kaum wurde das Bürgergeld formell vom Bundeskabinett auf den Weg gebracht, stehen die Reformpläne massiv in der Kritik. Dass die Opposition nicht zufrieden ist, mag wenig überraschen. Aber auch die Sozialverbände sehen ihre weitgehenderen Vorschläge im Kampf gegen Armut nicht berücksichtigt. Jetzt ist der Bundestag am Zug. Kritiker der Regierungspläne hoffen, dass dort noch Verbesserungen im Hartz-IV-Nachfolgesystem beschlossen werden.
Die Energiekosten steigen weiter. Das wird zu einem Problem für Hartz-IV-Bezieher, denn sie müssen den Strom selbst aus dem Regelsatz bezahlen. Und auch die Kostenübernahme beim Wohnen ist alles andere als umfassend. Viele Haushalte zahlen drauf, weil ihre Wohnungsgröße nicht angemessen ist - die sogenannte „Wohnkostenlücke“ wächst.
Um die Finanzierung der Migrationsberatung ist ein heftiger Streit entbrannt. Die Bundesregierung will die Gelder kürzen. Das ruft die Sozialverbände auf den Plan. Deren Angaben nach fehlen im nächsten Jahr rund 22 Millionen Euro. Es drohe das Aus für viele der insgesamt 1.370 Beratungsstellen. Das sei nicht nur mit Blick auf die Ukraine-Flüchtlinge nicht hinnehmbar.
Die hohen Preise für Gas und Strom belasten auch die Pflegeheime. Ihnen fehlt für diese Kostensteigerung oft die Refinanzierung. Auch die Eigenanteile der Bewohner steigen weiter, etwa durch die Gasumlage. Diese finanziellen Belastungen seien „systembedingt“, wie Diakonie-Referent Andreas Flaßpöhler im Interview mit epd sozial klarstellt.
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Dirk Baas
Berlin (epd). Das Bundeskabinett hat die wichtigste Sozialreform der Ampel-Koalition auf den Weg gebracht. Es billigte am 14. September in Berlin den Gesetzentwurf von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) für die Einführung des Bürgergelds zum Beginn des kommenden Jahres.
Es soll die bisherigen Hartz-IV-Leistungen ablösen. Der Regelsatz für einen Erwachsenen wird von 449 Euro auf 502 Euro im Monat steigen. Ehe- und Lebenspartner oder -partnerinnen erhalten im nächsten Jahr knapp 50 Euro, Kinder zwischen 33 und 44 Euro mehr. Künftig soll bei der Berechnung die Inflation im Vorhinein und nicht erst im Nachhinein berücksichtigt werden.
Das Bürgergeld ist eine Antwort der Koalition aus SPD, Grünen und FDP auf die jahrzehntelangen Proteste gegen das Hartz-IV-System. Aus der Wirtschaft kommt Kritik, die Leistungen seien zu hoch und verringerten die Motivation zur Arbeitsaufnahme. Sozialverbände hatten im Vorfeld der Reform hingegen höhere Sätze von rund 650 Euro gefordert und auf die Inflation verwiesen, die die geplante Erhöhung bereits auffresse.
Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, warnte die Wirtschaft davor, Bürgergeld-Empfänger gegen Niedriglöhner auszuspielen. Die Erhöhung der Leistungen um 50 Euro sei für Menschen in der Grundsicherung ein überfälliger Inflationsausgleich. Wenn jetzt Stimmen aus der Wirtschaft laut würden, dass mit dem Bürgergeld Nicht-Arbeiten attraktiv werde, könne sie nur entgegnen: „Wir brauchen höhere Löhne im Niedriglohnsektor“, sagte Bentele.
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger hatte die Reform hingegen als „arbeitsmarktpolitisch fatale Wegmarke“ bezeichnet. Mit dem Bürgergeld würden keine Brücken ins Arbeitsleben, sondern in das Sozialtransfersystem geschlagen, kritisierte er. Das sei kein Zeichen von Fairness und Respekt gegenüber den arbeitenden Menschen in diesem Land. „Uns als Sozialpartner geht es darum, alle Menschen dazu zu befähigen, dauerhaft auf eigenen Beinen zu stehen. Jeder Einzelne muss die Chance erhalten, sich mit seinen jeweils eigenen Fähigkeiten in die Gesellschaft und auch in die Arbeitswelt einzubringen“, so Dulger.
Arbeitsminister Heil wies die Kritik zurück. Künftig werde nicht weniger, sondern mehr dafür getan, Menschen wieder dauerhaft in Arbeit zu bringen, erklärte er. Hilfebedürftigkeit könne jede und jeden treffen. Die Menschen müssten sich auf den Staat verlassen können. „Mit der Einführung des Bürgergelds setzen wir ein starkes Signal für Sicherheit und Respekt“, sagte der SPD-Politiker. Der Gesetzentwurf geht nun zur Beratung in den Bundestag.
Rund fünf Millionen Menschen beziehen Grundsicherungsleistungen, darunter mehr als eine Million Kinder unter 15 Jahren. Künftig sollen die Jobcenter seltener Sanktionen verhängen und stärker unterstützend tätig werden. Der bisherige Vermittlungsvorrang wird abgeschafft. Langzeitarbeitslose würden damit künftig nicht jeden Job annehmen müssen, wenn sie stattdessen durch eine Weiterbildung längerfristig bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.
Im ersten halben Jahr soll es zudem keine Sanktionen für die Bürgergeld-Bezieher geben. Anschließend kann das Bürgergeld bei Pflichtverletzungen um bis zu 30 Prozent gekürzt werden. Die früheren schärferen Sanktionen für Unter-25-Jährige werden abgeschafft. In Hinblick auf die Bürgergeld-Reform hat die Koalition die Sanktionen bereits weitgehend ausgesetzt. Zudem hatte das Bundesverfassungsgericht 2019 Leistungskürzungen von mehr als 30 Prozent für unzulässig erklärt.
Zu den Änderungen zählt auch, dass Bezieherinnen und Bezieher des Bürgergelds in den ersten beiden Jahren mehr Schutz genießen als frühere Hartz-IV-Empfänger. Ihre Wohnung wird weiterbezahlt und Ersparnisse bis 60.000 Euro werden zunächst geschont. Diese Regeln wurden bereits während der Corona-Pandemie eingeführt.
Der Deutsche Städtetag reagierte skeptisch. Die Jobcenter müssten für zwei Jahre jegliche Wohnkosten akzeptieren, kritisierte Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy. Das sei zu lange und müsse noch geändert werden. Das Bürgergeld stelle die richtigen Weichen, es müsse aber auch die Balance zwischen Förderung und Fordern erhalten bleiben, mahnte der Chef des Kommunalverbands.
Auch Sanktionen dürften nicht fehlen, die leicht verständlich seien, ganz im Sinne des Bundesverfassungsgerichtsurteils. „Wir müssen die Menschen unterstützen, ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt wahrzunehmen und nicht für lange Zeit abhängig von Sozialleistungen zu werden“, so Dedy. Unverständlich sei auch, warum der Bund die Finanzmittel der Jobcenter kürze. Die Jobcenter bräuchten ausreichend Personal und finanzielle Mittel, um aus dem Bürgergeld einen Erfolg zu machen.
Die vorgenommene Anpassung der Regelsätze an die Preisentwicklung zum 1. Januar 2023 ist aus Sicht der Arbeiterwohlfahrt (AWO) unzureichend und kommt zu spät, um die aktuelle Teuerung der Lebenshaltungskosten auszugleichen. Präsident Michael Groß sagte, für eine wirkliche Entlastung hätte es eine deutliche Erhöhung der Regelsätze gebraucht. „Die rund 50 Euro mehr für alleinstehende Erwachsene klingen nur auf den ersten Blick viel, denn angesichts der schon zuvor zu niedrigen Regelsätze und der derzeitigen Inflation wird damit gerade einmal so die Teuerungsrate ausgeglichen.“ Das Bürgergeld in seiner jetzigen Form sei leider nicht die grundlegende Reform, die es gebraucht hätte, um eine Abkehr von Hartz IV ernsthaft umzusetzen.
Ähnlich äußerte sich auch der Sozialverband SoVD. Dessen Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier sieht beim neuen Bürgergeld Licht und Schatten. „Die neue Karenzzeit für Vermögen und Wohnen gibt den Menschen Sicherheit und gleichzeitig die Chance, sich auf das Wesentliche konzentrieren zu können - ihre Jobsuche“, sagte sie. Von der angestrebten Höhe des Bürgergeldes sei sie jedoch enttäuscht: "Wir bleiben hier bei unserer Forderung von 650 Euro und 100 Euro sofort für den Übergang. Denn die Betroffenen in Grundsicherung litten schon jetzt unter explodierenden Preisen und einer immer weiter steigenden Inflation.
Berlin (epd). Das Bundeskabinett hat am 14. September das Bürgergeld auf den Weg gebracht. Es soll die Grundsicherung (Hartz IV) ablösen und ist neben der Einführung einer Kindergrundsicherung das wichtigste sozialpolitische Vorhaben der Ampelkoalition. Der Gesetzentwurf kommt von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und wird nun im Bundestag beraten. Die Änderungen betreffen knapp fünf Millionen Leistungsbezieherinnen und -bezieher sowie 405 Jobcenter mit fast 75.000 Beschäftigten. Im Folgenden die wichtigsten Punkte:
MEHR GELD: Der Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen soll am 1. Januar 2023 um 53 Euro von 449 Euro auf 502 Euro steigen. Künftig soll im Voraus statt im Nachhinein die Inflation bei der jährlichen Anpassung der Regelsätze berücksichtigt werden. Lebenspartner oder -partnerinnen sollen 451 Euro (bisher 404 Euro) bekommen, Kinder im Alter von 14 bis 17 Jahren 420 Euro (bisher 376 Euro). Für 6- bis 13-Jährige steigt der Satz auf 348 Euro (bisher 311 Euro) und für Kleinkinder bis fünf Jahre auf 318 Euro (bisher 285 Euro).
ZWEI JAHRE SCHONFRIST: Bürgergeld-Bezieherinnen und Bezieher sollen in den ersten beiden Jahren in ihrer Wohnung bleiben können, auch wenn sie eigentlich zu groß ist. Ebenso werden in der Schonfrist Ersparnisse bis 60.000 Euro nicht angerechnet, für jede weitere Person im Haushalt sind es 30.000 Euro. Damit wird eine Regelung aus den Corona-Jahren übernommen. Die früheren Hartz-IV-Regeln waren strenger.
ERSPARNISSE: Das auf Dauer gewährte Schonvermögen wird erhöht und die Überprüfung vereinfacht. Künftig bleiben Ersparnisse bis zu 15.000 Euro pro Person geschützt, bisher sind es 150 Euro pro Lebensjahr - bei einer 40-jährigen Person beispielsweise also 6.000 Euro. Verbesserungen gibt es auch bei der privaten Altersvorsorge, bei selbst bewohnten Immobilien und beim eigenen Auto.
SANKTIONEN: Im ersten halben Jahr des Bürgergeld-Bezugs (Vertrauenszeit) soll es keine Sanktionen geben - außer bei hartnäckigen Terminversäumnissen. Anschließend kann das Bürgergeld bei Pflichtverletzungen um bis zu 30 Prozent gekürzt werden. Die früheren schärferen Sanktionen für Unter-25-Jährige werden endgültig abgeschafft. Wohnung und Heizung müssen weiter bezahlt werden. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2019 Kürzungen von mehr als 30 Prozent für unzulässig erklärt. Die früheren, härteren Hartz-IV-Sanktionen sind derzeit bis zur Neuregelung ausgesetzt.
JOBVERMITTLUNG / SOZIALER ARBEITSMARKT: Der bisherige Vermittlungsvorrang soll fallen. Leistungsbezieher müssen nicht mehr jeden Job annehmen, sofern eine Aus- oder Weiterbildung sinnvoller erscheint, um ihre Job-Chancen zu verbessern. Es gibt ein monatliches Weiterbildungsgeld von 150 Euro und weiterhin Prämien für Abschlüsse. Die bisher bis 2024 befristete mehrjährige Förderung von Langzeitarbeitslosen für die Rückkehr in einen regulären Job („Sozialer Arbeitsmarkt“) wird entfristet.
HINZUVERDIENST / EHRENAMT: Wer oberhalb der Minijob-Grenze (künftig 520 Euro) bis zu 1.000 Euro hinzuverdient, soll 30 statt 20 Prozent der Einkünfte behalten können. Schüler, Studierende und Auszubildende können bis zu 520 Euro statt 100 Euro hinzuverdienen. Wer ein Ehrenamt hat, soll von der Aufwandsentschädigung mehr behalten können.
BÜROKRATIE: Es wird eine Bagatellgrenze von 50 Euro für die Rückforderungen der Jobcenter eingeführt. Die Abmeldung beim Jobcenter für Abwesenheiten vom Wohnort soll unkomplizierter werden. Vereinfachungen gibt es auch beim Mutterschaftsgeld und für Leistungsbezieher, die eine Reha machen.
