verschärfen sollten.

"Jahr der Rückschritte"

"Für zahlreiche Kriegsdienstverweigerer war 2019 ein Jahr, das in erster Linie von Rückschritten und einem fehlenden politischen Interesse an der Verwirklichung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung geprägt war", erklärte der EBCO-Vorsitzende Friedhelm Schneider, der die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden in der Menschenrechtsorganisation vertritt. Die fehlende Unterstützung schadet seinen Worten nach der Glaubwürdigkeit europäischen Menschenrechtspolitik: "Gerade in einer Zeit, in der die europäische Zusammenarbeit in der Verteidigung, bei Rüstungsobjekten und gemeinsamen Militäreinsätzen zunimmt, muss das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als ein international garantiertes Menschenrecht konsequent überwacht und anerkannt werden."

Das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerer wurde 1979 als Dachorganisation für nationale Organisationen für Kriegsdienstverweigerer gegründet. Das EBCO mit Sitz in Brüssel engagiert sich nach eigenen Angaben mit Kampagnen für die Freilassung inhaftierter Kriegsdienstverweigerer und macht sich bei europäischen Regierungen und Institutionen für die Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung stark.



Philosoph, Revolutionär und Unternehmer


Lichtinstallation am Opernhaus in Wuppertal
epd-bild/Friedrich Stark
Als Sohn eines wohlhabenden Textilfabrikanten geboren, begründete Friedrich Engels zusammen mit Karl Marx den Sozialismus. Die Stadt Wuppertal feiert in diesem Jahr den 200. Geburtstag ihres berühmten Sohnes - und blickt auch kritisch zurück.

Eine Bronzebüste von ihm steht schon seit sechs Jahren in dem kleinen Park vor dem Wuppertaler Opernhaus. Meterhoch thront dort Friedrich Engels und schaut auf das historische Engels-Haus, wo er als Sohn eines wohlhabenden Textilfabrikanten aufwuchs. Vor 200 Jahren, am 28. November 1820, wurde er im heutigen Stadtteil Barmen geboren. Wuppertal feiert daher 2020 das Engels-Jahr, das am 15. Februar mit einer großen Lichtinstallation am Opernhaus und Kulturprogramm offiziell eröffnet wurde.

Auch wenn Wuppertal den Geburtstag von Engels als wichtiges Ereignis ansieht - so wie Trier den 200. Geburtstag von Karl Marx vor zwei Jahren -, soll das Wirken des Philosophen und Sozialrevolutionärs mit der gebotenen historischen Distanz betrachtet werden. "Wir setzen ihn nicht auf einen Sockel", gibt Rainer Lucas, Mit-Kurator des Engels-Jahres, die Richtung vor. "Wir setzen uns kritisch mit ihm auseinander."

Engels gehörte zum Wirtschaftsadel

Über 100 Veranstaltungen - Ausstellungen, Vorträge und Diskussionen - sollen sich mit Engels beschäftigen. "Es ist unseres Wissens das bisher größte Event, das wir in Wuppertal je hatten", sagt Oberbürgermeister Andreas Mucke (SPD).

Engels und Wuppertal - das ist eine ganz besondere Beziehung. Auch wenn es die Stadt zu Engels' Zeiten genau genommen noch gar nicht gab: Sie wurde erst 1929 als Zusammenschluss mehrerer Städte gegründet. Engels gehörte zum örtlichen Wirtschaftsadel in einer Zeit, in der die damals selbstständigen Städte Elberfeld und Barmen das Zentrum der europäischen Textilindustrie bildeten. Das Tal der Wupper war einer der wichtigsten Motoren der Industrialisierung in Deutschland.

Wachsende kommunistische Überzeugung

Die wirtschaftliche Geschichte Wuppertals ist denn auch untrennbar mit Engels' Werdegang und seiner ökonomischen Kritik verbunden. Der junge Engels konnte sich nicht mit den Bedingungen des damaligen Unternehmertums anfreunden. Während seiner Tätigkeit im väterlichen Zweiggeschäft im britischen Manchester erlebte er menschenunwürdige Lebensverhältnisse der englischen Industriearbeiter, die er in seiner Schrift "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" festhielt.

Seine kommunistische Überzeugung wuchs: In der Schrift "Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie" skizzierte er die Rolle des Industrieproletariats beim Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft der Zukunft. In Paris traf er 1844 erstmals mit Karl Marx zusammen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft und Zusammenarbeit verband, aus der der wissenschaftliche Sozialismus hervorging.

Im gemeinsam verfassten "Kommunistischen Manifest" umrissen die beiden 1848 die Grundthesen des Marxismus und hoben besonders den Klassenkampf und die internationale Solidarität der Arbeiterschaft hervor. Engels ließ Marx, der einen bürgerlichen Lebensstil durchaus zu schätzen wusste und deshalb häufig pleite war, regelmäßig Geld zukommen. Nach Marx' Tod 1883 kümmerte sich Engels um die Herausgabe des zweiten und dritten Bandes des Marx-Werkes "Das Kapital".

Ausstellung über Beziehung zu Marx

Die Beziehung von Engels und Marx ist Thema einer großen Sonderausstellung, die im Zentrum des Engels-Jahres steht. Sie öffnet am 29. März im Haus der Jugend in Barmen ihre Pforten und schildert Engels' bewegtes Leben. Mit vielen Exponaten, Werken, Bildern und vor allem zeitgenössischen Fotos werden Ereignisse, Lebens- und Arbeitswelt auf dem Weg in die Moderne gezeigt. Auch Erstausgaben bedeutender Engels-Werke sowie originale Handschriften und persönliche Gegenstände sind zu sehen.

Engels' Geburtshaus soll pünktlich zum Geburtstag im November in neuem Glanz erstrahlen und wird dafür derzeit saniert. Das Haus gehört zum historischen Zentrum, direkt nebenan ist das - wegen der Arbeiten derzeit noch geschlossene - Museum für Frühindustrialisierung in zwei Industriebauten aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert untergebracht. Ein Glasbau soll nach dem Umbau beide Gebäudeteile miteinander verbinden.

Dass die benachbarte Engels-Statue einen älteren Herrn zeigt, obwohl er nur als junger Mann in Barmen lebte und 1895 in London starb, sorgt nicht wirklich für Irritationen. Das Kunstwerk ist ein Geschenk aus China - jenem Land, das die Symbiose aus Kapitalismus und kommunistischem Überbau aus der Taufe hob und damit nach den USA zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt wurde. Die Statue brachte Wuppertal einen Zuwachs an chinesischen Touristen, die die Stadt auch für das Engels-Jahr im Blick hat - wenn nicht das Coronavirus einen Strich durch die Rechnung macht.

Frank Bretschneider (epd)


Anne Franks Kastanie


Tochterbaum der Anne-Frank-Kastanie auf dem Schulhof der Anne-Frank-Schule in Frankfurt am Main.
epd-bild/Heike Lyding
Eine Kastanie spendete Anne Frank in ihrem Versteck in Amsterdam Trost. Ein Tochterbaum stand in Frankfurt am Main - bis Unbekannte ihn vor Jahren absägten. Aber Annes Kastanie hat wieder ausgetrieben.

"Fast jeden Morgen gehe ich auf den Dachboden hinauf, um die stickige Luft aus meinen Lungen zu pusten", schrieb Anne Frank (1929-1945) in ihr berühmtes Tagebuch. "Vom meinem Lieblingsplatz aus auf dem Boden sehe ich hinauf in den blauen Himmel und in den kahlen Kastanienbaum, an dessen Zweigen kleine Tropfen wie Silber glitzern. So lange wie dies existiert, so dachte ich, werde ich leben mögen, um dies zu sehen, diesen Sonnenschein, diesen wolkenlosen Himmel."

Diese Kastanie im Hinterhof eines Nachbarhauses war Anne Franks einzige Verbindung zur Natur in ihrem Versteck in einem Amsterdamer Hinterhaus. Dort lebte sie, bis sie und ihre Familie 1944 verraten und deportiert wurden. Die 15-jährige Anne und ihre Schwester Margot starben vor 75 Jahren, vermutlich im Februar 1945, im Konzentrationslager Bergen-Belsen.

Ableger jenes Baums, der ihr im Amsterdamer Hinterhaus Trost spendete, wachsen mittlerweile überall auf der Welt, etwa vor dem Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York. Im Jahr 2008 wurde auch ein Bäumchen vor der Anne-Frank-Schule in Annes Geburtstadt Frankfurt am Main gepflanzt. Doch eines Nachts im Dezember 2013 kamen Unbekannte, sägten das gut zwei Meter hohe Bäumchen ab und nahmen es mit.

"Wer macht so was?"

"Die Schüler haben mit offenem Mund dagestanden", erinnert sich die stellvertretende Schulleiterin Monika Peuser an den folgenden Morgen. "Sie haben gefragt: Wer macht so was?" Die Polizei hat keine Hinweise finden können. "Der Fall ist nach wie vor ungeklärt", sagt der Frankfurter Polizeisprecher Manfred Füllhardt.

Mögliche Täter gibt es nicht nur im rechtsextremen Lager. Schüler oder Nachbarn, die Angst hatten, dass der Baum ihnen das Licht nehmen würde, sind zumindest denkbar. Aber Monika Peuser sagt: "Es liegt schon nahe, dass das Ganze einen antisemitischen Hintergrund hatte." Der Baum war durchaus bekannt, bei seiner Pflanzung hatten Medien darüber berichtet.

Für ihre Schülerinnen und Schüler besitze der Baum eine hohe Symbolkraft, sagt Schulleiterin Nicola Gudat: "Ein Symbol für Freiheit, auch für gedankliche Freiheit. In unserer Wahrnehmung war das schon ein Angriff."

Identifikationsfigur für die Schüler

Anne Frank, deren Gesicht in der Schule von vielen Wänden blickt, sei eine Identifikationsfigur für die Schüler. Das jüdische Mädchen wurde 1929 in Frankfurt geboren, 1934 wanderte sie mit ihrer Familie in die Niederlande aus. Als dort 1942 die Deportationen der Nazis begannen, tauchten die Franks in einem Hinterhaus unter, wo Anne ihr berühmtes Tagebuch schrieb.

"Identität und Herkunft waren große Themen für Anne Frank, und das sind sie auch für unsere Schüler", sagt Gudat. Rund 80 Prozent ihrer Realschüler haben mindestens einen Elternteil, der nicht in Deutschland geboren ist.

Zunächst schien es, als sei der Verlust des Bäumchens unersetzlich. Denn vom Mutterbaum im Amsterdamer Hinterhof ist nur noch ein Stumpf übrig: Während eines Sturms brach die durch einen Pilz vorgeschädigte Weiße Rosskastanie am 23. August 2010 ab.

Wenn es wirklich die Absicht der Täter in Frankfurt war, ein Symbol des Gedenkens an Anne Frank zu zerstören, haben sie ihr Ziel aber verfehlt: Die Kastanie hat überlebt und wieder ausgetrieben.

Grünflächenamt bemühte sich um die Kastanie

"Es war gar nicht sicher, dass das Bäumchen wieder austreibt", sagt Lothar Kehl, ehemaliger Schulhausverwalter. Aber das Grünflächenamt habe sich um die Kastanie bemüht. Mittlerweile hat sie sogar zwei kleine Stämmchen, rund drei Meter hoch.

75 Jahre nach Anne Franks Tod zählt ihr Tagebuch zu den meistgelesenen Büchern der Welt. Neuere Untersuchungen des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam datieren den Tod des jüdischen Mädchens auf spätestens Mitte Februar 1945. Ihre Mutter Edith wurde in Auschwitz ermordet, der Vater Otto überlebte als einziger der Familie die Schoah. Das Jüdische Museum in Frankfurt zeigt in einer Dauerausstellung Gegenstände aus dem Familienbesitz, die Anne Franks Cousin Buddy Elias (1925-2015) ihm als Dauerleihgaben überlassen hatte.

Die Kastanie vor der Anne-Frank-Schule ist mittlerweile durch ein halbhohes Gitter gegen Angriffe geschützt. "Aber eine 100-prozentige Sicherheit wird es nie geben", sagt Monika Peuser.

Nils Sandrisser (epd)


SPD-Vorstoß scheitert: Keine Absenkung des Wahlalters in NRW

Die SPD ist in Nordrhein-Westfalen mit ihrem Vorstoß einer Senkung des Wahlalters bei Landtagswahlen auf 16 Jahre erneut gescheitert. Der Düsseldorfer Landtag stimmte am 12. Februar in zweiter Lesung mit der Mehrheit von CDU, FDP und AfD gegen den von den Grünen unterstützen Gesetzentwurf der Sozialdemokraten.

Schon die frühere rot-grüne Landesregierung konnte sich mit dem Vorhaben vor einigen Jahren nicht durchsetzen. Sie bekam damals die für eine Verfassungsänderung nötige Zwei-Drittel-Mehrheit nicht zusammen. In NRW dürfen 16- und 17-Jährige zwar bei Kommunalwahlen an die Urnen gehen, nicht aber bei Landtagswahlen. In Bremen, Brandenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein dürfen Jugendliche dagegen schon ab 16 Jahren wählen.

Innenminister Herbert Reul (CDU) sagte in der Aussprache, er halte es nicht für klug, das aktive und passive Wahlrecht bei der Landtagswahl auseinanderfallen zu lassen - das aktive Wahlrecht ist das Recht, zu wählen, das passive Wahlrecht das Recht, sich als Kandidat aufstellen zu lassen. Darüber hinaus entstünden mit einer Absenkung unterschiedliche Rechtslagen bei Landtags-, Bundestags- und Europawahlen.

Vorbild Österreich

Der SPD-Abgeordnete Rainer Bovermann (SPD) zeigte sich überzeugt, eine Absenkung des Wahlalters könne die Demokratie stärken. Die Politik müsse die Interessen junger Menschen stärker berücksichtigen, wenn diese früher wahlberechtigt seien. Bovermann verwies zugleich auf Österreich, wo das Wahlalter seit 2007 generell auf 16 Jahre abgesenkt wurde. Studien zeigten, dass das politische Interesse der 16- bis 17-Jährigen dort gestiegen sei.

Angela Freimuth von der FDP sagte, das Vorhaben müsse weiter geprüft werden. Die FDP sei aber nicht grundsätzlich gegen eine Absenkung des Wahlalters. "Uns eint das Ziel, dass wir Menschen für unsere parlamentarische Demokratie gewinnen wollen." Die Absenkung des Wahlalters könne für Jugendliche eine zusätzliche Motivation schaffen, sich für politische Themen zu interessieren.

Grünen-Fraktionsvize Josefine Paul verwies auf die Fridays for Future-Bewegung. Diese zeige, dass junge Menschen sehr klare Forderungen hätten. Sie müssten deshalb in die Lage versetzt werden, ihre Interessen politisch auch stärker durchsetzen zu können.



Gedenk-Radtour zum Ende des Zweiten Weltkriegs

Mit einer 300 Kilometer langen Radtour erinnern junge Menschen aus Polen, Deutschland und den Niederlanden ab dem 1. Mai an das Ende des Zweiten Weltkriegs. Die fünftägige Route folgt dem Weg der von den Nationalsozialisten ins Vernichtungslager Bergen-Belsen deportierten Juden in entgegengesetzter Richtung, teilte das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk am 11. Februar in Dortmund mit. Schirmherr der Aktion ist der niedersächsische Kulturminister Björn Thümler (CDU).

Bis zu 750 junge Menschen werden den Angaben zufolge bei der friedenspolischen Radtour "Terug naar Westerbork/Zurück nach Westerbork" in fünf Tagen von Bergen-Belsen über Bremen und Papenburg nach Assen in den Niederlanden fahren. Dort soll eine zentrale Feierstunde zum Kriegsende vor 75 Jahren stattfinden. In Bergen-Belsen und bei den Zwischenstationen sind Besichtigungen und Seminare geplant. Im KZ Bergen-Belsen wurde neben schätzungsweise 70.000 anderen Menschen auch Anne Frank ermordet, deren Tagebuch weltberühmt wurde.

In Niedersachsen wird die Tour zusammengeführt mit einer weiteren Gruppe, die bereits in Auschwitz gestartet ist. Das IBB organisiert die Fahrt als deutscher Projektpartner. Das Gesamtprojekt "Peace Line - Europa erfahren" des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge will auf drei Routen quer durch Europa "ein Band des Friedens" zwischen europäischen Gedenkstätten knüpfen, wie es hieß.



Hornidge leitet künftig das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik

Anna-Katharina Hornidge wird zum 1. März neue Direktorin des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE). Die 41-jährige Soziologin habe zugleich eine Professur für Globale Nachhaltige Entwicklung an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn übernommen, teilten das Institut und die Hochschule am 12. Februar gemeinsam mit. Sie wird Nachfolgerin von Dirk Messner, der bis September 2018 das DIE geleitet hatte und Anfang dieses Jahres Präsident des Umweltbundesamtes geworden war. Seither hatte die Professorin Imme Scholz das Forschungsinstitut kommissarisch geleitet.

Hornidge studierte den Angaben zufolge Südostasienwissenschaften an den Universitäten Bonn und Singapur. 2014 übernahm sie stellvertretend die Direktorenstelle und Professur der sozialwissenschaftlichen Abteilung des Zentrums für Entwicklungsforschung in Bonn. 2015 wechselte sie als Professorin für Sozialwissenschaften in den marinen Tropen an die Universität Bremen. Hornidge ist den Angaben zufolge die erste Direktorin, die über ein gemeinsames Berufungsverfahren mit einer Universität an die Spitze des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik berufen wurde.

Angesichts der globalen Veränderungsprozesse müssten deutsche Entwicklungsforschung und -politik international eine stärker sichtbare und gestaltende Rolle in zentralen Bereichen übernehmen, erklärte die designierte Institutsdirektorin. Zu den großen Herausforderungen internationaler Zusammenarbeit zählen nach ihrer Ansicht unter anderem Umwelt- und Klimawandel, soziale Ungleichheit und das Erstarken autoritärer Regierungssysteme.



