sozial-Editorial

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Dirk Baas
epd-bild/Hanno Gutmann

Weltweit fehlt es an qualifizierten Pflegekräften. Längst ist ein zwischenstaatlicher Kampf um das dringend gesuchte Personal entbrannt. Auch Deutschland bemüht sich seit Jahren um mehr Fachkräfte, auch außerhalb der EU. Doch diese Anwerbeprogramme sind umstritten, denn der Personalverlust gefährdet die heimische Gesundheitsversorgung. Deutschland müsse schlicht mehr Nachwuchs selbst ausbilden, sagt der Experte Jochen Oltmer. Doch das ist leichter gesagt als getan.

Kippt Hartz IV oder kommen nur Reformen? Die Debatte über den Umgang mit arbeitslosen Menschen hat wieder Fahrt aufgenommen. Auch weil die Grünen ihre Pläne für eine "Garantiesicherung" jenseit von Hartz IV bekanntgemacht haben. Nun geht selbst die SPD auf Distanz zur Agenda 2010 ihres einstigen Kanzlers Gerhard Schröder. Doch welches Versagen werfen Kritiker Hartz IV eigentlich vor? Und wie soll der künftige Umbau der sozialen Sicherung aussehen? Dazu ein Gespräch mit dem Soziologen Stephan Lessenich.

Lange galt Demenz als ein Schicksalsschlag, gegen den man nichts machen kann. Heute weiß man neuen Forschungsergebnissen zufolge, dass sich bis zu einem Drittel aller Alzheimer-Erkrankungen verhindern lassen. Entscheidend dafür ist ein ausgeglichener und gesunder Lebensstil, sagen Experten. Sie verweisen darauf, dass auch bei den ersten Anzeichen von Demenz noch effektiv eingegriffen werden kann.

Hier geht es zur Gesamtausgabe von epd sozial 47/2018.

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Dirk Baas

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sozial-Thema

Pflege

Migration

Warum es heikel ist, Fachkräfte aus dem Ausland anzulocken




Chinesische Pflegekräfte arbeiten in vielen Einrichtungen in Deutschland, hier ein Foto aus Frankfurt am Main.
epd-bild/Thomas Lohnes
Pflegekräfte sind längst weltweit begehrt, nicht nur in Deutschland. Stichwort Pflegenotstand. Vereinzelt kommt Hilfe auch schon aus dem fernen Ausland. Doch aktive Anwerbung von Pflegepersonal aus bestimmten Ländern ist verboten. Aus gutem Grund.

Der Migrationsforscher Jochen Oltmer bringt es auf den Punkt: Weltweit fehlten Pflegefachkräfte, weil deutlich zu wenig Personal ausgebildet werde: "Das ist ein echtes Dilemma", sagt der Professor am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Osnabrücker Universität.

Er verweist auf ein internationales Abkommen, das die aktive Anwerbung von Gesundheitspersonal in 57 Ländern wie etwa Indien, Kenia oder Marokko verbietet, weil dort selbst ein Mangel an Pflegekräften herrscht. Es gebe "kaum Perspektiven, Länder zu finden, in denen es ein Überangebot gibt", erläutert Oltmer.

Weil Deutschland zu wenig Fachkräfte ausbildet, setze die Regierung "daher offensiv oder stillschweigend auf den Zuzug qualifizierter Kräfte aus dem Ausland. Der weltweite Brain Drain (Verlust von Talenten) ist zu einem systemischen Problem geworden", urteilt die Deutsche Plattform für globale Gesundheit (DPGG), ein Zusammenschluss von Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und Forschern.

"Abwanderung ist ein gravierendes Problem"

"Die massenhafte Abwanderung hoch qualifizierter junger Menschen bereitet Entwicklungsländern gravierende Probleme", schreibt auch Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik in einer 2017 erschienen Studie zum Thema "Global Migration Governance". Zum einen fehlten die Betroffenen auf dem heimischen Arbeitsmarkt; zum anderen werde die Frage aufgeworfen, ob sich weitere staatliche Investitionen in die tertiäre Bildung lohnen.

Auch jede Fluchtbewegung gen Norden nach Umweltkatastrophen oder Bürgerkriegen führt laut Angenendt zum Brain Drain. Vor allem, weil zuerst meist besser ausgebildete Personen fliehen. Und oft blieben sie dann in den Industriestaaten, auch wenn sich die Lage in ihren Heimatregionen wieder normalisiert hat: "Gerade diejenigen, die aufgrund ihrer Qualifikationen einen wichtigen Beitrag zum Wiederaufbau ihrer Heimat leisten könnten, haben sich häufig im Ausland erfolgreich eine neue Existenz aufgebaut und ziehen eine Rückkehr nicht mehr in Betracht."

Benjamin Schraven, Sozialwissenschaftler am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik, hält Migration zwar für ein sinnvolles Werkzeug, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. "Problematisch wird es nur, wenn die qualifizierten Arbeitnehmer in ihrer Heimat dringend gebraucht werden." Deshalb sei es grundsätzlich am sinnvollsten, den Personalbedarf am heimischen Markt oder aus Nicht-Entwicklungsländern zu decken.

Suche nach Personal läuft weltweit

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Politik und Arbeitgeber sich andernorts nach Fachkräften umsehen. Und das in Zukunft wohl noch systematischer tun müssten, denn nach einer Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums liegt der deutsche Mehrbedarf bei Pflegekräften bis 2030 zwischen 145.000 und 320.000.

Schon heute ist ein eklatanter Personalmangel spürbar: Nach Angaben des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe fehlen umgerechnet allein in der stationären Pflege umgerechnet auf Vollzeitstellen über 16.000 Fachkräfte.

Die vermeintliche Rettung: Offensiv betriebener oder stillschweigend hingenommener Zuzug qualifizierter Kräfte aus dem Ausland. Dazu merkt die DPGG kritisch an: "Die bisherigen Formen der Auslandsrekrutierung erhöhen den Druck auf das Berufsbild der Pflege. Das geringe Lohnniveau wird im besten Falle erhalten oder sogar gesenkt und somit die Kernprobleme des hiesigen Pflegemarktes eher verschärft als gelöst."

Probleme durch schwindendes Humankapital

Doch das ist nur eine Seite der Medaille. Viel gravierender sind den Experten zufolge die Auswirkungen der abwandernden Fachkräfte in ihren Herkunftsländern. Die Staaten verlieren in Scharen Humankapital, oft mit erheblichen Folgen für die Gesundheitsversorgung der eigenen Bevölkerung.

Für den Experten Heino Güllemann ist das ein Unding. Er schreibt in den "Blättern für deutsche und internationale Politik": Aus den EU-Ländern im Osten (Tschechien, Polen und Rumänien) und Süden (Griechenland, Italien, Portugal und Spanien) werde über die Bundesagentur für Arbeit, über das Netzwerk der europäischen Arbeitsagenturen EURES und über Job-Messen Gesundheitspersonal rekrutiert. Außerhalb der EU werbe das Bundeswirtschaftsministerium zusammen mit der Bundesagentur in Serbien und Tunesien um Pflegekräfte und in Kooperation mit dem Arbeitgeberverband Pflege in China.

Über den Erfolg kann man geteilter Meinung sein. Über Anwerbeprogramme sind in den vergangenen sechs Jahren nach Angaben der Bundesregierung rund 2.500 Pflegekräfte aus Nicht-EU-Staaten nach Deutschland vermittelt worden.

Doch Probleme bereite diese Rekrutierung nicht nur in den Staaten Afrikas, sondern längst auch innerhalb der EU. Güllemann: "Die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerungen in Polen, Rumänien und Bulgarien steht angesichts dieses Exodus vor ernsten Problemen." Denn der Gesundheitspersonalbestand eines Staates bestimme weitgehend, inwieweit der Bevölkerung ihr Menschenrecht auf Gesundheit gewährt werden könne.

Deutschland bewegt sich bei der Zuwanderung

Gleichwohl wird Fachkräftezuwanderung in großem Stil möglich sein: Das für 2019 geplante Fachkräftezuwanderungsgesetz soll den Zuzug weiter erleichtern. Es sieht unter anderem vor, dass künftig alle Qualifizierten aus Ländern außerhalb der EU in Deutschland eine Arbeit aufnehmen können. Bislang ist diese Möglichkeit auf Hochqualifizierte und Fachkräfte in Mangelberufen beschränkt.

Dem Brandenburger CDU-Politiker Martin Patzelt geht das zu weit. Er fordert im neuen Gesetz eine Schutzklausel für die entwicklungsschwachen Herkunftsländer. Ohne eine solche Regelung werde eine "egozentrische Selbstversorgung auf Kosten Dritter" erfolgen, die den Entwicklungsländern ihre wenigen Fachkräfte raube, die sie selbst dringend bräuchten.

Eine Einschränkung für die Pflegebranche gilt aber weiterhin. Verboten ist die aktive Abwerbung von Pflegekräften aus 57 Ländern, wie etwa Indien, Kenia oder Marokko, die laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter einem bedrohlichen Mangel an Gesundheitsfachkräften leiden. Aber: Ärzte dürfen aus diesen Staaten jedoch weiterhin rekrutiert werden.

Kooperationen bei der Ausbildung gefordert

Forscher Angenendt sieht dennoch Wege, in diesem Spannungsfeld die Interessen von Aufnahme- und Heimatländern zu versöhnen. Es gebe neue Ansätze, die darauf zielen, die Auswanderung qualifizierter Migranten direkt an die Ausbildung von Fachkräften für das jeweilige Herkunftsland zu koppeln, berichtet der Forscher. So habe das "Center for Global Development" beispielsweise "transnationale Ausbildungspartnerschaften" vorgeschlagen. Ihr Ziel ist es, Fachkräfte sowohl für den Bedarf des Heimatlandes als auch für jenen des Aufnahmelandes auszubilden.

"Eine Schulung vor Ort im Herkunftsland kann auf diese Weise dazu beitragen, international konkurrenzfähige Ausbildungseinrichtungen zu schaffen. Wenn solche Partnerschaften gut konzipiert werden, können auch die Empfängerländer von ihnen profitieren", sagt der Wissenschaftler. Denn sie könnten die von ihnen geförderte Ausbildung in den Herkunftsländern auch an den eigenen Bedürfnissen ausrichten. Und solche Partnerschaften kämen letztlich auch jenen Migranten zugute, die sich zu einem späteren Zeitpunkt entschließen, in ihre Heimatländer zurückzukehren.

Das hat auch die Bundesregierung erkannt. In ihren Eckpunkten für das künftige Gesetz zur Fachkräfteeinwanderung aus Drittstaaten heißt es, künftig sollten auch Ausbildungsangebote im Ausland etabliert werden. Dabei sei sie sich "der internationalen Prinzipien für ein ethisch verantwortbare Gewinnung von Fachkräften bewusst".

Meurer: Regierung muss selbst Personal anwerben

Dem Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) geht das längst nicht weit genug. Er verlangt von der Bundesregierung, aktiv internationale Pflegekräfte anzuwerben: "Arbeits- und Gesundheitsministerium müssen direkt in Drittstaaten mit einer positiven demografischen Entwicklung gehen und dort Pflegekräfte anwerben. Mit einem Zuwanderungsgesetz oder mit Erleichterungen für die Anerkennung ist es längst nicht mehr getan“, forderte Präsident Bernd Meurer am 8. November in Bad Homburg. Es fehlten bereits deutlich mehr als 50.000 Pflegekräfte.

Was in den 60er-Jahren für die Automobilindustrie getan worden sei, müsse auch für die Pflegebedürftigen möglich sein, sagte Meurer: "Wie damals soll die Bundesregierung wieder mit eigenen Ausbildungs- und Anwerbecentern in Drittstaaten mit einem hohen jungen Bevölkerungsanteil gehen."

Dirk Baas


Pflege

Migration

Daten zum weltweiten Mangel an Pflegekräften



2050 werden in Deutschland rund zehn Millionen Menschen 80 Jahre oder älter sein. Wer all diese Personen bei Bedarf pflegen soll, ist völlig offen. Der deutsche Arbeitsmarkt ist dieser gewaltigen Herausforderung schon heute nicht gewachsen, weil es allerorten an qualifiziertem Personal fehlt. In der Altenpflege dauert es durchschnittlich 175 Tage, eine Stelle neu zu besetzen.

Helfen sollen vermehrt angeworbene Fachkräfte aus dem Ausland, fordert etwa der Bundesverband sozialer Anbieter sozialer Dienste (bpa). Dabei ist der Mangel an Pflegekräften dort häufig noch prekärer als hierzulande, wie Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) belegen.

