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Studie

Hartz-IV-Sanktionen bringen nicht mehr Menschen in Arbeit




Langzeitstudie vorgestellt: Langzeitstudie vorgestellt: Ulrich Schneider vom Paritätischen, Helena Steinhaus, Gründerin des Verein Sanktionsfrei, Verena Tobsch, Expertin für Arbeitsmarktpolitik, und Marcel Fratzscher vom DIW (von rechts)
epd-bild/Christian Ditsch
Die Hartz-IV-Sanktionen sind seit Jahren politisch umstritten. Eine Studie zeigt nun, dass die Strafkürzungen ihr Ziel verfehlen. Das Bürgergeld, das Hartz IV ablösen soll, müsse sanktionsfrei sein und höher ausfallen als derzeit geplant. FDP und Grüne widersprechen.

Berlin (epd). Die Sanktionen im Hartz-IV-System tragen einer Studie zufolge nicht dazu bei, mehr Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Vielmehr belasteten sie die Langzeitarbeitslosen zusätzlich, heißt es in einer am 12. September in Berlin vorgestellten Langzeit-Untersuchung über die Auswirkungen von Leistungskürzungen. Die Menschen fühlten sich zusätzlich stigmatisiert statt motiviert, ihre Arbeitssuche zu verstärken. Damit verfehlten die Sanktionen ihr Ziel, lautet das Fazit der vom Berliner Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung (INES) im Auftrag des Vereins „Sanktionsfrei“ erstellten Studie.

Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, Ulrich Schneider, und die Gründerin des Vereins „Sanktionsfrei“, Helena Steinhaus, forderten die vollständige Abschaffung von Sanktionen für Langzeitarbeitslose. Sie hätten „in einer modernen Grundsicherung nichts verloren“, erklärte Steinhaus. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, bezeichnete die Sanktionen für Langzeitarbeitslose als „kontraproduktiv und demotivierend“. Es sei daher dringend nötig, sie abzubauen oder gar „komplett zu entfernen“.

„Bürgergeld muss höher sein“

Schneider, Fratzscher und Steinhaus forderten zudem höhere Regelsätze, als von der Bundesregierung angekündigt. Danach sollen sie bei der Einführung des Bürgergelds Anfang 2023 von derzeit 449 Euro auf rund 500 Euro angehoben werden.

Eine Anhebung um elf Prozent sei „ein schlechter Witz“, sagte Schneider. Sie werde von der Inflation eingeholt. Damit Hartz-IV-Bezieherinnen und -Bezieher nicht länger in die Verschuldung getrieben werden, müsse der Regelsatz sofort um 200 Euro steigen. Außerdem müssten in der aktuellen inflationären Situation die Stromkosten von den Ämtern komplett erstattet werden, forderte Schneider.

DIW-Präsident Fratzscher sieht in der Einführung des Bürgergelds die Chance zu einer grundlegenden Umgestaltung der Sozialsysteme. „Es kann dazu ein erster Schritt sein, weitere Schritte müssen folgen“, sagte er. Fratzscher sprach von einer „dramatischen sozialen Schieflage“. Mit 449 Euro, aber auch mit den für den Jahreswechsel geplanten rund 500 Euro im Monat kämen die Menschen nicht über die Runden. „Das reicht vorne und hinten nicht“, beklagte Fratzscher.

600 Personen mehrfach befragt

Die INES-Studie liefert Ergebnisse einer dreijährigen empirischen Untersuchung, für die rund 600 Personen mehrfach befragt wurden, die zwischen 2019 und 2022 dauerhaft oder zeitweilig Hartz-IV-Leistungen bezogen. Ob Langzeitarbeitslose die Kraft finden, ihre Lage zu verbessern, hängt demnach davon ab, welche Handlungsspielräume sie für sich sehen und wie sie durch die Jobcenter begleitet werden. Sanktionen verringerten diese Spielräume sowohl finanziell als auch durch zusätzlichen psychischen Druck.

Nach den Plänen der Ampel-Koalition sollen die Hartz-IV-Leistungen von einem Bürgergeld abgelöst werden. Im Gesetzentwurf von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sind bei Verstößen gegen die Auflagen der Jobcenter Leistungskürzungen von bis zu 30 Prozent vorgesehen. Bis zur Einführung des Bürgergelds sind derzeit die Sanktionen weitgehend ausgesetzt.

Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, sagte, die Regelsatzanpassung hinke bereits jetzt den aktuellen Kostensteigerungen hinterher. „Es ist zwar ein großer Fortschritt, dass zukünftig die voraussichtliche Preisentwicklung im Laufe des Jahres Maßstab für die jährliche Anpassung im Januar sein soll.“ Allerdings dürfe es bei der Umstellung keine Lücke geben. Die rückwirkende Anpassung aufgrund der Preisentwicklung 2022 dürfe nicht ausfallen, sondern muss ebenfalls nachvollzogen werden. „Damit wären im Januar nicht 52 Euro, sondern rund 100 Euro mehr im Monat nötig“, so Loheide.

FDP verteidigt Sanktionen

Der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Pascal Kober, monierte, in der Betrachtung fehle die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Sanktionen. „Sanktionen sind auch Ausdruck einer Gesellschaft, die sich wechselseitig zu Solidarität verpflichtet. Wer arbeitet, zahlt Steuern, um diejenigen zu unterstützen, die Hilfe benötigen. Wer Hilfe erhält, ist - im Rahmen der Möglichkeiten - verpflichtet, daran mitzuwirken, die Hilfebedürftigkeit zu überwinden. In beiden Fällen sind Sanktionen gerechtfertigt und gesellschaftlicher Konsens“, so Kober. Er verwies auf Studien, die zu anderen Ergebnissen kämen: Sanktionen hätten sehr wohl eine Anreizwirkung und sie erhöhten die Eingliederungschancen.

Andreas Audretsch, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen, verteidigte die umstrittene Regelsatzerhöhung. „Die neue Berechnungsmethode bildet die derzeit hohe Inflation vorausschauender ab als bisher. Auch die Hinzuverdienstregeln werden geändert, sodass vom eigenen Arbeitseinkommen mehr behalten werden kann. Wer arbeitet, hat immer mehr in der Tasche - das galt bisher und wird mit dem Bürgergeld erst recht gelten“, so Audretsch.

Laut der Bundesagentur für Arbeit (BA) lebten im Mai dieses Jahres knapp 4,9 Millionen Menschen von Hartz-IV-Leistungen, davon 3,5 Millionen erwerbsfähige Leistungsbezieher, die bei Verstößen gegen Auflagen der Jobcenter sanktioniert werden können. Unter den 1,4 Millionen nicht erwerbsfähigen Leistungsbeziehern sind vor allem Kinder unter 15 Jahren. Nach Angaben der BA sind in den beiden Corona-Jahren jeweils weniger als 200.000 Sanktionen verhängt worden - das ist nur ein Viertel der jährlichen Zahl vor der Pandemie. Häufigster Grund sind Meldeversäumnisse.

Bettina Markmeyer, Markus Jantzer