Europa-Wettbewerb in NRW will Projekte mit Großbritannien prämieren

Der von der nordrhein-westfälischen Landesregierung initiierte Wettbewerb "Europa bei uns zu Hause" sucht im Zeichen des Brexits verstärkt nach Projekten, die mit Partnern in Großbritannien umgesetzt werden. Zudem richte sich der Wettbewerb weiterhin auch an Projekte europäischer Städtepartnerschaften sowie Projekte der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit Partnern in den Niederlanden und Belgien, erklärte NRW-Europaminister Stephan Holthoff-Pförtner (CDU) am 13. Februar in Düsseldorf.

"Städte- und Projektpartnerschaften sind das Fundament der europäischen Gemeinschaft", betonte Holthoff-Pförtner. "Sie fördern den Dialog, bauen Brücken und bringen Menschen zusammen." Die Landesregierung wolle dieses vielfältige Engagement fördern. Zudem stehe der Wettbewerb in diesem Jahr im Zeichen des 70. Jahrestags der Erklärung zur Grundidee einer Europäischen Gemeinschaft, die der damalige französische Außenminister Robert Schuman in seiner Rede vom 9. Mai 1950 vorgestellt hatte.

Der Wettbewerb "Europa bei uns zu Hause" prämiert unter anderem Projekte, die den europäischen Gedanken bei Jubiläen, Festivals oder Sportveranstaltungen vermitteln, oder Workshops, in denen Ideen für neue Zielgruppen oder innovative Strategien erarbeitet werden, wie Europa den Menschen in NRW nähergebracht werden kann. In der jetzt ausgeschriebenen Wettbewerbsphase geht es um Projekte, die im Zeitraum vom 1. August 2020 bis 31. Juli 2021 durchgeführt werden. Einsendeschluss für die Bewerbungen ist der 1. Juni dieses Jahres. Erfolgreiche Projekte erhalten eine Kostenerstattung von bis zu 5.000 Euro.



Hohe Auslastung in NRW-Gefängnissen

Die Justizvollzugsanstalten in NRW sind sehr stark ausgelastet. Besonders der geschlossene Vollzug ist davon betroffen. Das liegt an älteren Gebäuden und anstehenden Bauarbeiten.

Die Anzahl der Inhaftierten in nordrhein-westfälischen Gefängnissen ist im vergangenen Jahr gestiegen. Die durchschnittliche Belegungszahl sei 2019 im Vergleich zum Vorjahr um 91 Inhaftierte gewachsen, sagte der Sprecher der Landesvollzugsdirektion NRW, Marcus Strunk, dem Evangelischer Pressedienst (epd) am 13. Februar. Er sprach von einem Engpass im geschlossenen Vollzug.

Von rund 18.900 verfügbaren Haftplätzen waren im Jahresdurchschnitt 15.737 belegt, wie die Essener "Neue Ruhr/Rhein Zeitung" (NRZ, 13. Februar) zuerst berichtet hatte. Der geschlossene Männer- und Frauenvollzug sei mit rund 94 Prozent besonders stark ausgelastet.

Das führte der Sprecher auch auf anstehende Sanierungs- und Bauarbeiten zurück. 1.566 Plätze seien aus diesem Grund nicht belegbar. Die ältesten Justizvollzugsanstalten stammten noch aus der Kaiserzeit. Der Neubau von vier Einrichtungen in Münster, Köln, Iserlohn und Willich sei geplant. Zudem werde die JVA Wuppertal-Vohwinkel im laufenden Betrieb saniert. Bei den Sanierungs- und Bauarbeiten handle es sich um einen langen Prozess, der sich noch über Jahre ziehen werde, sagte Strunk.

Im offenen Vollzug seien die Belegungszahlen angestiegen: Im Jahr 2019 belegten Inhaftierte den Angaben zufolge 3.374 Plätze im offenen Vollzug - 245 mehr als im Vorjahr. Diese Entwicklung würdigte der Sprecher als erfreulich, da der offene Vollzug eine bessere Resozialisierung ermögliche.




Soziales

Bundestag beschließt längere und schärfere Mietpreisbremse


Demonstration gegen die Lage auf dem Wohnungsmarkt in Berlin (Archivbild)
epd-bild/Chistian Ditsch
Bei der Verlängerung der Mietpreisbremse im Bundestag zeigt sich, dass die Opposition an deren Wirksamkeit zweifelt und die Koalition sie nur als Übergangslösung sieht. Mieter können bei Verstößen aber künftig mehr Geld vom Vermieter zurückfordern.

Der Bundestag hat am 14. Februar eine Verschärfung der Mietpreisbremse und eine Verlängerung um fünf Jahre beschlossen. Mieter sollen zu viel gezahlte Miete künftig bis zu zweieinhalb Jahre lang zurückfordern können. Die Grünen stimmten dem von Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) vorgelegten Gesetz zu, obwohl es ihnen nicht weit genug geht. Die Linke enthielt sich. AfD und FDP votierten gegen die Verlängerung. Lambrecht sprach von einer wichtigen Weichenstellung, damit die Mietpreisbremse weiterhin eine dämpfende Wirkung auf überhitzte Mietmärkte ausüben könne.

Die Mietpreisbremse wurde 2015 eingeführt und wäre in diesem Jahr ausgelaufen. Sie gilt nun bis Ende 2025. Sie ermöglicht den Bundesländern, Gebiete mit angespanntem Wohnungsmarkt zu bestimmen, in denen die Miete bei einer Neuvermietung nicht mehr als zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen darf. Neubauten sind ausgenommen, bestehende Mietverhältnisse auch.

CDU: Kein Instrument auf Dauer

Die Mieter werden in der Auseinandersetzung mit ihren Vermietern gestärkt: Sie können zu viel gezahlte Miete von Anfang an zurückfordern, wenn sie den Verstoß gegen die Preisbremse binnen 30 Monaten nach Vertragsabschluss rügen. Bisher erhalten sie nur das Geld zurück, das sie vom Zeitpunkt der Rüge an zu viel gezahlt haben.

Redner von Union und SPD erklärten, die Preisbremse zeige Wirkung, deshalb solle sie weitere fünf Jahre gelten. Der Anstieg der Mieten habe sich verlangsamt, erklärte die Vize-Fraktionsvorsitzende der SPD, Eva Högl. Der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Thorsten Frei (CDU) sagte, die Verlängerung der Preisbremse müsse genutzt werden, um mehr Wohnungen zu bauen. Eine Regulierung sei kein Instrument auf Dauer.

Die Grünen und die Linksfraktion kritisierten, die Koalition gehe nicht weit genug, um Mieter tatsächlich zu schützen. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken, Caren Lay, verwies auf die Mieten in Berlin. Sie hätten sich in den vergangenen fünf Jahren trotz Mietpreisbremse verdoppelt. Eine Preisbremse müsse wirksam sein und überall gelten. Vermieter, die gegen die Mietpreisbremse verstoßen, dürften nicht straffrei bleiben, forderte Lay.

FDP: Mietpreisbremse baut keine Wohnungen

FDP und AfD erklärten, eine Preisregulierung sei das falsche Instrument, um die Wohnkosten zu dämpfen. Die Mietpreisbremse baue keine einzige Wohnung, sagte die FDP-Abgeordnete Katharina Willkomm.

Union und SPD haben die Mietpreisbremse schon mehrfach verändert. Sie ist Teil eines Maßnahmenbündels gegen die stark steigenden Wohnkosten vor allem in Ballungsgebieten. Zuletzt hatte der Bundestag Änderungen zur Senkung der ortsüblichen Vergleichsmieten beschlossen, an denen sich die Mietpreisbremse orientiert. Dem Statistischen Bundesamt zufolge zahlen Neumieter in den deutschen Großstädten 21 Prozent mehr als die durchschnittliche Nettokaltmiete in diesen Städten.



Jeder Vierte in Deutschland ist arm trotz Arbeit


Der Mindestlohn ist in Deutschland im neuen Jahr auf 9,35 Euro pro Stunde gestiegen.
epd-bild/Jürgen Blume
Millionen Menschen in Deutschland kommen finanziell kaum über die Runden, obwohl sie einen Job haben. In fünf Bundesländern ist das Armutsrisiko für Erwerbstätige besonders hoch.

Jeder vierte Armutsgefährdete in Deutschland ist erwerbstätig. Das geht aus aktuellen Daten des Statistischen Bundesamtes auf Anfrage der Linken hervor, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegen. Ein weiteres knappes Viertel der Menschen, die mit ihrem Geld kaum über die Runden kommen, sind Rentner ab 65 Jahren. Auch Kinder sind stark betroffen. Zuerst hatte die "Saarbrücker Zeitung" (15. Februar) über die Zahlen berichtet.

Als armutsgefährdet gilt nach EU-Definition, wer mit weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens der Gesamtbevölkerung auskommen muss. Für Ein-Personen-Haushalte in Deutschland lag diese Schwelle 2018 bei 1.035 Euro im Monat.

Laut Statistischen Bundesamt gab es im Jahr 2018 unter den Armutsgefährdeten in Deutschland vier große Gruppen: 25,4 Prozent gingen einer Beschäftigung nach. Weitere knapp 23 Prozent waren Rentner, fast 21 Prozent Kinder und Jugendliche. Die vierte Gruppe (24,2 Prozent) stellten weitere Nichterwerbspersonen. Dazu gehören unter anderem Auszubildende, Studierende, Hausfrauen und Menschen, die arbeitsunfähig oder in einer Fort- und Weiterbildung sind. Erwerbslos gemeldete Menschen bildeten in der Statistik mit Abstand (6,7 Prozent) die fünfte Gruppe.

Bei Mindestlohn Platz sechs in Europa

Das Armutsrisiko für Erwerbstätige ist laut der Statistik in fünf Bundesländern besonders hoch: Baden-Württemberg (28,3 Prozent), Sachsen (27,8 Prozent), Hamburg (27,4 Prozent) sowie Schleswig-Holstein (26,9 Prozent) und Berlin (26,1 Prozent). Unter dem Durchschnittswert liegen Nordrhein-Westfalen (23,9 Prozent), Sachsen-Anhalt (24,3 Prozent), das Saarland und Mecklenburg-Vorpommern (je 24,4 und 24,5 Prozent), Niedersachsen (24,7 Prozent) und Bayern (24,9 Prozent).

Die Linken-Politikerin Sabine Zimmermann erklärte: "Einerseits sind Millionen Menschen arm trotz Arbeit. Andererseits stellen die Schwächsten in unserer Gesellschaft den überwiegenden Teil der Armen, also Kinder, alte Menschen und alle, die schlicht keine Arbeit finden." Die Sozialexpertin der Partei, die die Daten des Statistischen Bundesamtes angefragt hatte, forderte die Abschaffung von Hartz IV, die Ausweitung der Tarifbindung und eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns.

18 EU-Länder haben ihre Mindestlöhne zum Jahresbeginn 2020 erhöht. In Deutschland beträgt die Lohnuntergrenze nun 9,35 Euro pro Stunde und liegt damit auf dem sechsten Platz in Europa. Den höchsten Mindestlohn gibt es in Luxemburg mit 12,38 Euro, gefolgt von Frankreich (10,15 Euro), den Niederlanden (10,14 Euro), Irland (9,80 Euro) und Belgien (9,66 Euro), wie eine aktuelle Auswertung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt.



Freie Wohlfahrtspflege warnt vor Lücken in Arbeitslosenhilfe

Die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege warnt vor Lücken in der Beratung und Unterstützung von Arbeitslosen. Das neue Konzept von NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU), die Arbeitslosenzentren mit der Erwerbslosenberatung zusammenzulegen, könne landesweit zu Rissen im sozialen Netz führen, erklärte Josef Lüttig von dem Zusammenschluss der Spitzenverbände. Es bestehe die Gefahr, dass in mindestens 15 Kommunen in NRW künftig keine Angebote für Menschen in prekären Lebenslagen vom Land mehr gefördert würden.

Die 79 Arbeitslosenzentren sollen den Angaben zufolge keine Förderung mehr erhalten. Ihre Aufgabe sollen die 73 Beratungsstellen für Erwerbslose übernehmen. Lüttig betonte, die Arbeitslosenzentren böten nicht nur berufliche Orientierung für Arbeitssuchende: "Oft sind sie auch einfach nur ein Treffpunkt mit kostengünstigen oder freien Angeboten zur sozialen Teilhabe gegen Vereinsamung von Menschen in prekären Lebenslagen."

Die Beratungsstellen müssten künftig finanziell besser ausgestattet werden, forderte die Freie Wohlfahrtspflege. Es brauche einen Plan, wie Angebote flächendeckend in NRW erhalten bleiben könnten.



Verbände: Teilhabechancengesetz im Saarland "ein Erfolg"

Das Teilhabechancengesetz funktioniert laut Wohlfahrtsverbänden im Saarland. Langzeitarbeitslose konnten bereits in Arbeit vermittelt werden. Doch das Geld ist aufgebraucht und das Gesetz nur befristet.

Die Liga der freien Wohlfahrtspflege Saar fordert vom Bund Nachbesserungen beim Teilhabechancengesetz für Langzeitarbeitslose. Im Saarland sei das Gesetz zwar "ein voller Erfolg", sagte der Liga-Vorsitzende und Diakoniepfarrer Udo Blank am 13. Februar in Saarbrücken. Allerdings sei das Budget der Jobcenter im kleinsten Flächenbundesland auch für die kommenden Jahre schon erfüllt. Das Gesetz sehe bisher nicht vor, dass nicht genutzte Mittel aus anderen Bundesländern übertragen werden können.

In anderen Bundesländern sei die Nachfrage deutlich geringer, Mittel würden nicht verbraucht und damit lande das Geld im Haushaltsüberschuss des Bundes. "Ein Stück weit werden die Jobcenter, aber eigentlich die Betroffenen, dafür bestraft, dass sie sich sehr schnell sehr engagiert haben", betonte Blank. Dabei hätten die Jobcenter noch Menschen auf der Liste, die nach dem Teilhabechancengesetz in Arbeit gebracht werden könnten. "Da sind wir uns auch im Saarland mit der Landesregierung und über alle Verbände hinweg einig, dass das sehr bedauernswert und auch ärgerlich ist", sagte der Liga-Vorsitzende.

Wohlfahrtsverbände fordern vom Bund Nachbesserungen

Zu den Problemen, die es seit Start des Gesetzes gebe, gehöre auch die Befristung bis 2024. "Es gibt aus unserer Sicht keinen Grund, ein solches Gesetz zu befristen", unterstrich Blank. Langzeitarbeitslose werde es weiter geben, egal wie die Konjunktur rauf oder runter gehe. Ein weiterer Kritikpunkt seien die Voraussetzungen, um Anspruch zu haben. "Man muss so richtig langzeitarbeitslos sein, damit man in dieses Programm kommt", sagte er. Damit greife das Gesetz für den Einzelnen eher spät und erschwere so die Vorbeugung von Langzeitarbeitslosigkeit.

Beim am 1. Januar 2019 gestarteten Teilhabechancengesetz erhalten Arbeitgeber zwei Jahre lang den Lohn erstattet, wenn sie Langzeitarbeitslose einstellen. Danach sinkt der Zuschuss. Diese Regelung gilt für Arbeitslose über 25, die seit mindestens zwei Jahren arbeitslos sind und in den vergangenen sieben Jahren mindestens sechs Jahre von Arbeitslosengeld II lebten. Auch für Menschen, die seit zwei Jahren keine Arbeit haben, gibt es eine Regelung. Maximal 150.000 Menschen könnten so wieder in Arbeit gebracht werden. Der Bund stellt dafür vier Milliarden Euro zur Verfügung.

Von den bundesweit 150.000 geplanten Stellen sind der Vorsitzenden des Liga-Fachausschusses Arbeit, Astrid Klein-Nalbach, zufolge erst 35.000 bundesweit geschaffen worden. Im Saarland machten Betriebe des ersten Arbeitsmarkts zehn Prozent aus, die meisten Stellen gebe es etwa bei Kommunen oder den Wohlfahrtsverbänden, betonte sie. Der Regionaldirektion Rheinland-Pfalz/Saarland der Bundesagentur für Arbeit zufolge konnten über das Gesetz bisher 920 Frauen und Männer eine Arbeit finden.

Rebekka Trunz ist über die Regelung an eine Stelle im Café Valz der Diakonie Saar gekommen. Die 35-jährige Mutter von vier Kindern hat eine Ausbildung als Fachkraft im Hotel- und Gastgewerbe gemacht. Die dortigen Arbeitsverhältnisse ließen sich nicht mit der Kindererziehung in Einklang bringen, erklärte sie. Nun könne sie ohne Probleme morgens die Kinder in den Kindergarten und zur Schule bringen. Es bedeute ihr sehr viel, wieder Arbeit zu haben, erklärte Trunz. Sie sei wieder offener, könne ihre Miete selbst bezahlen. Zudem müsse sie sich nun fünf Jahre erst einmal keine Gedanken machen, wie es weitergehe.



Neuer Saar-Landesbehindertenbeauftragter gewählt

Daniel Bieber ist der neue Landesbeauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen im Saarland. Der Landtag wählte den bisherigen Geschäftsführer und wissenschaftlichen Leiter des Saarbrücker Instituts für Sozialforschung und Sozialwirtschaft (Iso) am 12. Februar mit 43 von 47 abgegebenen Stimmen. Insgesamt hatten sich laut Landtagspräsident Stephan Toscani (CDU) neun Menschen auf die Stelle beworben.

Bieber folgt auf Christa Rupp, die die Tätigkeit ehrenamtlich ausübte. Der Landtag hatte im vergangenen Jahr beschlossen, dass der oder die Landesbeauftragte hauptamtlich tätig sein soll. Bieber wird somit für fünf Jahre in ein Beamtenverhältnis auf Zeit berufen. Der Landesbeauftragte unterliegt dem Gesetz zufolge der Dienstaufsicht durch den Landtagspräsidenten und ist in der Amtsführung unabhängig. Seine Geschäftsstelle befindet sich im Landtag.



Kein Durchgangsverbot für Blinde mit Hund in Arztpraxis

Blinden Menschen darf das Durchqueren einer Arztpraxis mit einem Blindenführhund grundsätzlich nicht verwehrt werden. Es stelle eine verfassungswidrige Benachteiligung wegen der Behinderung dar, wenn dies nicht behinderten Menschen erlaubt ist, Blinden mit ihrem zur Orientierung erforderlichen Hund jedoch nicht, entschied das Bundesverfassungsgericht in einem am 14. Februar veröffentlichten Beschluss. (AZ: 2 BvR 1005/18) Ohne zwingende Gründe dürfe das Recht behinderter Menschen auf "persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit" nicht eingeschränkt werden, erklärten die Karlsruher Richter.