Demnach fehlten 2013 weltweit 7,2 Millionen Gesundheitsfachkräfte, 2035 werden es Schätzungen zufolge 12,9 Millionen sein. Die UN-Organisation legt einen Mindestbedarf von 23 Ärzten, Pflegekräften und Hebammen pro 10.000 Menschen fest. In 83 Ländern weltweit, also fast jedem zweiten Land auf der Welt, kann dieser Bedarf derzeit nicht gedeckt werden.

Zum Vergleich: In Deutschland kamen im Jahr 2010 rund 150 medizinische Fachkräfte auf 10.000 Einwohner. WHO-Daten zufolge gab es zwischen 2008 und 2011 nur sieben Länder, die mehr Pfleger, Ärzte und Hebammen einsetzen konnten als Deutschland: Die Schweiz, Norwegen, Monaco, Luxemburg, Kuba, Belgien und die südpazifische Koralleninsel Niue.

Die WHO hat 2010 einen Verhaltenskodex für die internationale Anwerbung von Gesundheitspersonal verabschiedet, um den Brain Drain, den Verlust von Talenten, zu verhindern. In dem Kodex wird der Verzicht auf Abwerbung von Personen aus Ländern mit einem Mangel an Gesundheitsfachkräften empfohlen. Auf der Verbotsliste stehen 57 Staaten.

2017 arbeiteten der Bundesregierung zufolge rund 65.000 Pflegekräfte aus Nicht-EU-Staaten sowie aus Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz in Deutschland. Erhebungen zufolge kommen die Pflegekräfte meist aus Ländern des Ostens und Südens, aus Polen, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Vietnam oder von den Philippinen.

Auf den Philippinen kamen 2004 auf 10.000 Einwohner knapp 72 Gesundheitsfachkräfte, also nur halb so viele wie in Deutschland. Viele ländliche Regionen sind inzwischen unterversorgt, obwohl in dem Land extra medizinisches Personal fürs Ausland ausgebildet wird. Noch schlechter sah es 2008 in Vietnam aus: Dort kamen auf 10.000 Einwohner 22 Gesundheitsfachkräfte, also weniger als der von der WHO festgelegte Mindestbedarf.

Trotzdem arbeiten immer mehr Philippinos und Vietnamesen in Deutschland in der Pflege. Die Zahl der Vietnamesen stieg zwischen März 2013 und März 2015 von 154 auf 1.689, die der Philippinos von 894 auf 2.486. Im gleichen Zeitraum wuchs auch der Anteil der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in der Pflege ohne deutsche Staatsangehörigkeit: Er stieg von rund fünf auf neun Prozent.



Pflege

Migration

Experte: "Weltweit mehr Pflegekräfte ausbilden"




Johannes Oltmer
epd-bild/Michael Gründel
In fast allen Ländern fehlen Fachkräfte in der Pflege, weil deutlich zu wenig Personal ausgebildet wird. Doch es sei ein Irrweg, Pflegepersonal aus wenig entwickelten Staaten in die westlichen Industrieländer zu locken, sagt der Osnabrücker Migrationsforscher Jochen Oltmer. Deren Wegzug habe dramatische Folgen für die Heimatländer, erläutert der Historiker im Gespräch mit "epd sozial".

Der Professor am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Osnabrücker Universität warnt vor den massiven Folgen des "Brain-Drain", also der Verlustes von Fachkompetenz. Er verweist darauf, dass die Abwanderung vielfach auf Kosten der Steuerzahler der ärmeren Gesellschaften gehe, die die Ausbildung finanziert hätten. Dort drohten die dortigen Gesundheitssysteme zu versagen, auch mit negativen Folgen für die meist ohnehin schon begrenzten Kapazitäten für die Ausbildung. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Viele Experten verweisen darauf, dass der Mangel an Pflegefachkräften in Deutschland Folge falscher Gesundheitspolitik und vor allem fehlender Ausbildungskapazitäten ist. Sehen Sie das auch so?

Jochen Oltmer: Ja, verschiedene Elemente kommen hier zusammen: relativ geringe Bezahlung der Fachkräfte, recht schlechte Arbeitsbedingungen vor dem Hintergrund von Einsparungen im Gesundheitssystem.

epd: Doch damit nicht genug ...

Oltmer: Nein, hinzu kommen: Geringes Prestige einer Beschäftigung in der Pflege, geringe Anreize, eine Ausbildung zu absolvieren – und das in einer Situation, in der gar nicht genug Ausbildungskapazitäten zur Verfügung stehen, es also gar nicht so einfach ist, überhaupt eine medizinische oder pflegerische Ausbildung zu beginnen beziehungsweise zu absolvieren.

epd: Die Arbeitgeber suchen schon händeringend Personal für Kliniken, Heime oder ambulante Dienste? Ist es nicht legitim, auch außerhalb Europas gezielt Personal anzuwerben?

Oltmer: Das Grundproblem ist, dass sich weltweit in Mangel an Pflegefachkräften ausmachen lässt. Wir haben es keineswegs nur mit einem deutschen oder europäischen Phänomen zu tun. In vielen Ländern des Globalen Südens ist der Mangel noch viel stärker ausgeprägt als in Europa – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der hohen Ausbildungskosten und der geringen Kapazitäten der Ausbildungssysteme.

epd: Warum ist es für die Heimatländer so heikel, Fachkräfte aus Afrika oder Fernost nach Deutschland zu holen? Stichwort "Brain-Drain".

Oltmer: In einer Situation des weltweiten Mangels an Pflegefachkräften und einer ausgeprägten Konkurrenzsituation sind die reichen Gesellschaften des Globalen Nordens im Vorteil. Sie zahlen bessere Löhne, bieten bessere Arbeitsbedingungen, können bessere Weiterbildungs- und Aufstiegsbedingungen garantieren – und die Abwanderung von Pflegefachkräften etwa nach Europa bedeutet, dass die ohnehin bereits schlechtere Versorgung in den Herkunftsländern noch verschlechtert wird. Außerdem geschieht die Ausbildung von medizinischem und pflegerischem Personal weltweit meist aus Steuermitteln. Das heißt, reiche Gesellschaften profitieren von den meist unter prekären Bedingungen finanzierten Ausbildungssystemen in ärmeren Ländern.

epd: Die Philippinen bilden schon lange über den eigenen Bedarf Pflegenachwuchs aus. Könnte man dieses Potenzial mehr nutzen oder stößt das hierzulande auch an Grenzen?

Oltmer: Die Philippinen erhoffen sich davon hohe Rücküberweisungen, also Geldzahlungen der abgewanderten Pflegekräfte an Familienangehörige, die weiterhin auf den Philippinen leben. Das Problem ist nur: Es gibt keinen Beleg dafür, dass am Ende die Rücküberweisungen höher sind als die Ausbildungskosten, die investiert worden sind.

epd: Es geht um Milliardensummen. Warum profitieren die Philippinen nicht davon?

Oltmer: Ja, zweifellos geht es um hohe Summen, deutlich höhere Summen, als im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit fließen. Allerdings werden die negativen Konsequenzen der Rücküberweisungen selten zur Kenntnis genommen: Vielfach ist beobachtet worden, dass diese Rücküberweisungen die Inflationsgefahr in den Herkunftsländer der Migrantinnen und Migranten erhöhen und einen Rückzug des Staates aus Bildungs- und Gesundheitssystem mit sich bringen - weil die Familienangehörigen von Migrantinnen und Migranten, die Rücküberweisungen erhalten, in der Lage sind, Schul- und Universitätsgebühren, Arzt- und Krankenhausaufenthalte zu bezahlen. Deshalb können, so denken manche Regierungen, staatliche Leistungen zurückgefahren werden - neue Ungleichheiten sind die Folge.

epd: Es gibt eine international anerkannte Liste, die Werbeaktivitäten in bestimmten Ländern wie Indien, Kenia oder Marokko untersagt. Folglich dürfen Pflegekräfte aus allen anderen Ländern umworben werden. Geht das in Ordnung?

Oltmer: Im Rahmen von Richtlinien und Abkommen haben sich viele Länder darauf verständigt, dort keine Fachkräfte anzuwerben, in denen es ohnehin bereits einen tiefgreifenden Mangel an Pflegekräften gibt. Aber: Der geschilderte weltweite Mangel an Pflegekräften bietet kaum Perspektiven, Länder zu finden, in denen es ein Überangebot gibt. Wir haben es also mit einem echten Dilemma zu tun.

epd: Haben Sie einen Vorschlag, wie sich das Problem auf dem Wege der internationalen Kooperation für beide Seiten adäquat lösen lässt?

Oltmer: Angesichts des weltweiten Mangels an Pflegefachkräften und der globalen strukturellen Alterung der Weltbevölkerung, die den Bedarf zukünftig weiter ansteigen lässt, sind alle Länder aufgerufen, sich um die Entwicklung der Gesundheitssysteme und der Ausbildungssysteme für Fachkräfte zu kümmern. Das gilt für die reichen Gesellschaften wegen ihrer deutlich besseren Ausstattung mit finanziellen Ressourcen und Kapazitäten der Anpassung an Veränderungen noch in weitaus höherem Maße als für arme Gesellschaften. Und es gilt für die reichen Gesellschaften auch deshalb in höherem Maße, als sie in deutlich stärkerem Maße von der Alterung betroffen sind.

epd: Wie könnte eine mögliche Kooperation aussehen?

Oltmer: Wenn Anwerbungen von Fachkräften in anderen Ländern laufen, dann müssen die Bedingungen zwischen Herkunfts- und Zielstaaten vertraglich geregelt werden, damit die Anwerbung nicht zulasten der Herkunftsstaaten geht. Internationale Standards müssen entwickelt werden, damit die Konkurrenz um Pflegefachkräfte die globale Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung nicht weiter anwachsen lässt. Und wenn der Ausbau der nationalen Ausbildungssysteme vorangetrieben wird, sollte im Sinne von Entwicklungszusammenarbeit auch daran gedacht werden, Pflegekräfte aus Gesellschaften des Globalen Südens zu integrieren, damit sie nach einer möglichen Rückkehr einen Beitrag leisten können, Gesundheits- und Ausbildungssysteme in ihren Herkunftsgesellschaften zu verbessern.

epd: Warum muss man als Personal suchender Staat überhaupt tätig werden? Die Pflegekräfte könnten doch auch von sich aus gemäß der geltenden Gesetze kommen?

Oltmer: Im Prinzip ja, allerdings geschieht die Abwanderung vielfach auf Kosten der Steuerzahler der ärmeren Gesellschaften weltweit, die die Ausbildung finanziert haben. Je mehr Fachkräfte aus diesen Systemen abwandern, je größer der dortige Mangel an Fachkräften wird, desto eher drohen die dortigen Gesundheitssysteme zu versagen und desto geringer sind die Kapazitäten für die Ausbildung. Die reichen Gesellschaften des Globalen Nordens können kein Interesse daran haben, dass die Gesundheitssystem im Globalen Süden zusammenbrechen und der Mangel an Fachkräften sich weltweit verstärkt.

epd: Ist Deutschland überhaupt ein attraktives Zielland, in das sich deutlich mehr Ausländer locken lassen würden?

Oltmer: Die angelsächsischen Länder sind ohne Zweifel wegen der weltweiten Dominanz des Englischen im Vorteil. Und in Osteuropa, wohin sich bislang vielfach das deutsche Anwerbeinteresse richtete, lässt sich eine Dynamik der Alterung der Gesellschaft ausmachen, die die dortigen Gesundheitssysteme zukünftig sehr stark belasten wird. Aus Osteuropa dürften zukünftig eher weniger als mehr Pflegekräfte kommen können.

epd: Der Zuzug von ausländischen Pflegekräften wird auch kritisch gesehen. Lassen sich auf diesem Wege überhaupt die immensen Probleme in der Pflege, wie schlechtes Image und auch nicht gerade üppige Bezahlung, lösen?

Oltmer: Nein, lösen lassen sie sich nicht. Zuwanderung von Pflegekräften kann einen Beitrag dazu leisten, in einer Übergangsphase, in der es um eine grundsätzliche Neuausrichtung im Pflegebereich geht, ein Stück weit einen Mangel auszugleichen. Er kann auch dazu dienen, Pflegekräfte aus anderen Ländern aus- und fortzubilden. Sehr viel mehr aber nicht.



Pflege

Migration

Gastbeitrag

Ausbildung: Aus dem Kosovo zur Diakonie




Johannes Flothow
epd-bild/Diakonisches Werk der evangelischen Kirche in Württemberg
Im Kampf gegen Personalmangel hilft oft nur Eigeninitiave: Die Diakonie Baden-Württemberg kooperiert deshalb mit Partnern im Kosovo. Auszubildende lernen dort erst Deutsch und kommen dann zur Ausbildung nach Deutschland. Johannes Flothow erläutert die Hintergründe und den Ablauf des erfolgreichen Projektes.