Berlin (epd). Die Sanktionen im Hartz-IV-System tragen einer Studie zufolge nicht dazu bei, mehr Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Vielmehr belasteten sie die Langzeitarbeitslosen zusätzlich, heißt es in einer am 12. September in Berlin vorgestellten Langzeit-Untersuchung über die Auswirkungen von Leistungskürzungen. Die Menschen fühlten sich zusätzlich stigmatisiert statt motiviert, ihre Arbeitssuche zu verstärken. Damit verfehlten die Sanktionen ihr Ziel, lautet das Fazit der vom Berliner Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung (INES) im Auftrag des Vereins „Sanktionsfrei“ erstellten Studie.
Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, Ulrich Schneider, und die Gründerin des Vereins „Sanktionsfrei“, Helena Steinhaus, forderten die vollständige Abschaffung von Sanktionen für Langzeitarbeitslose. Sie hätten „in einer modernen Grundsicherung nichts verloren“, erklärte Steinhaus. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, bezeichnete die Sanktionen für Langzeitarbeitslose als „kontraproduktiv und demotivierend“. Es sei daher dringend nötig, sie abzubauen oder gar „komplett zu entfernen“.
Schneider, Fratzscher und Steinhaus forderten zudem höhere Regelsätze, als von der Bundesregierung angekündigt. Danach sollen sie bei der Einführung des Bürgergelds Anfang 2023 von derzeit 449 Euro auf rund 500 Euro angehoben werden.
Eine Anhebung um elf Prozent sei „ein schlechter Witz“, sagte Schneider. Sie werde von der Inflation eingeholt. Damit Hartz-IV-Bezieherinnen und -Bezieher nicht länger in die Verschuldung getrieben werden, müsse der Regelsatz sofort um 200 Euro steigen. Außerdem müssten in der aktuellen inflationären Situation die Stromkosten von den Ämtern komplett erstattet werden, forderte Schneider.
DIW-Präsident Fratzscher sieht in der Einführung des Bürgergelds die Chance zu einer grundlegenden Umgestaltung der Sozialsysteme. „Es kann dazu ein erster Schritt sein, weitere Schritte müssen folgen“, sagte er. Fratzscher sprach von einer „dramatischen sozialen Schieflage“. Mit 449 Euro, aber auch mit den für den Jahreswechsel geplanten rund 500 Euro im Monat kämen die Menschen nicht über die Runden. „Das reicht vorne und hinten nicht“, beklagte Fratzscher.
Die INES-Studie liefert Ergebnisse einer dreijährigen empirischen Untersuchung, für die rund 600 Personen mehrfach befragt wurden, die zwischen 2019 und 2022 dauerhaft oder zeitweilig Hartz-IV-Leistungen bezogen. Ob Langzeitarbeitslose die Kraft finden, ihre Lage zu verbessern, hängt demnach davon ab, welche Handlungsspielräume sie für sich sehen und wie sie durch die Jobcenter begleitet werden. Sanktionen verringerten diese Spielräume sowohl finanziell als auch durch zusätzlichen psychischen Druck.
Nach den Plänen der Ampel-Koalition sollen die Hartz-IV-Leistungen von einem Bürgergeld abgelöst werden. Im Gesetzentwurf von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sind bei Verstößen gegen die Auflagen der Jobcenter Leistungskürzungen von bis zu 30 Prozent vorgesehen. Bis zur Einführung des Bürgergelds sind derzeit die Sanktionen weitgehend ausgesetzt.
Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, sagte, die Regelsatzanpassung hinke bereits jetzt den aktuellen Kostensteigerungen hinterher. „Es ist zwar ein großer Fortschritt, dass zukünftig die voraussichtliche Preisentwicklung im Laufe des Jahres Maßstab für die jährliche Anpassung im Januar sein soll.“ Allerdings dürfe es bei der Umstellung keine Lücke geben. Die rückwirkende Anpassung aufgrund der Preisentwicklung 2022 dürfe nicht ausfallen, sondern muss ebenfalls nachvollzogen werden. „Damit wären im Januar nicht 52 Euro, sondern rund 100 Euro mehr im Monat nötig“, so Loheide.
Der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Pascal Kober, monierte, in der Betrachtung fehle die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Sanktionen. „Sanktionen sind auch Ausdruck einer Gesellschaft, die sich wechselseitig zu Solidarität verpflichtet. Wer arbeitet, zahlt Steuern, um diejenigen zu unterstützen, die Hilfe benötigen. Wer Hilfe erhält, ist - im Rahmen der Möglichkeiten - verpflichtet, daran mitzuwirken, die Hilfebedürftigkeit zu überwinden. In beiden Fällen sind Sanktionen gerechtfertigt und gesellschaftlicher Konsens“, so Kober. Er verwies auf Studien, die zu anderen Ergebnissen kämen: Sanktionen hätten sehr wohl eine Anreizwirkung und sie erhöhten die Eingliederungschancen.
Andreas Audretsch, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen, verteidigte die umstrittene Regelsatzerhöhung. „Die neue Berechnungsmethode bildet die derzeit hohe Inflation vorausschauender ab als bisher. Auch die Hinzuverdienstregeln werden geändert, sodass vom eigenen Arbeitseinkommen mehr behalten werden kann. Wer arbeitet, hat immer mehr in der Tasche - das galt bisher und wird mit dem Bürgergeld erst recht gelten“, so Audretsch.
Laut der Bundesagentur für Arbeit (BA) lebten im Mai dieses Jahres knapp 4,9 Millionen Menschen von Hartz-IV-Leistungen, davon 3,5 Millionen erwerbsfähige Leistungsbezieher, die bei Verstößen gegen Auflagen der Jobcenter sanktioniert werden können. Unter den 1,4 Millionen nicht erwerbsfähigen Leistungsbeziehern sind vor allem Kinder unter 15 Jahren. Nach Angaben der BA sind in den beiden Corona-Jahren jeweils weniger als 200.000 Sanktionen verhängt worden - das ist nur ein Viertel der jährlichen Zahl vor der Pandemie. Häufigster Grund sind Meldeversäumnisse.
Frankfurt a.M. (epd). Die Buchstaben des Gesetzes klingen eindeutig: „Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind.“ Problem: Das Sozialgesetzbuch II legt in § 22 nicht fest, was „angemessen“ ist - ein unbestimmter Rechtsbegriff. Dagegen ist klar: Die Stromkosten müssen Hilfebezieher aus dem Regelsatz bezahlen - egal, wie hoch die Preise noch klettern.
Angemessener und damit für Hartz IV-Bezieher nutzbarer Wohnraum ist in den Ballungszentren längst zur Mangelware geworden. Weil Wohnungen in diesem Segment fehlen und Betroffene nicht einfach in eine billigere Wohnung umziehen können, müssen Betroffene oft Heizkostenanteile aus der eigenen Tasche, sprich vom Regelsatz bezahlen. Fachleute nennen dieses Phänomen „Wohnkostenlücke“. Wie groß die ist, schwankt regional, vor allem wegen des Stadt-Landgefälles bei den Mieten samt Nebenkosten. Und auch, weil die Kommunen in eigener Hoheit festlegen, wie „Angemessenheit“ bei den Wohnkosten ermittelt wird.
Aktuelle Daten zeigen, dass im Jahr 2021 15,4 Prozent der IV Bedarfsgemeinschaften gezwungen waren, einen Teil der Unterkunftskosten selbst zu tragen. Das waren im Schnitt 91 Euro (Vorjahr: 86 Euro), berichtet das Portal „HartzIV.org“.
Die Linksfraktion hat von Bundesregierung jüngst erfahren, dass davon knapp 400.000 Haushalte, also fast jede sechste Bedarfsgemeinschaft betroffen ist. „Für dieses Jahr braut sich eine dramatische Verschlechterung dieser ohnehin angespannten Situation zusammen. Vor allem bei den Heiz- und Nebenkosten droht durch die Inflation ein Desaster“, sagte die Sprecherin für Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, Jessica Tatti.
Auch sie verweist auf die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Eigentlich müssten die Jobcentern die gestiegenen Heizkosten übernehmen, aber viele Kommunen hätten die Preisentwicklung noch nicht in ihre Richtlinien eingepreist: „Das muss jetzt schnell geschehen.“
Die Politikerin rief den Bund auf, dafür sorgen, dass die vollen Heizkosten übernommen werden. Dazu müssten bundesweite Standards für die volle Übernahme von Wohn- und Heizkosten eingeführt werden. „Sonst droht ein kalter Winter der Angst für Menschen in Hartz IV - und eine heiße Saison für Sozialgerichte, die für tausende Menschen Schulden und Energiesperren abwenden müsse“, sagte Tatti.
Dass die Verfahren zur Bestimmung der Angemessenheitsgrenzen seit vielen Jahren Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen sind, hat auch den Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge zum Handeln bewegt. Er hat schon 2014 ein vielseitiges Empfehlungspapier für die Kommunen veröffentlicht, „um unter Berücksichtigung der regionalen Gegebenheiten wie auch der Besonderheiten des Einzelfalls die Angemessenheit von Wohnkosten praxisgerecht bestimmen zu können“, so Vorstand Michael Löher.
In der Praxis ist das auch passiert, das Bemühen um Transparenz und auch gerichtsfeste Ermittlungsgrundlagen ist da. Und es führte nicht selten zu einer enormen Prüfbürokratie. So umfasst etwa das „Konzept zur Ermittlung der Bedarfe für Unterkunft 2020“ des Hochsauerlandkreises samt Tabellen, Grafiken und Anmerkungen 41 Seiten - und listet etwa das Verfahren zur Vergleichsraumbildung auf, die Unterschiede im Mietpreisniveau, erhebt Bestands- und Neuvertragsmieten und ermittelt Wohnungsgrößenklassen.
Bei den Stromkosten, die ja derzeit auch massiv steigen, ist die Sache dagegen eindeutig: Diese Kosten sind bei Hilfeempfängern über die Regelleistung zu tragen. „Bitte beachten Sie, dass das Jobcenter keine Nachzahlungen für Strom übernimmt“, heißt es auf der Homepage der Bundesagentur für Arbeit. Von den 449 Euro, die Empfänger pro Monat erhalten, sind 8,48 Prozent für Strom vorgesehen, also knapp über 38 Euro.
Zwar fordern Sozialverbände, weil dieser Betrag angesichts der momentanen Preissteigerung völlig unrealistisch ist, dass alle tatsächlich anfallenden Stromkosten von den Ämtern übernommen werden, doch dazu gibt es bislang keine politische Initiative. Das müsse sich ändern, so die Sozialforscherin Irene Becker, die für die Diakonie ein Gutachten zur sachgerechten Ermittlung der Regelbedarfe erstellt hat. Sie sagte der „neuen caritas“, die Stromkosten sollten analog zu den Unterkunftskosten vom Staat übernommen und ein zeitnaher Inflationsausgleich eingeführt werden.
Berlin (epd). Die Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Claudia Moll, hat Aufklärung über nicht gezahlte Corona-Prämien für Pflegekräfte verlangt. Moll sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd) am 15. September, wenn Boni nicht gezahlt worden seien, „ist das nicht zu akzeptieren und muss transparent aufgeklärt und wo nötig auch verfolgt werden“. Kritische Kommentare kamen auch vom Pflege-Berufsverband und der FDP.
Moll erinnerte daran, dass die Prämien eine kleine Anerkennung für die Leistungen der Pflegekräfte während der Corona-Pandemie sein sollten. „Wenn diese Mittel aber von einigen Arbeitgebern nicht beantragt - oder noch schlimmer, in die eigene Tasche gesteckt werden, dann wirft das ein düsteres Licht auf diese Arbeitgeber“, sagte Moll. Insgesamt werde ihr aber berichtet, dass die Boni bei den Pflegekräften ankämen, ergänzte die Pflegebevollmächtigte.
Einem bisher unveröffentlichten Prüfbericht des Bundesrechnungshofs zufolge haben viele Pflegekräfte den 2020 versprochenen, staatlich finanzierten Corona-Bonus von bis zu 1.500 Euro offenbar nicht erhalten. Das berichteten die „Süddeutsche Zeitung“ (Donnerstag), NDR und WDR unter Berufung auf den ihnen vorliegenden Bericht. Er komme zu dem Ergebnis, das Verfahren zur Auszahlung der Prämien sei „fehler- und missbrauchsanfällig“ gewesen.