Im konkreten Fall befand sich eine blinde Frau aus Berlin in physiotherapeutischer Behandlung. Um in die Physiotherapiepraxis zu gelangen, konnten Patienten entweder ebenerdig durch den Wartebereich einer orthopädischen Praxis laufen oder durch den Hof über eine offene Stahlgittertreppe.

Als die blinde Frau am 8. September 2014 mit ihrer Blindenführhündin zum wiederholten Mal den Weg zur Physiotherapie durch die Arztpraxis nehmen wollte, wurde ihr das aus "hygienischen Gründen" untersagt. Sie könne den Umweg über die Stahltreppe nehmen. Die Frau lehnte das ab, da ihre Hündin vor der Treppe scheue und sich bereits mit ihren Krallen im Gitter verfangen habe.

Unzumutbar

Vor dem Kammergericht Berlin hatte die Frau, die inzwischen zur Durchquerung der Praxis einen Rollstuhl benutzen musste, keinen Erfolg. Doch das Durchgangsverbot ist unverhältnismäßig und benachteilige die Frau in verfassungswidriger Weise, entschieden die Verfassungsrichter. Das im Grundgesetz geschützte Benachteiligungsverbot solle behinderten Menschen zu einem möglichst selbstbestimmten und selbstständigen Leben verhelfen. Danach dürfen sie ohne zwingende Gründe nicht von Betätigungen ausgeschlossen werden, die nicht Behinderten offenstehen.

Der Beschwerdeführerin sei es nicht zuzumuten, ihren Hund vor der Praxis anzuketten und "sich von der Hilfe ihr fremder oder wenig bekannter Personen abhängig zu machen", etwa indem eine fremde Person sie in einem Rollstuhl schiebt, stellte das Bundesverfassungsgericht auch mit Verweis auf die Behindertenrechtskonvention klar. Danach müssen die individuelle Autonomie und die Unabhängigkeit von behinderten Menschen geachtet und die Teilhabe an der Gesellschaft gewährleistet werden.

Die von den Ärzten vorgebrachten "hygienischen Gründe" seien zudem nicht überzeugend. Das Robert Koch-Institut und die Deutsche Krankenhausgesellschaft hätten keine hygienischen Bedenken gegen die Mitnahme von Blindenführhunden in Praxen und Krankenhausräumen.



Loveparade-Prozess: Sachverständiger präsentiert Gutachten

Im Prozess um das Loveparade-Unglück von Duisburg soll ab dem 24. März der Sachverständige Jürgen Gerlach sein schriftliches Gutachten vorstellen. Der Verkehrsexperte der Universität Wuppertal wird die Ursachen für das Gedränge im Tunnel und den Zugang zum Loveparade-Gelände am alten Güterbahnhof erläutern, wie das Landgericht Duisburg am 14. Februar mitteilte. Zudem soll er erklären, wie das Unglück hätte verhindert werden können.

Die Befragung des Gutachters läuft nach derzeitigem Stand über acht Sitzungstage und soll bis zum 22. April dauern. Der Sachverständige hat den Angaben zufolge sein schriftliches Gutachten dem Gericht schon übergeben. Es umfasst mehr als 3.800 Seiten und enthält mehrere Simulationsvideos mit Analysen der Besucherströme.

Strafprozess gegen sieben Angeklagte mittlerweile eingestellt

In dem im Dezember 2017 gestarteten Prozess mussten sich zunächst zehn Angeklagte unter anderem wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verantworten. Bei einem Gedränge auf dem Techno-Festival waren am 24. Juli 2010 in Duisburg 21 Menschen gestorben, mehr als 600 wurden verletzt. Das Hauptverfahren findet aufgrund seiner Größe nicht im Duisburger Landgericht, sondern im Congress Center Düsseldorf Ost der Messe Düsseldorf statt.

Im Februar 2019 wurde der Strafprozess gegen sieben Angeklagte ohne Auflagen eingestellt. Gegen drei weitere Mitarbeiter der Veranstalterfirma Lopavent wird das Verfahren fortgesetzt, weil sie eine Einstellung des Prozesses abgelehnt hatten. Die Einstellung hatte die Staatsanwaltschaft damit begründet, dass das für ein Urteil erforderliche Beweisprogramm nicht bis zum Ablauf der Verjährungsfrist im Juli 2020 zu absolvieren sei. Zudem sei ein wesentliches Ziel bereits erreicht: die Aufklärung der Ursachen des Unglücks.

Nach Einschätzung des Gerichts ist die Loveparade-Katastrophe neben Planungsfehlern auf "kollektives Versagen" am Veranstaltungstag zurückzuführen. Dabei hätten unter anderem die Einrichtung einer Polizeikette auf der Rampe zum Gelände sowie Kommunikationsprobleme und Fehlentscheidungen eine Rolle gespielt.



Käßmann: Tracking von Kindern ist "ein Albtraum"


Ein Junge trägt eine GPS-Uhr, damit seine Eltern seinen Standort jederzeit mit ihrem Smartphone ermitteln können.
epd-bild/Maike Glöckner
Die Theologin Margot Käßmann rät Eltern davon ab, ihre Kinder zu tracken.

Anstatt die eigenen Kinder zu überwachen, sollten Eltern ihnen vertrauen, schrieb die frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in der "Bild am Sonntag". GPS-Tracker für Kinder, die mit Slogans wie "Selbstständigkeit bei völliger Sicherheit" beworben würden, seien "ein Albtraum". "Es gibt keine 'völlige Sicherheit'", betonte Käßmann. Kinder dürften auch mal Geheimnisse vor den Eltern haben: "Es geht um Vertrauen und Zutrauen."

Mit einer solchen GPS-Uhr können Eltern den Standort ihres Kindes jederzeit mit ihrem Smartphone ermitteln. Ein GPS-Tracker überträgt die Position des Gerätes in Echtzeit. Neben Smartphones, die grundsätzlich eine GPS-Funktion besitzen, gibt es spezielle GPS-Tracker für Kinder. Zu kaufen sind sie etwa als bunte Uhren, Anhänger für den Schulranzen oder als Einlagen für die Schuhe. Hersteller werben: Eltern wissen durch die GPS-Geräte immer, wo sich ihr Kind aufhält.



Studie: Schulunterricht zementiert traditionelle Rollenbilder

In Schulbüchern für den Wirtschaftsunterricht werden einer Studie zufolge vielfach traditionelle Rollenbilder zementiert. In den Büchern kämen fast nie Unternehmerinnen oder Managerinnen vor, heißt es in der Untersuchung der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, über die die "Welt am Sonntag" berichtet. "Frauen sind keine Arbeitgeberinnen", erklärten die Forscher vom Zentrum für ökonomische Bildung in Siegen. "Arbeitgeber sind Männer, Frauen sind Mitarbeiterinnen oder Kundinnen." Auch der Vorgang von Unternehmensgründungen werde fast ausschließlich als männliche Veranstaltung dargestellt.

Auf den rund 5.000 untersuchten Schulbuchseiten für den Unterricht in der Mittelstufe und der gymnasialen Oberstufe werde lediglich eine einzige erfolgreiche Unternehmerin dargestellt, heißt es laut Bericht in der Studie mit dem Titel "Weibliche Vorbilder in Wirtschaftsschulbüchern". Auch sonst kämen Frauen in Führungspositionen "nur in homöopathischen Dosen vor", kritisierten die Forscher. Das gelte selbst für Meisterinnen oder Spezialistinnen: "In 99 Prozent der Fälle sind Frauen in untergeordneten Rollen dargestellt."

In den Schulen müsse sich dringend etwas ändern, forderte der Chef der Naumann-Stiftung, Karl-Heinz Paqué. "Wir wollen, dass Mädchen davon träumen, erfolgreiche Unternehmerinnen zu werden", sagte er. "Dafür müssen wir uns im Bereich Gleichstellung um die Ursachen kümmern, statt uns an den Symptomen abzuarbeiten."



Zahl der Kinder in Ganztagsbetreuung gestiegen

Immer mehr Grundschüler in Deutschland werden einer Studie zufolge ganztags betreut. Rund 42 Prozent der Kinder besuchten im Durchschnitt im Schuljahr 2017/18 eine Ganztagsschule und 23 Prozent einen Hort, wie das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) am 11. Februar in Köln mitteilte. Rund 504.700 Schulkinder bis 14 Jahre hätten 2019 eine Betreuungseinrichtung besucht. 2014 seien es noch rund 454.000 Kinder gewesen. Dabei spiele neben dem Wohnort auch der familiäre Hintergrund eine Rolle.

Besonders häufig besuchen den Angaben zufolge Kinder aus Familien mit vollzeiterwerbstätigen Müttern, mit Arbeitslosengeld II sowie Sozialhilfe-Leistungen oder einem Migrationshintergrund eine Ganztagsschule. Kinder aus Familien mit einem hohen Einkommen gingen hingegen häufiger in einen Schulhort.

Berlin habe Gebühren abgeschafft

Die Entscheidung für eine Ganztagsbetreuung sei auch eine Frage der Kosten, hieß es: Im Schnitt zahlten Eltern für die Betreuung in einer Ganztagsschule 30 Euro im Monat. Für einen Hort würden etwa 41 Euro monatlich fällig. Die Kosten seien regional unterschiedlich: Berlin habe etwa die Gebühren abgeschafft.

Den Angaben des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zufolge besteht in Berlin, Brandenburg, Hamburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen eine weitestgehende Vollversorgung mit Ganztagsplätzen. Etwa jedes zweite Kind in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bayern besuche ein Angebot der Ganztagsbetreuung. Schlusslicht sei Baden-Württemberg: Dort werde etwa jedes dritte Kind betreut. Das Institut erklärte die regionalen Unterschiede mit dem Freiraum der Landesregierungen. In manchen Bundesländern wie Brandenburg, Hamburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen gebe es bereits einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz.

Die Bundesregierung solle sich mehr für den Ausbau der Betreuung engagieren, forderte Studienautor Wido Geis-Thöne. Er plädierte für ein Programm analog zum sogenannten Gute-Kita-Gesetz: Den Ländern müsse klar auferlegt werden, das zusätzliche Geld für eine bessere Ganztagsbetreuung zu investieren.



Land schaltet Online-Portal zu Intergeschlechtlichkeit frei

Nordrhein-Westfalen hat im Internet erstmals eine Website mit Informationen zur Intergeschlechtlichkeit freigeschaltet. Eltern, Lehrkräfte, medizinisches Fachpersonal oder auch Medienvertreter können sich unter https://inter-nrw.de über das Thema informieren, wie das NRW-Familienministerium am 14. Februar in Düsseldorf mitteilte. Den Angaben zufolge leben in Deutschland schätzungsweise rund 160.000 intergeschlechtliche Menschen.

Das Familienministerium hat das Online-Angebot in Kooperation mit der Ruhr-Universität Bochum entwickelt. "Die Landesregierung setzt sich dafür ein, dass intergeschlechtliche Menschen selbstbestimmt leben können. Dafür braucht es in vielen Fällen aber noch Aufklärung und Sensibilisierung der Gesellschaft und eine spezifische Beratung für intergeschlechtliche Menschen", sagte NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP). Mit der Online-Plattform sei Nordrhein-Westfalen "Vorreiter im deutschsprachigen Raum".

Unter anderem informiert die Homepage darüber, was Intergeschlechtlichkeit ist und wie Eltern damit umgehen sollten, wenn ihr Kind intergeschlechtlich ist. Die Informationen sind auf Deutsch, Englisch und Türkisch sowie in leichter Sprache verfügbar.




Gesundheit

Masern-Impfpflicht: Kita-Träger sehen Detailfragen offen


Impfung (Archivbild)
epd-bild / Andrea Enderlein
Wenn zum 1. März das Gesetz zur Impfpflicht gegen Masern in Kraft tritt, bedeutet das für Kindertagesstätten mehr Aufwand. Experten und Träger rechnen aber nicht mit einem großen Aufschrei. Haken könnte es aber vereinzelt im Detail.

Urlaube, Kontaktdaten, Termine - die Pinnwand von Andrea Buchholz in der evangelischen Kindertagesstätte in Fallersleben bei Wolfsburg hängt voll mit Planungshilfen. "Von Mutter Teresa bis zum Hausmeister bin ich hier alles", sagt die Kita-Leiterin. Mit dem 1. März kommt eine neue Verantwortung auf sie zu, der sie einerseits mit routinierter Gelassenheit und andererseits mit leichten Bauchschmerzen entgegensieht: Von dem Tag an gilt die Impfpflicht gegen Masern.

Eltern müssen dann vor dem Eintritt ihrer Kinder in die Kita oder Schule nachweisen, dass diese geimpft sind. Die Impfpflicht gilt auch für das Personal, das neu in den Tagesstätten angestellt wird. Überprüfen und dokumentieren muss das die Kita-Leitung.

"Teufel steckt in den Details"

Wohlfahrtsverbände hätten sich das anders gewünscht und halten an ihrer Kritik an diesem Punkt fest. "Es wäre richtig gewesen, diese hoheitliche Aufgabe den Gesundheitsämtern zu übertragen", sagt der Vorsitzende der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder, Carsten Schlepper. Eine große Aufregung vor dem Start der Impfpflicht hat Schlepper bisher jedoch nicht beobachtet. "Der Teufel steckt eher in den Details."

Auch wenn Impfkritiker laut Medienberichten das Gesetz noch vor dem Bundesverfassungsgericht stoppen wollen, stellen sich die Träger von Kitas schon länger darauf ein. Der Deutsche Städtetag rechnet damit, dass sich noch offene Fragen stellen werden, wenn die Impfpflicht gilt. Wichtig sei, dass die Kontrolle des Impfstatus mit geringem bürokratischen Aufwand erfolgen könne, sagt Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy. Die Landesbehörden sollten in Abstimmung mit den Kommunen zügig landeseinheitliche Verfahrensbestimmungen festlegen.

"Herdenschutz"

Die Impfpflicht wurde eingeführt, weil insbesondere bei der Zweitimpfung gegen Masern die Quote von 95 Prozent nicht erreicht wurde, bei der man vom "Herdenschutz" für die gesamte Bevölkerung ausgeht. Dennoch sind die meisten Kinder und Mitarbeitenden in den Tagesstätten bereits durchgeimpft. So verzeichnet etwa der niedersächsische Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte aktuell keine vermehrte Nachfrage nach Impfungen, wie Sprecherin Tanja Brunnert erläutert.

Noch werden in den Tagesstätten nur vereinzelt neue Kinder aufgenommen. In den kommenden Monaten aber startet etwa im Kirchenkreis Wolfsburg die Anmeldung für das nächste Kita-Jahr. "Da geht den Leiterinnen viel durch den Kopf", weiß die Kita-Geschäftsführerin des Kirchenkreises, Kerstin Heidbrock. Müssen die Caterer, die täglich das Essen bringen, auch einen Nachweis erbringen, nennt sie ein Beispiel. Noch einmal neue Fragen werden sich stellen, wenn zum August 2021 alle Kinder in den Tagesstätten und sämtliche, zum Teil langjährige Mitarbeitende die Nachweise vorlegen müssen.

"Mehr Arbeit"

Über die rechtlichen Aspekte informiert das Bundesgesundheitsministerium unter www.masernschutz.de, auch der Bundesverband für Kindertagespflege hat Antworten auf häufige Fragen ins Netz gestellt. Kita-Träger wie die hannoversche Landeskirche mit über 5.500 Tagesstätten versuchen, möglichst viel Entlastung zu bieten. Bei einer laut Gesetz möglichen Haftung von Kita-Leiterinnen von bis zu 2.500 Euro werde geprüft, ob nicht die Haftpflicht der Landeskirche in Anspruch genommen werden könne, sagt Oberkirchenrat Arvid Siegmann. "Dennoch wird es mehr Arbeit unter ohnehin schon schlechten Rahmenbedingungen geben."

Karen Miether (epd)


Studie empfiehlt Reform der Krankenversicherungen


Gesundheitskarten verschiedener Krankenkassen
epd-bild/Norbert Neetz

Die Zusammenführung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung könnte einer Studie zufolge eine spürbare Beitragssenkung für Kassenpatienten zur Folge haben. Wenn alle Bundesbürger gesetzlich versichert wären, würde die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) jährlich ein finanzielles Plus in Höhe von rund neun Milliarden Euro erzielen, heißt in der am 17. Februar vorgestellten Prognose des Berliner Iges-Instituts im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Der Beitragssatz könne entsprechend um 0,2 bis 0,6 Prozentpunkte sinken.

Jedes derzeit in einer gesetzlichen Kasse versicherte Mitglied und sein Arbeitgeber könnten demnach pro Jahr zusammen durchschnittlich 145 Euro an Beiträgen sparen, wenn auch Gutverdiener, Beamte und einkommensstarke Selbstständige mit in die GKV einzahlten. Würden die Honorarverluste der Ärzte, die bislang gegenüber der Privaten Krankenversicherung mehr abrechnen können, ausgeglichen, wären es 48 Euro jährlich, hieß es. Statt Bürgerversicherung, wie es unter anderem die SPD nennt, spricht die Bertelsmann Stiftung hier von einer "integrativen Sozialversicherung für Gesundheit und Pflege".

Ungleichheiten

Privat Versicherte verdienten im Durchschnitt 56 Prozent mehr als Kassenpatienten und könnten bei einer Fusion zu einem deutlich höheren Beitragsaufkommen beitragen, hieß es. Laut Studie nehmen zudem Privatpatienten im Vergleich medizinische Leistungen weniger in Anspruch. So suchen sie nicht so oft den Arzt auf wie GKV-Versicherte und werden deutlich seltener stationär behandelt. Während 17 Prozent von ihnen ein Mal im Jahr im Krankenhaus sind, beträgt der Anteil bei GKV-Versicherten 23 Prozent. Das liege mit daran, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen oder Pflegebedürftigkeit in den meisten Fällen gesetzlich versichert seien, erklärte der Gesundheitsexperte der Bertelsmann Stiftung, Stefan Etgeton.