Der erste Schritt ist gemacht: Jüngst feierten über 200 Auszubildende, Einrichtungsleitungen, Vorstände der beteiligten diakonischen Träger und Einrichtungen, Mitglieder der Projektgruppe und Vertreter des kosovarischen Projektpartners APPK den erfolgreichen Abschluss des ersten Jahrgangs des Kosovo-Ausbildungsprojekts. Mit dabei als Ehrengast: Skender Reçica, Minister für Arbeit und Soziales der Republik Kosovo, der allen Beteiligten für ihren Einsatz dankte.

Von 27 Personen, die nach einem neunmonatigen Deutschkurs im Kosovo im Herbst 2015 die Ausbildung in Deutschland begonnen hatten, erreichten 23 Personen das Ziel, Altenpflegefachkraft zu sein. Vier Auszubildende wiederholen das dritte Ausbildungsjahr, um ein Jahr später Fachkraft zu werden. 19 Personen haben nach der Ausbildung bei einer diakonischen Einrichtung einen Vertrag als Altenpflegefachkraft unterschrieben.

Auftakt vor vier Jahren

Rückblick: Genau vor vier Jahren hatte das Projekt mit einer Ausschreibung für 20 Ausbildungsplätze für Absolventen von berufsbildenden medizinischen Mittelschulen im Kosovo begonnen. Mehr als 300 Personen hatten sich auf die Ausschreibung der kosovarischen Partnerorganisation APPK hin gemeldet. Im Oktober 2014 wurden 20 geeignete Kandidaten für die Ausbildung ausgewählt. Letztlich erhielten 27 Personen eine Ausbildungszusage, unter der Bedingung, dass die Bewerber bis zum Ausbildungsbeginn die deutsche Sprache bis zu einem Niveau von B 1 lernen würden - die meisten starteten mit dem Unterricht ohne ein Wort Deutsch.

Vor der endgültigen Entscheidung über einen Ausbildungsvertrag reisten die Bewerber im Mai 2015 zu einer zehntägigen Hospitation in den künftigen Ausbildungseinrichtungen nach Deutschland. Im Herbst erhielten sie dann ein Visum zum Zwecke der beruflichen Ausbildung in Deutschland.

Jeweils zu zweit nahmen sie die betriebliche und schulische Ausbildung in diakonischen Altenpflegerichtungen in Baden-Württemberg auf. Bei der Integrationsbegleitung folgte das Projekt der Idee, den Teilnehmenden bei der Integration in Arbeit, Schule und Leben so wenig Unterstützung wie möglich, aber auch so viel Unterstützung wie nötig zu geben.

Fast alle Absolventen berichten davon, wie intensiv und anstrengend die zurückliegenden vier Jahre waren, ganz besonders die ersten zwölf Wochen in Deutschland.

Sprachkenntnisse sind die höchste Hürde

Für die meisten ist zu Beginn die deutsche Sprache die größte Herausforderung. Sprachkenntnisse auf dem Niveau B1 sind für die Ausbildung zwar anfangs zu gering, aber die Kosovaren bringen bereits medizinische Vorkenntnisse mit. Erschwert wird das Erlernen der Sprache dadurch, dass in Baden-Württemberg im beruflichen Alltag oft schwäbischer Dialekt gesprochen und auf den Schulhöfen bei der Vielzahl von Nationalitäten Deutsch zwar gemeinsame Sprache ist, aber die meisten Schüler keine Muttersprachler sind. Aber: die meisten Absolventen sprechen inzwischen dank Sprachkursen, Job und einheimischer Freunde fast akzentfreies Deutsch.

Insgesamt machen zurzeit über 130 Kosovaren eine Ausbildung in der Diakonie in Baden-Württemberg. Im Kosovo lernen seit September 2018 weitere 110 junge Leute Deutsch, denen für Herbst 2019 ein Ausbildungsplatz versprochen wurde. Werbung muss unser Partner APPK nicht mehr machen. Absolventen und Teilnehmenden berichten ihren Geschwistern, Verwandten, Klassenkameraden und Freunden zu Hause von ihren positiven Erfahrungen bei der Ausbildung und von den transparenten Teilnahmebedingungen. Das Diakonie-Ausbildungsprojekt hat sich inzwischen einen guten Namen im Kosovo erworben.

"Der Auswanderungsdruck ist enorm"

Der Kosovo ist jung, das Durchschnittsalter liegt bei etwa 25 Jahren. Doch es gibt eine sehr hohe Arbeitslosigkeit auch bei jungen, teils gut ausgebildeten Menschen. Auf Jahre noch wird es für die Vielzahl von Absolventen von Berufsschulen und Universitäten nicht genügend Arbeitsplätze geben.

Ein Schlaglicht: Das Medizinische Ausbildungszentrum Ferizaj in Kosovo gab an, dass von 70 Abgängern des letzten Jahrgangs lediglich fünf eine Arbeit im Ausbildungsberuf gefunden hätten. Der Auswanderungsdruck ist enorm. Alle Projektteilnehmenden geben an, dass sie von ihren Familien bei ihrer Entscheidung unterstützt worden sind, nach Deutschland zu gehen, dort eine Ausbildung zu machen und danach als Fachkraft in Deutschland zu arbeiten.

Welche Erkenntnisse haben wir aus dem Projektverlauf zu ziehen:

- Für junge Menschen aus dem Kosovo bietet das Ausbildungsprojekt einen sicheren, verlässlichen, schnellen und legalen Weg eine Fachkraft in Deutschland zu werden und damit eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu erhalten.

- Für Träger und Einrichtungen der Altenhilfe bietet das Projekt die Möglichkeit, zwar Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen, die durch die dreijährige Ausbildung in Deutschland die notwendigen Kenntnisse und Qualifikationen haben.

- Ausbildung ist eine bisher wenig bekannte und genutzte Möglichkeit der Einwanderung aus Drittstaaten bzw. der Gewinnung von Fachkräften aus Drittstaaten. Ausbildung bedeutet einen „Blitzstart“ in vier Jahren vom Drittstaatsangehörigen ohne Deutschkenntnisse zur Fachkraft mit Aufenthaltserlaubnis in Deutschland.

Johannes Flothow ist Referent für Internationale Diakonie im Diakonischen Werk Württemberg.



sozial-Politik

Armut

Die wichtigsten Kritikpunkte an Hartz IV




Hartz IV: Das bedeutet für viele Menschen ein Leben am oder gar unter dem Existenzminimum.
epd-bild/Jens Schulze
Seit seiner Einführung im Jahr 2005 ist Hartz IV umstritten. Nun will sich die SPD-Chefin davon lösen. Denn das Agenda-2010-Konzept des "Forderns und Förderns" ist für die Betroffenen nicht aufgegangen, wie offizielle Statistiken zeigen.

Die Kritik am Hartz-IV-System nimmt zu. Die Parteivorsitzenden von SPD und Grünen, Andrea Nahles und Robert Habeck, wollen das Arbeitslosengeld II durch eine neue Leistung der Grundsicherung ersetzen. Sozialverbände und Linke, die Hartz IV seit seiner Einführung zum 1. Januar 2005 ablehnen, scheinen nun in dieser Frage mehr Gehör zu finden. Was sind die wesentlichen Argumente ihrer Kritik?

Regelsatz "systematisch kleingerechnet"

Die Hartz-IV-Regelsätze sind nach Ansicht von Sozialverbänden zu niedrig. Sie reichten nicht aus, um damit den täglichen Bedarf zu decken. Sie seien "systematisch kleingerechnet" worden, stellte die Armutsforscherin Irene Becker 2016 in einem Gutachten fest. Die Diakonie und der Paritätische Wohlfahrtsverband fordern für einen alleinstehenden Erwachsenen 571 Euro pro Monat statt des aktuellen Regelsatzes von 416 Euro. Auch die Herleitung der Hartz-IV-Regelsätze für Kinder weist nach Ansicht des Verbandes "schwere methodische Mängel" auf und sie seien nicht ausreichend bemessen.

Nicht immer erhalten Langzeitarbeitslose Arbeitslosengeld II. Vor Leistungsbezug prüfen die Behörden, ob der betroffene Erwerbslose oder sein Partner noch über Vermögen verfügen, die über dem sogenannten Schonvermögen liegen. Bei einem 50-jährigen Erwachsenen liegt dieser Betrag bei 8.250 Euro. Alles, was darüber liegt, muss der Erwerbslose zuerst aufbrauchen, bevor er die staatliche Hartz-IV-Leistung erhält.

In den knapp 14 Jahren, seit die Hartz-Gesetze gelten, hat die Armut in Deutschland trotz sinkender Zahlen registrierter Arbeitsloser und trotz einer guten konjunkturellen Entwicklung zugenommen. Obwohl die Arbeitslosenquote von 11,7 Prozent (2005) auf 5,7 Prozent (2017) sank, stieg der Anteil der Einkommensarmen von 14,7 Prozent im Jahr 2005 auf 15,8 Prozent im Jahr 2017, wie die Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen. Viele Menschen blieben trotz Arbeit arm.

Prekäre Arbeitsverhältnisse

Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, kritisiert: "Die soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit ist völlig unzureichend." Die Folge: Arbeitslose werden relativ rasch arm. Das hat verschiedene Ursachen. Zum einen wurde mit dem Hartz-IV-Gesetz die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verkürzt, zum anderen wurde die frühere Arbeitslosenhilfe abgeschafft. An ihre Stelle trat der Hartz-IV-Satz, der bei den meisten Erwerbstätigen deutlich niedriger liegt als die Arbeitslosenhilfe. Der Anteil der Hartz-IV-Bezieher unter den Arbeitslosen stieg in zehn Jahren von 57 auf fast 70 Prozent. Umgekehrt ging der Anteil der Bezieher von Arbeitslosengeld I von 43 auf 30 Prozent zurück.

Als eine wesentliche Ursache für die Armutsentwicklung führen Kritiker außerdem die seit Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) verfolgte Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung an. Kennzeichen der Agenda 2010 seien vor allem die gesetzlich forcierte Ausweitung der Leiharbeit sowie neue Möglichkeiten für Unternehmen, befristete Arbeitsverträge abzuschließen. Unter den Hartz-IV-Bedingungen seien viele Menschen gezwungen, sich auf prekäre Arbeitsverhältnisse einzulassen.

Verharren in Hartz IV

Denn für arbeitslose Hartz-IV-Bezieher erklärte der Gesetzgeber praktisch jedes vom Jobcenter offerierte Angebot für zumutbar. Wer ein Stellenangebot nicht annimmt, wird vom Jobcenter mit Sanktionen, sprich Leistungskürzungen bestraft - und fällt damit für eine gewisse Zeit unter das staatlich definierte Existenzminimum.

Die offiziellen Statistiken zeigen: Die Erwartung, dass die Menschen nur sehr kurzfristig Hartz IV beziehen werden, da sie schnell in eine auskömmliche Erwerbstätigkeit vermittelt werden, wurde enttäuscht. Wie schon beim Inkrafttreten von Hartz IV am 1. Januar 2005 liegt die Zahl der Hartz-Bezieher auch heute noch bei sechs Millionen Personen. Nach den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit beziehen knapp eine Million Menschen seit 2005 durchgängig Hartz IV. Gut drei Viertel benötigen mehr als ein Jahr, um aus dem Hartz-IV-Bezug herauszukommen; 41 Prozent brauchen vier Jahre oder noch länger. Sie leben in Einkommensarbeit und ohne echte Jobperspektive.

Markus Jantzer


Armut

Gerhard Schröder und seine "Agenda 2010"




Demonstration gegen Hartz IV in Berlin
epd-bild/Stefan Boness
Im März 2003 läutete Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) seine "Agenda 2010" ein. Die rot-grüne Bundesregierung legte fortan die Weichen in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik um.

Kern der Agenda 2010 waren die Hartz-Reformen, ein drastisches, nach und nach umgesetztes Reformprogramm neoliberaler Prägung, gegen das die Gewerkschaften Sturm liefen und Zigtausend Menschen zu Demonstrationen auf die Straße brachten.

Schröder sah sich unter Zugzwang, sprach mit Blick auf Deutschland vom "kranken Mann Europas", auch, weil die Zahl der Arbeitslosen auf über vier Millionen Menschen gestiegen war - und Besserung der wirtschaftlichen Lage nach gängiger Meinung nicht in Sicht war. Die Wirtschaft stagnierte, Investitionen gingen zurück und die staatlichen Sozialausgaben stiegen weiter an.

Gesundung sollte die Agenda 2010 bringen. Schröder wollte die Sozialsysteme sanieren, die Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent drücken und vor allem den Arbeitsmarkt flexibler gestalten, wovon er sich mehr Jobs versprach: "Wir werden die Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen." Von da an war das Motto der künftigen Arbeitsmarktpolitik in der Welt: fördern und fordern.