Zahlreiche Einrichtungen hätten dem Prüfbericht zufolge „keine Auszahlung der Bundesmittel“ beantragt. Andererseits hätten manche Firmeninhaber die staatliche Prämie nicht nur für ihre Beschäftigten, sondern „zu Unrecht“ auch für sich selbst geltend gemacht. Der Bericht der Kontrollbehörde für die Staatsfinanzen soll im November im zuständigen Haushalts- beziehungsweise Rechnungsprüfungsausschuss des Bundestags beraten und erst dann veröffentlicht werden.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) forderte die Kassen zu schärferer Überprüfung auf. „Pflegekräften Ihren rechtmäßigen Bonus zu verwehren, ist Betrug“, erklärte Lauterbach in Berlin. „Die Pflegekassen müssen deshalb die Abrechnungen schärfer überprüfen“, ergänzte er. Wer Boni beantragt habe, müsse sie auch auszahlen.
Lauterbach erklärte, mit dem Pflegebonus habe der Gesetzgeber gegenüber den Pflegekräften seinen Dank und seine Wertschätzung für die geleistete Arbeit während der Pandemie zum Ausdruck bringen wollen. Es sei nicht nachvollziehbar, „wenn Arbeitgeber dieses Anliegen torpedieren, indem sie keinen Antrag auf Zahlung eines Pflegebonus für ihre Beschäftigten stellen oder gar die Boni zu Unrecht selbst einstreichen“, kritisierte der Minister. Dieses Verhalten konterkariere auch Bemühungen, die Attraktivität des Pflegeberufes zu steigern.
Die pflegepolitische Sprecherin der FDP-Fraktion im Bundestag, Nicole Westig, nannte den Prüfbericht „alarmierend“ und forderte Lauterbach auf, schnellstmöglich einzugreifen. Die korrekte Auszahlung des Pflegebonus' sei längst überfällig und eine Frage des Respekts, erklärte Westig.
Der Bundesrechnungshof befürchtet, dass sich die Unregelmäßigkeiten bei der Corona-Prämie in diesem Jahr wiederholen, da Auszahlungen von Prämien an rund 1,2 Millionen Beschäftigte in einer Gesamthöhe von rund einer Milliarde Euro für 2022 nach dem gleichen Muster erfolgen sollten wie beim ersten Corona-Bonus. Es sei zu erwarten, „dass sich damit die Anfälligkeit des bisherigen Verfahrens für Fehler und Missbrauch“ fortsetzte, zitierte die „Süddeutsche Zeitung“ aus dem Prüfbericht.
Der Caritasverband erklärte auf Anfrage, dass ihm von Problemen bei der Auszahlung des Bonus nichts bekannt sei. Verbandssprecherin Mathilde Langendorf sagte dem epd, soweit man wisse, hätten die Caritas-Träger und Einrichtungen der Altenhilfe die Zahlung vorgenommen.
Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) wiederholte seine grundsätzliche Kritik an den Bonuszahlungen. Damit könne man den beruflich Pflegenden nicht helfen und keinen jahrelangen Reformstau ausgleichen, erklärte die Bundesgeschäftsführerin Bernadette Klapper. Dass es zudem kaum möglich sei, die Zahlungen gerecht zu verteilen, habe bereits zu viel Unmut unter den Pflegenden geführt. Nun komme hinzu, dass das Verfahren offenbar auch noch anfällig sei für Missbrauch und Ungenauigkeiten, kritisierte Klapper. Sie erwarte, dass der Bundesgesundheitsminister vor der nächsten Auszahlung nachbessere.
Berlin (epd). Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat angesichts der Energiekrise Politik und Gesellschaft zu mehr Engagement gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit aufgefordert. Schätzungen zufolge lebten in Deutschland mehr als 300.000 Menschen ohne eigenes Zuhause. Das entspreche ungefähr der Einwohnerzahl einer Großstadt wie Münster oder Karlsruhe, sagte der Bundespräsident bei einem Gesprächsforum über „Strategien und Ansätze zur Überwindung von Wohnungslosigkeit“ in Berlin. Anlass war der Tag der Wohnungslosen.
„Mehr als 300.000, das ist eine viel zu große Zahl. Und wir müssen ganz klar sagen: In den kommenden Monaten droht diese Zahl sogar noch zu wachsen“, warnte Steinmeier. Krieg und Krisen könnten dazu führen, dass im Herbst und im Winter weitere Menschen in Deutschland in Wohnungsnot geraten.
„Wir müssen jetzt gemeinsam dafür sorgen, dass niemand, der wegen der steigenden Wohnkosten in Zahlungsschwierigkeiten gerät, sein Zuhause verliert oder sogar auf der Straße landet“, forderte der Bundespräsident: „Wir dürfen niemanden in unserem Land im Stich lassen, der nicht mehr weiß, wie er seine Miete und seine Nebenkosten bezahlen soll.“
Steinmeier sagte weiter, es dürfe den Bürgerinnen und Bürgern nicht gleichgültig sein, dass Menschen in Deutschland keine eigene Wohnung haben oder obdachlos sind. „Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Menschen im Abseits unserer Gesellschaft in Not und Elend leben, ohne Chance auf ein selbstbestimmtes Leben in Würde.“ Das zu ändern, sei die gemeinsame Aufgabe von Politik und Gesellschaft.
Zu dem Gesprächsforum hatte der Bundespräsident Betroffene sowie Akteure aus Wissenschaft, Politik, Verwaltung, Gesundheitswesen, Wohnungswirtschaft und aus der Sozialen Arbeit in seinen Amtssitz Schloss Bellevue eingeladen.
Zuvor hatte er gemeinsam mit seiner Ehefrau Elke Büdenbender ein Obdach- und Wohnungslosenprojekt der Berliner Stadtmission besucht. ln dem von der EU geförderten zweijährigen Modellprojekt „Schutz und Neustart für Menschen ohne Obdach (SuN)“ in der Berliner Auguststraße leben bis zu 88 wohnungslose und obdachlose Menschen. Mit Hilfe von Betreuern soll ihnen ein Weg aus der Obdachlosigkeit ermöglicht werden.
Steinmeier sprach von einer „vorbildlichen Einrichtung“, die den Menschen neben einer sicheren Unterkunft und regelmäßigen Mahlzeiten medizinische Versorgung und eine gute Betreuung biete. Für sie eine Perspektive aus der Obdachlosigkeit zu entwickeln sei schwer, „das kann sich jeder vorstellen“, sagte Steinmeier.
„Der Bundespräsident kann vielleicht ein bisschen helfen, das Problem in den Mittelpunkt der deutschen Öffentlichkeit zu rücken und Aufmerksamkeit einzuklagen für diejenigen, die am Rande stehen und oft vergessen werden“, sagte er. Auch deshalb besuche er immer wieder Einrichtungen der Obdach- und Wohnungslosenhilfe.
Nach Angaben der Berliner Stadtmission werden die Gäste der Einrichtung von Sozialarbeiterinnen, einem Job-Coach, einer medizinischen Fachkraft und zwei Psychologinnen betreut. Gefördert werde das Projekt bis November 2023. Danach hoffe man auf eine Finanzierung durch das Land Berlin.
Berlin (epd). Der Gesetzentwurf von Karl Lauterbach hat zum Ziel, die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte und die Versorgung der Patienten in den Kliniken zu verbessern. Im ersten Schritt sollen vom kommenden Jahr an Modell-Kliniken auf Normal- und Kinderstationen Vorgaben zur Personalbemessung umsetzen, die im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege während der vergangenen Legislaturperiode entwickelt worden sind. Auf der Grundlage dieser Praxistests werden anschließend allen Kliniken Vorgaben gemacht, wie viel Pflegepersonal sie beschäftigen müssen. Die Personalkosten werden durch die Krankenkassen refinanziert.
Von 2025 an sollen dann Krankenhäuser, die die Vorgaben nicht umsetzen, sanktioniert werden können, wobei die Lage auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigt werden soll. Pflegekräfte sind schwer zu bekommen, in den Kliniken fehlen nach Schätzungen der Deutschen Krankenhausgesellschaft bereits 40.000 Krankenpflegerinnen und -pfleger. Klinikträger, die sogenannte Entlastungstarifverträge mit verbindlichen Vorgaben zur Besetzung mit Pflegepersonal abgeschlossen haben, sollen von den Vorgaben ausgenommen werden.
Gesundheitsminister Lauterbach erklärte im Anschluss an die Kabinettssitzung, die Klinikbranche müsse umdenken. Pflegekräfte seien extrem belastete Beschäftigte. Nur wer sie gut bezahle, Überstunden ausgleiche und die Stationen ausreichend besetze, werde sie halten oder neue Pflegekräfte gewinnen können. Das werde durch das neue Gesetz sichergestellt, so Lauterbach.
Genau das bestreiten Kliniken, Krankenkassen und Opposition. „Jedes Personalbemessungsinstrument muss sich daran messen lassen, ob es geeignet ist, die Qualität der Pflege am Krankenbett nachhaltig zu verbessern“, teilte der GKV-Spitzenverband nach dem Kabinettsbeschluss mit. Vorstand Stefanie Stoff-Ahnis sagte: „Wir wollen, dass in den Krankenhäusern eine moderne, digitale Pflegepersonalbemessung eingeführt wird. Daten können im 21. Jahrhundert längst digital erfasst und vernetzt werden. Deshalb ist der jetzt angekündigte Weg der sogenannten PPR 2.0 eine Sackgasse.“
Zudem rügte sie den Beschluss, dass künftig der Finanzminister über die Personalausstattung in den Kliniken mitentscheiden soll. Das neue Gesetz enthalte einen Genehmigungsvorbehalt des Bundesfinanzministeriums. Damit besteht laut Stoff-Ahnis die Gefahr, dass zukünftig bei einer angespannten Haushaltslage beim Personalbedarf der Rotstift angesetzt wird.
Bernadette Rümmelin, Geschäftsführerin des Katholischen Krankenhausverbands Deutschlands (kkvd), rügte, die Regierung wolle die im Koalitionsvertrag vereinbarte Pflegepersonalregelung offenbar nur bruchstückhaft umsetzen. „Der im Gesetzentwurf vorgesehene Finanzierungsvorbehalt durch das Bundesfinanzministerium ist ein fatales Zeichen für das Pflegepersonal, aber auch für die Patientinnen und Patienten: Eine Pflege nach Kassenlage ist ein Angriff auf unser Solidarsystem“, sagte Rümmelin. Eine bedarfsgerechte Pflege brauche eine bedarfsgerechte Personalausstattung.
Der Gesetzentwurf sehe außerdem vor, dass Krankenhäuser aus der Bemessungssystematik herausgenommen werden können, wenn dort ein Tarifvertrag gilt. „Diese Herausnahme schafft einen Flickenteppich und gefährdet die flächendeckende Umsetzung der Pflegepersonalregelung. Tarifverträge, die Personalvorgaben festlegen, ohne den Pflegebedarf der Patientinnen und Patienten zu ermitteln, sind ungeeignet, die Patientensicherheit zu erhöhen“, betonte die Geschäftsführerin.
Jens Scholz, Vorsitzender des Verbandes der Universitätsklinika Deutschlands (VUD), sagte, mit kleinteiligen Maßnahmen für einzelne Probleme werde man das Krankenhaussystem langfristig nicht retten. „Pflegepersonalbedarfsbemessung mittels PPR 2.0 und die neuen Regelungen in den Budgetverhandlungen weder die Patientenversorgung verbessern noch den Mangel an Pflegekräften beheben“, so Scholz. Wenn dann auch noch die Finanzierung der Pflege im Krankenhaus nur im Einvernehmen mit dem Bundesfinanzminister erfolgen könne, „wird eine Pflegepersonalbedarfsbemessung ad absurdum geführt“.
Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) sagte, der Entwurf zeige, dass der Gesundheitsminister „offenbar den Ernst der Lage in den Pflegeberufen nicht verstanden hat“. Die PPR 2.0 sei ein Instrument, mit dem mittelfristig eine ausreichende Personalausstattung auf allen bettenführenden Stationen erreicht werden soll. „Die konsequente Einführung wäre ein wichtiges Signal in die Berufsgruppe, dass ihre Not verstanden wird“, betonte Präsidentin Christel Bienstein. Statt nachzubessern hat das Gesundheitsministerium aber den Entwurf noch weiter geschwächt, in dem die Umsetzung der PPR 2.0 nun auch noch mit dem Finanzministerium abgestimmt werden müsse: „Es ist neu, dass der Finanzminister ein Mitspracherecht in Fragen der pflegerischen Versorgung erhält“, konstatierte Bienstein.
Kritische Worte kamen auch von der Opposition. Ates Gürpinar, Sprecher für Krankenhaus- und Pflegepolitik der Links-Fraktion, sagte, der Gesetzentwurf zeige, „dass Lauterbach die PPR 2.0 überhaupt nicht will“. Zwischen Regierungsentwurf und der Original-PPR 2.0 lägen Welten. „Der Regierungsentwurf geht von nur 5.000 zusätzlichen Pflegekräften aus, während die Krankenhausgesellschaft von 40.000, ver.di sogar von 80.000 ausgeht, wenn man ihr Konzept ordentlich umsetzt.“
Gürpinar sagte weiter, damit das nicht Realität werde, „hat Karl Lauterbach zugelassen, dass Finanzminister Christian Lindner bei der entscheidenden Verordnung ein Vetorecht bekommt“. Das müsse unbedingt im Verfahren im Bundestag korrigiert werden, sonst sei diese Regelung tot, noch bevor sie beschlossen wurde.