Die unterschiedliche Vergütung ärztlicher Leistungen bei privaten und gesetzlichen Patienten leistet seiner Ansicht nach Ungleichheiten im Gesundheitswesen Vorschub. So ergab die Analyse am Beispiel Bayerns, dass überdurchschnittlich viele Ärzte in Städte und Regionen mit einer hohen Anzahl von Privatpatienten ansässig sind. "Einen ursächlichen Zusammenhang konnten wir in der Studie zwar nicht nachweisen", sagte Etgeton. "Ich gehe aber davon aus, dass die im Schnitt 2,5-fach höhere Vergütung ärztlicher Leistungen für Privatpatienten die Anreize für Ärzte verstärkt."

Die Studie stützt sich auf Daten des Sozio-ökonomischen Panels, das auf einer Langzeitbefragung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung beruht. Außerdem zogen die Iges-Forscher Daten der Privaten Krankenversicherer von 2019 und der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns hinzu und verglichen sie mit Statistiken von Gemeinden und Kreisen in dem Bundesland.



IW-Sozialexperte: Krankenversicherung für alle belastet junge Leute


Jochen Pimpertz
epd-West/IW-Medien GmbH

Die durch eine Bertelsmann-Studie ins Gespräch gebrachte Abschaffung der privaten Krankenversicherung würde nach Einschätzung von Fachleuten des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) auf lange Sicht stark zulasten junger Menschen in Deutschland gehen. "Belastet werden dabei vor allem die heutigen Kinder- und Enkelgenerationen", sagte der IW-Sozialexperte Jochen Pimpertz dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Köln. Denn ob durch eine Zusammenlegung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung die Solidargemeinschaft dauerhaft entlastet würde, hänge auch von deren künftiger Inanspruchnahme infolge des demografischen Wandels ab. Dort hätten in den kommenden Jahren viele privatversicherte Beamte ein relativ hohes Durchschnittsalter.

Die hohe Lebenserwartung dieser Privatversicherten beeinflusse entsprechend künftige Ausgaben einer "integrativen Sozialversicherung für Gesundheit und Pflege", wie sie die Bertelsmann Stiftung vorschlage. "Da Gesundheits- wie Pflegerisiken mit zunehmendem Alter steigen, droht den Beitragszahlern womöglich ein böses Erwachen, wenn bislang Privatversicherte zeitnah ausgabenintensivere Altersstufen erreichen", warnte Pimpertz, der den Bereich "Öffentliche Finanzen, Soziale Sicherung, Verteilung" am arbeitgebernahen Wirtschaftsforschungsinstitut in Köln leitet.

Ein funktionierendes Solidaritätsprinzip hänge auch davon ab, wie die absehbar steigenden Finanzierungslasten künftig verteilt werden. "Nicht die Abschaffung, sondern der Ausbau kapitalgedeckter Systeme erscheint vor diesem Hintergrund sinnvoll", erklärte Pimpertz. "Nicht etwa, weil diese effizienter seien, sondern weil eine fortgesetzte Verschiebung von Finanzierungslasten auf jüngere Beitragszahler dort ausgeschlossen ist."

Die Bertelsmann Stiftung fordert in einer neuen Studie die Zusammenführung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Demnach könnte die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) jährlich ein finanzielles Plus in Höhe von rund neun Milliarden Euro erzielen, wenn auch Gutverdiener, Beamte und einkommensstarke Selbstständige mit in die GKV einzahlten. Der Beitragssatz könne je nach Szenario um 0,2 bis 0,6 Prozentpunkte sinken. Für jedes derzeit in einer gesetzlichen Kasse versicherte Mitglied und seinen Arbeitgeber bedeute das konkret eine Beitragsersparnis von bis zu 145 Euro im Jahr. Zwei Effekte tragen laut Studie dazu bei: die im Durchschnitt höheren Einkommen der Privatversicherten, die zudem deutlich weniger ärztliche Leistungen in Anspruch nehmen und damit mutmaßlich gesünder sind.

epd-Gespräch: Katrin Nordwald


Mehr Anfragen zu Diskriminierungen wegen Coronavirus


Asiatische Zuschauerin mit Mundschutz beim Tischtennistunier "German Open 2020" Ende Januar in Magdeburg.
epd-bild/Guido Schiefer

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes erreichen wegen des neuartigen Coronavirus zunehmend Anfragen von Menschen asiatischer Herkunft. "Wir erleben gerade, dass Menschen pauschal wegen ihres Aussehens oder ihrer Herkunft ausgegrenzt und benachteiligt werden", erklärte Bernhard Franke, kommissarischer Leiter der Antidiskriminierungsstelle, am 12. Februar in Berlin. In den vergangenen Tagen hätten sich 19 Betroffene an die Antidiskriminierungsstelle gewandt und ihre Erfahrungen geschildert.

So habe eine Arztpraxis einem Patienten chinesischer Herkunft eine Behandlung verweigert, obwohl die betroffene Person wegen gänzlich anderer Symptome beim Arzt und seit Monaten nicht in China gewesen sei. Eine chinesische Studentin habe eine Absage bei einer Wohnungsbewerbung erhalten mit der Begründung: "Ich möchte keinen Coronavirus." Ein Gemüsehändler in einer süddeutschen Touristenmetropole habe chinesischen Touristen den Zutritt zu seinem Laden verboten.

Entschädigung geltend machen

"Menschen, die im Arbeitsleben oder bei Alltagsgeschäften Benachteiligungen wegen ihrer ethnischen Herkunft erleben, können dagegen auch vor Gericht vorgehen und die Verursacher der Diskriminierung auf Entschädigung und Schadensersatz verklagen", erläuterte Franke. Es sei sinnvoll, dass Betroffene sich über die rechtlichen Möglichkeiten beraten ließen, etwa bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.

Die Angst vor Ansteckung sei zwar verständlich. "Das Coronavirus rechtfertigt aber niemals rassistische Diskriminierung", betonte Franke.



In NRW warten über 2.000 Menschen auf Spenderorgan


Informationsblatt zu einem Organspendeausweis
epd-bild / Annette Zoepf

In Nordrhein-Westfalen warten nach Angaben der Techniker Krankenkasse (TK) derzeit mehr als 2.000 Menschen auf ein Spenderorgan. Bundesweit sind es rund 9.000 Patienten, die auf ein solches Organ dringend angewiesen sind, wie die NRW-Landesvertretung der Krankenkasse am 14. Februar in Düsseldorf mit Verweis auf aktuelle Zahlen der Stiftung Eurotransplant mitteilte. Ein Gesetz, das die Bereitschaft zur Organspende erhöhen soll, passierte am 14. Februar den Bundesrat.

Um die Neuregelung der Organspende hatte der Bundestag lange gerungen und sich schließlich im Januar auf die sogenannte Zustimmungslösung geeinigt, die von einer Gruppe um die Grünen-Chefin Annalena Baerbock und Linken-Chefin Katja Kipping eingebracht worden war. Bürger sollen demnach häufiger mit der Frage nach ihrer eigenen Bereitschaft zur Organspende konfrontiert und aufgeklärt werden mit dem Ziel, die Entscheidung auch festzuhalten. Dafür soll ein Online-Register aufgebaut werden.

Laut der TK haben in NRW nur knapp die Hälfte der Menschen (47 Prozent) einen Organspende-Ausweis, in dem sie die Entscheidung für oder gegen eine Spende festhalten. Das ist nach einer Forsa-Umfrage im Auftrag der TK bundesweit der höchste Wert. Gleichzeitig stehen 90 Prozent der Befragten in NRW einer Organ- oder Gewebespende nach dem Tod grundsätzlich positiv gegenüber.



Diskussion über Landarztquote im Saarland

Gegen den Ärztemangel in ländlichen Regionen fordern im Saarland die Ärztevertretung Marburger Bund und die Linkspartei im Landtag mehr Studienplätze. Eine Landarztquote werde das Problem der Unterversorgung nicht lösen, da bereits jetzt Ärzte in Kliniken und Praxen fehlten, teilte der Marburger Bund Saarland am 12. Februar mit. Es sei zudem "lebensfremd" von jungen Menschen noch vor Beginn ihrer ärztlichen Tätigkeit eine mehrjährige Verpflichtung zu erwarten. Der Landtag in Saarbrücken beschloss am 12. Februar einstimmig, einen Gesetzentwurf zur Landarztquote an den zuständigen Ausschuss für Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie zu überweisen.

Vertragsstrafe von bis zu 250.000 Euro möglich

Die Quote sieht vor, dass rund 22 von 281 Medizinstudienplätze an Bewerber gehen, die sich verpflichten, zehn Jahre als Hausarzt in unterversorgten ländlichen Regionen tätig zu sein. Bei ihrer Auswahl geht es nicht mehr nur um den Abiturnotenschnitt, sondern etwa auch um die bisherige Berufserfahrung. Wer das Studium nicht beendet oder nicht im Saarland arbeitet, dem soll eine Vertragsstrafe von bis zu 250.000 Euro drohen. Das Gesundheitsministerium setzt auf erste Absolventen im Jahr 2031.

Der CDU-Landtagsabgeordnete Raphael Schäfer sieht die Quote als sinnvolle Maßnahme für Bewerber, die bisher den Beruf nicht hätten ergreifen können. Dem stimmte der SPD-Politiker Magnus Jung zu. In kaum einem anderen Beruf sei der Begriff der "Berufung" so wichtig wie beim Arzt.

"Quote langfristig nur ein Baustein"

Die Landesgeschäftsführerin der Barmer Krankenkasse in Rheinland-Pfalz und im Saarland, Dunja Kleis, bezeichnete die Quote als langfristigen Baustein. Kurz- und mittelfristig löse das Gesetz keine Probleme der Unterversorgung. Sie warb vielmehr für sogenannte Eigeneinrichtungen. In diesen von den Kassenärztlichen Vereinigungen betrieben Arztpraxen könnten Ärzte als Angestellte arbeiten. Im Angestelltenverhältnis sei es einfacher, Familie sowie Freizeit und Beruf in ein ausgewogene Verhältnis zu bringen, wie es sich Medizinabsolventen heutzutage wünschten.

Auch für die gesundheitspolitische Sprecherin der Linksfraktion im saarländischen Landtag, Astrid Schramm, ist die Quote ebenfalls nur ein Baustein. Mittel- und langfristig brauche es neben mehr Studienplätzen eine bessere Nahversorgung sowie Verkehrsinfrastruktur. Wenn junge Menschen eine Region verließen, weil sie sich abgehängt fühlten, könne man nicht erwarten, dass junge Ärzte dann dort hinzögen, erklärte sie.



NRW bekommt flächendeckend Telenotärzte

Notärzte sollen bald in ganz Nordrhein-Westfalen per Video ihre Patienten behandeln. Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU), Vertreter der Krankenkassen, die kommunalen Spitzenverbände und die Ärztekammern unterzeichneten am 11. Februar in Düsseldorf eine entsprechende Absichtserklärung. Sie planen demnach, dass bis Ende 2022 in jedem Regierungsbezirk mindestens ein Telenotarzt im Einsatz ist. Bislang gibt es einen Notarzt per Video in Aachen. Ein neues Telenotarzt-System ist in den Kreisen Höxter, Lippe und Paderborn geplant.

Laumann würdigte das System als eines der herausragenden Projekte in der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Für die Verbände der Krankenkassen sagte Rolf Buchwitz, stellvertretender Vorsitzender des Vorstandes der AOK Rheinland/Hamburg, der Telenotarzt ergänze die tägliche Notfallversorgung gerade in Situationen, in denen seine physische Anwesenheit nicht gelinge oder nicht möglich sei. Der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Hans-Albert Gehle, betonte, die Initiative schließe Versorgungslücken und Patienten könnten gezielter ambulant oder stationär betreut werden.

Das Telenotarzt-System soll den Angaben zufolge das bestehende Notarztwesen ergänzen. Nicht bei jedem Notfall sei eine persönliche Anwesenheit eines Mediziners nötig. Vieles könnten die Kräfte des Rettungsdienstes alleine bewältigen. Ein Notarzt könne auch per Video die Rettungskräfte unterstützen.

Den Plänen zufolge sind die Telenotarzt-Arbeitsplätze rund um die Uhr und das ganze Jahr über besetzt. Für eine optimale Versorgung sind nach einer Analyse zwölf bis 16 solcher Telenotarzt-Systeme in NRW nötig.



Grippeschutz: Behörde rät zu Karneval vom Teilen von Schminke ab

Jecken und Narren sollten nach Empfehlungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Lippenstifte und andere Schminkutensilien nicht gemeinsam verwenden. Um die Übertragung einer Grippe oder Erkältung durch sogenannte Schmierinfektionen zu vermeiden, sollten Menschen bei Karnevalsfeiern auch Gläser und Besteck nicht teilen, erklärte die Behörde am 17. Februar in Köln. Zudem sollten die Karnevalisten beim Husten und Niesen Einwegtaschentücher verwenden oder in die Armbeuge niesen beziehungsweise husten. Regelmäßiges und gründliches Händewaschen schütze ebenfalls vor einer Erkältung oder der Grippe.

Polizei warnt vor K.O.-Tropfen

Die Bundeszentrale erinnerte auch an den Schutz durch eine saisonale Grippeimpfung für Feiernde. Die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe riet ebenfalls zur Impfung. Eventuell erreiche man nicht mehr den vollständigen Schutz, der Krankheitsverlauf könne aber mit der Impfung abgeschwächt werden, betonte der zweite Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung, Volker Schrage, mit Blick auf die närrischen Tage, die mit Weiberfastnacht am 20. Februar beginnen.

Vor möglichen Verbrechen in der Karnevalszeit bis Fastnacht am 25. Februar warnte der Kriminalpräventive Rat der Stadt Düsseldorf. Mit sogenannten K.O.-Tropfen wollten Täter ihre Opfer orientierungs-, hilfs- oder willenlos machen. Feiernde sollten daher ihr Glas nicht unbeaufsichtigt lassen, auf sich selbst und Freunde achten und bei plötzlich auftauchender Übelkeit, Schwindel oder Unwohlsein einen Krankenwagen und die Polizei alarmieren.




Medien & Kultur

Düstere Farben, Narben und ein gefesseltes Lamm


Pablo Picassos berühmte Friedenstaube in der Ausstellung
epd-bild/Judith Michaelis
Der Maler Pablo Picasso lebt und arbeitet während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Paris. Seine Bilder aus dieser Zeit spiegeln Leid und Gewalt nur indirekt. Eine Ausstellung in Düsseldorf zeigt einige seiner Werke aus den Kriegsjahren.

Der Mann trägt ein gefesseltes Lamm im Arm. Daneben zeigt eine Skizze mehrere Tiere in dem für Pablo Picasso typischen klaren Strich: Die Schafe scheinen zu klagen. Entstanden sind die Bilder Mitte Juli 1942. An diesen Tagen wurden 12.000 jüdische Bürger im von deutschen Truppen besetzten Frankreich verhaftet und viele von ihnen in der Radrennbahn, dem Wintervelodrom, in Paris festgehalten.

Picasso (1881-1973) malt die Vorgänge nicht unmittelbar. Er sei kein Fotograf, der Ereignisse darstellen wolle, sagte er später. "Aber ich bin sicher, dass der Krieg Eingang genommen hat in die Bilder, die ich geschaffen habe." Unter dem Titel "Pablo Picasso - Kriegsjahre 1939 bis 1945" zeigt die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen seit dem Wochenende 70 Gemälde, Zeichnungen, Radierungen und Skulpturen des spanischen Künstlers im Museum K20 in Düsseldorf.

"Inneres Exil"

Zwischen Rückzug in die Provinz und Arbeit mitten in Paris spielt sich Picassos Leben während der Kriegsjahre ab. Er schließt sich nicht dem Widerstand an, wenn er auch gelegentlich verfolgten Künstlern oder Galeristen hilft. Den Nationalsozialisten gilt Picasso als "entartet". Sie verbieten Ausstellungen seines Werks. Dennoch arbeitet er weiter, zieht sich zurück ins "innere Exil". Allein 270 Gemälde seien in diesen Jahren entstanden, sagt Ausstellungskuratorin Kathrin Beßen.

Als der Krieg sich im Sommer 1939 ankündigt, zieht Picasso mit seiner Lebensgefährtin Dora Maar - die er in dieser Schaffensphase oft malt - in das ruhigere Städtchen Royan in Westfrankreich, wo bereits seine andere Lebensgefährtin, Marie-Thérèse Walter, und die gemeinsame Tochter Maya leben. Obwohl deutsche Truppen im Juni 1940 Paris besetzen, kehrt Picasso aber schon bald in die Hauptstadt zurück. Er lebte weitgehend unbehelligt als öffentliche Person, auch konnte er seinen Lebensstandard halten und litt in diesen Jahren weniger als andere unter den Nationalsozialisten.

Dennoch hält Museumsleiterin Susanne Gaensheimer die gedeckten, dunklen Farben der Gemälde, die Narben, die Picasso in Gesicht und Figur von Dora Maar malt, für einen Ausdruck der Gewalt und des Leids der Kriegszeit. Auch das Stillleben mit blutigen Schafsschädeln aus dem Jahr 1939 lässt sich als Klage und Aufschrei sehen. Außer dem Krieg in seiner unmittelbaren Umgebung beschäftigt Picasso der Bürgerkrieg in seinem Heimatland Spanien.

Zyklus von Aktstudien

Mit dem Tod seiner Mutter 1939 muss er zudem einen persönlichen Schmerz verkraften. Die Kunsthistoriker sind sich aber einig, dass Picasso nie mehr so eindeutig die Auswirkungen des Krieges dargestellt hat wie in seinem monumentalen Gemälde "Guernica", das er 1937 als Antwort auf das Bombardement der spanischen Stadt durch die deutsche Wehrmacht gemalt hatte.

Die Düsseldorfer Ausstellung, die als französisch-deutsche Zusammenarbeit zuvor in Grenoble gezeigt wurde, ist auf sieben Räume konzentriert und chronologisch geordnet. Eine Rarität ist ein Zyklus von fünf Zeichnungen, in denen Picassos Arbeitsweise erkennbar wird: auf zwei Darstellungen einer liegenden Frau - noch weitgehend realistisch - folgen Studien, wie daraus ein Frauenbild in dem für Picasso typischen Stil mit vom Körper losgelösten geometrischen Elementen entsteht.