Hartz wird unfreiwilliger Namenspatron

Die Reformen erfolgten schrittweise. Das Gesetzespaket Hartz I und II lehnte sich an die Vorschläge einer von Peter Hartz, damals Personalchef bei VW, geführten Kommission (Titel "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt") an. Später wurde er unfreiwillig Namensgeber jenes Gesetzes, das bis heute umstritten ist: Hartz IV.

Eingeführt wurden privat organisierte "Personal Service Agenturen", die Zeitarbeiter an Firmen verleihen, Mini-Jobs wurden bis 400 Euro abgabenfrei gestellt, sogenannte "Ich AGs" sollten die Selbstständigkeit fördern, Arbeits- und Sozialämter wurden zu Jobzentren zusammengelegt. Mit den Gesetzesreformen Hartz III und IV wurden zwei wichtige Komplexe geregelt: Der Umbau der Bundesanstalt für Arbeit und die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe.

Im Januar 2005 trat das Hartz-IV-Gesetz in Kraft. Es bedeutete einen Paradigmenwechsel. Die aus Steuermitteln finanzierte Arbeitslosenhilfe wurde abgeschafft und mit der Sozialhilfe zusammengelegt. Künftig gab es bei Jobverlust Arbeitslosengeld I und II. Die Betreuung der Arbeitssuchenden wurde verbessert, denn zum Kern der Reformen gehört es, Arbeitslose zu aktivieren, zu qualifizieren und zu vermitteln, anstelle sie möglichst lange zu staatlich zu alimentieren.

Reformen im Kern unverändert

All das war jedoch nicht in Stein gemeißelt: Hartz IV wurde mehrmals nachgebessert, der Regelsatz erhöht und ein Bildungspaket für bedürftige Kinder eingeführt.

Im Kern blieb die Reform aber bis heute bestehen - und spaltet weiter die Nation. Zwar sind Arbeitslosengeld II-Bezieher mit Mini-, Midi- und Teilzeitjobs in der Lage, wenigstens einen Teil ihres Lebensunterhalts selbst zu verdienen. Doch rund 350.000 Menschen, die in Vollzeit arbeiten, sind aufgrund ihrer Niedriglöhne gezwungen, ihr Einkommen mit Hartz IV aufzustocken. Denn bis heute besteht das Grundproblem darain, dass es bundesweit immer weniger ausreichend gut bezahlte Jobs für Personen mit geringer Qualifikation gibt.

Folglich hält sich die Begeisterung über Schröders Reformen und ihre Folgen für den Arbeitsmarkt auch bei vielen Forschern in Grenzen. "Die Apologeten der Agenda 2010 verfallen bei ihren Feiern einer großen Illusion", urteilt der Ökonom Gustav Horn.

Dirk Baas


Armut

Soziologe: Ein Umbau von Hartz IV reicht nicht




Stephan Lessenich
epd-bild/LMU Muenchen
Für den Soziologen Stephan Lessenich würde mit der Abschaffung der umstrittenen Sanktionen bei Hartz IV das ganze System kippen. Das sei zwingend, "weil die Grundidee von Hartz IV die unbedingte Priorität der Arbeitsaufnahme ist", sagte der Professor im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Zur Frage, ob es ausreiche, Hartz IV zu reformieren oder, wie von den Grünen gefordert, eine Garantiesicherung zu schaffen, sagte Lessenich: "Das kommt darauf an was man will." Wenn man einen demokratischen Sozialstaat wolle, dann sei der Übergang zu einem Grundsicherungssystem, das nicht den Arbeitszwang, sondern soziale Teilhabe in den Vordergrund stellt, sicher der richtige Ansatz. Dann reiche ein Umbau von Hartz IV nicht, dann muss man Hartz IV überwinden, sagte der stellvertretende Leiter des Instituts für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Umbau von Hartz IV oder Einführung einer Garantiesicherung, wie sie die Grünen fordern? Welcher Ansatz ist der richtige?

Stephan Lessenich: Das kommt darauf an was man will. Wenn man einen demokratischen Sozialstaat will, dann ist der Übergang zu einem Grundsicherungssystem, das nicht den Arbeitszwang, sondern soziale Teilhabe in den Vordergrund stellt, sicher der richtige Ansatz. Dann reicht ein Umbau von Hartz IV nicht, dann muss man Hartz IV überwinden.

epd: Hartz IV bedeutet Zwang, auch weniger attraktive Jobs anzunehmen. Kann man sich generell von diesem rigiden System lösen, ohne den Arbeitsmarkt zu beschädigen?

Lessenich: Im Zweifel sollte man lieber den Arbeitsmarkt als die Menschen beschädigen, denn anders als der Markt sind Menschen nichts Abstraktes. Was liberale Ökonomen "den Markt beschädigen" nennen, heißt ja für die Menschen, dass mit Blick auf ihre Arbeit der Preismechanismus nicht ungehindert zur Geltung kommen soll: Sie müssen dann im Wortsinne nicht um jeden Preis Arbeit annehmen. Es gab Zeiten, da galt dieses Prinzip als eine zivilisatorische Errungenschaft sozialer Demokratien. In den letzten Jahrzehnten aber meinte man dann zunehmend, dass allein der Markt den Preis der Arbeit bestimmen solle. Dafür steht Hartz IV, das in Deutschland dem Niedriglohnsektor durch politische Intervention erst so richtig zum Durchbruch verholfen hat.

epd: Die Sanktionen bei Hartz IV sind besonders umstritten. Warum kann man sie nicht einfach abschaffen und der Eigeninitiative der Betroffenen vertrauen?

Lessenich: Gute Frage. Es ist einer der bemerkenswerten Widersprüche wirtschaftsliberalen Denkens, dass die Eigeninitiative der Leute als gesellschaftliche Norm immer nur dann und so lange hochgehalten wird, wie diese Eigeninitiative strengen produktivistischen Maßstäben genügt. Selbstbestimmung ist immer dann gut beleumundet, wenn sie sich Marktzwängen fügt - wer die Aufnahme einer Beschäftigung wegen nicht akzeptabler Arbeitsbedingungen ablehnt, gehört dagegen bestraft. Bemerkenswert daran ist vor allen Dingen, dass diese marktkonforme Doppelmoral im öffentlichen Diskurs so ungeheuer erfolgreich ist.

epd: Die Grünen wollen die Menschen nicht länger zwingen, mit dem Jobcenter zu kooperieren, Termine wahrzunehmen, Verpflichtungen zur Vermittlung einzugehen. Kippt damit die Grundidee von Hartz IV?

Lessenich: Ja, weil die Grundidee von Hartz IV die unbedingte Priorität der Arbeitsaufnahme ist. Wobei die Erwerbslosen freilich nie als gleichberechtigte Partner und Partnerinnen in einem Prozess der Reintegration in Erwerbsarbeit gesehen wurden, sondern sich eher als Hilfsabhängige, ja geradezu als Angeklagte fühlen mussten. Zusätzlich zu dem Beschäftigungsverlust, der in dieser Gesellschaft eine wahrhaft existenzielle Erfahrung ist, müssen sie sich als Antragsteller verstehen und stets gute Führung an den Tag legen. Solche Gesetze werden von Leuten gemacht, die selbst keine Arbeitslosigkeitserfahrung haben und sich nicht auf Ämtern gängeln lassen müssen. Das ist vielleicht das Geburtsproblem nicht nur von Hartz IV, sondern vieler sogenannter Sozialgesetze.

epd: Die SPD will sich auch von der Agenda 2010 lösen. Partei-Vize Ralf Stegner sagt aber: "Jeder, der arbeiten kann, muss arbeiten." Wie passt das zusammen?

Lessenich: Nun, das passt wohl eher nicht zusammen, passt insofern aber wiederum ganz gut zur SPD. Die Sozialdemokratie hat eine lange Tradition des Arbeitsautoritarismus: Zu der ja faktisch nicht falschen Überzeugung, dass in dieser Gesellschaft die Teilhabe an Erwerbsarbeit für die allermeisten Menschen ökonomisch zwingend ist, gesellt sich bei ihr schon lange die durchaus zweifelhafte Ansicht, dass die Menschen deshalb auch politisch zum Arbeiten gezwungen werden sollen. Damit sind die Parteimitglieder leider obergelehrige Schülerinnen und Schüler dieses Systems. Weil aber die auch soziokulturelle Bedeutung von Erwerbsarbeit nicht von der Hand zu weisen ist, halte ich umgekehrt den Vorschlag der Grünen nicht für der Weisheit letzten Schluss. Nicht die Pflicht zur Arbeit, aber wohl das Recht auf Arbeit muss in einer sozialen Demokratie politisch gewährleistet werden.

epd: Was raten Sie der SPD: Soll sie Hartz IV komplett hinter sich lassen oder nur so reformieren, dass eine menschenwürdiges Leben oberhalb des Existenzminimums möglich ist?

Lessenich: Wer bin ich, dass ich einer Partei, die sich nun seit Jahrzehnten zielstrebig und teils mutwillig dem politischen Abgrund entgegenbewegt, Ratschläge geben sollte oder auch könnte? Hier sind wohl eher Politpsychotherapeuten gefragt. Aber wenn Sie mich zu einer Antwort nötigen, jenseits von Hartz IV: Auflösen und neu gründen.

epd: Die Grünen gehen von mehr Empfängern ihrer "Garantiesicherung" aus, aber von weniger Armut. Ist das schlüssig?

Lessenich: Wenn man die "Garantiesicherung" als ein Instrument der Armutsbekämpfung versteht, dann steigt mit jeder Empfängerin die bekämpfte Armut. Aber eine solche Sicherung erschöpft sich in ihrer Wirkung ja nicht in der Bekämpfung von – in Einkommensgrößen gemessener – Armut. Eine solche Sicherung, ernst gemeint und konsequent durchgesetzt, müsste insbesondere der sozialen Teilhabe dienen; von Menschen, die zuallererst als Berechtigte gesehen werden, nämlich als Menschen mit dem Recht, an dem gesellschaftlich produzierten Reichtum wenigstens zu einem Mindestmaß teilzuhaben. Angesichts der ungeheuren, teils geradezu obszönen Ungleichheit in diesem Land sollte dies eigentlich ein allgemein akzeptabler politischer Anspruch sein.

epd: Viele Kritiker sagen, dann würden für teures Geld Leute unterstützt, die gar keine Hilfe bräuchten. Was meinen Sie?

Lessenich: Der Vorschlag der Grünen ist ja gar nicht so radikal, die Bedürftigkeitsprüfung für eine "Garantiesicherung" abschaffen zu wollen, so dass diese eben kein bedingungsloses Grundeinkommen wäre und die Kritiker weiterhin gut schlafen können sollten. Davon abgesehen aber steht hinter der von vielen kritisch beäugten Idee der Bedingungslosigkeit die Überlegung, dass ein Rechtsanspruch, der ohne Ansicht der Person wirklich allen Bürgerinnen und Bürgern zukäme, ein Ausdruck und eine Quelle verallgemeinerter Solidarität sein könnte. Über diesen tieferen Sinn wird aber selten gesprochen - weil wir uns das Thema der Solidarität von der gesellschaftspolitischen Agenda haben nehmen lassen, im Zangengriff von Wirtschaftsliberalen und Rechtspopulisten. Und leider bisweilen auch unter tätiger Mithilfe der Sozialdemokratie.



Kriminalität

Fast 140.000 Menschen in Deutschland Opfer von Partnerschaftsgewalt




Franziska Giffey
epd-bild/Rolf Zöllner
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey will langfristig einen Rechtsanspruch auf Schutz für Opfer häuslicher Gewalt schaffen. Das sagte die SPD-Politikerin bei der Vorstellung der "Kriminalstatistischen Auswertung zu Partnerschaftsgewalt 2017" des Bundeskriminalamts am 20. November in Berlin.

Giffey räumte zugleich ein, dass da noch "dicke Bretter zu bohren" seien. Ingesamt sind im vergangenen Jahr laut Statistik 138.893 Menschen in Deutschland Opfer von Gewalt durch Partner oder Ex-Partner geworden. Auch der Sozialdienst katholischer Frauen (SKF) forderte einen Rechtsanspruch auf Schutz vor Gewalt. Die Bundesregierung müsse endlich handeln.

"Häufiger als jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet", sagte Giffey. 147 Frauen kamen ihren Angaben nach ums Leben - 141 durch Mord oder Totschlag, sechs weitere bei Körperverletzung mit Todesfolge. "Diese Zahlen sind schockierend, denn sie zeigen: Für viele Frauen ist das eigene Zuhause ein gefährlicher Ort - ein Ort, an dem Angst herrscht." Es gebe auch männliche Opfer, doch Frauen seien mit mehr als 82 Prozent in einem viel größeren Maße betroffen. 32 Männer seien 2017 Opfer von "vollendetem" Mord und Totschlag geworden.