Berlin (epd). Die von der Ampel-Koalition geplante Legalisierung von Cannabis verstößt nach Einschätzung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags gegen EU-Recht. In einer Analyse für den CSU-Gesundheitspolitiker Stephan Pilsinger, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt, nennen die Juristen des Bundestags zwei europäische Verträge, an die Deutschland gebunden sei und die einer Legalisierung entgegenstünden.
Laut den Bundestagsjuristen schreibt der sogenannte EU-Rahmenbeschluss von 2004 vor, dass Herstellung, Anbau, Verkauf, Transport, Versand oder Ein- und Ausfuhr von Drogen in jedem Mitgliedsland unter Strafe gestellt werden müssen. Der EU-Beschluss beziehe sich auf alle Drogen, die in einem Übereinkommen von 1971 über psychotrope Stoffe aufgeführt sind, wozu auch Cannabis gehöre. Der Rahmenbeschluss verlange zudem, dass jedes Mitgliedsland Verstöße mit „wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden strafrechtlichen Sanktionen“ ahnden müsse.
Die Rechtsexperten verweisen auch auf das Schengen-Protokoll. Darin hätten sich die Vertragsländer, zu denen auch Deutschland gehört, verpflichtet, „die unerlaubte Ausfuhr von Betäubungsmitteln aller Art einschließlich Cannabis-Produkte sowie den Verkauf, die Verschaffung und die Abgabe dieser Mittel mit verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Mitteln zu unterbinden“.
In einer weiteren Ausarbeitung weisen die Parlamentsjuristen darauf hin, dass die Niederlande nicht als Vorbild für die in Deutschland geplante Legalisierung dienen könnten. So gelte dort nach wie vor das „Opiumgesetz“, das Anbau, Verkauf und Besitz von Cannabis unter Strafe stelle. Allerdings seien Besitz und Verkauf kleinerer Mengen „de facto entkriminalisiert“. In sämtlichen Fällen, in denen ein Konsument mit Drogen aufgegriffen werde, würden diese aber konfisziert. Der Verkauf von Cannabis sei laut den Bundestagsjuristen ebenso weiterhin „formalrechtlich illegal“, werde aber im Rahmen der Toleranzgrenze nicht verfolgt.
Das Bundesgesundheitsministerium teilte dem epd mit, es prüfe die Analyse der Wissenschaftlichen Dienste. Die geplanten neuen Regelungen zu Cannabis müssten rechtssicher und mit internationalem Recht vereinbar sein.
Für den CSU-Abgeordneten Pilsinger steht mit dem Gutachten jedoch fest, dass „die Cannabislegalisierung zu Genusszwecken - so wie es die Ampelregierung im Koalitionsvertrag festgehalten hat - gescheitert ist, bevor sie überhaupt begonnen hat“.
Wiesbaden, Berlin (epd). Die Lohnunterschiede zwischen Ost und West wachsen wieder. Das geht aus Daten des Statistischen Bundesamtes für den Ostbeauftragten der Linksfraktion im Bundestag, Sören Pellmann, hervor. Nach diesen auch dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegenden Zahlen lag der Durchschnittsverdienst Vollzeitbeschäftigter im produzierenden Gewerbe und bei Dienstleistungen 2021 bei 55.797 Euro in Westdeutschland. In Ostdeutschland waren es lediglich bei 43.624 Euro.
Das entspricht einem Gehaltsunterschied von 12.173 Euro im Jahr. Nach den Zahlen lag die Lohnlücke im Jahre 2020 bei 11.967 Euro. Demnach stieg sie von 2020 auf 2021 um 206 Euro, die Lohnlücke vergrößerte sich also.
Im Jahre 2020 hatte der durchschnittliche Verdienst eines vollzeitbeschäftigten Arbeiternehmers im produzierenden Gewerbe und Dienstleistungsbereich in Westdeutschland noch bei 54.071 Euro gelegen, in Ostdeutschland bei 42.104 Euro. Beide Werte stiegen demnach 2021, in Westdeutschland allerdings stärker als in Ostdeutschland.
Pellmann sagte den Funke-Zeitungen: „Wenn die ostdeutsche Mittelschicht 12.000 Euro im Jahr weniger zur Verfügung hat, dann zeigt das, dass sich die Preissteigerungen im Osten noch deutlich dramatischer auswirken werden.“ Pellmann war Initiator einer umstrittenen „Montagsdemonstration“ zu Wochenbeginn in Leipzig. Die Linke wollte die Veranstaltung als Auftakt für einen „heißen Herbst“ gegen die Sozial- und Energiepolitik der Bundesregierung verstanden wissen.
Der Linken-Bundestagsabgeordnete sagte weiter, es brauche höhere Entlastungen und satte Lohnerhöhungen. Dabei dürften ostdeutsche Arbeitnehmer nicht weiter den Anschluss verlieren. „Die Lohnlücke muss sich endlich schließen“, mahnte Pellmann. Er nannte es beschämend, dass die Durchschnittslöhne 32 Jahre nach der Wiedervereinigung in allen ostdeutschen Bundesländern mit deutlichem Abstand geringer sind als in allen westdeutschen Bundesländern.
Nach den Zahlen gab es 2021 auch zwischen den Geschlechtern große Unterschiede: Männer verdienten deutschlandweit im Schnitt 56.853 Euro, während Frauen nur 47.976 Euro im Jahr 2021 erhielten.
Wie aus den Zahlen weiter hervorgeht, gibt es auch in Ostdeutschland Unterschiede: Demnach verdienten die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern mit 41.715 Euro durchschnittlich am wenigsten. Am höchsten lag der Wert in Sachsen mit 44.531 Euro.
In Westdeutschland lag 2021 in Hamburg der Durchschnittsjahreslohn mit 62.506 Euro am höchsten und in Schleswig-Holstein am niedrigsten mit 49.005 Euro. In Nordrhein-Westfalen betrug der Durchschnittslohn 54.559 Euro, in Berlin 55.946 Euro, in Niedersachsen 50.809 Euro.
Nürnberg (epd). Anders als bei der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 gibt es kaum Arbeitsagenturen, die von dessen Ansteigen auf zwölf Euro negative Auswirkungen auf die Beschäftigung befürchten. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte sein, dass sich der Mangel an Arbeitskräften zwischenzeitlich massiv verschärft hat, heißt es in einer Mitteilung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vom 13. September.
Die Forscher verwiesen auf eine Studie, die sich auf die monatliche Befragung der 155 regionalen Arbeitsagenturen durch die Bundesagentur für Arbeit (BA) stützt. Bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung erwarten 86 Prozent der Agenturen für ihre Bezirke durch den gestiegenen Mindestlohn keine Beschäftigungseffekte, während das bei der geringfügigen Beschäftigung auf 70 Prozent zutrifft. Die übrigen Agenturen erwarten positive oder negative Wirkungen, die Anteile halten sich fast die Waage.
„Die stark gestiegene Knappheit am Arbeitsmarkt trägt dazu bei, dass die Mindestlohnerhöhung die betriebliche Nachfrage nach Arbeitskräften weniger stark dämpft. Arbeitskräfte werden gehalten oder hätten bessere Jobchancen, falls es doch zu Entlassungen kommt“, erklärte IAB-Forschungsbereichsleiter Enzo Weber.
Frankfurt a.M. (epd). Mehr als vierzig Personen haben ein Grundlagenpapier zur Einführung eines Grundeinkommens in Deutschland unterzeichnet. Sie sind engagiert in Initiativen der Erwerbslosenarbeit, bei Kirchen, Gewerkschaften, in Parteien oder kommen aus der Wissenschaft. Die Erklärung verdeutliche den Zusammenhang von Grundeinkommen und Emanzipation. Und es würden Eckpunkte für ein emanzipatorisches bedingungsloses Grundeinkommen benannt, heißt es in einer Mitteilung vom 12. September.
„Ein Hintergrund ist, dass die Debatte um das Grundeinkommen weltweit, aber auch in Deutschland, vorangeschritten ist“, sagte Initiator Ronald Blaschke. Es gebe inzwischen eine breite gesellschaftliche Akzeptanz der Forderung eines bedingungslosen Grundeinkommens. „Für viele steht nicht mehr die Frage an, ob es eingeführt, sondern wie es ausgestaltet werden soll“, erklärte Blaschke. „Als ein Bestandteil einer notwendigen sozialökologischen Transformation braucht es ein erweitertes, emanzipatorisches Konzept für ein Grundeinkommen“, ergänzte er.
Er verwies zudem auf die aktuelle politische Debatte über die Einführung des sogenannten Bürgergeldes durch die Ampelkoalition,. Blaschke sagte, diese Änderungen des Hartz-IV-Systems würden die grundlegende Anforderungen an moderne und effektive sozialstaatliche Absicherungen nicht erfüllen. Auch das sei wichtig für die Bewertung des Grundeinkommens.
München (epd). Mit einer neuen Kampagne in sozialen Medien wie Instagram will das bayerische Gesundheitsministerium mehr junge Menschen für die generalistische Pflegeausbildung begeistern. Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) sagte dazu am 14. September in München, die Kampagne „Neue Pflege - Eine Ausbildung. Mehr Möglichkeiten“ zeige „wie herausfordernd, aber auch abwechslungsreich und spannend der Pflegeberuf ist“.
Durch die Zusammenfassung der verschiedenen Pflegeberufe zur generalistischen Pflegeausbildung würden die Azubis „zur Pflege von Menschen aller Altersstufen und in allen Versorgungsbereichen“ befähigt, sagte Holetschek. Ergänzend zur beruflichen Ausbildung habe man auch die Grundlage für einen „primärqualifizierenden Studiengang“ geschaffen. Dafür habe der Freistaat ab dem kommenden Wintersemester ein Stipendienprogramm ins Leben gerufen.
Das Herzstück der Kampagne bildet das interaktive Quiz „Pflegendär“ auf Instagram, bei dem man auf spielerische Art die Pflegeausbildung kennenlernen kann. Seit dem 15. September sind auf dem offiziellen Instagram-Account 17 Episoden freigeschaltet, die Azubis und Praxisanleiterinnen „in typischen Situationen aus der Pflegeausbildung“ begleiten. Flankierend dazu soll es Werbeplakate und Zeitungsanzeigen geben, um auch andere Zielgruppen zu erreichen.
Berlin (epd). Mit Blick auf die Haushaltsberatungen im Bundestag hat die Freie Wohlfahrtspflege die Bundesregierung aufgefordert, die geplanten Kürzungen bei der Beratung von Zugewanderten zurückzunehmen. In der Migrationsberatung fehlten nach den Plänen der Bundesregierung im kommenden Jahr rund 22 Millionen Euro, teilte die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege am 13. September in Berlin mit. Damit drohe jeder vierten Anlaufstelle in diesem Bereich das Aus - obwohl SPD, Grüne und FDP im Koalitionsvertrag eine „angemessene Förderung“ versprochen hätten.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft appellierte an die Abgeordneten des Bundestags, sich für eine starke Migrationsberatung und den Erhalt der bundesweit über 1.370 Migrationsberatungsstellen einzusetzen. Ein Bündnis von Wohlfahrtsorganisationen rief für den 14. September zu einem Aktionstag unter dem Hashtag #StarkeMigrationsberatung auf.
Der Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft, Ulrich Lilie, sagte: „Flucht und Vertreibung sind nun einmal Realität. Es wäre ein fatales Signal, jetzt dringend benötigte Gelder zu streichen - nicht nur angesichts des furchtbaren Krieges in der Ukraine mit Millionen Menschen auf der Flucht.“ Die Migrationsberatung übernehme eine entscheidende Aufgabe bei der Integration von Zuwanderinnen und Zuwanderern.
Es gleiche einer Rolle rückwärts, wenn zunächst unter großem Aufwand Beratungsstrukturen aufgebaut und anschließend wieder vernichtet würden, sagte Lilie weiter: „Auch würden erst neu gewonnene und gut qualifizierte Fachkräfte verloren gehen, wenn über 300 Anlaufstellen schließen müssten. Kürzungen in dem Bereich stünden im krassen Widerspruch zum Koalitionsvertrag, der mit markigen Worten einen Richtungswechsel in der Einwanderungspolitik ausruft.“
Selvi Naidu, Mitglied des AWO-Bundesvorstandes, erklärte: „Die von der Bundesregierung geplante Kürzung der Förderung für die Migrationsberatung für Erwachsene macht uns fassungslos.“ Noch im Mai hatte der Bundestag den Haushaltstitel - auch im Blick auf die Folgen des Ukrainekriegs - um acht Millionen Euro erhöht. Im Haushaltsplanentwurf für 2023 sind laut AWO demgegenüber plötzlich nur noch 57 Millionen Euro vorgesehen, das sind mehr als 25 Prozent weniger als im Jahr 2022.