Aufschlussreich sind auch Fotografien, Bücher und Ausschnitte aus Zeitungen. Darin ist etwa Picassos Beitritt zur Kommunistischen Partei Frankreichs im Oktober 1944 - nach der Befreiung von Paris - dokumentiert. Er gehörte zur "Partei der Wiedergeburt Frankreichs".

Irene Dänzer-Vanotti (epd)


Fantastische Frauen


"Fantastische Frauen" in der Frankfurter Schirn: Auch das Gemälde von Rachel Baes "Das Lanzenstechen" (1957) hängt in der Ausstellung.
epd-bild/Peter Juelich
Die Schirn-Kunsthalle setzt eine Tradition fort: Sie stellt vergessene Künstlerinnen einer Epoche vor. Die neue Schau macht Surrealistinnen bekannt. Sie stehen den berühmten männlichen Künstlern in nichts nach - machen aber doch einen Unterschied.

Sie waren geprägt vom "Bankrott der alten Gesellschaft" nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Die Künstler um den Schriftsteller André Breton mit seinem 1924 in Paris veröffentlichten "Manifest des Surrealismus" teilten die Ablehnung von Materialismus, Rationalismus und Kapitalismus. Sie suchten eine darüber, in Traum und Unbewusstem liegende Wirklichkeit zu erfassen und für die Freiheit in der Gesellschaft zu kämpfen. Bekannt wurden vor allem männliche Vertreter wie Salvador Dalí, Max Ernst, Marcel Duchamp oder René Magritte. Künstlerinnen waren aber genauso Teil des Surrealismus - ihnen widmet die Schirn-Kunsthalle in Frankfurt am Main ihre erste große Ausstellung des Jahres unter dem Titel "Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo".

Die bis 24. Mai geöffnete Ausstellung zeigt rund 260 Gemälde, Papierarbeiten, Skulpturen, Fotografien und Filme von 34 Künstlerinnen aus Europa, den USA und Mexiko. Die Schau vervollständige ein wesentliches Kapitel der Kunstgeschichte, betont Direktor Philipp Demandt.

Auch weniger bekannte Künstlerinnen

Diejenigen Künstlerinnen sind nach den Worten der Kuratorin Ingrid Pfeiffer zu sehen, die direkt mit der von André Breton und seinen Freunden gegründeten surrealistischen Bewegung persönlich oder durch Ausstellungen verbunden waren. Neben bekannten Namen wie Louise Bourgeois, Frida Kahlo, Leonora Carrington, Meret Oppenheim oder Dorothea Tanning sind zahlreiche weniger bekannte Persönlichkeiten wie Leonor Fini, Alice Rahon oder Kay Sage aus mehr als drei Jahrzehnten surrealistischer Kunst zu entdecken.

"Der qualitative und quantitative Beitrag von Künstlerinnen zum Surrealismus ist bisher nur von Fachleuten beleuchtet worden", führt Demandt ein. Die Künstlerinnen verwendeten die gleichen Elemente wie die Künstler, aber ein zentrales Thema griffen sie anders auf: den weiblichen Körper. Die Künstler hätten häufig abgeschnittene Frauenkörper ohne Kopf dargestellt, erklärt die Kuratorin Ingrid Pfeiffer. "Die Surrealisten verherrlichten die Frauen in ihren Schriften, in ihren Kunstwerken zerlegten sie sie."

Die Surrealistinnen suchten nach den Worten von Pfeiffer selbstbewusst ein neues weibliches Identitätsmodell. So kehrt beispielsweise Leonor Fini (1907-1996) in ihren Bildern die traditionellen Motive von Frau und Mann um. Junge Männer liegen nackt schlafend, während Frauen oder weibliche Wesen über ihnen wachen. "Fini deutet die schlafende Venus von Tizian in einen schlafenden Eros um", interpretiert Pfeiffer.

Motive indigener Völker

Ebenfalls selbstbewusst, aber androgyn stellt sich Claude Cahun (1894-1954) auf ihren kleinformatigen schwarz-weißen Fotografien dar. Mal blickt sie grimmig mit kurzer Frisur, mal trägt sie Glatze oder hält eine Hantel auf dem Schoß (Selbstporträt 1927). Später stand Cahun auf der Kanalinsel Jersey im Widerstand gegen die deutschen Besatzer "ihren Mann". Sie wurde gefasst und 1944 zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde nicht vollstreckt, aber Cahun litt bis zu ihrem Tod unter den Folgen der Haft.

Die Künstlerinnen griffen auch Motive außereuropäischer Kunst indigener Völker auf. Paradebeispiel dafür sind Gemälde von Frida Kahlo (1907-1954): Im "Selbstbildnis mit Dornenhalsband" (1940), das Kahlo während der Trennung von ihrem Mann Diego Rivera malte, trägt sie einen Dornenkranz um den Hals, von dem Blut heruntertropft. An den Dornen hängt ein Kolibri, "aufgespannt wie Christus am Kreuz", beschreibt Pfeiffer. Der Kolibri stehe für den aztekischen Sonnengott und sei ein Hoffnungssymbol, die Schmetterlinge auf dem Kopfschmuck ein Zeichen für Verwandlung und Neuanfang. "Kahlo verwebt präkolumbianische und christliche Kunst", erklärt Pfeiffer. Sie habe ihre Ikonographie geschaffen "wie vor ihr kein anderer Künstler".

Von Jens Bayer-Gimm (epd)


Arp Museum Rolandseck zeigt Bilder von Salvador Dalí


Salvador Dali Bildnis "Kopf von Beethoven" aus dem Jahr 1973
epd-bild/Fundacio Gala-Salvador Dali, Figueres
Salvador Dalí und Hans Arp gehörten Ende der 1920er Jahre zum Kreis der Pariser Surrealisten. Das Arp Museum Rolandseck widmet den überraschend engen Bezügen im Werk der beiden Künstler nun erstmals eine Ausstellung.

Eine Nixe liegt im Rheintal, Tiger springen über den Fluss und weiße Elefanten staksen auf Spinnenbeinen durchs Siebengebirge: Salvador Dalí ist seit Sonntag zu Gast im Arp Museum Rolandseck. Ein speziell präpariertes Augmented-Reality-Fernrohr projiziert Figuren aus einem Bild des spanischen Surrealisten in die Rhein-Landschaft unterhalb des Museums. Das Original-Gemälde präsentiert die Ausstellung "Salvador Dalí und Hans Arp. Die Geburt der Erinnerung", die bis zum 16. August im Neubau des Museums zu sehen ist. Rund 70 Werke Dalís sind dafür an den Rhein gereist, darunter 17 Gemälde. Sie treffen dort auf rund 40 Arbeiten Hans Arps.

Der Museums-Patron und sein Gast scheinen auf den ersten Blick ein ungleiches Paar: Der exzentrische Salvador Dalí (1904-1989) mit seinen leuchtend farbigen surrealistischen Gemälden trifft auf den eher zurückhaltenden Hans Arp (1886-1966), einen Hauptvertreter der organischen Abstraktion. "Die Bildsprache der beiden Künstler könnte kaum unterschiedlicher sein", sagt Museumsdirektor Oliver Kornhoff. Doch bislang wurden Dalí und Arp auch noch nie in einer Doppel-Ausstellung gezeigt. In Rolandseck stellt sich nun heraus, dass sie weit mehr gemeinsam haben, als angenommen.

"Lassen wir Picasso beiseite"

Fest steht, dass Dalí den 17 Jahre älteren Arp schätzte. In einem kunstkritischen Essay schrieb er: "Lassen wir Picasso beiseite. Wir werden lernen müssen, uns besser mit Arp zu verstehen." Das war 1928, noch bevor er mit Arp zusammentraf. Als sich der Spanier im darauffolgenden Jahr den Surrealisten rund um den französischen Schriftsteller André Breton in Paris anschloss, war Arp in diesem Kreis bereits fest etabliert.

Die Surrealisten suchten die Wirklichkeit des Menschen im Unbewussten und nutzten den Traum als Quelle künstlerischer Eingebung. Arp, der bereits als Mitbegründer des Dadaismus mit Arbeitstechniken des Zufalls und der Intuition experimentiert hatte, konnte sich schnell mit den Ideen des Surrealismus identifizieren. Er blieb dabei jedoch seinem Weg in die Abstraktion treu. Dalí, der sich schon zu Lebzeiten als Medienstar zu inszenieren wusste und heute als bekanntester Maler des Surrealismus gilt, schuf hingegen gegenständliche Gemälde mit traumbildhaften Visionen.

Künstlerischer Dialog

Im Arp Museum treten Werke des spanischen Meisters, darunter das großformatige Gemälde "Traum der Venus" mit seinen fließenden Uhren oder das "Hummer-Telefon", in einen Dialog mit Arp. Die Bezüge zwischen den charakterlich so unterschiedlichen Künstlern sind überraschend: So schuf etwa Hans Arp 1930 einen weiblichen Torso aus Bronze, während Dalí im gleichen Jahr eine verblüffend ähnliche Skulptur in einer hitzeglühenden, orangefarbenen Landschaft malt.

Arps Bronze-Skulptur "Kleine Sphinx" von 1942 erscheint als organische Abstraktion des liegenden weiblichen Aktes in Dalís Gemälde "Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen" (1942). Und während Arp dichtete: "Die Luft ist ein Löwe, die Luft hat vorn ein riesiges Maul", setzt Dalí diese Worte 1929 in seinem Gemälde "Erleuchtete Lüste" in phantastische Bilder um.

Ludwig van Beethoven faszinierte Surrealisten

Neben Dalís Verbindung zu Arp widmet sich die Ausstellung auch der Faszination des Surrealisten für Ludwig van Beethoven, dessen 250. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird. Der in Bonn geborene Komponist taucht mehrfach in Dalís Werken auf. Zu sehen ist unter anderem ein großformatiges Beethoven-Porträt, das für die Rolandsecker Ausstellung erstmals das Dalí-Museum in Figueres verlassen durfte.

In einem zweiten Teil der Ausstellung im alten Bahnhofsgebäude des Museums ist eine Auswahl von Dalís filmischem Schaffen zu sehen, darunter etwa "Der andalusische Hund" oder das Opern-Epos "Être dieu". Der Film "Dreams of Dalí" ermöglicht es, mit einer VR-Brille in die surreale Welt des Malers einzutauchen.

Claudia Rometsch (epd)


Türkisches Gericht spricht Schriftstellerin Asli Erdogan frei


Asli Erdogan
epd-bild/Heike Lyding

Ein Gericht in Istanbul hat die in Deutschland lebende türkische Schriftstellerin und Journalistin Asli Erdogan vom Vorwurf des Terrorismus freigesprochen. Das bestätigte das PEN-Zentrum Deutschland mit Sitz in Darmstadt am 14. Februar dem Evangelischen Pressedienst (epd). Asli Erdogan war unter anderem wegen "terroristischer Propaganda" angeklagt. Die 52-Jährige arbeitete für die kurdisch-türkische Zeitung "Özgür Gündem".

Die Schriftstellerin wurde im August 2016 zusammen mit weiteren Journalisten der Zeitung in Istanbul festgenommen, etwa einen Monat nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli. Nach mehr als vier Monaten wurde Asli Erdogan wieder freigelassen, der Prozess gegen sie begann Ende Dezember 2016. Im September 2017 erhielt sie eine Ausreisegenehmigung und lebt seither in Frankfurt am Main. In dem Monat unmittelbar nach dem Putschversuch waren in der Türkei 35.000 Menschen verhaftet und 130 Zeitungen und Medienanstalten verboten worden.



Auswärtiges Amt kritisiert Verfahren gegen Deniz Yücel


Deniz Yücel
epd-bild/Christian Ditsch

Angesichts der hohen Strafforderung der türkischen Staatsanwaltschaft gegen den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel hat die Bundesregierung ihre Forderung nach einem zügigen und rechtstaatlichen Verfahren bekräftigt. Ein Sprecher des Auswärtigen Amts sagte am 14. Februar in Berlin, es gebe in der Türkei aber leider weiterhin Prozesse wie den gegen Yücel, "in denen die Substanz der Vorwürfe beziehungsweise die Verhältnismäßigkeit fraglich scheinen und das Verfahren sich sehr lang hinzieht".

Dies betreffe auch andere deutsche Staatsbürger. Außenminister Heiko Maas (SPD) dringe darauf, dass die Fälle alle gelöst würden, sagte der Sprecher. Solange dies nicht geschehe, sei dies etwas, was der Normalisierung des Verhältnisses zur Türkei entgegenstehe.

Vorwurf Terrorpropaganda

Im Prozess gegen Yücel in der Türkei hatte die Staatsanwaltschaft am 13. Februar 16 Jahre Haft gefordert. Die Ankläger werfen dem Journalisten "Propaganda für eine Terrororganisation" und "Aufstachelung des Volkes zu Hass und Feindseligkeit" vor. Die Staatsanwaltschaft forderte zudem eigene Ermittlungen gegen Yücel wegen "Beleidigung des Präsidenten".

Im Februar 2017 hatte ein Haftrichter Untersuchungshaft gegen Yücel angeordnet, der seit Mai 2015 als Türkei-Korrespondent für die "Welt" arbeitete. Der Journalist hatte sich in einigen seiner Artikel kritisch über den Kurdenkonflikt und den Putschversuch im Juli 2016 geäußert. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte Yücel in einer Rede als "PKK-Vertreter" und "deutschen Agenten" bezeichnet. Der Journalist saß gut ein Jahr im Gefängnis, davon rund zehn Monate in Isolationshaft. Im Februar 2018 wurde er freigelassen und kehrte nach Deutschland zurück. Ende Juni 2018 begann der Prozess in Istanbul in seiner Abwesenheit.



NRW-Landtag debattiert über Situation des Zeitungsmarktes

Über zurückgehende Auflagen der Tagszeitungen in Nordrhein-Westfalen hat am 14. Februar der Landtag diskutiert. Die SPD forderte mehr Anstrengungen seitens der Regierung, die Verlage vor dem Hintergrund des digitalen Wandels, der die Printauflagen fallen lasse, zu unterstützen. Der medienpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Alexander Vogt, warf Schwarz-Gelb vor, sich zu sehr mit Bundesmaßnahmen zu schmücken.

Im Vorjahr hatte die Landesregierung eine Bundesrats-Initiative für den gemeinnützigen Journalismus gestartet. Damit sollen Vereine und Stiftungen, die den Journalismus unterstützen, künftig als gemeinnützig anerkannt und damit steuerbegünstigt werden. Auch die Ausweitung des reduzierten Mehrwertsteuer-Satzes von sieben Prozent auf digitale Zeitungsangebote sowie Zuschüsse für die Zeitungszustellung befürwortete die Regierung.

Die SPD will vor allem die von CDU und FDP 2018 aufgelöste öffentliche Journalismus-Stiftung "Vor Ort NRW" wieder gestärkt sehen. Die Stiftung hat seit 2015 regionale und lokale digitale Medienprojekte und Angebote zur Weiterbildung unterstützt. Sie wurde zwar in die Landesanstalt für Medien (LfM) integriert, ist damit aber aus Sicht der SPD nur noch in abgespeckter Form vorhanden. Gerade der Lokaljournalismus sei wichtig für eine funktionierende Demokratie, betonte Vogt.

Grüne werben für Schulfach Medienkunde

Nach Einschätzung des FDP-Abgeordneten Thomas Nückel kann es "die Lösung" zur Rettung der Zeitungsvielfalt nicht geben. Nahezu alle Medien in den westlichen Ländern stünden vor dem Problem, dass die Leser für die Arbeit der Journalisten nicht mehr zahlen wollten als für Streaming-Dienste wie Spotify oder Netflix. Doch seien Subventionen im Medienbereich "brandgefährlich", weil sie die Intransparenz förderten.

Der medienpolitische Sprecher der Grünen, Oliver Keymis, sprach sich für die Einführung des Fachs Medienkunde in den Schulen aus. Nur wenn schon den Kindern und Jugendlichen Medienkompetenz vermittelt werde, werde es für Zeitungen auch eine künftige Leserschaft geben. Darüber hinaus müsse der Lokaljournalismus gestärkt werden, da ansonsten das Interesse am Medium Zeitung komplett wegbreche.

Grund für die Debatte war eine Große Anfrage der SPD-Fraktion zur Situation des Zeitungsmarktes in NRW. Heimatministerin Ina Scharrenbach (CDU) berichtete, dass seit 2016 die Auflage von Boulevardblättern um ein Drittel zurückgegangen sei. Die Auflage der Lokalzeitungen sank den Angaben zufolge im gleichen Zeitraum um elf Prozent.



Ludwig-Börne-Preis 2020 geht an Christoph Ransmayr

Der österreichische Schriftsteller und Essayist Christoph Ransmayr (65) erhält den Ludwig-Börne-Preis 2020. Das habe der alleinige Preisrichter, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, entschieden, teilte die Börne-Stiftung am 12. Februar in Frankfurt am Main mit. Der nach dem Publizisten Ludwig Börne (1786-1837) benannte und mit 20.000 Euro dotierte Preis für herausragende Essays, Kritik und Reportagen wird am 17. Mai in der Frankfurter Paulskirche überreicht.

Die Reden und Reportagen Ransmayrs zeichneten sich durch genaue Weltbeobachtung und tiefe Menschlichkeit aus, schreibt der Bundespräsident in seiner Begründung. In von Uneinigkeit und Abgrenzungen geprägten Zeiten halte er auf emphatisch-aufklärerische Weise das Einende hoch. "Weder Nation, noch Konfession, noch Stand, noch Geschlecht sind es, die für ihn zählen, sondern allein die Gleichheit der Menschen und das Geheimnis der Existenz", betont Steinmeier.