Weitere Delikte neu erfasst

Zu den erfassten Delikten gehören auch Körperverletzung, Vergewaltigung, Bedrohung und Stalking. Neu hinzugekommen seien sexuelle Nötigung, Zuhälterei, Zwangsheirat, Freiheitsberaubung. Im Vergleich zum Vorjahr ist den Angaben nach ein Rückgang von 0,8 Prozent zu verzeichnen, wenn man die nun zusätzlich erfassten Deliktkategorien auslässt. Von 2013 bis 2016 waren noch steigende Opferzahlen festgestellt worden.

Laut Erhebung hat fast die Hälfte der Opfer in einem Haushalt mit den Tatverdächtigen gelebt. Am häufigsten sei die vorsätzliche einfache Körperverletzung (61 Prozent) gewesen, gefolgt von Bedrohung, Stalking und Nötigung (23,3 Prozent). Oftmals war auch Alkohol im Spiel.

Das Problem betreffe alle ethnischen Gruppen und alle sozialen Schichten, betonte Giffey. Von den 116.00 erfassten Tatverdächtigen seien knapp 68 Prozent deutsche Staatsangehörige. Besonders gewalttätig waren den Angaben nach aber Personen im Alter von 30 bis 39 Jahren. Die Gefahr von Gewalt sei außerdem dann größer, wenn schwierige soziale Verhältnisse hinzu kämen. Die Ministerin ging davon aus, dass die tatsächliche Zahl der Betroffenen wesentlich höher ist, als in der Statistik erfasst.

Neue Kampagne vorgestellt

Die Leiterin des Hilfetelefons "Gewalt gegen Frauen", Petra Söchting, stellte die neue Kampagne "Aber jetzt rede ich" vor, die Frauen ermutigen soll, sich bei Gewalt Hilfe zu holen. Obwohl jede dritte Frau statistisch mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt erfährt, suchen ihren Angaben nach nur 20 Prozent der Betroffenen Unterstützung. Das Hilfetelefon ist beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben angesiedelt. In fünf Jahren seit seiner Gründung seien mehr als 140.000 Menschen per Telefon, Chat oder E-Mail beraten worden.

Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD vereinbart, die Hilfestrukturen für Frauen und Kinder zu verbessern, die von Gewalt betroffen sind. Auch ein bedarfsgerechter Ausbau sowie die finanzielle Absicherung der Arbeit von Frauenhäusern soll erreicht werden.

Giffey sagte, dass ein Runder Tisch dazu von Bund, Ländern und Kommunen im September eingerichtet worden sei. Derzeit gebe es bundesweit 350 Frauenhäuser und 600 Fachberatungsstellen, die rund 30.000 Frauen und Kinder versorgen könnten. Der Bedarf sei aber wesentlich größer. Daher wolle der Bund im Jahr 2020 für die Umsetzung des Aktionsprogramms zur Prävention und Unterstützung von Gewalt betroffenen Frauen und Kindern 35 Millionen Euro aufwenden.

Barley will Videos in Gerichten nutzen

Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) erklärte, um den Opferschutz im Strafverfahren zu verbessern, solle es auch bei erwachsenen Opfern von Sexualdelikten ermöglicht werden, eine Videoaufzeichnung der richterlichen Vernehmung in der Hauptverhandlung zu verwenden. "Dadurch werden künftig überflüssige mehrfache Vernehmungen vermieden. Wenn Opfer angstfrei über ihre furchtbaren Erlebnisse reden können, erleichtert das auch die Strafverfolgung."

"Erst durch einen bundeseinheitlichen Rechtsanspruch können Hilfestrukturen verbindlich geschaffen werden und Frauenhäuser, Interventions- und Beratungsstellen verlässlichen Schutz für alle Frauen bieten, die als Opfer von Gewalt Zuflucht suchen", sagte der SkF. Dadurch würde die Situation für Frauen, die der häuslichen Gewalt entfliehen wollen, deutlich verbessern, so der Verband. Denn heute sei es oft schwierig, schnell einen freien Platz in einem Frauenhaus zu bekommen.

Der Verein Frauenhauskoordinierung (FHK) rief die die politisch Verantwortlichen ebenfalls auf, effektiver gegen geschlechtsspezifische Gewalt vorzugehen. Er forderte, schnellstens die prekäre Versorgung gewaltbetroffener Frauen nachhaltig zu verbessern. "Frauenhäuser und Fachberatungsstellen sind so auszustatten, dass sie die erforderliche Unterstützung ohne lange Wartezeiten leisten können: Denn Wartezeiten sind gefährliche Zeiten für Frauen und mitbetroffene Kinder", heißt es in einer Mitteilung vom 21. November. Besonders problematisch sei die Situation in ländlichen Räumen, wo die Wege zu Beratungsstellen nicht selten sehr weit seien.

Mey Dudin


Pflege

Beauftragter fordert mehr Transparenz beim neuen Pflege-TÜV




Andreas Westerfellhaus
epd-bild/Christian Ditsch
Der Paritätische Wohlfahrtsverband und der BDH Bundesverband Rehabilitation haben die jetzt bekanntgewordenen Eckpunkte zur Novellierung des Pflege-TÜV gelobt. Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, forderte am 20. November bei der Reform komplette Transparenz für die Bürger.

Bisher ist laut Westerfellhaus vorgesehen, einige schwer vermittelbare Angaben von der Veröffentlichung durch die Heime auszuschließen. Würden Informationen zurückgehalten, könne aber kein Vertrauen in das Bewertungssystem entstehen. "Ich meine: Alles muss abgebildet werden." Mehrere Sozialverbände begrüßten die Pläne.

Von der Veröffentlichung ausgeschlossen werden sollen nach Worten des Pflegebeauftragten zum Beispiel Angaben zu freiheitsentziehenden Maßnahmen. Westerfellhaus betonte, man müsse den Menschen ehrliche und komplexe Prüfergebnisse zutrauen. "Wenn wir wirklichen Fortschritt wollen, brauchen wir eine komplette Darstellung der Ergebnisse im Internet." Die Informationen müssten so aufbereitet werden, dass sie allgemeinverständlich seien. Kommen soll die Umstellung voraussichtlich im Herbst nächsten Jahres.

Bisheriges System wenig tauglich

Das bisherige System zur Bewertung von Pflegeheimen gilt wegen der durchweg sehr guten Noten als nicht aussagekräftig. Ein jetzt vorgelegtes Reformkonzept von Wissenschaftlern sieht vor, die Pflege anstatt mit Noten anhand von vier Kategorien zu bewerten. Insgesamt begrüßte Westerfellhaus die Vorschläge: "Die Systematik, nach der künftig geprüft werden soll, geht in die richtige Richtung." Diese Vorschläge finden sich in einem Gutachten, das vom gemeinsamen "Qualitätsausschuss" der Pflegekassen und der Leistungserbringer in Auftrag gegeben wurde.

Es müsse für Bürger ein Navigationssystem zu guten Pflegeeinrichtungen geben, sagte der Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium. Umgekehrt müssten Heimbetreiber Hinweise bekommen, wo sie besser werden müssten. "Betreiber, die Hinweise aus den Kontrollen nicht ernst nehmen, dürfen nicht mehr in die Versorgung eingebunden sein", betonte Westerfellhaus. "Wenn nichts anderes mehr hilft, müssen Pflegeeinrichtungen geschlossen werden."

Kordula Schulz-Asche, Sprecherin für Alten- und Pflegepolitik der Grünen, sagte: "Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sollten erkennen können, wie gut die Pflege in einer Pflegeeinrichtung oder von einem Pflegedienst ist." Um Unterschiede sichtbar zu machen, sollte die tatsächliche Qualität möglichst detailliert dargestellt werden. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sollten zwar nicht durch einen Katalog in Telefonbuch-Umfang überfordert werden, aber die Qualität der geleisteten Pflege sei von zentraler Bedeutung bei der Auswahl des Pflegeanbieters, sagte die Politikerin.

Paritätischer lobt Reformansatz

Für Joachim Hagelskamp, Leiter der Abteilung Gesundheit, Teilhabe und Dienstleistungen beim Paritätischen Gesamtverband, stimmt die Richtung der Reform: "Über viele Jahre haben wir uns mit den Einrichtungen und Betroffenenverbänden dafür eingesetzt, dass die nun endlich vorgesehene Einführung des Pflege-TÜVs kommt", sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Prüfung basiere auf wissenschaftlichen Grundlagen, die insbesondere auch die Bedürfnisse der Verbraucher nach Transparenz berücksichtigten.

"Erstmals wird Ergebnisqualität veröffentlicht", unterstrich Hagelskamp. Dem Ganzen seien jahrelange Projekte zur Evaluation und Erprobung vorausgegangen, so dass eine hohe Praxistauglichkeit für Verbraucher gegeben sein werde, sagte der Experte.

Angesichts der offenkundigen Mängel sei eine grundsätzliche Revision des Pflege-TÜV überfällig, sagte die BDH-Vorsitzende Ilse Müller. Die jetzt vorgelegten Veränderungen erreichten das Ziel eher, Transparenz ohne Verdunkelung sensibler Bereiche herzustellen: " Allerdings ist es problematisch, dass sich Heimbetreiber in den Bereichen Angebot und Ausstattung nach wie vor selbst einstufen können."



Arbeit

Leiharbeit für Flüchtlinge oft kein Sprungbrett in reguläre Jobs




Eine Studie zeigt: Für viele Flüchtlinge endet Leiharbeit in einer Sackgasse.
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Die Hoffnungen auf die Integration von Flüchtlingen in den regulären Arbeitsmarkt durch Leiharbeit erfüllen sich nur bedingt. Das zeigen Daten der Bundesregierung, die die Linkspartei erfragt hat.

Rund 80 Prozent aller Syrer, Afghanen und Iraker sind 90 Tage nach dem Ende ihrer Leiharbeit nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linkspartei hervorgeht, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt. Jeder zweite von ihnen ist erneut arbeitslos (54 Prozent). Von den 9.742 Leiharbeitern aus diesen Ländern hätten nur 2.191 nach dem Ende ihrer Verträge reguläre Jobs gefunden.

Diesen Angaben widersprach das Bundesarbeitsministerium. Nicht auf alle Personen, die aus der Leiharbeit ausschieden und keine neue Beschäftigung hätten, treffe der Status arbeitslos zu, betonte eine Sprecherin: "Sie können zum Beispiel auch in die Selbstständigkeit übergegangen sein, sich in Schulbildung befinden, Integrationskurse oder arbeitsmarktpolitische Maßnahme durchlaufen oder zum Beispiel aus gesundheitlichen oder familiären Gründen nicht am Arbeitsmarkt teilnehmen."

Eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung finden demnach im Anschluss 21 Prozent der genannten Flüchtlingsgruppen. Weiter geht aus der Antwort hervor, dass von ihnen nach dem Ende der Leihe knapp sechs Prozent geringfügig beschäftigt sind. Einen erneuten Job in der Leiharbeit finden knapp 20 Prozent.

Unterschiede je nach Nationalität

Es zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Deutschen und Ausländern: Während 37 Prozent der deutschen Leiharbeiter 90 Tage nach Ende der Ausleihe eine reguläre Stellen finden, sind es bei Ausländern 27 Prozent und bei den Flüchtlingen aus Afghanistan, Irak und Syrien 21 Prozent.

Jutta Krellmann, Sprecherin für Mitbestimmung und Arbeit der Linken, sieht in der Leiharbeit daher kein Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt. Das gelte für In- und Ausländer. "Mit Leiharbeit werden Löhne gedrückt und Belegschaften gespalten. Sie bietet keine Zukunftsperspektive und macht arm." Statt Lohndumping brauche man gute und sichere Arbeit für alle Beschäftigten. Nach neun Monaten müssen Leiharbeiter laut Gesetz vergleichbare Löhne zur Stammbelegschaft erhalten.

Hohe Quote des Ausscheidens bei Flüchtlingen

Bei einem Drittel (36 Prozent) der Arbeitsverhältnisse von Leiharbeitnehmern, die beendet werden, geschieht das laut Regierung in den ersten neun Monaten. Während 27 Prozent der Arbeitsverhältnisse von deutschen Leiharbeitnehmern innerhalb der ersten neun Monate enden, ist das bei jedem zweiten ausländischen Leiharbeitnehmer (52 Prozent) der Fall. Bei Leiharbeitnehmern aus Afghanistan, Irak und Syrien werden 83 Prozent der beendeten Leiharbeitsverhältnisse innerhalb der ersten neun Monate aufgelöst.