Die bundesweiten Dienste der Migrationsberatung erfüllten im Einwanderungsland Deutschland zentrale Aufgaben: Sie böten hoch qualifizierte Beratung und Unterstützung bei Arbeits-, Wohnungs-, Ausbildungssuche und Behördengängen. Sie beraten zu Abschlüssen, vermitteln in Sprach- oder Integrationskurse und noch vieles mehr.
Bundesweit gibt es mehr als 1.300 Beratungsstellen, die AWO berät bundesweit in mehr als 240 Beratungseinrichtungen. Sie bieten seit vielen Jahren und Jahrzehnten Beratung, sind ein verlässliches Angebot für die Menschen vor Ort. „Wir brauchen einen stabilen Haushaltstitel und eine Absicherung der Ausstattung für die Folgejahre für die Migrationsberatung“, so Naidu abschließend.
Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) kritisierte, dass die Bundesregierung noch von einem „Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik“ gesprochen hatte und nun Kürzungen im Bundeshaushalt 2023 für den Migrationsbereich an zentralen Stellen anstünden. „Sollten die vorgesehenen Kürzungen Realität werden, wird das notwendige Strukturen in der Migrationsarbeit substanziell gefährden“, sagte DRK-Vizepräsidentin Ulrike Würth am bundesweiten Aktionstag der Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer am 14. September: „Wir hoffen darauf, dass der Bundestag in den Bereinigungssitzungen zum Haushalt im November an dieser Stelle für eine Kurskorrektur sorgt.“
Die MBE sei ein seit Jahrzehnten erprobtes Instrument zur Begleitung von Zuwanderern. Das DRK unterhält nach eigenen Angaben insgesamt 110 solcher MBE, mit 210 Beratungsfachkräften. Entsprechend der derzeitigen Haushaltsplanung sei jede vierte Stelle der MBE im kommenden Jahr in Gefahr. Auch zahlreiche Projekte aus der Förderung der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration könnten perspektivisch nicht weitergeführt werden, so das DRK.
„Die Nachfrage nach unserer Hilfe überschreitet nicht erst seit diesem Jahr unsere tatsächlichen Kapazitäten“, sagte Dietlinde Kirschner vom Bayerischen Roten Kreuz (BRK) beim Aktionstag in Nürnberg. Schneller Zugang zu Hilfe, zu Sprachkursen, zu Arbeit - das mache Integration erfolgreich. „Wir brauchen die Zugewanderten und ihre Fähigkeiten in unserem Land. Sie monate- oder jahrelang ohne Perspektive im Wartemodus zu halten, kostet uns mittelfristig als Gesellschaft viel mehr als sie von Anfang an gut zu beraten“, so Kirschner weiter.
Stuttgart (epd). Stadtführung, Yoga, Kochkurs - eigentlich ganz normale Themen, wie sie Volkshochschulen und andere Bildungseinrichtungen anbieten. Nicht so in Stuttgart. Denn dort bietet die „Straßen-Universität“ Kurse an, die sich besonders an „Menschen in prekären Verhältnissen“ richten, sagt die Soziologin Hannah Gröner vom Sozialwerk „Neue Arbeit“ der Diakonie. Am 22. September startet das 1. Wintersemester mit einem Vortrag des Obdachlosenarztes Gerhard Trabert zum Thema Armut und Gesundheit unter der Paulinenbrücke. Straßenuniversitäten gibt es bereits in Berlin und Nürnberg.
„Die Straßen-Universität Stuttgart bietet inklusive Bildungsangebote für alle Interessierten an den verschiedensten Orten in Stuttgart an. Unsere Vision ist es, Räume zu schaffen, in denen Wissen gemeinschaftlich geschaffen und ausgetauscht werden kann“, ist auf der Homepage zu lesen. Und man wolle kritisch hinterfragen: Was für Wissen wird gewürdigt? Wessen Wissen wird als relevantes Wissen wahrgenommen? Und weiter: „Die Angebote und Kurse sind an den Bedürfnissen, den Interessen und dem Wissen von Menschen, die weniger Zugang zu Bildung haben, orientiert.“
Das ist auch das Ziel der „Straßenkreuzer-Uni“ in Nürnberg. Sie will laut Homepage der Vereins Interessierte ohne Zugangsschwelle an spannende Wissensgebiete heranführen und nimmt den Anspruch der lebenslangen Bildung auf anspruchsvollem Niveau ernst. „Gleichzeitig eröffnet sie Lehrenden wie Lernenden Einblick in die jeweils andere Lebenswelt und fördert so den Respekt und das Verständnis füreinander.“
Um das spezielle Infobedürfnis zu ermitteln, habe man „eine Umfrage in Obdachlosenheimen, am ‚Mittagstisch‘ und in Wärmestuben gemacht“, erklärt Soziologin Gröner. Die Teilnahme an den Kursen sei kostenlos und es seien keinerlei Vorkenntnisse erforderlich.
Das Wintersemesters reicht von Ende September bis zur Weihnachtsfeier im Dezember. Am 15. Oktober gibt es unter dem Titel „Geschichten rund um St. Maria“ einen Stadtspaziergang. Dabei geht es um „ein besonderes Fleckchen“ im Süden Stuttgarts, dessen Areal immer wieder baulich verändert wurde und in dem unterschiedliche Menschen tagtäglich aufeinander treffen: „Hier setzt sich der Paule Club sich für Suchtkranke ein, die es schon seit Jahrzehnten zur Paulinenbrücke zieht und Harry‘s Bude verteilt gerettete Lebensmittel“, heißt es dazu im Programm.
Auch mehrere Museeen werden besichtigt. Es gibt eine „Zeitreise in die Welt der Dinosauriere“ (ein Besuch im Naturkundemuseum) und eine Führung durch die Sammlung des Kunstmuseums. Zweimal wird ein Theaterbesuch angeboten, zuvor findet eine „Aufwärmrunde“ mit Essen statt. Auch der Körper kommt nicht zu kurz, in einer Halle nahe dem Hauptbahnhof werden Verteidigungskurse angeboten und unter dem Titel „Zeit für sich selbst und Entspannung im Alltag“ kann man sich mit Yoga vertraut machen.
Auch das Wissen der Menschen aus der „Zielgruppe“ werde wertgeschätzt, sagt Hannah Gröner. Einen der Kochkurse leitet eine alleinerziehende Mutter, von Beruf Ernährungsberaterin, die von Hartz IV lebt. „Die Straßenuniversität soll ein Plattform für Begegungen auf Augenhöhe sein“, so die Soziologin.
Das Wintersemester endet am 19. Dezember, für das nächste Semester sind schon einige Themen von Künstlicher Intelligenz bis hin zu spirituellen Stadtspaziergängen vorgemerkt. Vorreiter der Stuttgarter Einrichtung sind die „Obdachlosen-Uni“ in Berlin und die „Straßenkreuzer-Uni“ in Nürnberg, die sich mit ihrem Bildungsangebot vor allem an Menschen ohne festen Wohnsitz richten.
Die Diakonie RWL warnt davor, die Pflegeheimbewohner noch weiter mit steigenden Eigenanteilen zu belasten. Doch genau das werde passieren, wenn die Energiepreise wie erwartet weiter nach oben klettern. Andreas Flaßpöhler, Referent m Zentrum Pflege, beziffert die bereits erfolgten Preissteigerungen im Schnitt auf rund 200 Euro je Heimbewohner - und es würden noch mehr werden. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Hohe Preissteigerungen bei Gas und Strom wie auch bei Lebensmitteln belasten die Pflegeheime. Lassen sich die Mehrkosten seit Jahresbeginn beziffern?
Andreas Flaßpöhler: Die Energiekrise und damit verbundene Inflation belastet die Einrichtungen massiv. Die für alle in dieser Höhe unvorhersehbaren Steigerungen führen in den Pflegeeinrichtungen zu Refinanzierungslücken, die nicht rückwirkend ausgeglichen werden können und über die auch nicht vorausschauend mit den Kostenträgern zu verhandeln sind. Die Mehrkosten kann man nicht genau beziffern.
epd: Nicht alle Heime sind gleichermaßen betroffen. Warum gibt es da oft erhebliche Unterschiede?
Flaßpöhler: Das hat vor allem damit zu tun, dass die Energiekosten stark vom Zustand des Gebäudes abhängen. Wie alt ist der Bau? Wurde bereits energetisch saniert? Wie ist der Energiemix und wie sieht die jeweilige Vertragslage bei Strom und Gas aus? Das ist von Pflegeeinrichtung zu Pflegeeinrichtung unterschiedlich. Fest steht für uns: Die derzeitige Situation wird alle Pflegeeinrichtungen und ambulanten Pflegedienste vor große finanzielle Herausforderungen stellen.
epd: Die umstrittene Gasumlage kommt nun noch dazu: Was bedeutet das in finanzieller Hinsicht für die von Ihnen betriebenen Heime?
Flaßpöhler: Die Gasumlage wird künftig komplett über den zu zahlenden Eigenanteil beziehungsweise den Satz für Unterkunft und Verpflegung der Bewohnerinnen und Bewohner refinanziert. Eine Einrichtung mit 80 Bewohnern wird wohl mit einer jährlichen Mehrbelastung von mehr als 10.000 Euro rechnen müssen, die auf die Bewohner entsprechend umgelegt wird. Im Ergebnis führt das zu einer weiteren finanziellen Belastung der einzelnen Bewohner. Wenn diese die Kosten nicht mehr tragen können, muss am Ende der Sozialhilfeträger einspringen.
epd: Kann man schon sagen, welcher erhöhten Beträge da fällig werden?
Flaßpöhler: Ausgehend von abgeschlossenen Verhandlungen seit Mai 2022 hat es bislang eine durchschnittliche Preissteigerung, die den einrichtungsindividuellen Eigenanteil und Kosten für Unterkunft und Verpflegung beinhaltet, von knapp 200 Euro pro Monat gegeben. Da aber viele Verhandlungen noch anstehen und die Energiekrise sich verschärft, rechnen wir schon jetzt mit weiteren Preissteigerungen in dieser Größenordnung und auch deutlich mehr. Auf Seite der Einrichtungen ist es überlebenswichtig, diese Steigerungen mit den Kostenträgern zu verhandeln, um eine ausreichende Refinanzierung zu haben.
epd: Lassen sich weiter steigende Eigenanteile überhaupt noch verhindern?
Flaßpöhler: Für uns als Diakonie ist klar, dass die Bewohner von Einrichtungen nicht noch stärker belastet werden können, aber systembedingt kein anderer Weg daran vorbeiführt. Auch ambulant gepflegte Menschen und ihre Angehörigen müssen jetzt gezielt vom Staat unterstützt werden. Da ist auch der Bund gefragt, denn viele der Kommunen, die ja für die Sozialhilfe zuständig sind, werden das alleine nicht bewältigen können. Eine Reform der Pflegeversicherung ist notwendig, um die einseitige Mehrbelastung der Bewohnerinnen und Bewohner zu beenden und auch um eine ausreichende Refinanzierung der Einrichtungen sicherzustellen.
epd: Die Lage auf dem Energiemarkt bleibt angespannt. Und der Winter kommt erst noch. Was erwarten Sie von der Politik?
Flaßpöhler: Mit Blick auf die Energiekrise hat die Politik es verschlafen, energieeffiziente Umbauten der Heime stärker zu fördern. Entsprechend des Koalitionsvertrags wünschen wir uns die Finanzierung einer klimaneutralen Gebäudemodernisierung. Dass hier bislang zu wenig passiert ist, rächt sich jetzt massiv. Unsere Einrichtungen haben riesige Dachflächen, die prädestiniert für Solaranlagen. Wenn vor Jahren schon mehr Förderprogramme angestoßen worden wären, würden sich die Seniorenheime und ihre Bewohnerinnen und Bewohner jetzt nicht in einer so schwierigen Lage wiederfinden.
In einer Pressemitteilung vom 9. Juni zeigt sich das Bundesfamilienministerium sehr zufrieden mit seiner Fachkräfteoffensive für Erzieherinnen und Erzieher. Ministerin Lisa Baus (Grüne) lässt verlautbaren: „Mit der 'Fachkräfteoffensive' ist es uns gelungen, die praxisintegrierte Ausbildung (PiA) als bundesweit attraktives Ausbildungsmodell zu etablieren und neue Zielgruppen für das Berufsfeld Erzieherin zu gewinnen, darunter viele Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger. Das zeigt: Mit attraktiven, passenden Angeboten können wir dem Fachkräftemangel in den Kitas entgegenwirken.“
Laut der Pressemitteilung folgen viele Bundesländer den vom Bund gesetzten Standards. Das soll an dieser Stelle nicht schlecht geredet werden. Und dennoch kann niemand auch nur annähernd behaupten, dass das Problem des Erzieherinnenmangels gelöst sei.