Philosoph und Ethnologe

Der in Wels in Oberösterreich geborene Christoph Ransmayr studierte Philosophie und Ethnologie in Wien. Danach arbeitete er als Kulturredakteur und Autor für verschiedene Zeitschriften, unter anderem für "Geo" und "Merian". Seit 1982 ist er freier Schriftsteller, lebt in Wien und West Cork/Irland. Große Erfolge feierte er mit seinen Romanen "Die letzte Welt" (1988), "Der fliegende Berg" (2006) und "Cox: oder Der Lauf der Zeit" (2016). Er wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bertolt-Brecht-Preis, dem Heinrich-Böll-Preis und dem Kleist-Preis.

Im vergangenen Jahr hatte die Schriftstellerin Eva Menasse den Börne-Preis erhalten. Vorherige Preisträger waren auch Hans Magnus Enzensberger, Ex-Bundespräsident Joachim Gauck und der Philosoph Peter Sloterdijk.



Hölderlinturm öffnet zum 250. Geburtstag des Dichters neu


Hölderlinturm in Tübingen
epd-bild/Gerhard Bäeuerle
Der Hölderlinturm ist ein Wahrzeichen Tübingens. Zum 250. Geburtstag des Dichters hat das gelbe Gebäude eine neue Ausstellung erhalten. Besucher kommen dabei Hölderlins Verskunst auf die Spur.

Zwei Jahre war er geschlossen, von Sonntag an hat das Publikum wieder Zutritt: Der Tübinger Hölderlinturm präsentiert nach einer Sanierung für mehr als 2,1 Millionen Euro eine neu konzipierte Ausstellung über den Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843). Damit eröffnet Tübingen das Jubiläumsjahr zum 250. Geburtstag des Poeten, wie die Universitätsstadt am 14. Februar mitteilte.

Über drei Etagen erstreckt sich eine multimediale Ausstellung, die das Lebenswerk des Dichters präsentiert. Sie zeige Hölderlin als "radikalen Arbeiter an der Sprache und als Inspirator der Künste", sagte Kurator Thomas Schmidt vom Deutschen Literaturarchiv Marbach bei der Präsentation der neuen Räume. In einem Sprachlabor können die Besucher selbst mit Silben, Worten und Versen experimentieren.

"Streit mit den eigenen Gedanken"

Hölderlin wohnte von 1807 bis zu seinem Tod 1843 in dem Turm bei der Familie eines Schreinermeisters. Das Gebäude brannte allerdings 1875 bis auf die Grundmauern ab und wurde danach wieder aufgebaut. Die Ausstellung zeigt aus der Zeit Hölderlins einen Tisch, an dem der Dichter laut historischen Quellen selbst gearbeitet hat. Kurator Schmidt hob hervor, dass Hölderlin laut schriftlichem Zeugnis auf diesen Tisch geschlagen habe, wenn er im "Streit mit den eigenen Gedanken" gewesen sei. Hölderlin habe in der zweiten Lebenshälfte unter einer psychischen Krankheit gelitten.

Johann Kreuzer, Präsident der Hölderlin-Gesellschaft, wies auf die internationale Wirkung des Dichters hin. Hölderlins Werke seien in 83 Sprachen übersetzt, in China würden zu Hochzeiten gerne Hölderlinsprüche zitiert. Die Hölderlin-Gesellschaft habe künftig ihren Sitz wieder in dem Turm in der Tübinger Bursagasse.

Laut Kreuzer übte Hölderlin mit seinen Texten auch wesentlichen Einfluss auf die Philosophie aus. So hätten sich Martin Heidegger und Theodor Adorno in ihrer philosophischen Arbeit ausdrücklich auf den Dichter berufen. Kreuzer bedauerte, dass Hölderlin als Schullektüre langsam verschwinde, "was dringend zu ändern ist". Gleichzeitig beobachte er bei jüngeren Menschen wieder eine größere Resonanz auf Hölderlin.

Garten mit "Gedichtlaufstrecke"

Kulturbürgermeisterin Daniela Harsch erklärte, dass nach einem Beschluss des Tübinger Gemeinderats der Eintritt zum Turm frei sei. Die Kosten für das Museum sollen unter anderem durch Spenden getragen werden. Vor dem Haus gibt es einen Garten mit einer "Gedichtlaufstrecke" und Informationsstelen. Der gelb gestrichene Hölderlinturm liegt direkt am Neckar und grenzt an ein ehemaliges Krankenhaus an, in dem der Dichter psychiatrisch behandelt wurde. Heute befindet sich dort das Philosophische Seminar der Universität.

Europaweit sind nach Angaben des Deutschen Literaturarchivs mehr als 650 Veranstaltungen zu Hölderlins 250. Geburtstag geplant. Die Leiterin des Museums Hölderlinturm, Sandra Potsch, kündigte an, dass es künftig auch Literaturvermittlungsprogramme für Schüler aller Klassenstufen geben soll. Museumsführungen in leichter Sprache oder mit Audio-Beschreibungen für Sehbehinderte stünden bereits zur Verfügung.



Hohenzollerngruft im Berliner Dom wird umgestaltet


Die Hohenzollerngruft im Berliner Dom
epd-bild/Rolf Zöllner
Mehr Licht, mehr Information, mehr Besinnung - in den kommenden drei Jahren soll die Gruft umgebaut werden. Sie gilt als wichtigste dynastische Grablege Deutschlands.

Die Hohenzollerngruft im Berliner Dom ist von März an bis voraussichtlich Frühjahr 2023 geschlossen. Grund sind Bau- und Sanierungsmaßnahmen im Umfang von 17,3 Millionen Euro, wie der Vorsitzende des Domkirchenkollegiums, Stephan Harmening, am 13. Februar mitteilte. Ziel sei es, die Gruft mit ihren mehr als 90 Grabmälern und Särgen zu einem würdevollen Ort der Totenruhe und bedeutenden Erinnerungsort der deutschen Geschichte umzugestalten. Die Hohenzollerngruft gilt als wichtigste dynastische Grablege Deutschlands.

Von den Kosten trägt die Domgemeinde zehn Prozent, den Rest teilen sich Bund und Land. Zudem fördert die Cornelsen Kulturstiftung mit 200.000 Euro unter anderem einen neuen Informationsort. In diesem der Gruft vorgelagerten Raum sollen die Besucher auf den Ort eingestimmt und über die Geschichte der Hohenzollern aufgeklärt werden. Dazu ist unter anderem ein interaktives Modell der Gruft geplant.

Schimmel an den Särgen

Das Haus Hohenzollern sei in die Umbaupläne eingebunden, beteilige sich aber nicht finanziell daran, hieß es weiter. Gruft, Särge und Grabmale befinden sich im Eigentum der Domkirchengemeinde, wie Harmening betonte. In der Gruft sind unter anderem der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1640-1688), der preußische König Friedrich I. (1657-1713) und seine Ehefrau, Königin Sophie Charlotte (1668-1705), bestattet. In knapp 40 Prozent der Särge wurden Kinder bestattet.

Während des Umbaus sollen die Särge an einem sicheren, aber dennoch würdevollen Ort innerhalb Berlins gelagert werden, sagte Domarchitektin Sonja Tubbesing. Wo dies sein wird, wurde nicht bekannt gegeben.

Im vergangenen Jahr zählte der Dom 765.000 Besucher, drei Viertel davon aus dem Ausland. Bei ihrem Rundgang kommen sie auch durch die Gruft. Dadurch sei etwa die Luftfeuchtigkeit in dem Gewölbe angestiegen. Es gebe Schimmel an den Särgen, Furniere würden sich heben. Erstmals soll deshalb in der Gruft eine Klimaanlage eingebaut werden. Auch die Beleuchtung soll verbessert werden.

Barrierefrei

Die Sarkophage sollen zudem wieder in der historischen Aufstellung eines Gräberfeldes wie auf einem Friedhof angeordnet werden. Dadurch sollen die einzelnen Särge für die Besucher zugänglicher werden. Mit dem Umbau wechselt der Zugang zur Gruft wieder auf die Nordseite des Doms, wo er sich bereits bis zum Abriss der angrenzenden Denkmalskirche im Jahr 1975 befand. Der bisherige Zugang führt über ein relativ schmales Treppenhaus in das Untergeschoss und lasse die Besucher unvermittelt in die Grablege eintreten, ohne dass sie sich des besonderen Charakters des Ortes bewusst seien, hieß es.

Geplant ist auch, Dom und Gruft ab 2023 barrierefrei begehbar zu machen. Dazu werden zwei Aufzüge eingebaut. Die sanitären Anlagen sowie Dom-Shop und Cafe werden vergrößert. Auswirkungen auf das Eintrittsgeld, die sogenannte Domerhaltungsgebühr von derzeit sieben, ermäßigt fünf Euro, werde der Umbau nicht haben, sagte Harmening.

Die 1905 errichtete Hohenzollerngruft enthält insgesamt 94 Bestattungen vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Zusammen mit den in der Predigtkirche über der Gruft stehenden Prunksarkophagen und Grabdenkmälern repräsentieren sie 500 Jahre brandenburgisch-preußische Grabkultur.



Superman Trump, Zündler Putin und "Che Guegreta"


Frankfurter Caricatura zeigt beste Bilder des Jahrzehnts (Foto: Karikatur von Mario Lars, 2013).
epd-bild/Thomas Rohnkes
Das Frankfurter Caricatura-Museum zeigt in diesem Frühjahr die besten Cartoons des vergangenen Jahrzehnts. Die 284 Exponate spießen die Ereignisse und Stimmungen ihrer Zeit auf und verpacken sie als witzig-satirische Knallbonbons.

Seit 2010 gibt der Oldenburger Lappan-Verlag einen schmalen Cartoonband heraus, der aus den besten komischen Zeichnungen des Jahres besteht. Seit 2016 dienen diese "Besten Bilder" als Auswahlgrundlage für den Deutschen Cartoonpreis. Zum Jubiläum der bei Teen- wie Best Agern beliebten Reihe präsentiert das Frankfurter Caricatura-Museum bis zum 14. Juni eine große Sonderausstellung.

Die 274 Exponate fangen nach den Worten von Caricatura-Leiter Achim Frenz Geschehnisse und Stimmungen ein und diskutieren sie mit allen Mitteln des Satirischen: Verzerrung, Übertreibung, Mehrdeutigkeit, Ironie, Zynismus. Darüber hinaus gäben sie einen Überblick über die Entwicklung von Satire und Humor im deutschsprachigen Raum, aber auch der Zeichenstile.

Missbrauchsskandal und Vuvuzelas

Ihre humoristischen Fingerabdrücke hinterlassen in Frankfurt insgesamt 81 Künstlerinnen und Künstler, darunter Renate Alf, Harm Bengen, Peter Butschkow, Gerhard Glück, Katharina Grewe, Gerhard Haderer, Rudi Hurzlmeier, Til Mette, Stephan Rürup und Tetsche.

Sie lassen die Höhe- und Tiefpunkte des Jahrzehnts witzig-leicht oder bitter-böse Revue passieren: Angefangen von dem 2010 aufgedeckten Missbrauchsskandal im katholischen Canisius-Kolleg in Berlin, den nervtötenden Vuvuzelas zur Fußball-WM in Südafrika, über das Anwachsen des Populismus und des Rechtsextremismus, der griechischen Finanz- und der deutschen Dieselkrise bis hin zu den falschen Heilsversprechungen von Google, Facebook, Youtube und Co.

Jede Menge Lästerfutter bieten den Cartoonisten auch die Skandalnudeln Tebartz van Elst, Uli Hoeneß und Alice Schwarzer, der Zündler Wladimir Putin, der Superman Donald Trump und die Klimaschutz-Ikone Greta Thunberg, die die Zeichnerin Dorthe Landschulz in Anspielung an den marxistischen Revolutionär und Guerillaführer Che Guevara "Che Guegreta" nennt.

Gezeichneter Protest nach "Charlie Hebdo"-Attentat

Der Überblick über die besten Cartoons versammele nicht nur alle, "die mit Zeichengerät und wachem Geist die Zeitläufe in ihren Absonderlichkeiten bis zum Wahnsinn aufs Korn nehmen", schreibt der frühere Linken-Fraktionschef im Bundestag, Gregor Gysi, im Vorwort des rechtzeitig zur Ausstellung erschienenen Bandes "10 Jahre Beste Bilder". Sie erinnerten auch an "die Momente in dieser Zeit, in denen menschliche Werte unseres Zusammenlebens außer Kraft gesetzt schienen".

Zum Beispiel an den islamistischen Anschlag auf die Pariser Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" im Januar vor fünf Jahren. Der heimtückische Angriff, bei dem elf Menschen kaltblütig ermordet wurden, veranlasste fast alle Cartoonisten zum gezeichneten Protest. Fast schon ikonischen Charakter hat die Arbeit "Der Tag danach" des österreichischen Zeichners Gerhard Haderer. Sie zeigt einen Wald aus frisch gespitzten Riesenbuntstiften, der einem vermummten Attentäter mit Kalaschnikow bedrohlich auf die Pelle rückt.

Europäischer Zynismus

Immer wieder spießen die Zeichner das Schicksal der Flüchtlinge auf, die auf Seelenverkäufern von Libyen oder der Türkei aus über das Mittelmeer ins gelobte Land unterwegs sind. Sie scheitern entweder am Zynismus der Europäer wie in dem Cartoon von Denis Metz, der zwei Personen an der Reling eines Supertankers belauscht: "Wir können euch nicht mehr aufnehmen, sonst wählen noch mehr die AfD". Oder die Wahrnehmung der Elendsgestalten aus Afrika scheint getrübt zu sein von der gefährlichen Überfahrt, wie auf der Zeichnung von Greser & Lenz aus dem Jahr 2015. Dort kreuzt ein voll besetztes Boot auf dem Mittelrhein vor dem Loreleyfelsen.

Besonders drastisch drückt Rainer Ehrt seine Enttäuschung und seine Wut über das Wegsehen der Reichen und Satten im Norden aus. Auf seinem Aquarell aus dem Jahr 2018 ist ein überfülltes Flüchtlingsboot dargestellt, das gerade von einer Monsterwelle erfasst wird. Im Hintergrund stehen aufgereiht übergroße Figuren, die sich die Flaggen der EU, Italiens, Griechenlands, Frankreichs, Spaniens, Ungarns, Österreichs und Deutschlands vor die Augen halten.

Dieter Schneberger (epd)


Narren feiern "Ode an die Freu(n)de"


Beethoven und die "Ode an die Freu(n)de"
epd-bild/Guido Schiefer
Im Beethoven-Jubiläumsjahr ist der Komponist auch im rheinischen Karneval präsent. In Bonn, Köln, Düsseldorf und Aachen wird es bei den Rosenmontagszügen einen Mottowagen mit dem gleichen Motiv geben.

Bei den Rosenmontagszügen in Köln, Bonn, Düsseldorf und Aachen wird ein Motivwagen mit einer Beethoven-Figur mitfahren, den die Beethoven Jubiläums GmbH und die beteiligten Festkomitees am 14. Februar in Köln vorstellten. Unter dem Motto "Ode an die Freu(n)de" zeigt er Ludwig van Beethoven in einem Lappenclown-Kostüm, das aus den Fahnen der Staaten der Europäischen Union besteht. Über der charakteristischen Haarpracht sind die Sterne der Europafahne zu sehen. Eine Feder, die Beethoven in der Hand hält, zeigt das BHTVN2020-Logo, das als Dachmarke für das Programm im Jubiläumsjahr dient.

Die von Beethoven komponierte "Ode an die Freude" sei heute die Europahymne, erläuterte Ralf Birkner, Geschäftsführer der Beethoven Jubiläums GmbH. Am Hof des Bonner Kurfürsten habe der Komponist die Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kennengelernt. "Er strebte eine Welt ohne Standesunterschiede an", sagte Birkner. "Das erleben wir auch im Karneval: Alle Narren sind gleich."

"Alle Narren sind gleich"

Das Motto "Ode an die Freu(n)de" sei zudem auch ein Symbol für die freundschaftliche Zusammenarbeit der vier beteiligten Festkomitees. Der Entwurf für den Beethoven-Motivwagen stammt von dem Düsseldorfer Wagenbauer Jacques Tilly, die zeichnerische Umsetzung von Dirk Schmitt vom "Kommando Kritzelköpp" des Festkomitees Kölner Karneval.

Zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven (1770-1827) findet ein ganzes Festjahr unter dem Motto "Beethoven neu entdecken" mit bundesweit Tausenden Veranstaltungen statt. Auf dem Programm stehen nicht nur Konzerte mit Werken des Komponisten, sondern auch Ausstellungen und touristische Angebote. Das Jubiläumsjahr steht unter der Dachmarke BTHVN2020, in Anlehnung an Beethovens verkürzte Signatur "Bthvn", mit der er selbst gelegentlich Briefe und Partituren unterzeichnete.

Ludwig van Beethoven wurde 1770 in Bonn geboren und zog im Alter von 22 Jahren nach Wien, wo er 1827 starb. Er ist auch heute noch einer der weltweit meist gespielten Komponisten.



Joseph Vilsmaier mit 81 Jahren gestorben

Die deutsche Filmwelt trauert um einen ihrer größten Regisseure: Joseph Vilsmaier ist tot. Die Filmlandschaft habe damit einen leidenschaftlichen Künstler verloren, sagte Kulturstaatsministerin Monika Grütters.

Wie die Münchner PR-Agentur "Hüttersen Presse und Text" im Auftrag der Familie mitteilte, starb Vilsmaier am 11. Februar im Alter von 81 Jahren in München. Er sei "im Kreise seiner Töchter Janina, Theresa und Josefina" in seinem Zuhause "friedlich verstorben". Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) würdigte Vilsmaier als äußerst erfolgreichen Regisseur. Die deutsche Film- und Fernsehlandschaft verliere einen leidenschaftlichen Künstler.

Grütters sagte weiter, dass Vilsmaier Maßstäbe für filmisches Erzählen gesetzt habe. "Mit seinen deftig-sinnlichen, wirklichkeitsnahen Geschichten hat er sie alle gekriegt - die ganze Breite des Publikums hat er beeindruckt." Er habe ein Millionenpublikum für komplexe, historische Themen begeistert.

Erfolg mit "Herbstmilch"

Der Intendant des Bayerischen Rundfunks, Ulrich Wilhelm, bezeichnete Vilsmaier als einen "herausragenden Künstler, der es wie kein anderer verstand, den bayerischen Film in die Welt hinauszutragen". Vilsmaier habe seit fast 50 Jahren mit seinen Werken die Filmlandschaft maßgeblich geprägt: als Kameramann, Regisseur und Produzent.