Nach Angaben der Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) wurden im zweiten Halbjahr 2017 insgesamt 282. 000 Beschäftigungsverhältnisse von Leiharbeitnehmern mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit beendet. Von diesen endeten 57.000 nach neun Monaten und mehr, 34.000 nach 15 Monaten und mehr, 27.000 nach 18 Monaten und mehr sowie 17. 000 nach 24 Monaten und mehr.

Der Blick auf die Syrer, Afghanen und Iraker: Von den 18.300 beendeten Beschäftigungsverhältnissen von diesen drei Ländern wurden 1.500 nach neun Monaten und mehr beendet, 700 nach 15 Monaten und mehr, 500 nach 18 Monaten und mehr sowie 300 nach 24 Monaten und mehr.

Dirk Baas


Studie

3,4 Millionen junge Menschen in Deutschland armutsgefährdet




Lebt meist auf der Strasse: Sandra aus Herten. (Archivbild)
epd-bild/Miriam Bunjes
Fast jeder vierte Armutsgefährdete in Deutschland ist einer Studie zufolge jünger als 25 Jahre. In Deutschland sind mindestens 3,4 Millionen Kinder und Jugendliche von Armut betroffen, so eine neue Erhebung. Doch die Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.

Mit dieser Schätzung gehen die Fachleute weit über die offizielle Statistik hinaus. Die Angaben stammen aus dem am 16. November in Düsseldorf vorgestellten "Monitor Jugendarmut in Deutschland 2018" der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS). Die Autoren gehen aber von einer hohen Dunkelziffer aus: Zusätzlich seien eine Millionen junge Menschen von Armut betroffen, die die Statistik nicht erfasse.

Öffentlichkeit und Politik verschlössen beim Thema Jugendarmut ihre Augen vor einem Problem, das immer gravierender werde, heißt es in dem Bericht. Der stellvertretende Vorsitzende der Organisation, Stefan Ewers, erklärte: "Der Mythos 'Jugendarmut gibt es in Deutschland nicht' stimmt also nicht.

Viele Leistungen werden nicht genutzt

Nach seinen Angaben würden viele Leistungen nicht helfen, "aus der Armut herauszukommen oder werden gar nicht erst wahrgenommen, weil Informationen fehlen oder schlicht der Aufwand der Beantragung zu hoch ist." Hinzu komme, dass junge Menschen unter 25 Jahren nach dem Sozialgesetzbuch II besonders hart sanktioniert werden, zum Beispiel bei Meldeversäumnissen. Den von diesen Strafen Betroffenen fehlten dann jegliche finanzielle Mittel.

"Die aktuellen Zahlen belegen, dass es dringender denn je ist, die verschärfte Sanktionierung junger Menschen im Hartz-IV-Bezug endlich abzuschaffen", forderte Lisi Maier, die Vorsitzende der BAG KSJ. "Stattdessen sollten wir endlich auf die gezielte Förderung junger Menschen setzen." Gerechte Bildungs- und Ausbildungschancen zu schaffen gehöre ebenso dazu wie bedarfsgerechte Angebote der Unterstützung, Beratung und Förderung - etwa durch Schulsozialarbeit, die Jugendberufshilfe und das Jugendwohnen. Ziel seien passende Hilfen aus einer Hand.

Armut schon im Ansatz verhindern

Jugendarmut müsse möglichst schon im Ansatz zu verhindert werden. Dafür müssten jedoch seitens der Politik die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen werden. Die BAG KJS wirbt unter anderem dafür:

- die verschärften Sanktionen für Jugendliche im SGB II aufzuheben,

- die soziokulturelle Teilhabe von Kindern und Jugendlichen unabhängig vom Einkommen der Eltern fördern und sichern,

- junge Menschen im Rahmen der Jugendhilfe über das 18. Lebensjahr hinaus zu unterstützen und zu begleiten,

- das Recht auf Ausbildung gesetzlich zu verankern und im Rahmen einer verbindlichen Ausbildungsgarantie umsetzen und

- die Ausbildungsvergütungen so anzuheben, dass Ausbildung nicht in Armut endet.

Grundsicherung auch für Jugendliche

Die BAG KJS verwies darauf, dass es zurzeit zahlreiche Vorschläge gibt, die Familienförderung zu ändern oder eine Kindergrundsicherung zu schaffen. Zielmüsse einn Verfahren sein, das möglichst unbürokratisch das soziokulturelle Existenzminimum aller Kinder und Jugendlichen absichert. So schlägt zum Beispiel das Bündnis zur Kindergrundsicherung vor, orientiert am steuerlich anerkannten Existenzminimum allen Kindern und Jugendlichen eine Grundsicherung von 619 Euro zu gewährleisten. Dieser Betrag würde dann abhängig vom Einkommen der Eltern abgeschmolzen oder versteuert und bis auf minimal 300 Euro reduziert. Das ist die Summe, die Gutverdienende bereits steuerlich geltend machen können.

Diesen Schritt würde auch Ronald Lutz, Professor für Sozialwissenschaften in Erfurt, begrüßen. Er sprach sich für eine "eigenständige finanzielle Absicherung für junge Menschen aus, die über das Existenzminimum hinausgeht und auch die soziokulturelle Teilhabe sichert". Lutz zufolge müsse auch die Sozialarbeit ausgebaut werden. Sie müsse "nicht nur verlässliche Beziehungen und Unterstützung bieten, sondern auch Partizipation und Selbstermächtigung bedeuten. Jugendsozialarbeit muss politischer werden."

Jugendhilfe sollte inklusiv werden

Prälat Karl Jüsten vom Kommissariat Deutscher Bischöfe sagte, die Politik müsse "bestehende Hürden und Ungerechtigkeiten abbauen und junge Menschen umfassend unterstützen". Die Jugendhilfe sollte inklusiv ausgestaltet und die Situation von sogenannten Care Leavern verbessert werden.

"Deutschland hat heute die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in der EU", sagte Oliver Wittke, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. Trotz weiter sinkender Tendenz kämpfe die Regierung ungemindert dafür, Jugendliche in Ausbildung und Arbeit zu bringen, denn es gibt starke regionale Unterschiede. "Schließlich ist Arbeit das beste Mittel gegen Armut und sichert gesellschaftliche Teilhabe."

Im Monitor "Jugendarmut in Deutschland" stellt die BAG KJS alle zwei Jahre Daten und Fakten zur Situation benachteiligter junger Menschen zwischen 14 und 27 Jahren zusammen. Ziel des Monitors ist es, die Anliegen benachteiligter Jugendlicher stärker in den Fokus zu rücken. Als Quellensammlung liefert er fundierte Informationen, um den politisch-gesellschaftlichen Diskurs zu fördern und Jugendarmut wirksam zu bekämpfen.

Jana Hofmann, Dirk Baas


Kirche

Katholische Bischöfe einigen sich auf Vorgehen nach Missbrauchsstudie



Die katholische Deutsche Bischofskonferenz (DBK) will die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der Kirche forcieren. Bei der Sitzung des Ständigen Rats am 20. November in Bonn einigten sich die Bischöfe auf das weitere Vorgehen nach der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie Ende September. In fünf Teilprojekten werde nun zunächst die Arbeit aufgenommen, hieß es.

Zu den Teilprojekten gehört die Einrichtung unabhängiger Anlaufstellen für Betroffene, die zusätzlich zu den diözesanen Ansprechpersonen arbeiten. Das hatten Opfervertreter und auch die Laienorganisation der katholischen Kirche, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, gefordert.

Die Verfahren zur Anerkennung erlittenen Leids sollen fortentwickelt werden, heißt es weiter in der Mitteilung. Zudem soll es eine unabhängige Aufarbeitung geben, die klären soll, wer über die Täter hinaus institutionell Verantwortung für sexualisierte Gewalt in der Kirche getragen hat. Wie genau diese organisiert wird, blieb zunächst offen.

Prävention soll geprüft werden

Zu den weiteren Punkten zählen standardisierte Personalakten für Kleriker und eine verbindliche Überprüfung der Fortschritte bei der Prävention. Der Beauftragte der DBK für Fragen des sexuellen Missbrauchs, Bischof Stephan Ackermann, soll die Umsetzung der einzelnen Projekte überwachen. Er werde sich dazu eng mit dem staatlichen Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, austauschen.

Offen zeigte sich der Ständige Rat auch gegenüber dem Vorschlag von Strafgerichtskammern, die Diözesen übergreifend arbeiten. Dafür werde man sich mit den entsprechenden Stellen in Rom in Verbindung setzen, heißt es in der Mitteilung. Außerdem nehme die Deutsche Bischofskonferenz auch den Aufbau einer kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Blick. Das entspricht einer Forderung der katholischen Laien. Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit dürften in der Kirche nicht länger in einer Hand liegen, hatte der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, in einem Gastbeitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" am Montag geschrieben.

Ende September hatten Wissenschaftler auf der Herbstvollversammlung der katholischen Deutschen Bischofskonferenz in Fulda eine Studie zum sexuellen Missbrauch durch katholische Amtsträger zwischen 1946 und 2014 veröffentlicht. Demnach wurden 3.677 Minderjährige Opfer sexuellen Missbrauchs, 1.670 Kleriker sind der Taten beschuldigt.



Gewerkschaften

Jeder zweite Arbeitgeber blockiert Tätigkeit des Betriebsrats



Mehr als jeder zweite Betriebsrat wird einer Befragung zufolge bei seinen Aufgaben von seinem Arbeitgeber gestört. Rund zehn Prozent der Betriebsräte sehen sich vom Arbeitgeber häufig an ihrer Arbeit gehindert, wie aus der am 19. November in Düsseldorf veröffentlichten Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervorgeht.

Weitere 40 Prozent erlebten manchmal Blockaden. Jeder zweite Betriebsrat gab in der Befragung hingegen an, noch nie von seinem Arbeitgeber in seiner Tätigkeit gestört worden zu sein.

Dennoch bewertete die Mehrheit der Betriebsräte den Angaben nach das Verhältnis zu den Vorgesetzten als sehr gut (zehn Prozent) und gut (50 Prozent). Einer von zehn Beschäftigtenvertretern gibt dem Verhältnis zur Chefetage die Schulnote ausreichend, weitere fünf Prozent sogar nur mangelhaft.

Nach Analyse des Studienautors Helge Baumann ist die Beziehung zwischen Führungsetage und Beschäftigtenvertretung häufiger schlecht, wenn das Unternehmen keinen Tarifvertrag hat. In Firmen ohne Tarifregelung sprächen gut 18 Prozent der Betriebsräte von einem nur ausreichenden oder gar mangelhaften Verhältnis, erklärte Baumann. In Unternehmen mit Tarifvertrag seien es dagegen knapp elf Prozent.

Die Betriebsräte beschäftigen sich laut Studie überwiegend mit Arbeitsschutz und Gesundheit (80 Prozent), vor allem mit psychischen Belastungen durch zunehmende Arbeit und zu geringe Personalstärke. Zudem sei die Arbeitszeit sehr häufig Thema, hieß es. Dabei gehe es beispielsweise um Überstunden und Wünsche nach flexibleren Arbeitszeiten für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben.

An der repräsentativen Befragung nahmen den Angaben zufolge 2.361 Betriebsräte teil, die die Interessen von mindestens 20 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten vertreten.



Bundestag

Grüne wollen Cannabisgesetz ändern



Die Grünen-Fraktion will den Zugang zu Cannabis als Medizin für Patienten erleichtern. Der bisherige Genehmigungsvorbehalt der Krankenkassen habe sich in der Praxis nicht bewährt und müsse gestrichen werden, heißt es in einem Gesetzentwurf der Abgeordneten, der dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt.

Die jetzige Regelung könne dazu führen, dass die Linderung der Beschwerden von Patienten hinausgezögert oder gänzlich verhindert werde. Die Genehmigungsanträge seien mit einem hohen bürokratischen Aufwand verbunden und führten aufgrund formaler Fehler häufig zu einer Ablehnung durch die Krankenkassen. Die laut Gesetz "nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnende Genehmigung der Krankenkasse" werde in der Realität zu einer Ablehnung von etwa einem Drittel aller Anträge.

Den Ärzten werde die Therapie ihrer Patienten erheblich erschwert, erklären die Grünen. Die Möglichkeit, eine passgenaue Medikation mit verschiedenen Cannabissorten in niedriger Dosierung zu finden, werde quasi verhindert, da nach Auskunft von Betroffenen für jede neue Erstverordnung ein weiteres Genehmigungsverfahren durchlaufen werden müsse.



Rheinland-Pfalz

"Zentrum für psychische Gesundheit im Alter" entsteht



In Rheinland-Pfalz entsteht eine spezialisierte Einrichtung für hochbetagte Menschen mit psychischen Erkrankungen. Das "Zentrum für psychische Gesundheit im Alter" soll in Mainz angesiedelt werden und ist ein Kooperationsprojekt von Universitätsmedizin und dem Landeskrankenhaus Rheinland-Pfalz.