Die Bertelsmann-Stiftung hat in einer aktuellen Studie ermittelt, dass bis ins Jahr 2030 230.000 Fachkräfte im erzieherischen Bereich fehlen: Die Lücke zwischen voraussichtlichem Angebot an Fachkräften und dem prognostizierten Bedarf für optimale Qualität in der frühkindlichen Bildung bei bedarfsgerechtem Ausbau der Plätze lasse sich in diesem Jahrzehnt nicht vollständig schließen, heißt es dort.
Das ist eine düstere Prognose und darf nicht fatalistisch hingenommen werden, denn die Anforderungen an diesen systemrelevanten Beruf steigen. Die Studie sieht Schleswig-Holstein im Vergleich zu anderen Bundesländern verhältnismäßig gut aufgestellt, und dennoch erleben die Wohlfahrtsverbände als größte Kita-Träger aktuell, dass Kitas aufgrund von Personalmangel geschlossen werden und die Kolleginnen und Kollegen in anderen Bereichen wie Jugendhilfe oder Eingliederungshilfe die Schwelle der Überlastung längst erreicht haben.
Wir Wohlfahrtsverbände glauben weder daran, dass ein Player im gesellschaftspolitischen Gesamtgefüge diese Herausforderung allein meistern kann, noch sind wir der Ansicht, dass man das Problem aussitzen darf. Wir befinden uns in einer dramatischen Situation, der gemeinsam begegnet werden muss. Wenn es keine erfolgreiche Reaktion seitens der Politik gibt, wird es nicht bei der Schließung von Kitas und einem schmerzhaften Qualitätsverlust in allen betroffenen Einrichtungen bleiben. Der Fachkräftemangel im Erzieher-Berufsfeld, das wie die Pflege immer noch überwiegend weiblich ist, wird elementare gesellschaftliche Veränderungen nach sich ziehen.
Ein Beispiel: Schließt die Kita, werden Elternteile zu Hause bleiben müssen - in der Regel Frauen in Teilzeit und/oder prekär bezahlten (Care-)Berufen. So verschärft sich nicht nur der Personalmangel an anderer Stelle, sondern wichtige Errungenschaften im Hinblick auf berufliche Chancengerechtigkeit der Geschlechter werden zurückgedreht. Und auch über die daraus resultierende Situation von Kindern und Jugendlichen sowie die der überlasteten Fachkräfte muss eingehend gesprochen werden.
Wir Wohlfahrtsverbände fordern daher von der Landesregierung einen Fachkräftegipfel für den Erzieherberuf, der diese Themen allumfänglich umfasst.
Unsere Kernforderungen schließen hier an die Initiativen des Bundesprogramms an: + Aufwertung des Berufsfelds durch Verbesserung der Rahmenbedingungen und Aufwertung des Berufsbilds durch monetäre und soziale Anerkennung
Zugegeben: Alle diese Forderungen sind nicht neu, sie wurden von den Wohlfahrtsverbänden regelmäßig erhoben und in Gesprächen mit politisch Verantwortlichen thematisiert. Die Lage erfordert nun jedoch, da viel zu lange nicht gehandelt wurde, ein entschlossenes Vorgehen. Grenzen müssen aufgebrochen werden, die neue und auch mindere Qualifikationen für kurzzeitige Lösungen zulassen werden. Wir brauchen verschiedene Wege für kurz-, mittel- und langfristige Lösungen. Alle diese Lösungen werden auf allen Ebenen Investitionen nötig machen.
Als Wohlfahrtsverbände fordern wir Arbeitsbedingungen, die es sozialarbeitenden Menschen ermöglichen, langfristig in diesem Berufsfeld zu bleiben. Es braucht einen Paradigmenwechsel und vernünftige Rahmenverträge. Doch zuallererst braucht es ein Bündnis für eine Fachkräfteoffensive, das eine Perspektive entwickelt und Übergangsmaßnahmen vereinbart.
Grundvoraussetzung ist hier ein gemeinsames Verständnis für die dramatische Lage sowie Kommunikation auf Augenhöhe zwischen Leistungserbringern, Leistungsträgern und Interessengruppen. Die Wohlfahrtsverbände stehen dafür bereit, denn der Erzieherinnenberuf ist unentbehrlich: für die Kita, für die Jugendhilfe und die Eingliederungshilfe - und damit für die Gesellschaft insgesamt.
Berlin, Freiburg (epd). Weit über 50.000 Personen haben nach Angaben der Caritas die Petition der Kampagne „Sprach-Kitas retten“ an den Bundestag unterzeichnet - deutlich vor der Zeichnungsfrist am 20. September. Das bedeute, dass es jetzt zeitnah eine öffentliche Anhörung im Petitionsausschuss zur Fortsetzung des Bundesprogramms geben müsse, heißt es in einer Mitteilung vom 12. September.
Anfang Juli war bekannt geworden, dass das Bundesfamilienministerium die Förderung des seit 2016 bestehenden Programms zum Jahresende vorzeitig beenden will, obwohl im Koalitionsvertrag seine Verlängerung zugesichert wurde. Der Caritasverband, sein Fachverband „Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder“ und mehrere andere Sozialverbände fordern eine Rücknahme der Entscheidung. Begründung: Es müsse alles getan werden, um qualifizierte Kräfte, wie sie über das Sprach-Kita-Programm gewonnen werden konnten, zu halten.
Dass das zweite Kita-Qualitätsgesetz nun vorsieht, den Bundesländern Fördermittel für die sprachliche Bildung zu geben, löse das Problem aus Caritas-Sicht nicht: „Es ist richtig, dass die Länder die Verantwortung für die Sprachbildung in Kitas übernehmen“, sagte Clemens Bieber, Vorsitzender des KTK-Bundesverbandes. Aber: „Die zielgenaue und notwendige Förderung durch das Bundesprogramm Sprach-Kitas lässt sich mit den für die nächsten beiden Jahren vorgesehenen Mitteln des Kita-Qualitätsgesetzes nicht nachbauen“.
Bis Jahresende bliebe auch keinesfalls genug Zeit, die Sprach-Kita-Strukturen von Bund auf Länder zu überführen, so der KTK-Vorsitzende. Der Bund dürfe keine Mittel aus den Kitas abziehen - erst recht nicht nach zwei Jahren Pandemie.
„Das Programm muss mindestens wie ursprünglich geplant bis Ende 2024 fortgesetzt werden und es bedarf gemeinsamer Anstrengungen von Bund und Ländern, es perspektivisch in eine Regelförderung zu überführen“, sagte Eva Maria Welskop-Deffaa, Präsidentin des Caritasverbandes.
Seit 2016 fördert der Bund mit dem Programm „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“ deutschlandweit Kindertageseinrichtungen und Träger und leistet einen wichtigen Beitrag zur Integration, Inklusion und Spracherziehung von Kindern. Die im Programm vorgesehenen Qualifizierungen und Weiterbildungen des gesamten Personals einer Einrichtung stärken nachhaltig die Qualität der Kinderbetreuung. In ganz Deutschland sind gegenwärtig 6.804 Sprach-Kitas und 264 Fachberatungsstellen (Stand Juli 2022) eingerichtet. Durch das Bundesprogramm profitieren in jeder achten Kita in Deutschland über 500.000 Kinder von zusätzlichen Fachkräften und Mitteln.
Berlin (epd). Zwei evangelische Fachverbände kritisieren den Entwurf des neuen Corona-Infektionsschutzgesetzes. Die damit einhergehenden erheblichen personellen Mehraufwände brächten die unter dem Fachkraftmangel leidenden Einrichtungen an die Grenzen ihrer Leistungskapazität, heißt es in einer am 15. September in Berlin verbreiteten Mitteilung. Sie riefen den Bundesrat auf, das Gesetz zu ändern.
Konkret wenden sich der Deutscher Evangelischer Verband für Altenarbeit und Pflege (DEVAP) und der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (BeB) gegen die geplante Regelung, dass Beschäftigte in Einrichtungen der Pflege und Behindertenhilfe dreimal pro Woche getestet werden müssen.
Der BeB-Vorstandsvorsitzende Frank Stefan sagte: „Durch die Maskenpflicht besteht ein wirksamer Schutz gegen die Ansteckung und alle Beschäftigten lassen sich beim Auftreten von Symptomen testen. Das dreimal die Woche, und zwar ausschließlich von den Beschäftigten zu fordern geht mit enormem Aufwand, weniger verfügbarer Arbeitszeit und Kosten einher, die der Behindertenhilfe nicht erstattet werden.“ Es gebe sehr gute Erfahrungen mit der Option der Selbsttests für diejenigen, die einen vollständigen Impfschutz nachgewiesen hätten.
Auch die Einführung von Hygienebeauftragten in den Einrichtungen bedeutet den Verbänden zufolge vor allem eins: mehr Dokumentationsaufwand. Denn Hygienebeauftragte sollen verantwortlich sein für die Einhaltung der Hygienepläne und die Gewährleistung der Abläufe bei Impfungen, Testungen und der Versorgung mit antiviralen Therapeutika. Wilfried Wesemann, Vorsitzender des DEVAP, sagte, eine weitere bußgeldbewehrte Beauftragung belaste die Beschäftigten und Einrichtungen zusätzlich. Beide Organisationen wiesen zudem darauf hin, dass für die Versorgung mit antiviralen Therapeutika Haus- und Fachärzte zuständig sind.
Stuttgart (epd). Der Sozialverband VdK fordert vom Land Baden-Württemberg die Beteiligung an den Investitionskosten von Pflegeheimen. Das sei ein wichtiger Schritt, um die hohen Eigenanteile der Heimbewohner zu reduzieren, appellierte der Ehrenvorsitzende des Landesverbands, Roland Sing, am 12. September an die Landesregierung. Beim VdK-Gesundheitstag in Stuttgart übergaben Sing und der Landesvorsitzende Hans-Josef Hotz 100.000 Unterschriften an Ministerialrätin Angela Postel.
Die Unterzeichner fordern die Rückkehr des Landes zur Investitionskostenförderung, wie das bis 2010 der Fall war. Sing verwies auf durchschnittliche Pflege-Eigenanteile in Höhe von monatlich 2.555 Euro im Südwesten, die mit üblichen Renten nicht zu stemmen seien. Bereits über 30 Prozent der 94.000 Pflegeheimbewohner im Land seien auf „Hilfe zur Pflege“ angewiesen. Dabei sei die gesetzliche Pflegeversicherung einst geschaffen worden, um die Sozialhilfeabhängigkeit der Heimbewohner zu verhindern.
Reformbedarf sehe der Sozialverband auch bei der häuslichen Pflege. Es brauche ein flexibles und regelmäßig zu erhöhendes Budget für alle Pflegeleistungen, abhängig vom Pflegegrad. So könnte verhindert werden, dass bestehende Entlastungsleistungen immer wieder verfallen, weil die Beantragung zu kompliziert ist, Informationen fehlen oder auch hohe Zuzahlungen befürchtet werden. Außerdem plädiert der Verband für eine dem Elterngeld vergleichbare Lohnersatzleistung für pflegende Angehörige.
Rummelsberg (epd). Die Rummelsberger Diakonie löst ihre Servicegesellschaft (RSG) auf und übernimmt die rund 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der RSG in die verschiedenen Teilbereiche der Diakonie. Wie die Rummelsberger am 14. September mitteilten, werden die Beschäftigten zum 1. Januar 2023 in die Bereiche Pflege, Erziehung, Bildung oder in der Begleitung von Menschen mit Behinderung integriert.
Die RSG ist noch zuständig für Dienstleistungen im Bereich Catering, Gebäude- und Wäschereinigung oder Hotel und alle damit zusammenhängenden Geschäfte und Aufgaben. Sie war den Angaben nach vor 20 Jahren gegründet worden.
„Alles hat seine Zeit“, begründete Karl Schulz, der im Vorstand der Rummelsberger Diakonie für die Dienste zuständig ist, den Schritt der Auflösung. Die Kern- und Unterstützungsleistungen innerhalb der Rummelsberger Gruppe würden so enger verzahnt. „Wir gehen davon aus, dass wir sowohl für die Service-Mitarbeitenden als auch in unseren Kernbereichen die Arbeitszufriedenheit und die Qualität sichern und verbessern können.“ Mit der Aufnahme der RSG-Beschäftigten in die Arbeitsfelder würden sie „nach einem einheitlichen, über alle Handlungsfelder gültigen und wettbewerbsfähigen Vergütungssystem“ bezahlt, so Schulz.
