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Obdachlosigkeit

Dozieren unter dem Brückenbogen




Alternative Stadtführung mit dem ehemaligen Obdachlosen Thomas Schuler (Archivbild)
epd-bild/Andreas Weise
In Stuttgart nimmt eine "Straßen-Universität" für Obdachlose den Betrieb auf. Sie folgt Beispielen aus Nürnberg und Berlin. Ziel sind inklusive Bildungsangebote für "Menschen in prekären Verhältnissen" an verschiedenen Orten der Stadt.

Stuttgart (epd). Stadtführung, Yoga, Kochkurs - eigentlich ganz normale Themen, wie sie Volkshochschulen und andere Bildungseinrichtungen anbieten. Nicht so in Stuttgart. Denn dort bietet die „Straßen-Universität“ Kurse an, die sich besonders an „Menschen in prekären Verhältnissen“ richten, sagt die Soziologin Hannah Gröner vom Sozialwerk „Neue Arbeit“ der Diakonie. Am 22. September startet das 1. Wintersemester mit einem Vortrag des Obdachlosenarztes Gerhard Trabert zum Thema Armut und Gesundheit unter der Paulinenbrücke. Straßenuniversitäten gibt es bereits in Berlin und Nürnberg.

„Die Straßen-Universität Stuttgart bietet inklusive Bildungsangebote für alle Interessierten an den verschiedensten Orten in Stuttgart an. Unsere Vision ist es, Räume zu schaffen, in denen Wissen gemeinschaftlich geschaffen und ausgetauscht werden kann“, ist auf der Homepage zu lesen. Und man wolle kritisch hinterfragen: Was für Wissen wird gewürdigt? Wessen Wissen wird als relevantes Wissen wahrgenommen? Und weiter: „Die Angebote und Kurse sind an den Bedürfnissen, den Interessen und dem Wissen von Menschen, die weniger Zugang zu Bildung haben, orientiert.“

Wissen vermitteln ohne hohe Zugangsschwellen

Das ist auch das Ziel der „Straßenkreuzer-Uni“ in Nürnberg. Sie will laut Homepage der Vereins Interessierte ohne Zugangsschwelle an spannende Wissensgebiete heranführen und nimmt den Anspruch der lebenslangen Bildung auf anspruchsvollem Niveau ernst. „Gleichzeitig eröffnet sie Lehrenden wie Lernenden Einblick in die jeweils andere Lebenswelt und fördert so den Respekt und das Verständnis füreinander.“

Um das spezielle Infobedürfnis zu ermitteln, habe man „eine Umfrage in Obdachlosenheimen, am ‚Mittagstisch‘ und in Wärmestuben gemacht“, erklärt Soziologin Gröner. Die Teilnahme an den Kursen sei kostenlos und es seien keinerlei Vorkenntnisse erforderlich.

Stadtführung, Museums- und Theaterbesuche

Das Wintersemesters reicht von Ende September bis zur Weihnachtsfeier im Dezember. Am 15. Oktober gibt es unter dem Titel „Geschichten rund um St. Maria“ einen Stadtspaziergang. Dabei geht es um „ein besonderes Fleckchen“ im Süden Stuttgarts, dessen Areal immer wieder baulich verändert wurde und in dem unterschiedliche Menschen tagtäglich aufeinander treffen: „Hier setzt sich der Paule Club sich für Suchtkranke ein, die es schon seit Jahrzehnten zur Paulinenbrücke zieht und Harry‘s Bude verteilt gerettete Lebensmittel“, heißt es dazu im Programm.

Auch mehrere Museeen werden besichtigt. Es gibt eine „Zeitreise in die Welt der Dinosauriere“ (ein Besuch im Naturkundemuseum) und eine Führung durch die Sammlung des Kunstmuseums. Zweimal wird ein Theaterbesuch angeboten, zuvor findet eine „Aufwärmrunde“ mit Essen statt. Auch der Körper kommt nicht zu kurz, in einer Halle nahe dem Hauptbahnhof werden Verteidigungskurse angeboten und unter dem Titel „Zeit für sich selbst und Entspannung im Alltag“ kann man sich mit Yoga vertraut machen.

Wissen der Zielgruppe wertschätzen

Auch das Wissen der Menschen aus der „Zielgruppe“ werde wertgeschätzt, sagt Hannah Gröner. Einen der Kochkurse leitet eine alleinerziehende Mutter, von Beruf Ernährungsberaterin, die von Hartz IV lebt. „Die Straßenuniversität soll ein Plattform für Begegungen auf Augenhöhe sein“, so die Soziologin.

Das Wintersemester endet am 19. Dezember, für das nächste Semester sind schon einige Themen von Künstlicher Intelligenz bis hin zu spirituellen Stadtspaziergängen vorgemerkt. Vorreiter der Stuttgarter Einrichtung sind die „Obdachlosen-Uni“ in Berlin und die „Straßenkreuzer-Uni“ in Nürnberg, die sich mit ihrem Bildungsangebot vor allem an Menschen ohne festen Wohnsitz richten.

Rudolf Stumberger