Bei der Vorstellung der neuen Einrichtung am 21. November sprach die rheinland-pfälzische Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) von einer zukunftsweisenden Initiative. Das neue Zentrum solle insbesondere Selbstheilungskräfte und psychische Widerstandsfähigkeit alter Menschen stärken.

Nach Angaben der Verantwortlichen handelt es sich um ein bundesweit bislang einmaliges Vorhaben. Auf seiner Internet-Seite beschreibt sich das Zentrum als "interdisziplinäres Netzwerk für Präventionsforschung und innovative Versorgungsmodelle". Es gehe beispielsweise darum, die Lebensqualität von Menschen aufrechtzuerhalten, die sich trotz eigener Erkrankungen um einen an Demenz erkrankten Lebenspartner kümmern, erklärte der Leiter der Einrichtung, Andreas Fellgiebel.




sozial-Branche

Gesundheit

Experte: Ausgeglichener Lebenstil senkt Demenzrisiko




In Bewegung: Demenzpatienten tanzen gemeinsam in der LVR-Klinik Köln.
epd-bild/Jörn Neumann
Lange galt Demenz als ein Schicksalsschlag, gegen den man nichts machen kann. Heute weiß man, dass sich bis zu einem Drittel aller Alzheimer-Erkrankungen verhindern lassen. Und auch bei den ersten Anzeichen kann noch effektiv eingegriffen werden.

Zwanzig bis dreißig Jahre arbeitet die Krankheit meist schleichend im Verborgenen, bevor sich die allerersten Anzeichen bemerkbar machen. Und auch dann erscheint noch alles ganz harmlos: ein vergessener Termin, ein verlegter Schlüssel, ein Gespräch, bei dem man irgendwie den Faden verliert. Was gern als leichte Zerstreuung abgetan wird, sind oft jedoch erste Symptome einer Demenzerkrankung. Was wenig bekannt ist: Bis zu 30 Prozent der Demenzerkrankungen lassen sich nach Ansicht von Experten verhindern - bei einem ausgeglichenen und gesundem Lebensstil.

"Vor 20 Jahren ging man davon aus, dass Demenz ein Schicksalsschlag ist, gegen den man nichts machen kann", sagt Klaus Besselmann von der Informations- und Koordinierungsstelle der Landesinitiative Demenz-Service NRW. "Heute wissen wir: Dem ist nicht so. Man kann etwas tun." Zum Teil reichten schon ganz einfache Mittel aus, sagt auch Christian Heerdt vom Kuratorium Deutsche Altershilfe in Köln: "Man kann es auf die einfache Formel bringen: körperliche Bewegung, eine gesunde Ernährung und geistige Aktivität."

"Ergebnisse sind ein Grund zur Freude"

Heerdt ist auf deutscher Seite für die Koordination der Gesundheitskampagne SaniMemorix zuständig, die gerade in fünf Ländern gleichzeitig gestartet ist: Neben Deutschland beteiligen sich die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Norwegen. Die Kampagne stützt sich auf die Ergebnisse einer Expertenkommission der medizinischen Fachzeitschrift "The Lancet". "Die Ergebnisse sind wirklich ein Grund zur Freude", sagt die Pflegeexpertin Christine Sowinski.

Weltweit sind 50 Millionen Menschen an Demenz erkrankt, in Deutschland sind es etwa 1,6 Millionen. Je älter ein Mensch wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit: "Mit 70 Jahren liegt das Risiko bei knapp vier Prozent, mit 90 Jahren schon bei gut 44 Prozent", sagt Heerdt. Alzheimer macht zwei Drittel der Erkrankungen aus. Zwar lassen sich die Symptome der Erkrankung durch Medikamente abmildern. "Aber ein Heilmittel gibt es nach wie vor nicht", sagt Tobias Hartmann, der das Deutsche Institut für Demenzprävention der Universität des Saarlandes leitet.

Prävention rückt mehr in den Vordergrund

Jahrzehntelang habe der Forschungsschwerpunkt auf der Suche nach einem Heilmittel gelegen, so Hartmann. Da dies mittlerweile als gescheitert gilt, konzentriert man sich nun auf die Prävention. "Ein aussichtsreicher Forschungsansatz besteht darin, Risikofaktoren zu minimieren." Zu Risikofaktoren gehören etwa eine unausgeglichene Ernährung, zu viel Alkohol, Diabetes, Bluthochdruck, erhöhte Blutfettwerte, ein geistig oder körperlich inaktiver Lebensstil sowie langes Sitzen.

"Wenn nur ein Risikofaktor gegeben ist, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken, um 30 Prozent", erläutert Hartmann. Bei zwei Risikofaktoren sei das Risiko schon deutlich höher. "Und bei drei Risikofaktoren nimmt es um fast 600 Prozent zu." Er selbst hat in seinem Arbeitszimmer einen Stehtisch, um nicht zu lange sitzen zu müssen.

Hartmanns eigener Forschungsansatz setzt zu einem späteren Zeitpunkt an, nämlich dann, wenn Betroffene an sich selbst die ersten Symptome einer Erkrankung feststellen: "Sie merken, dass ihr Gedächtnis nachlässt. Und die Forschung zeigt, dass das der ideale Zeitpunkt ist, um einzuschreiten."

Beste Vorbeugung ist geistige Fitness

Denn die geistige Kraft habe bis dahin in der Regel wenig gelitten und auch das Gehirn des Patienten sei noch in guter Verfassung. "Und gleichzeitig ist der Betroffene sehr motiviert." Er sei bereit, Zeit und Energie darauf zu verwenden, ein Voranschreiten der Krankheit zu verhindern. Und das sei wichtig, denn eine Therapie sei mit Aufwand verbunden, so Hartmann.

Die beste Prävention sei tatsächlich, sich geistig fit zu halten, meint Hartmann: "Unser Gehirn leidet unter Unterforderung." Vor allem die soziale Interaktion mit anderen Menschen bringe viel, weil sie eine besondere Herausforderung für das Gehirn sei: "Wenn Sie einen angeregten und netten Abend mit Freunden erleben, ist das beste Alzheimerprävention."

Barbara Driessen


Diakonie

Neuen Lebensmut tanken im "Mittendrin"




Nette Runde: Ein Treffen im Begegnungszentrum "Mittendrin" in Pirmasens.
epd-bild/Martin Seebald
Hohe Arbeitslosigkeit, Zuzugsstopp für Flüchtlinge: Pirmasens hat viele soziale Probleme. Ein neues Begegnungszentrum will Menschen stärken und sozialen Frieden fördern. Hier trifft die iranische Friseurin den deutschen Rentner, der Gedichte liebt.

Irgendwann drohte ihr zu die Decke auf den Kopf zu fallen. "Die Kinder sind aus dem Haus, zu den deutschen Nachbarn habe ich keinen Kontakt", erzählt die 55-jährige Iranerin. "Ich bin frustriert, habe keinen Job und fühle mich einsam." Die gelernte Friseurin, die seit vielen Jahren in Deutschland lebt, ist zum ersten Mal ins "Erzählcafé" gekommen. Sie sitzt am Tisch mit anderen zusammen, hört zu, erzählt von ihrem Leben. Ab und an blitzt ein Lächeln in ihrem Gesicht auf. Sie ist mittendrin.

Immer donnerstags kommt die lockere Runde im neuen Begegnungszentrum "Mittendrin" der pfälzischen Diakonie in Pirmasens zusammen. Jemand hat einen Kuchen auf den Tisch gestellt, es gibt kostenlosen Kaffee. Der Raum ist lichtdurchflutet, mit einem großen Fenster zur Fußgängerzone. An der Theke liegen Zeitungen aus. Im Nebenraum paukt eine Gruppe muslimischer Frauen deutsche Grammatik in einem Sprachkurs, den eine ehrenamtliche Helferin gibt.

Leiter: "Es läuft supergut"

Albert Gomille zeigt sich sehr zufrieden. "Es läuft supergut", sagt der Sozialpädagoge und Leiter des Projekts. Seit Mitte Juni treffen sich dort in zentraler Lage von Montag bis Freitag zahlreiche Pirmasenser Bürger, um miteinander ins Gespräch zu kommen und sich auch gegenseitig zu helfen. Der Nachbarschaftstreff sei eine Plattform, auf der die Einwohner eigene Freizeit- und Bildungsangebote präsentieren könnten, ohne organisatorische Hürden, erzählt Gomille, der auch das "Haus der Diakonie" in Pirmasens leitet. Zudem bieten Diakoniemitarbeiter Sozial- und Lebensberatung an.

Im Frühjahr sorgte die strukturschwache westpfälzische Stadt bundesweit für Schlagzeilen, als sie einen Zuzugsstopp für anerkannte Flüchtlinge und Asylbewerber verfügte. Seit Jahren leidet das einstige Zentrum der deutschen Schuhindustrie unter hoher Arbeitslosigkeit. Junge Leute ziehen weg, Geschäfte stehen leer, die Armut steigt.

Zentrum der Stadt gilt als sozialer Brennpunkt

Zuletzt zeigte sich die 42.000-Einwohner-Stadt überfordert bei der Integration vieler zuziehender Flüchtlinge, die wegen der niedrigen Mieten in die Stadt kamen. Der bis Mitte 2019 geltende Zuzugsstopp verschaffe der Stadt eine Atempause und wirke der Gefahr sozialer und gesellschaftliche Ausgrenzung entgegen, sagt Bürgermeister Markus Zwick (CDU), der sein neues Amt als Oberbürgermeister im kommenden Mai antritt.

Das Zentrum von Pirmasens ist seit Jahren ein sozialer Brennpunkt. Dort leben viele bedürftige Familien, Langzeitarbeitslose, alte Menschen, Migranten. Etliche seien ohne Hoffnung und vereinsamt, manche auch psychisch krank, hätten ihr Selbstwertgefühl verloren, erzählt Gomille. Ziel des "Mittendrin"-Projekts sei es, die verschütteten Kräfte dieser Menschen anzuregen, ihnen neuen Lebensmut zu geben, die Geflüchteten zu integrieren. Das Land Rheinland-Pfalz gibt dafür einen Zuschuss von 140.000 Euro, hinzu kommen Spenden. Das Projekt ist erst einmal auf zwei Jahre angelegt.

Es sind die Pirmasenser, die das Zentrum mit Leben füllen. Die frühere Schulleiterin Angelika Zauner-Kröher gibt Flüchtlingsfrauen und ihren Kindern ehrenamtlich Sprachunterricht. Eine Frauengruppe lädt unter dem Motto "Ich tue mir Gutes!" zu Freizeitaktivitäten ein. Ein Flüchtlingsberater der Diakonie veranstaltet regelmäßig einen "interkulturellen Austausch", ein Gemeindepädagoge gibt Tipps für jene, die "Länger ohne Arbeit" leben müssen.

Auch ein "Trockenalkoholiker" ist an diesem Morgen erstmals im "Mittendrin". Zehnmal, erzählt der 72-Jährige, sei er einst rückfällig geworden und wolle nun Betroffenen zeigen, dass es Wege aus der Sucht gebe. Ewald Mayer hingegen ist von Anfang an dabei und hat Freude daran, seine Gedichte vorzutragen. "Ich will einfach Leute kennenlernen", sagt der Rentner. Eine 84-jährige Dame aus Ostpreußen ist gerne still unter Menschen und "hört lieber zu", was diese zu erzählen haben.

Nachbarschaft bringt Menschen zusammen

Die junge Iranerin Anita, die seit drei Jahren in Pirmasens lebt, will die deutsche Sprache besser lernen. Eine Landsfrau von ihr kocht und backt für den Sprachkurs sowie für die Kinder in der protestantischen Luther-Kindertagesstätte, die nur wenige Schritte entfernt ist.

Der Nachbarschaftstreff bringe Menschen zusammen, die sonst kaum Kontakte zueinander hätten, hat der protestantische Pfarrer Wolfdietrich Rasp beobachtet. Dadurch diene er auch dem sozialen Frieden in der Stadt. Der hohe Migrantenanteil und die breite Armut förderten jene nationalistischen Kräfte, sagt er, "die den rechten Arm nicht unten halten können". Das erfolgreiche Pirmasenser Gemeinwesenprojekt könnte schon bald Nachahmer in der Landeskirche finden, stellt Diakoniepfarrer Albrecht Bähr in Aussicht.

Die 55-jährige Friseurin aus dem Iran will demnächst wieder zum Erzählcafé kommen. Der Kontakt tue ihr gut, sagt die Frau, die ehrenamtlich als Dolmetscherin arbeitet. "Und vielleicht", sagt sie, "finde ich auch jemanden, der mir bei der Suche nach einem Job hilft."