Die Rummelsberger Diakonie mit Sitz in Schwarzenbruck bei Nürnberg betreibt nach eigenen Angaben in Bayern mehr als 250 aufsuchende, ambulante, teil-stationäre und stationäre Dienste und Einrichtungen für Kinder, Jugendliche, Familien, Menschen mit Behinderung und Seniorinnen und Senioren. Sie beschäftigt mehr als 6.200 Mitarbeitende in Voll- und Teilzeit. Der Jahresumsatz beträgt rund 350 Millionen Euro.
Erfurt (epd). Arbeitgeber müssen aus Arbeitsschutzgründen regelmäßig die gesamte Arbeitszeit aller ihrer Beschäftigten erfassen. Denn das deutsche Arbeitsschutzgesetz muss nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs von 2019 EU-rechtskonform ausgelegt werden, stellte das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einem am 13. September verkündeten Beschluss klar. Betriebsräte können im Rahmen ihres Mitbestimmungsrechts beim Arbeitgeber die Zeiterfassung jedoch nur anmahnen und nicht verbindlich verlangen, entschieden die Erfurter Richter.
Im Streitfall ging es um das Gut Neuhof, eine von zwei Arbeitgebern gemeinsam betriebene vollstationäre Eingliederungseinrichtung für behinderte und psychisch kranke Menschen in Petershagen im Kreis Minden Lübbecke. Der Betriebsrat verhandelte ab 2017 über den Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung. 2018 hatten die Arbeitgeber mit dem Betriebsrat zwar in einer Betriebsvereinbarung einen digitalen Dienstplan beschlossen. Die zusätzliche Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung lehnten sie trotz bereits angeschaffter Lesegeräte dann doch ab.
Der Betriebsrat rief daraufhin eine Einigungsstelle an, um die Einführung der elektronischen Zeiterfassung zu erzwingen. Nur so könne er die Einhaltung der vorgeschriebenen Arbeitszeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie geleisteter Überstunden überprüfen, führte er zur Begründung an.
Die Arbeitgeberinnen rügten jedoch, dass die Einigungsstelle gar nicht zuständig sei, und verwiesen auf eine Entscheidung des BAG aus dem Jahr 1989 (Az.: 1 ABR 97/88). Danach habe der Betriebsrat zwar ein Mitbestimmungsrecht bei der Einführung und Anwendung technischer Einrichtungen. Auf eigene Initiative könne er dies aber nicht verlangen.
Der Betriebsrat zog daraufhin vor Gericht und verwies vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm auf ein Urteil des EuGH vom 14. Mai 2019. Danach müssen Arbeitgeber die gesamten Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten erfassen. Denn nur dann lassen sich zuverlässig auch die Überstunden ermitteln und die Einhaltung der Ruhe- und Höchstarbeitszeiten überprüfen, so damals die Luxemburger Richter. Bestimmungen wie in Deutschland, wonach Arbeitgeber nur über die Überstunden erfassen müsse, reichen danach nicht aus. Ausnahmen sollen aber möglich sein.
Im EuGH-Fall ging es seinerzeit um die Einführung einer Arbeitszeiterfassung bei der Deutschen Bank in Spanien. Die spanische Dienstleistungsgewerkschaft CCOO hatte die Arbeitszeiterfassung aus Arbeitsschutzgründen verlangt.
Die Luxemburger Richter gaben der Gewerkschaft recht. Das Gericht verpflichtete alle Mitgliedsstaaten der EU, „ein System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“. Die Pflicht ergebe sich nicht nur aus der EU-Arbeitszeitrichtlinie. Auch die EU-Grundrechtecharta verbürge „das Grundrecht eines jeden Arbeitnehmers auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten“.
Die EU-Mitgliedstaaten müssten „dafür sorgen, dass den Arbeitnehmern die ihnen verliehenen Rechte zugutekommen“. Ein System zur Erfassung der kompletten Arbeitszeiten sei unabdingbar. Andernfalls könnten Überstunden nicht zuverlässig ermittelt und von den Arbeitnehmern gegenüber ihrem Arbeitgeber auch nicht nachgewiesen werden. Gewerkschaften und Betriebsräte seien auf solche Daten angewiesen, um die Einhaltung der vorgeschriebenen Ruhe- und Höchstarbeitszeiten zu überwachen, so das Gericht.
Im aktuellen Rechtsstreit gab das LAG dem Betriebsrat mit Beschluss vom 27. Juli 2021 ebenfalls recht. Auf europarechtliche Fragen komme es hier aber gar nicht an, befand das LAG. Denn grundsätzlich stehe dem Betriebsrat die Initiative zu, in mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten Verhandlungen aufzunehmen und zu verlangen. Dazu gehöre auch die Einführung einer elektronischen Zeiterfassung.
Die daraufhin von den Arbeitgebern eingelegte Rechtsbeschwerde hatte beim BAG nun Erfolg. Allerdings stellten die obersten Arbeitsrichter klar, dass Arbeitgeber nach dem Arbeitsschutzgesetz zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung verpflichtet seien. Das Gesetz verpflichte Arbeitgeber „erforderliche Maßnahmen des Arbeitsschutzes“ zu treffen. Arbeitgeber müssten für eine „geeignete Organisation“ der Maßnahmen sorgen und die „erforderlichen Mittel“ bereitstellen. Das Gesetz müsse mit Blick auf die EuGH-Entscheidung von 2019 unionsrechtskonform ausgelegt werden, so das BAG. Damit sei die Einführung einer Arbeitszeiterfassung aus Arbeitsschutzgründen Pflicht.
Diese gesetzliche Pflicht führe aber dazu, dass ein Betriebsrat dies im Rahmen seines Mitbestimmungsrechtes nicht verbindlich einfordern kann, betonte das BAG. Der Betriebsrat habe in „sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht“. Er könne zwar den Arbeitgeber zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems auffordern, erzwingen könne er das aber nicht.
Faktisch können damit nur Arbeitsschutzbehörden die Arbeitszeiterfassung anordnen. Die Ampelkoalition hat in ihrem Koalitionsvertrag zumindest gesetzliche Neuregelungen zu flexibleren Arbeitszeitmodellen angekündigt.
Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit leisteten alle Arbeitnehmer in Deutschland 2021 im Durchschnitt 818,2 Millionen bezahlte und 893,1 Millionen unbezahlte Überstunden. Je Arbeitnehmer waren dies 20,0 bezahlte und 21,8 unbezahlte Überstunden im Jahr.
Az.: 1 ABR 22/21 (Bundesarbeitsgericht, Zeiterfassung)
Az.: C-55/18 (Europäischer Gerichtshof)
Az.: 7 TaBV 79/20 (Landesarbeitsgericht Hamm)
Erfurt (epd). Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer können auch über die gesetzliche Höchstdauer von 18 Monaten hinaus an andere Firmen entliehen werden. Voraussetzung hierfür ist, dass in dem Betrieb, in dem der Leiharbeiter eingesetzt wird, ein dort geltender Tarifvertrag längere Entleihzeiten erlaubt, wie am 14. September das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt urteilte. Es ist demnach nicht erforderlich, dass auch die Leiharbeitsfirma und der Leiharbeiter als Mitglied einer Gewerkschaft tarifgebunden sind.
Im Streitfall wurde der Kläger ab Mai 2017 für knapp 24 Monate als Leiharbeitnehmer bei der Daimler AG eingesetzt. In dem Unternehmen galt der zwischen dem Arbeitgeberverband Südwestmetall und der Industriegewerkschaft IG Metall geschlossene „Tarifvertrag Leih-/Zeitarbeit“. Dieser sah vor, dass Leiharbeiter bis zu 48 Monate in dem Betrieb eingesetzt werden dürfen.
Der Leiharbeiter meinte, dass der Tarifvertrag nicht auf ihn angewendet werden könne. Denn er gehöre selbst keiner Gewerkschaft an. Damit greife vielmehr die im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz enthaltene Höchstdauer von 18 Monaten für die Überlassung von Leiharbeitern an einen Entleihbetrieb. Da diese bei ihm überschritten wurde, müsse er von Daimler nun fest eingestellt werden.
Doch das BAG erteilte ihm eine Abfuhr. Die gesetzliche Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten dürfe nach den geltenden Bestimmungen auch überschritten werden, wenn die im Entleihbetrieb geltenden Tarifverträge dies so vorsehen. Dies sei hier der Fall. Dabei komme es nicht darauf an, ob der Verleiher und der Leiharbeitnehmer tarifgebunden sind. Verfassungswidrig oder EU-rechtswidrig sei dies nicht. „Die vereinbarte Höchstüberlassungsdauer von 48 Monaten hält sich im Rahmen der gesetzlichen Regelungsbefugnis“, urteilte das BAG.
Az.: 4 AZR 83/21
Erfurt (epd). Die Gewerkschaft ver.di darf auch ohne eine große Zahl an Mitgliedern in der Pflegebranche Tarifverträge abschließen. Denn ist die Gewerkschaft insgesamt innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs als tariffähig anzusehen, gelte das auch für einzelne Branchen, in denen sie weniger stark ist, urteilte am 13. September das Bundesarbeitsgericht in Erfurt.
Im Streitfall hatte der Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) beantragt, die Gewerkschaft ver.di für die Pflegebranche außerhalb von Krankenhäusern als nicht tariffähig erklären zu lassen. Zwar verfüge ver.di über etwa 1,9 Millionen Mitglieder, nur ein kleiner Teil davon sei aber in der Pflegebranche tätig, so der Arbeitgeberverband. Die Gewerkschaft sei in diesem Bereich nicht ausreichend mächtig und damit nicht tariffähig. Tarifverträge dürfe sie damit in der Pflegebranche nicht abschließen.
Im AGVP haben sich private Pflegeunternehmen zusammengeschlossen. Der Verband selbst hat rund 75.000 Mitglieder. In der Pflegebranche sind rund 1,2 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt.
Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wies den Antrag der AGVP ab, ver.di für die Pflegebranche für tarifunfähig erklären zu lassen. Die dagegen eingelegte Rechtsbeschwerde hatte auch vor dem Bundesarbeitsgericht keinen Erfolg. ver.di sei angesichts seiner Mitgliederzahl, der Organisationsstruktur und Durchsetzungskraft tariffähig. Maßgeblich sei eine Gesamtbetrachtung. Der beanspruchte Zuständigkeitsbereich von ver.di - etwa für Medien, öffentliche Dienste, Verkehr oder auch für das Gesundheitswesen - sei „einheitlich und unteilbar“. Damit dürfe ver.di auch in der Pflegebranche Tarifverträge abschließen.
Az.: 1 ABR 24/21
Karlsruhe (epd). Die gegen eine Altenpflegehelferin verhängte Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten wegen lebensgefährlicher Insulingaben an zwei demente Seniorinnen eines Pflegeheims ist rechtskräftig. Wie der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe in einem am 12. September bekanntgegebenen Beschluss entschied, ist die Beweiswürdigung des Landgerichts Würzburg „frei von Rechtsfehlern“.
Das Landgericht hatte festgestellt, dass die Pflegekraft am 8. November 2020 zwei zum Tatzeitpunkt 80 und 85 Jahre alte demente Seniorinnen ohne medizinischen Grund lebensgefährliche Insulingaben verabreicht hat. Nachdem die beiden Opfer kurz hintereinander mit denselben Krankheitssymptomen in die Klinik kamen, konnte die verständigte Kriminalpolizei die Pflegekraft überführen. Die Seniorinnen hatten die lebensgefährlichen Insulingaben überlebt.
Die Staatsanwaltschaft warf der Angeklagten vor, in Tötungsabsicht Insulin gespritzt zu haben. Davon war das Landgericht nach einem Teilgeständnis der Frau jedoch nicht überzeugt und verurteilte sie wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten. Sie habe mit den lebensgefährlichen Insulingaben erreichen wollen, dass die in einem Pflegeheim im unterfränkischen Volkach lebenden dementen Frauen in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Die Angeklagte habe sich so eine Arbeitsentlastung versprochen.
Die von der Staatsanwaltschaft dagegen eingelegte Revision hatte vor dem BGH jedoch keinen Erfolg. „Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist frei von Rechtsfehlern“, befanden die Karlsruher Richter.
Az.: 6StR 52/22
Mainz (epd). Kirchliche Arbeitgeber sind einem Gerichtsurteil zufolge bei Stellenausschreibungen nicht zur Einladung schwerbehinderter Bewerberinnen und Bewerber verpflichtet. Auch wenn ein Kirchenkreis der evangelischen Kirche als öffentlich-rechtliche Körperschaft gilt, greife die gesetzliche Pflicht zur Einladung schwerbehinderter Bewerber nur für öffentliche Arbeitgeber, die in die Staatsorganisation eingebunden sind und staatlicher Aufsicht unterliegen, entschied das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz in dem am 13. September bekanntgegebenen Urteil. Die Mainzer Richter ließen wegen der grundsätzlichen Bedeutung die Revision zum Bundesarbeitsgericht in Erfurt zu.