Tatsächlich stand Vilsmaier, der zunächst eine Ausbildung in den Bereichen Kopierwerk und Kameratechnik absolviert hatte, bei vielen seiner Filme selbst hinter der Kamera. Vilsmaier war bekannt für seine Filme wie "Herbstmilch" (1989), "Schlafes Bruder" (1995), "Comedian Harmonists" (1997) und "Die Geschichte vom Brandner Kaspar" (2008). Insgesamt sieben Mal wurde er mit Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet.

Letzter Film mit Bully Herbig

Vor "Herbstmilch" machte Vilsmaier bereits als Fernsehfilmer von sich reden. Der gebürtige Münchner schuf etwa die Mehrteiler "Ein Stück Himmel" (1982) nach den Erinnerungen von Janina David an das Leben im Warschauer Ghetto und ein Jahr später die Bergarbeiter-Saga "Rote Erde" über das Ruhrgebiet. Weitere Kinoerfolge wurden unter anderem "Rama Dama" (1991) über Münchner Trümmerfrauen oder "Marlene" (2000) über das Leben der Schauspielerin Marlene Dietrich.

Vilsmaier, geboren 1939 in München, absolvierte eine Ausbildung in den Bereichen Kopierwerk und Kameratechnik. Zeitgleich studierte er Musik am Münchner Konservatorium. Bei der Bavaria Film arbeitete er zunächst als Kameraassistent, später als Kameramann. Seit 1978 war er freischaffend. Die Regie-Arbeit an seinem letzten Film "Der Boandlkramer und die ewige Liebe" konnte Vilsmaier noch abschließen. Der Film mit Michael Bully Herbig und Hape Kerkeling soll im November in die Kinos kommen.



Thea Dorn übernimmt Moderation des "Literarischen Quartetts"

Die Schriftstellerin und Publizistin Thea Dorn ist künftig alleinige Gastgeberin der ZDF-Literatursendung "Das Literarische Quartett". Mit drei wechselnden Gästen debattiert sie sechsmal pro Jahr über vier Neuerscheinungen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt, darunter auch neu aufgelegte Klassiker, wie das ZDF am 14. Februar in Mainz mitteilte. "Das Literarische Quartett" wandele sich von der klassischen Kritikerrunde zum literarischen Salon und orientiere sich auch an den vielen Lesekreisen im Land. Zum Jahreswechsel hatten sich die beiden Gastgeber Volker Weidermann und Christine Westermann aus der Sendung verabschiedet, die das "Quartett" seit 2017 gemeinsam mit Dorn präsentiert hatten.

Für die erste Sendung am 6. März hat Dorn die Radiojournalistin und Autorin Marion Brasch, die österreichische Bestsellerautorin Vea Kaiser und den Publizisten und Verleger Jakob Augstein als Mitstreiter eingeladen, wie es hieß. Als weitere Gäste für 2020 hätten Juli Zeh, Sahra Wagenknecht, Eva Menasse, Ulrich Matthes, Marko Martin, Joachim Meyerhoff und Feridun Zaimoglu zugesagt.

Das einst von Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ins Leben gerufene "Literarische Quartett" war 2015 neu aufgelegt worden. Gastgeber waren Weidermann, Westermann und zunächst Maxim Biller sowie jeweils ein wechselnder Gastkritiker. Biller schied im Dezember 2016 aus, im März 2017 kam Dorn zum festen Stamm hinzu.



Medienwächterin Holsten stellt Podcast "Unreguliert" nach Kritik ein


Cornelia Holsten
epd-bild/Tristan Vankann/fotoetage

Die Direktorin der Bremischen Landesmedienanstalt (Brema), Cornelia Holsten, gibt ihren Podcast "Unreguliert" nach nur zwei Folgen wieder auf. Das Projekt war in Medienberichten auf teils harsche Kritik gestoßen. "Der Aufwand, eine kritische Diskussion über diesen Podcast zu begleiten und ständig Nachfragen zu beantworten, steht in keinem Verhältnis zur Idee und zum Ziel des Projekts", sagte die 49-Jährige dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Ich stecke meine Energie dann lieber in andere Tätigkeiten."

Modeblogger interviewt

In der ersten Folge hatte Holsten den Modeblogger Maximilian Arnold interviewt. Kommentatoren monierten unter anderem, Holsten habe Arnold keine kritischen Fragen gestellt und sich vorher nicht über dessen umstrittene Methoden zur Steigerung seiner Reichweite bei Instagram informiert. Die Brema-Direktorin biete sich als "Groupie" für "Marketing-Stars" an, lautete eine Kritik. Holsten sagte in dem epd-Gespräch, die Vorwürfe gegen Maximilian Arnold seien ihr zum Zeitpunkt der Aufzeichnung des ersten Podcasts nicht bekannt gewesen.

Bei einigen Reaktionen auf den Podcast sei ihr eine "sexistische Tonalität" aufgefallen, die für sie "überraschend und irritierend" gewesen sei. "Die Idee war, mit dem Klischee einer Anstaltsdirektorin zu brechen und mit einer leichten, spielerischen Darstellungsform neue Zielgruppen für trockene Medienthemen zu interessieren", sagte Holsten. "Der Humor und die Selbstironie wurden aber offenbar nicht erkannt."

"Mit vollem Herzen Reguliererin"

Holsten betonte in dem epd-Gespräch, sie sei "mit vollem Herzen Reguliererin". Das ändere sich auch nicht dadurch, dass sei "einmal einen Perspektivwechsel vollziehe und die Rolle der Fragestellerin übernehme". In der zweiten Ausgabe des Podcasts war Holstens Amtskollege von der nordrhein-westfälischen Landesmedienanstalt, Tobias Schmid, zu Gast.

Der Podcast "Unreguliert. Frau Holsten fragt nach" mit "Geschichten aus dem Leben mit und in den Medien" war Mitte Januar gestartet worden. Die Medienaufseherin gewinnt dem Projekt auch Positives ab: "Ich habe beispielsweise viele neue Erkenntnisse zur Auffindbarkeit von Audio-Inhalten gewonnen, die ich in anstehenden Regulierungsfragen sehr gut einsetzen kann", sagte sie.

epd-Gespräch: Michael Ridder


Nolde-Bild kehrt nach über 80 Jahren nach Bielefeld zurück

Die Kunsthalle Bielefeld hat für ihre Sammlung ein Werk von Emil Nolde (1867-1956) erneut angekauft, das in der NS-Zeit beschlagnahmt worden war und seitdem als verschollen galt. Das kleinformatige farbige Bild "Rentner" von 1920 sei 2018 nach Jahrzehnten in Privatbesitz wieder auf dem Kunstmarkt aufgetaucht, teilte Kunsthallen-Sprecherin Anne Kaestner am 12. Februar mit. Ende 2019 sei der Rückkauf dank einer Förderung der Kulturstiftung der Länder möglich gewesen. Unterstützung erhielt die Kunsthalle demnach auch von der Stadt Bielefeld, privaten Geldgebern und Mäzenen wie Brigitte und Arnd Oetker. Der Kaufpreis betrug 680.000 Euro.

Damit ist nach dem "Sämann" von Christian Rohlfs ein zweites, nach der Beschlagnahme 1937 verloren geglaubtes Hauptwerk der Gemäldesammlung wieder in die Kunsthalle Bielefeld zurückgekehrt, wie Kaestner sagte. Zum Sammlungsbereich Klassische Moderne gehören auch die beiden Nolde-Gemälde "Männerköpfe" (1912), erworben 1961, und "Tropenwald" (1914), eine Schenkung der Unternehmerfamilie Oetker im Jahr 1951.

Emil Noldes Brustbild eines Rentners gehört den Angaben zufolge in eine Reihe von Typen-Bildnissen, die 1919/20 entstanden sind. 1929 kam es in die Sammlung des damaligen Städtischen Kunsthauses Bielefeld. Der Ankauf erfolgte aus einer Nolde-Ausstellung heraus, die zuvor dort gezeigt worden war. 1937 beschlagnahmte das NS-Propagandaministerium unter Josef Goebbels das Bild und 135 weitere Werke aus der Sammlung. In Berlin sollten sie als "international verwertbare" Kunstwerke verkauft werden. Die meisten der 136 Bilder gingen verloren.



Kunsthistorisches Standardwerk "Dehio" wird digitalisiert

Das kunsthistorische Standardwerk "Dehio" wird digitalisiert und in eine frei zugängliche Online-Plattform überführt. Das "Dehio-Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler" gelte seit rund 100 Jahren als Referenzwerk für Baudenkmäler und ihre Ausstattung im deutschsprachigen Raum, teilte die Universität Marburg am 11. Februar mit. Mittlerweile umfasse das nach seinem Erstautor Georg Dehio (1850-1932) benannte Handbuch rund 24.000 Seiten mit etwa 100.000 beschriebenen Bauwerken.

Federführend bei der Digitalisierung sei das Deutsche Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte - Bildarchiv Foto Marburg (DDK) der Marburger Philipps-Universität. Auf der geplanten Online-Plattform sollen Informationen des Handbuchs mit rund 150.000 digitalen Fotografien des DDK und weiteren Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen verbunden werden.

Im "Dehio" werden unter anderem Wallfahrts-, Stadt- und Landkirchen, Herrenhäuser, Technische Denkmäler wie Wasser- und Leuchttürme, Schlösser, Rat- und Bürgerhäuser beschrieben. Die gedruckte Version erscheint weiterhin im Deutschen Kunstverlag.



Hamburg feiert die Beatles

Hamburg feiert die Beatles vom 27. bis 29. März mit einem eigenen Festival. Anlass sei das erste Konzert der legendären Band im Hamburger Musikclub Indra vor 60 Jahren, teilte Hamburg Tourismus am 13. Februar mit. Mehr als 100 Konzerte, Band-Wettbewerbe, Sing-Alongs, Lesungen und Ausstellungen sollen bei "Come Together - The Hamburg Beatles Experience" an den Original-Orten der Beatles-Geschichte rund um die legendäre Reeperbahn die Beatlemania wieder zum Leben erwecken.




Entwicklung

Sekundenschnelle Schulden


Franklin Ouma und seine Frau Eunice Anyanga.
epd-bild/Bettina Rühl
In Kenia sind Kredite via Handy ganz einfach zu bekommen. Der digitale Finanzmarkt schließt kaum jemanden aus. Die Folge: Überschuldung. Kritiker warnen vor einem Kollaps des Marktes.

Was erst nach einer einfachen Lösung aussah, hat Franklin Ouma ruiniert. Der 40-Jährige bewohnt mit seiner Frau und zwei Kindern ein kleines Zimmer in Mathare, einem der Slums in der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Das Mobiliar besteht aus ein paar Plastikstühlen, einem Regal, Gaskocher, Alutöpfen und Geschirr. Ein Bett gibt es nicht, die Familie schläft auf dünnen Matten. Denn das Geld, das Ouma als Fahrer für die Taxiplattform Uber verdient, reicht hinten und vorne nicht.

Deshalb hat Ouma vor einigen Monaten einen Kredit aufgenommen. Dafür brauchte er nur ein paar Tasten seines Handys zu drücken. "Seitdem habe ich mir jeden Monat weiteres Geld geliehen", erzählt er. "Schon den ersten Kredit konnte ich kaum zurückzahlen." Anschließend sei er komplett pleite gewesen und habe sich weiteres Geld leihen müssen. "Wenn Du einmal mit diesen digitalen Krediten anfängst, kannst du nicht mehr damit aufhören." Die Zinsen seien zu hoch und die Rückzahlungsfristen zu kurz. "Das ist wie eine andere Form der Abhängigkeit, weil man immer wieder Geld leihen muss, um überleben zu können."

FinTech neuester Hype

In Kenia haben mobile Technologien den Markt in einem Rekordtempo durchdrungen und die Gesellschaft verändert. Den Anfang machte vor zwölf Jahren das Telekommunikationsunternehmen Safaricom, das zu 40 Prozent der britischen Vodafone gehört. Es brachte "M-Pesa" auf den Markt, den Geldtransfer per Handy. Der neuste Hype sind FinTech-Produkte, also digitale Finanzdienstleistungen. Für deren Entwicklung fließen aus dem Ausland hohe Summen.

Inzwischen gibt es in Kenia rund 50 mobile Kreditplattformen, heißt es in einer Studie der kenianischen Bankervereinigung. Die Rede ist dort auch von "exorbitanten" Zinsen: Die teuerste Kredit-App namens Okoa Stima verlangt demnach monatlich 43,4 Prozent Zinsen, das Geld muss innerhalb eines Monats zurückgezahlt werden. Auch andere digitale Anbieter verlangen Zinsen, die in Deutschland als sittenwidrig verboten sind. In Kenia ist der FinTech-Sektor jedoch weitgehend unreguliert.

2,7 Millionen auf "schwarzer Liste"

"Alle Statistiken zeigen, dass die Rate der überschuldeten Haushalte in Kenia sehr hoch ist", warnt der britische Wirtschaftswissenschaftler Milford Bateman. So kam eine Studie des internationalen Beratungsunternehmens Microsave zu dem Schluss, dass von 2014 bis 2017 etwa 2,7 Millionen Kenianer auf einer "schwarzen Liste" des Bankensektors verzeichnet waren, weil sie ihre Schulden nicht begleichen konnten.

Bateman hat zusammen mit Kollegen untersucht, welche Auswirkungen die FinTech-Produkte in Afrika haben. "Die Leute nehmen drei, vier oder fünf Kredite auf und geraten in vielerlei Schwierigkeiten", sagt Bateman. Das gelte vor allem für junge Menschen, und ganz besonders für diejenigen, die digitale Kredite für digitale Wetten nutzen.

Als Kernproblem bezeichnet Bateman die "riesigen Profite der Unternehmen". Das betreffe vor allem Safaricom, eins der profitabelsten Unternehmen in Ost- und Zentralafrika. 2018 machte es 620 Millionen Dollar Gewinn. Dabei fließe ein Großteil des Geldes ins Ausland, zum Beispiel nach Großbritannien.

Sorge vor Kollaps

Ouma ist in gewisser Weise der typische kenianische Kreditnehmer. 2015/2016 untersuchte die kenianische Regierung das Haushaltseinkommen der Bevölkerung. Demnach leihen sich zwei Drittel der Kreditnehmer das Geld, um ihre täglichen Bedürfnisse zu erfüllen: die Miete zu entrichten, Schulgebühren zu zahlen und ähnliches - also um überleben zu können. Was aber auch bedeutet, dass sie das geliehene Geld verbrauchen, statt es zu investieren, um so auf Dauer ihr Einkommen zu erhöhen.

Die hohe Überschuldungsrate verändert in Kenia die Sicht auf mobile Finanzprodukte: Früher wurden sie als möglicher Entwicklungs-Motor gefeiert. Heute wächst die Sorge vor einem Kollaps des Marktes. Und vor noch extremerer Armut in den einkommensschwächeren Schichten der Gesellschaft.

Franklin Ouma sorgt sich nicht nur, er hat Angst. Zuletzt hatte der Familienvater immer zwei Kredite parallel, um einen mit dem anderen zu bezahlen. Schließlich konnte er keinen seiner beiden mehr bedienen. Jetzt gilt er als überschuldet und ist für weitere Kredite gesperrt. Nun hofft er auf das Unmögliche - auf niedrigere Zinsen. "Ich wünschte, die Kreditgeber wüssten, wie sich ein normaler Kenianer fühlt. Wie schwierig das Leben für uns ist, weil sie reich sind und viel Geld verdienen. Wir leben nur dank der Gnade Gottes."

Bettina Rühl (epd)


Jedes sechste Kind weltweit lebt in Krisengebiet


Kinder im Bürgerkriegsland Syrien (2019)
epd-bild/Sebastian Backhaus

Kriege und Konflikte werden für Kinder immer gefährlicher. Jedes sechste Kind weltweit (415 Millionen) lebte 2018 nach Angaben der Organisation Save the Children in einer Konfliktzone. Wie aus dem diesjährigen Bericht "Krieg gegen Kinder" der Kinderrechtsorganisation hervorgeht, hat sich die Zahl der Mädchen und Jungen, die in Konfliktgebieten leben, seit 1995 mehr als verdoppelt.

Der aktuelle Bericht von Save the Children legt den Fokus auf die Geschlechterrollen und untersucht, wie sich Kinderrechtsverletzungen auf Mädchen und Jungen unterschiedlich auswirken. So seien Jungen insgesamt stärker von der Rekrutierung durch Streitkräfte oder bewaffnete Gruppen betroffen. Zudem werden sie den Auswertungen zufolge häufiger entführt. Von den 2.500 Kindern, die 2018 von bewaffneten Gruppen entführt wurden, seien 80 Prozent Jungen gewesen.

Mädchen hingegen wurden laut Save the Children viel häufiger vergewaltigt, zur Kinderheirat gezwungen oder waren anderen Formen sexuellen Missbrauchs ausgesetzt. Bei mindestens 87 Prozent der bestätigten Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder seien Mädchen betroffen gewesen, heißt es in dem Bericht.

Kinder in Afrika besonders gefährdet

Die höchste Zahl der von Konflikten betroffenen Kinder lebt den Angaben zufolge in Afrika: Jedes vierte afrikanische Kind - 170 Millionen Jungen und Mädchen - lebt demnach in einem Konfliktgebiet. Die zehn gefährlichsten Länder für Kinder waren 2018 laut Bericht Afghanistan, die Demokratische Republik Kongo, Irak, Jemen, Mali, Nigeria, Somalia, Südsudan, Syrien und die Zentralafrikanische Republik.

Besonders gefährlich für Kinder sei Syrien gewesen. In Afghanistan habe es die meisten Kinder gegeben, die getötet oder verstümmelt wurden. In Somalia findet sich laut Save the Children die höchste Zahl von Kindern, die sexuelle Gewalt erfahren haben.