Nach den gesetzlichen Bestimmungen sind öffentliche Arbeitgeber verpflichtet, bei Stellenausschreibungen dem Grunde nach geeignete schwerbehinderte Bewerber zum Vorstellungsgespräch einzuladen. Als öffentlicher Arbeitgeber gelten danach etwa Bundes- und Landesbehörden, aber auch „jede sonstige Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts“. Wird ein Vorstellungsgespräch verwehrt, liegt ein Indiz für eine Diskriminierung wegen der Behinderung vor. Der öffentliche Arbeitgeber kann dann zu einer Entschädigung verpflichtet sein.
Im Streitfall hatte ein Kirchenkreis der Evangelischen Kirche im Rheinland am 4. April 2020 eine Stelle in der Finanzbuchhaltung ausgeschrieben. Der schwerbehinderte Kläger hatte sich erfolglos auf die Stelle beworben. Zum Vorstellungsgespräch wurde er nicht eingeladen. Dazu wäre der Kirchenkreis als öffentlich-rechtliche Körperschaft aber verpflichtet gewesen, meinte er und verlangte eine Entschädigung in Höhe von 7.500 Euro. Der Kirchenkreis sei wie ein öffentlicher Arbeitgeber anzusehen.
Doch das Landesarbeitsgericht wies ihn ab. Die evangelische Kirche, einschließlich ihrer Untergliederungen, sei kein öffentlicher Arbeitgeber, befand das Gericht. Die Einladungspflicht gelte für die öffentliche Verwaltung und damit der staatlichen, nicht aber der kirchlichen Gewalt. Zwar sei der Kirchenkreis eine öffentlich-rechtliche Körperschaft. Er nehme aber weder Staatsaufgaben wahr, noch sei er in einer Staatsorganisation eingebunden. Er unterliege auch keiner staatlichen Aufsicht. Damit seien der Kirchenkreis und die Stellung der Kirchen nicht mit anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften vergleichbar.
Az.: 5 Sa 10/22
Mainz (epd). Eine Impfung gegen das Sars-CoV-2-Virus schützt Pflegekräfte einer Klinik auch vor einer Kündigung. Denn Arbeitgeber können vor Einführung der gesetzlichen Nachweispflicht über eine Corona-Impfung eingestelltes ungeimpftes Pflegepersonal unter bestimmten Voraussetzungen entlassen, entschied das Landesarbeitsgericht (LAG) Rheinland-Pfalz in Mainz in einem am 7. September veröffentlichten Urteil. Das sei möglich, wenn das Beschäftigungsverhältnis in der Klinik noch nicht sechs Monate angedauert hat und damit das Kündigungsschutzgesetz noch nicht gilt, so das LAG. Das Gericht ließ allerdings die Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt zu.
Geklagt hatte eine medizinische Fachangestellte, die in Teilzeit in einem kommunalen Krankenhaus der Maximalversorgung beschäftigt ist. Von den 3.100 Arbeitnehmern waren Mitte 2021 insgesamt 250 nicht gegen das Coronavirus geimpft, darunter auch die Klägerin.
Auch nach einer Impfaufforderung der Pflegedienstleiterin lehnte die Frau die Corona-Impfung ab. Der Klinikbetreiber kündigte der Frau und verwies auf seine Sorgfalts- und Schutzpflichten gegenüber den Patientinnen und Patienten. Ungeimpftes Pflegepersonal führe zu einem erheblichen Ansteckungsrisiko für vulnerable Patienten. Außerdem gelte für die Frau noch nicht das Kündigungsschutzgesetz. Dieses greife erst nach einer Wartezeit von sechs Monaten ab Beginn des Beschäfti-gungsverhältnisses. Innerhalb dieser Wartezeit könne der Arbeitgeber ohne nähere Gründe unter Einhaltung der tariflichen Fristen das Arbeitsverhältnis kündigen.
Die Klägerin hielt die Kündigung dennoch für unwirksam. Damit solle sie für ihre Impfverweigerung in verbotener Weise „gemaßregelt“ werden, obwohl sie mit der verweigerten Impfung ihr gutes Recht in Anspruch nehme, sich nicht impfen zu lassen. Sie berief sich auf ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht. Eine gesetzliche Covid-19-Impfpflicht habe nicht bestanden, so die Pflegekraft. Erst ab dem 16. März 2022 habe der Gesetzgeber den verpflichtenden Nachweis über eine Corona-Impfung oder -Genesung vorgeschrieben.
Doch das LAG urteilte nun, dass die erfolgte Kündigung wirksam sei. Der Klinikbetreiber habe von seinem Recht Gebrauch gemacht, innerhalb der gesetzlichen sechsmonatigen Wartezeit zu kündigen. Bis dahin greife das Kündigungsschutzgesetz noch nicht. Der Arbeitgeber habe mit der Kündigung auch nicht gegen das gesetzliche Maßregelverbot verstoßen. Denn die Klinik habe vielmehr mit der verlangten Impfung die Gesundheit der Patientinnen und Patienten schützen wollen. Benötigen vulnerable Personen eine Krankenhausbehandlung, könnten sie ungeimpftem Pflegepersonal nicht ausweichen.
Az.: 5 Sa 461/21
Münster (epd). Johannes Chudziak (44) wird Sozialdezernent des LWL und damit Nachfolger von Matthias Münning. Die Abgeordneten in der LWL-Landschaftsversammlung haben ihn mit 96 von 109 Stimmen gewählt. Chudziak, bisher Sozialdezernent der Stadt Herne, wo er mit seiner Familie lebt.
Nach dem Jurastudium in Osnabrück arbeitete Chudziak zunächst als Rechtsanwalt. Er war bereits zwischen 2007 und 2013 in unterschiedlichen Positionen beim LWL, bevor das SPD-Mitglied zur Stadtverwaltung nach Herne wechselte.
Beim LWL wird er für den finanziell größten Bereich, die Behindertenhilfe mit dem LWL-Inklusionsamt Soziale Teilhabe, dem LWL-Inklusionsamt Arbeit und dem LWL-Amt für Soziales Entschädigungsrecht, zuständig sein.
Matthias Münning ist seit April 2007 LWL-Sozialdezernent. Der Emsdettener studierte Jura in Münster. Seit Dezember 1988 ist er Mitarbeiter des LWL, in leitender Funktion ab 1991 zunächst als Leiter der Zentralen Adoptionsstelle, dann als Referatsleiter für Erziehungshilfe und anschließend für die LWL-Schulen und Einrichtungen der Jugendhilfe.
Katarina Barley, SPD-Politikerin und Ex-Familienministerin, ist vom Bundesausschuss des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) zur Präsidentin ernannt worden. Die Juristin und Europaparlamentarierin wurde von den Delegierten des Bundesausschusses einstimmig gewählt. Katarina Barley folgt auf Franz Müntefering, der von 2013 bis 2021 an der Spitze der Hilfs- und Wohlfahrtsorganisation stand. Als Präsidentin wird Barley die Organisation in nationalen und internationalen Spitzenorganisationen repräsentieren. Der ASB-Bundesvorsitzende Knut Fleckenstein gratulierte zur Ernennung und sagte, Barley werde „dem ASB eine kraftvolle Stimme geben“. Barley war von Juni 2017 bis März 2018 Bundesfamilienministerin. Nach der Wahl 2017 war sie zudem geschäftsführende Arbeits- und Sozialministerin. Von März 2018 bis Juni 2019 war sie Justizministerin. Seit der Europawahl 2019 ist Barley Mitglied des Europaparlaments und wurde dort 2019 zur Vizepräsidentin gewählt.
Helga Siemens-Weibring (64) übernimmt den ehrenamtlichen Vorsitz des Verwaltungsrates der Kindernothilfe. Sie wurde zur Nachfolgerin von Christel Riemann-Hanewinckel gewählt, die das Amt nach 12 Jahren niederlegt. Erneut bestätigt wurden die Stellvertretungen Irene Dittrich, Professorin an der Hochschule Düsseldorf, und Michael Schramm, Mitglied der Geschäftsleitung Region West der Commerzbank AG. Siemens-Weibring ist Beauftragte für Sozialpolitik in der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe (RWL). Seit mehr als 30 Jahren arbeitet sie hauptamtlich in leitenden Funktionen, in den vergangenen Jahren verstärkt im Feld des Kinder- und Jugendschutzes und des Schutzes vor sexuellem Missbrauch. Seit mehr als zehn Jahren ist sie Mitglied der Kirchenleitung der evangelischen Kirche im Rheinland und vor vier Jahren wurde sie in den Verwaltungsrat der Kindernothilfe gewählt.
Ilja Seifert, Pionier der bundesdeutschen Behindertenpolitik, ist tot. Er starb am 10. September im Alter von 71 Jahren in Berlin. „Er war ein engagierter Kämpfer für die Rechte von Menschen mit Behinderungen“, teilte die Bundestagsfraktion der Linken mit, der Seifert lange Jahre angehörte. Seifert war zuletzt 2005 bis 2013 Mitglied der Fraktion, und bis 2022 im Parteivorstand. Er war seit einem Badeunfall 1967 querschnittgelähmt, studierte Germanistik und war unter anderem 1981 bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Haus für Kulturarbeit in Berlin. Seifert war 1990 Gründungspräsident des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland und von 1999 bis Juli 2011 Vorsitzender des Berliner Behindertenverbandes. Ab 1995 war er Partner des Sachverständigenbüros Barrierefreies Leben Seifert & Schröder in Berlin.
Jürgen Bender bleibt weiterhin Pflegebeauftragter im Saarland. Der Landtag des Saarlandes bestätigte ihn am 14. September in Saarbrücken im Amt. Der ehemalige Präsident des Landessozialgerichts hat den Posten bereits seit 2013 inne. Der Pflegebeauftragte ist weisungsungebunden im Gesundheitsministerium angesiedelt. Seine Themen umfassen nicht nur die Pflege, sondern auch Menschen mit Erkrankungen oder Behinderungen. Jährlich legt er dem Landtag einen Pflegebericht vor.
Teresa Enke erhält für ihre Verdienste um die Enttabuisierung des Themas Depression den Erich-Kästner-Preis des Presseclubs Dresden. Die Vorsitzende der Robert-Enke-Stiftung bekommt die Auszeichnung am 25. September in Dresden verliehen. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert. Teresa Enke ist die Witwe des Fußball-Nationaltorwarts Robert Enke, der schwer an Depression erkrankte und sich 2009 das Leben nahm. Seit seinem Tod klärt sie über die Krankheit Depression auf. Sie engagiere sich gegen die Stigmatisierung dieser Krankheit und gebe vielen Betroffenen den Mut, sich zu offenbaren und Hilfe zu suchen, begründete der Presseclub die Preisvergabe. Die Dresdner Auszeichnung wird zum 25. Mal vergeben. Das Preisgeld spenden die Geehrten jeweils für künstlerische, kulturelle oder karitative Projekte.
Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, das zu beachten.
20.09.
Online-Veranstaltung: „Teamzusammenhalt in besonderen Zeiten fördern“
des Bundesverband-Pflegemanagement
Tel.: 030/440376-93
21.-23.9.:
Online-Fortbildung „Agile Führungsansätze - Soziale Organisationen für die Zukunft ausrichten“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/2001700
22.-23.9. Magdeburg:
12. Kongress der Sozialwirtschaft
der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege
Tel.: 08821/7810525
26.9.:
Online-Fortbildung „Flucht und Behinderung - Rechtliche Möglichkeiten in der Flüchtlings- und Behindertenhilfe“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 030/48837-495
26.-27.9. Essen:
Fortbildung „So kann man doch nicht leben!?`' Vermüllt und verwahrlost - Was tun?“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0172/3012819
26.-30.9. Freiburg:
Seminar „Selbstbewusst und wirksam führen - Authentisch leiten mit TZI“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/2001700
28.-29.9.:
Online-Seminar „Professionelle Videos konzipieren für Social Media und digitale Öffentlichkeitsarbeit“
der Paritätischen Akademie Süd
Tel.: 0711/286976-10
29.9.:
Online-Seminar „Schwangerschaftskonfliktberatung mit unentschiedenen KlientInnen“
Tel.: 030/26309-139
Oktober
11.-12.10. Ebermannstadt:
Seminar „Die Macht der positiven Kommunikation - Zum Umgang mit Konfliktsituationen in Kita, Pflege und Büro“
des Caritasverbandes für die Erzdiözese Bamberg
Tel.: 0951/86040
12.10.:
Online-Seminar „Digitale Öffentlichkeitsarbeit und Social Media für soziale Einrichtungen“
der Paritätischen Akademie Süd
Tel.: 0711/286976-10
12.-13.10.:
Online-Seminar „Vertrauliche Geburt - eine besondere Aufgabe für Schwangerschafts(konflikt)beratungsstellen“
Tel.: 030/26309-139
18.10.:
Online-Seminar „Partizipation umsetzen - Gestaltung von Partizipationsprozessen in Organisationen der Eingliederungshilfe“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0172/301 28 19