Strafverfolgung gefordert

"Es ist erschütternd, dass die Welt zuschaut, während Kinder ungestraft zur Zielscheibe werden", sagt Susanna Krüger, Vorstandsvorsitzende von Save the Children. "Immer öfter werden Schulen und Krankenhäuser angegriffen, Millionen von Kindern haben keinen Zugang zu Bildung oder Gesundheitsdienstleistungen. Das dürfen wir nicht länger tolerieren." Im Jahr 2018 habe es in 18 Ländern fast 1.900 bestätigte Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser sowie Besetzungen für militärische Zwecke gegeben - das sei ein Anstieg von 32 Prozent im Vergleich zu 2017, heißt es in dem Bericht.

Save the Children fordert, dass die Täter von Verbrechen an Kindern zur Verantwortung gezogen werden. Zudem fordert die Kinderrechtsorganisation die Einhaltung internationaler Regeln und Standards.



Somalia: Männer wegen Vergewaltigung von Mädchen hingerichtet

Im Norden Somalias sind zwei Männer wegen der Vergewaltigung und Ermordung eines Mädchens hingerichtet worden. Das berichtete die Nachrichtenwebsite Garowe Online am 11. Februar. Demnach wurden die beiden Männer in der Hafenstadt Bossaso in der halbautonomen Region Puntland von einem Erschießungskommando getötet. Die Hinrichtung eines weiteren Mannes, der ebenfalls wegen der Tat zum Tode verurteilt ist, wurde dem Bericht zufolge wegen noch ausstehender Ermittlungen auf kommende Woche verschoben.

Die Familie des Opfers war demnach bei der Hinrichtung anwesend. Das zwölfjährige Mädchen war vor einem Jahr in der Stadt Galkayo vergewaltigt und ermordet worden, was zu heftigen Protesten geführt hatte. Der Vater des Mädchens sagte, endlich sei der Familie und der Seele seiner Tochter Gerechtigkeit widerfahren. Die Familie begrüße derart entschiedenes Vorgehen. Der Justizminister Puntlands, Awil Sheikh Hamud, erklärte, die Hinrichtung diene als Abschreckung und sende eine ernsthafte Warnung an die Täter.

DNA-Test

Die brutal zugerichtete Leiche des Mädchens war ein Tag nach dessen Verschwinden von einem Markt gefunden worden. Über zehn Personen waren festgenommen und schließlich drei Männer im Mai wegen der Tat verurteilt worden. Es war das erste Mal in Somalia, dass DNA-Tests bei den Ermittlungen wegen Vergewaltigung eingesetzt wurden.

In Somalia wird die Todesstrafe vollstreckt. 2018 wurden laut Amnesty International 13 Personen hingerichtet. Die Todesurteile werden meist von Militärgerichten gesprochen, deren Verfahren demnach nicht rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen.



Lager in Libyen: "Es geht ums blanke Überleben"

Die Menschen in der libyschen Hauptstadt Tripolis leben laut der Psychologin Heike Zander in ständiger Angst. "Niemand weiß, wem er vertrauen kann, wann er raus gehen und wo er hingehen kann", sagte Zander, die für "Ärzte ohne Grenzen" ein halbes Jahr in Libyen gearbeitet hat, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Wegen der andauernden Kämpfe wisse, wer morgens das Haus verlasse, nicht, ob er am Abend wohlbehalten heimkehren werde. Alle Bewohner der Stadt seien davon betroffen: Flüchtlinge, Migranten, Gefangene in den Internierungslagern und die Libyer selbst.

In den drei Lagern, in denen Zander im Einsatz war, sei die Lage noch desolater. "Im Grunde geht es für alle ums blanke Überleben: Wie überlebe ich den Tag? Kriege ich genug zu essen? Kommt jemand, der sich meine Wunde anguckt? Kann ich mit einem Arzt sprechen, dem ich mich anvertrauen kann?" Auch wegen der unklaren Zukunft seien die Menschen verzweifelt. Die Lager, in denen die 39-jährige Psychologin im Einsatz war, werden von der international anerkannten "Regierung der Nationalen Einheit" betrieben. Mehr als 47.000 Flüchtlinge stecken in Libyen fest, Tausende davon in Internierungslagern.

Lager bombardiert

Im Juni 2019, kurz vor Beginn von Zanders Einsatz in Libyen, wurde das Lager Tadschura in Tripolis von einer Bombe getroffen. Bei dem Angriff wurden 53 der inhaftierten Flüchtlinge getötet. Anders als die Ersthelfer habe sie zwar keine Toten mehr gesehen, sagt die Psychologin. Dafür habe sie aber erlebt, "wie verzweifelt und unsicher die Überlebenden waren. Und wie sehr sie auf ihre Freilassung drängten", weil sie neue Angriffe fürchteten.

Die psychischen Folgen der Lagerbedingungen wirkten sich unterschiedlich stark auf die Menschen aus. "Wir hatten Wochen und Monate, in denen es so schien, als würde jeder Zweite psychisch zusammenbrechen und eigentlich ins Krankenhaus gehören", erklärt Zander. Diese Flüchtlinge seien zum Teil aggressiv oder unruhig gewesen oder hätten sogar Halluzinationen gehabt. In anderen Phasen hätten sie die Belastung aus Gründen, die bisher unklar seien, besser ertragen. Durch den Einsatz sei ihr noch bewusster geworden, aus welchen Zwangslagen heraus die Menschen versuchten, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen, sagt die Psychologin.

epd-Gespräch: Bettina Rühl


Gröhe verteidigt Pläne zu Lieferkettengesetz


Hermann Gröhe (Archivbild)
epd-bild/Hanno Gutmann

Der CDU-Politiker Hermann Gröhe hat die Pläne zu einem Lieferkettengesetz gegen Kritik aus der Wirtschaft verteidigt. "Niemand will eine Gesetzgebung, die Investitionen verhindert und Unternehmen Garantien abverlangt, die sie nicht erfüllen können", sagte der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag am 15. Februar auf einer entwicklungspolitischen Tagung in Bonn. Gröhe warf Unternehmensverbänden vor, sie trügen zur Entmutigung bei, indem sie "Zerrbilder" der geplanten Regelung propagierten. Wirtschaftsvertreter kritisieren, dass den Unternehmen Bedingungen zum Nachweis ihrer Lieferketten auferlegt werden sollen, die sie nicht erfüllen könnten.

Nachweis von Lieferketten in Arzneimittelindustrie Standard

Gröhe verwies am 15. Februar auf der Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung und des Bundes Katholischer Unternehmer darauf, dass es darum gehe, schwerste Menschenrechtsverletzungen wie Sklaven- oder Kinderarbeit in Bergwerken zu verhindern. Der Nachweis von Lieferketten sei in der Arzneimittelindustrie bereits problemlos möglich. Dort gebe es sehr genaue Regulierungen.

Wenn die Wirtschaft die Frage der Lieferkette nicht regelt, könnte daraus letztlich auch ein Reputationsschaden entstehen, gab der Christdemokrat weiter zu bedenken. "Es ist mit erheblichem Risiko verbunden." Aus diesem Grund hätten sich bereits viele Unternehmen für eine gesetzliche Regelung ausgesprochen, darunter Nestlé, KiK und Tchibo.

Die Präsidentin der Welthungerhilfe, Marlehn Thieme, appellierte an international agierende Unternehmen, nicht zu warten, bis der Staat sie zum Handeln zwinge. "Die Wirtschaft sollte sie selber entwickeln und sie auch flächendeckend umsetzen", forderte sie. Wenn der Staat eingreifen müsse, könne es möglicherweise zu Regelungen kommen, die nicht praxisnah genug seien. "Und wir haben auch verloren, weil wir womöglich unseren Staat und sein Parteiensystem mit der Umsetzung überfordern."

Menschenrechtsgruppen fordern baldiges Gesetz

Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen drängen unterdessen darauf, dass die Bundesregierung das angekündigte Lieferkettengesetz bald vorlegt. Der Schutz von Umwelt und Menschenrechten entlang der gesamten Wertschöpfungskette sei keine Utopie, "sondern nur ein Gesetz weit entfernt", erklärte die Sprecherin der Initiative Lieferkettengesetz, Johanna Kusch, am 12. Februar in Berlin. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) hatte Mitte Januar angekündigt, dass innerhalb von vier Wochen Eckpunkte für ein solches Regelwerk vorgelegt werden sollten. Bislang ist dies noch nicht geschehen.

Ein Positionspapier hatten Müller und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) Anfang Dezember gemeinsam vorgestellt. Deutsche Firmen sollen demnach gegebenenfalls haften müssen, wenn sie mit ausländischen Partnern zusammenarbeiten, die weder auf Menschenrechte noch auf ökologische Mindeststandards achten oder sittenwidrige Löhne zahlen. Grundlage ist der Nationale Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte aus dem Jahr 2016: Wenn weniger als die Hälfte der großen Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten bis 2020 der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht nachkommen, wird "die Bundesregierung weitergehende Schritte bis hin zu gesetzlichen Maßnahmen prüfen", heißt es darin.

Selbsteinschätzung abgefragt

Seit dem vergangenen Sommer laufen unter Federführung des Auswärtigen Amtes Umfragen zur Selbsteinschätzung deutscher Unternehmen, die derzeit noch andauern. Bislang waren Müller und Heil mit der Resonanz und den Ergebnissen nicht zufrieden.

Rechtsexperten der Initiative Lieferketten erstellten nun ein Gutachten. Darin heißt es, dass ein Gesetz vor allem präventiv wirken solle. "Unternehmen sollten dazu verpflichtet werden, die Risiken für Mensch und Umwelt in ihren Geschäften zu analysieren, diesen vorzubeugen und das öffentlich zu dokumentieren", erklärte Christian Schliemann vom Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR). "Verstoßen sie gegen diese Pflichten, muss das Konsequenzen haben: zum Beispiel Bußgelder oder den Ausschluss von öffentlichen Vergabeverfahren."

Ferner fordert die Initiative, dass das Gesetz auch für kleine und mittelständische Unternehmen gilt, wenn diese in Branchen mit hohen Risiken für Mensch und Umwelt tätig sind - etwa der Textilbranche. In dem Bündnis haben sich gut 90 Organisationen zusammengeschlossen, darunter Umweltverbände, Gewerkschaften und kirchliche Akteure.



Einen Tag jobben für Afrika


Collien Ulmen-Fernandes
epd-bild /Jürgen Blume

Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) und Schauspielerin Collien Ulmen-Fernandes rufen die Schulen in Deutschland dazu auf, sich am 16. Juni an der Kampagne "Dein Tag für Afrika" zu beteiligen. Statt die Schulbank zu drücken, könnten wieder Hunderttausende Schüler einen Tag lang jobben und das dabei verdiente Geld an Bildungs- und Ausbildungsprojekte in Afrika spenden, sagte Dreyer am 14. Februar in Berlin. Mit dem Erlös ermöglichten die Schüler Gleichaltrigen in Afrika den Schulbesuch oder eine Ausbildung. Das diesjährige Motto lautet "Bildung ein Zuhause geben".

Dreyer ist Schirmherrin der Kampagne, die 2002 von dem Verein "Aktion Tagwerk" in Rheinland-Pfalz ins Leben gerufen wurde. Seit 2007 findet der Aktionstag bundesweit statt. Nach Angaben der geschäftsführenden Vorsitzenden des Verein, Nora Weisbrod, haben sich in den vergangenen 18 Jahren rund 3,1 Millionen Schüler daran beteiligt. Im vergangenen Jahr erwirtschafteten am "Tag für Afrika" rund 170.000 Schüler insgesamt 1,3 Millionen Euro.

Konkret unterstützt werden nach Angaben von Weisbrod in diesem Jahr Bildungs- und Ausbildungsprojekte in Ruanda, Uganda, der Elfenbeinküste, Burkina Faso und Guinea. Ein Fokus liegt auf sogenannten Kinderfamilien in Ruanda, in denen die älteren für die jüngeren Geschwister sorgen müssen. Zudem fördert Aktion Tagwerk ein Schutzprogramm für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Deutschland. Bei allen Projekten stehe dabei die "Hilfe zur Selbsthilfe" im Mittelpunkt, betonte Weisbrod.

"Man muss es nur anpacken"

"Junge Menschen möchten etwas bewegen", sagte sie. Mit ihrem "Tagwerk" machten sie deutlich, dass Engagement vieles bewirken könne, "man muss es nur anpacken". Das Projekt sei aber auch nach 18 Jahren kein Selbstläufer. "Deshalb brauchen wir viele Schulen und Schüler, die mitmachen", sagte Weisbrod.

Ulmen-Fernandes sprach von einer großartigen Aktion, die für Kinder hierzulande das Thema Afrika greifbarer mache. Mit 17 an diesem Tag erwirtschafteten Euro könnten die Schulgebühren für ein Kind in Afrika für ein ganzes Jahr bezahlt werden, sagte die Schauspielerin, die die Kampagne bereits 2018 unterstützt hatte. Sie ermuntere deshalb jeden, bei der Kampagne "Dein Tag für Afrika" mitzumachen.

Dreyer, Weisbrod und Ulmen-Fernandes riefen Firmen "vom Startup bis zum Großunternehmen" dazu auf, an dem Tag ihre Türen für junge Leute zu öffnen. Sogenannte "Tagwerk-Jobs" können ab sofort auf der Jobbörse von aktion-tagwerk.de online angeboten werden.



EU will Kambodscha Zollvergünstigungen streichen

Der Beschluss der EU, Kambodscha Zollvergünstigungen zu streichen, erfolgt aufgrund der anhaltenden Menschenrechtsverstöße in dem südostasiatischen Land. Für Kritiker kommt der Schritt nicht überraschend.

Wegen anhaltender Menschenrechtsverstöße in Kambodscha will die EU-Kommission dem Land einen Teil seiner Zollvergünstigungen streichen. Die Verletzung des Rechts auf politische Teilhabe und der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit ließen der EU keine andere Wahl, erklärte der Außenbeauftragte Josep Borrell am 12. Februar in Brüssel. Die Maßnahme betrifft unter anderem den Import von bestimmten Kleidungsstücken und Zucker aus Kambodscha. Sie tritt am 12. August in Kraft, wenn EU-Ministerrat und Europaparlament nicht widersprechen.

Kambodschas Premierminister Hun Sen hatte betont, dass er keinem Druck seitens der EU nachgeben werde und Einmischungen von außen nicht toleriere. Für Kritiker kommt der Schritt nicht überraschend. Die Kommission hatte die Prozedur zur Aussetzung der Handelsvorteile für Kambodscha vor einem Jahr eingeleitet. Seitdem konnte sie keine ausreichenden Fortschritte bei den Menschenrechten feststellen.

Alles außer Waffen

Unter dem Schema "Everything But Arms" (EBA) genießt Kambodscha wie viele andere Entwicklungsländer zollfreien Zugang für fast alle seine Waren auf den europäischen Markt. Dies ist an Menschenrechtsstandards gekoppelt.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erklärte am 12. Februar, Hun Sen habe wiederholt die Möglichkeit bekommen, sein hartes Vorgehen gegen die politische Opposition, Aktivisten, Gewerkschafter und unabhängigen Journalisten rückgängig zu machen. Stattdessen habe der Regierungschef die Repressionen verschärft, kritisierte der Vize-Asienchef von Human Rights Watch, Phil Robertson. Es handele sich nicht um eine Bestrafung Kambodschas durch die EU. Vielmehr beruhe der Beschluss auf der "arroganten Gleichgültigkeit Hun Sens gegenüber den Menschenrechten", die dem kambodschanischen Volk schade.

Hun Sen ist seit 35 Jahren an der Macht. Seit langem werfen ihm Kritiker einen zunehmend autoritären Führungsstil vor. Die Parlamentswahlen vom Juli 2018 galten als Farce, weil alle ernstzunehmenden Gegner ausgeschaltet waren. Auf Geheiß seiner Regierung war im November 2017 die größte Oppositionspartei CNRP wegen angeblicher Umsturzpläne vom Obersten Gericht aufgelöst worden. Mittlerweile ist Kambodscha faktisch ein Ein-Parteien-Staat. Auch viele unabhängige Medien wurden gezwungen, ihren Betrieb einzustellen.



Ureinwohner Brasiliens protestieren gegen Politik Bolsonaros

Führende Vertreter der Urvölker Brasiliens haben gegen die Öffnung ihrer Gebiete für Bergbau und die Ansiedlung von industrieller Landwirtschaft protestiert. Etwa 50 Kaziken des Volkes der Guarani übergaben dem Kongress in Brasilia eine entsprechende Protestnote, wie der Indianermissionsrat Cimi am 12. Februar bekanntgab. Darin forderten sie die Rücknahme der Pläne von Brasiliens rechtsextremem Präsidenten Jair Bolsonaro, die sie als "Projekt des Todes" und als Invasion in ihr Gebiet zurückwiesen.

Bolsonaro hatte schon mehrfach betont, dass er Indigene als Hindernis für Fortschritt ansieht. Er will ihre Territorien für Bergbau, industrielle Landwirtschaft und den Bau von Wasserkraftwerken freigeben, worauf die Minen- und Agrarlobby drängt. Betroffen von seinen Plänen sind vor allem das rohstoffreiche Amazonasbecken, aber auch die Gebiete der Ureinwohner im Süden Brasiliens.

"Offener Akt der Aggression"

Die Indianer vom Volk der Guarani aus den südlichen Bundesstaaten Paraná, Santa Catarina und Rio Grande do Sul fordern in der Protestnote die Rückgabe ihres traditionellen Landes, das mehrheitlich in der Hand von Großgrundbesitzern ist. Bolsonaro hat alle Prozesse zur Legalisierung von Landbesitz von Ureinwohnern stoppen lassen.

Auf scharfe Kritik der Indigenen stieß auch die Nominierung eines evangelikalen Missionars als Chef der Indianerbehörde Funai für die unkontaktierten Völker. Ricardo Lopez Dias arbeitete für die New Tribes Mission (NTM), die heute unter dem Namen Ethnos360 arbeitet und für ihre aggressiven Kontaktierungsversuche bekannt ist, wie die Organisation Survival International erklärte. "Es ist ein offener Akt der Aggression, eine Ankündigung, dass diese Völker auch gegen ihren Willen kontaktiert werden sollen", erklärte die Organisation.

Die Funai, die für den Schutz der Indianer zuständig ist, wurde unter Bolsonaro weiter entmachtet und ihr Budget gekürzt, so dass illegale Eindringlinge in den Schutzgebieten kaum noch verfolgt werden können.