Alexander Lang


Behinderung

Wenn Kinder mit Handicap in eine andere Welt abtauchen




Alexander Gallitz gibt in Nürnberg Schwimmunterricht für Kinder mit Behinderungen.
epd-bild/Peter Roggenthin
Auch Kinder mit einer Behinderung sollen sicher im Wasser planschen können, sagt der Nürnberger Schwimmlehrer Alexander Gallitz. In seinen Kursen will er ihnen die Angst vor dem Wasser nehmen. Bei Marcel und Jonas hat das schon ganz gut geklappt.

"Hey, ich bin der Überflieger", quietscht Jonas und taucht ab. "Mensch, du hast in den Ferien doch heimlich geübt", ruft ihm Schwimmlehrer Alexander Gallitz hinterher. Zusammen mit Miguel und Marcel und Schwimmtrainerin Katharina Roth tobt Jonas im Langwasserbad in Nürnberg. Blubbern, platschen, kreischen. Die drei Jungs, sieben, acht und neun Jahre alt, leben mit einer Beeinträchtigung - und fühlen sich offensichtlich sehr wohl im Wasser.

Marcels Oma Helga Päge steht lachend am Beckenrand. Noch vor zwei Jahren war diese Szene undenkbar, sagt sie: "Marcel hatte panische Angst vor dem Wasser. Er wollte noch nicht einmal in die Badewanne." Noch heute schlottern ihr die Knie, wenn sie daran denkt, was ihrem Enkel zuvor passiert war.

"Es war Winter, und er war in der Reha. Seine Gruppe machte einen Spaziergang, und da ist Marcel in einen Bach eingebrochen und konnte sich alleine nicht mehr retten. Er wäre fast ertrunken. Zum Glück haben ihn die anderen Kinder herausgezogen", erzählt Päge. "Ich war total geschockt."

Spezielle Schwimmkurse waren nicht zu finden

Ab da stand für Helga Päge fest: Marcel und sein Bruder Jonas müssen unbedingt schwimmen lernen. Sie hörte sich um und war enttäuscht: Spezielle Schwimmkurse für Kinder mit Behinderung gab es nicht, und ein "normaler" Schwimmkurs kam für sie nicht infrage. "Die Schwimmlehrer sind nicht dafür ausgebildet, sich auf die besonderen Bedürfnisse der Kinder einzulassen", sagt sie. Über private Kontakte lernte sie dann Schwimmlehrer Alexander Gallitz kennen. Und der hatte bereits erste Erfahrungen mit besonderen Kindern gesammelt.

Gerade übt er mit den drei Jungs, wie ein Seeadler schreit und wie ein Krokodil übers Wasser gleitet. "Äh, wie macht denn eigentlich ein Krokodil? Machen die überhaupt auch Geräusche?", prustet er und schon kommt ihm die nächste Idee: Kopf ins Wasser und Popo hoch und treiben wie eine Qualle. Das war nötig, denn Marcels Aufmerksamkeit ließ gerade nach. "Mir ist es wichtig, dass alle schwimmen können, egal ob das ein Flüchtling ist oder ein behinderter Mensch oder ein 80-Jähriger", erklärt Gallitz seine Motivation.

Deshalb habe er für sich entschieden, seine eigenen anfänglichen Berührungsängste zu überwinden und sich auf Marcel und die anderen einzulassen: "Das ist eine ganz andere Welt." Bisher sei bei seinem Schwimmunterricht immer ganz viel über den Kopf gelaufen, sagt er. "Bei Menschen mit Behinderung geht's eigentlich nur über das Gefühl."

Schwimmlehrer muss erst Vertrauen aufbauen

Das hat der Schwimmlehrer Schritt für Schritt herausgefunden - und auch, dass es das eine Erfolgsrezept nicht gibt. "Bei Marcel musste ich Vertrauen aufbauen, damit er seine Angst überwindet. Das geht nur in einer Eins-zu-eins-Situation, was schwierig ist einem gemischten, inklusiven Kurs. Aber jetzt geht er ab wie Schnitzel", freut sich Gallitz mit Blick auf Marcels Spaß im Wasser. Der blubbert gerade lustig vor sich hin.

"Ganz, ganz toll", lobt Gallitz, "Blubbern ist die Vorstufe von Tauchen, und übers Tauchen lernen alle das Schwimmen", erklärt er. Seit 30 Jahren gibt er Schwimmkurse. Und diese Erfahrung will er jetzt mit Heilpädagogen teilen und gleichzeitig Schwimmlehrer-Kollegen erklären, worauf es bei Kindern mit Beeinträchtigung ankommt.

Deshalb hat er die Stiftung "Deutschland schwimmt" gegründet: "Wir wollen 100 Schwimmlehrer so ausbilden, dass sie genau wissen, wie sie mit geistig Behinderten, wie sie mit körperlich Behinderten, wie sie mit Schwerstbehinderten oder wie sie mit Autisten arbeiten können." Im September wurde das Projekt mit dem Integrationspreis des Bezirks Mittelfranken ausgezeichnet.

Erste Kurse für Schwimmlehrer

An zwei Wochenenden sind 40 Stunden Theorie für die Schwimmlehrer geplant. 20 Plätze gibt es beim ersten Kurs, im nächsten Frühjahr soll es losgehen. Dabei geht es nicht darum, am Ende Super-Schwimmer zu haben: Ziel der Stiftung ist es nach eigenen Angaben, in erster Linie Kinder mit Beeinträchtigungen so zu fördern, dass sie den Bewegungsraum Wasser erleben und sich dabei eine Wassersicherheit erarbeiten können.

Die Praxis vermittelt Gallitz schon jetzt in Workshops. Leistungsschwimmerin und Vereinstrainerin Katharina Roth hat sich herangewagt. "Ich wusste nicht, was mich erwartet, und war wirklich ein bisschen nervös vor dem ersten Mal", sagt die junge Frau. Das war im Mai. Jetzt springt sie mit Gallitz und den drei Kindern ins Becken. "Mit dem Popo zuerst ins Wasser. Auf geht's", ruft sie den Jungs zu.

Und platsch, springt ihr Miguel hinterher. "Wenn man im Wasser ist, macht das viel Spaß, und es ist so lustig, mit den Kindern zu spielen und nicht nur am Rand zu stehen und Anweisungen zu geben", sagt Roth. "Man ist wirklich mittendrin und taucht mit und blubbert." Ein echtes learning by doing sei der Workshop, sagt Roth: "Viele Ideen kommen auch von den Kindern selbst, und dann ist es wichtig, darauf sofort einzugehen."

Zwei weitere junge Frauen hat Schwimmlehrer Gallitz bereits mit seiner Begeisterung angesteckt und in einem Workshop ausgebildet. "Das klingt jetzt wie ein Klischee", sagt er, "aber man bekommt von diesen Kindern so viel mehr zurück."

Annette Link


Gesundheit

Zahl der Organspenden deutlich gestiegen




Werbung greift: Die Zahl der Organspenden ist gestiegen.
epd-bild / Rolf Zöllner
Die Zahl der Organspenden ist in diesem Jahr erstmals seit 2010 wieder gestiegen. Von Januar bis Oktober seien 2.566 Organe gespendet worden, 15,5 Prozent mehr als auf dem historischen Tiefstand des Vorjahreszeitraums (2.222).

Der Medizinische Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), Axel Rahmel, sagte am 22. November in Frankfurt am Main: "Damit ist keine grundlegende Trendwende eingetreten, aber die Zeichen stehen auf frischem Wind", sagte er auf dem 14. Jahreskongress der DSO.

Auch die Zahl der Organspender nahm nach den Worten von Rahmel in diesem Jahr um 15,6 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum von 681 auf 787 zu. Insbesondere die Kontakte der Spendekrankenhäuser zu Patienten und Angehörigen seien deutlich von 1.876 auf 2.340 gestiegen, gab Rahmel als einen Grund an. Die öffentliche Diskussion habe offenbar zu mehr Sensibilität geführt und dazu, dass Ärzte und Pflegekräfte häufiger an die Möglichkeit von Organspenden dächten. Dennoch gebe es im europäischen Vergleich nur wenige Länder mit weniger Spendern pro eine Million Einwohnern als Deutschland.

Lob für Minister Jens Spahn

Der DSO-Vorstand lobte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) für den Gesetzentwurf zur Änderung des Transplantationsgesetzes. Der Gesetzentwurf sehe verbindliche Vorgaben für die Freistellung von Transplantationsbeauftragten in Krankenhäusern vor und für die Vergütung der Krankenhäuser. Außerdem würden die Spendekrankenhäuser zur Erfassung der Todesfälle mit Hirnschädigung verpflichtet, und die Betreuung der Angehörigen werde verankert. "Wir brauchen eine Kultur der Organspende", forderte der Mediziner.

Unabhängig vom Gesetzgebungsverfahren müsse die Diskussion um die Widerspruchslösung weitergehen, forderte Rahmel. Bisher dürfen Organe eines Hirntoten in Deutschland nur entnommen werden, wenn dieser zuvor seine Zustimmung erteilt hat. "Die freiwillige Entscheidungslösung wie bisher hat nicht funktioniert", sagte der Mediziner. Eine künftige Lösung solle die Autonomie der Menschen stärken und die Angehörigen einbinden.

Als Vorbild nannte Rahmel die Niederlande. Dort werde jeder Bürger wiederholt nach seiner Entscheidung zur Organspende gefragt. Die Entscheidung werde in einem Register gespeichert. Erfolge keine Rückmeldung, werde notiert, dass einer Organspende nicht widersprochen wurde. Die Eintragung lasse sich jederzeit online ändern.



Kirche

Sächsisches Diakoniegesetz wird novelliert



Die Irritationen zwischen der evangelischen Landeskirche Sachsens und der sächsischen Diakonie sind offenbar ausgeräumt. Im Ergebnis soll auf der Frühjahrstagung der Synode 2019 eine Novellierung des Diakoniegesetzes vorgelegt werden.

Das sagte der Synodale Christoph Apitz vom Ad-hoc-Ausschuss Kirche und Diakonie am 18. November auf der Synodentagung in Dresden. Der Ausschuss hatte sich mehr als zwei Jahre mit dem Verhältnis von Kirche und Diakonie befasst.

Entstanden war die Arbeitsgruppe, nachdem bekannt wurde, dass die Diakonie Sachsen unter Ausschluss der kirchlichen Öffentlichkeit eine Stiftung gegründet hatte. Der damalige Diakoniedirektor Christian Schönfeld und der Diakonische Vorstand gerieten in die Kritik, obwohl sie mit der Stiftung eine diakonische Einrichtung vor der Schließung gerettet hatten. Kleinere Diakonieträger in den Regionen befürchten den weiteren Ausbau der Stiftung und damit verbundene Konkurrenz. Ein innerkirchlicher Streit um Finanzierungsmodelle entbrannte.

Schönfeld ist seit September nicht mehr im Amt

Schönfeld hatte die Gründung einer eigenen Diakoniestiftung stets verteidigt. Sie war 2013 aus Anteilen von diakonischen Firmen gegründet worden war, die zuvor teilweise in den roten Zahlen standen. Anfang September schied Schönfeld als Diakoniedirektor vorzeitig aus dem Amt. Neuer sächsischer Diakoniechef ist der frühere Oberlandeskirchenrat Dietrich Bauer.

In das novellierte Diakoniegesetz sollen nun 13 Punkte einfließen, die der Ausschuss herausgearbeitet hatte und denen die Synode am Samstagabend zustimmte. Gestärkt werden darin die Rechte der Gemeinden und diakonischen Einrichtungen vor Ort. Kirchgemeinden und Kirchspiele sollen demnach Mitglied im Diakonischen Werk im Kirchenbezirk werden. Falls die Gemeinden eigene Einrichtungen, zum Beispiel Kindergärten, betreiben, sollen sie auch Mitglied im Diakonischen Werk Sachsen werden.

Neuer Ausschuss für Diakonie wird eingerichtet

Ferner heißt es in den Vorlage: "Das Diakonische Werk Sachsen ist Lebens- und Wesensäußerung der Kirche und Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege auf Landesebene. In der Landeskirche werden diakonische Aufgaben auf den Ebenen von Kirchgemeinden, Kirchenbezirken und Landeskirche wahrgenommen." Dabei sollen die Stadtmissionen und regionalen Diakonischen Werke ihre Mitglieder an "internen Entscheidungsprozessen" beteiligen.

In der Landessynode soll wieder ein Ausschuss für Diakonie eingerichtet werden. Zudem soll der Diakoniechef, der Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werkes Sachsen, gesetztes Mitglied der Kirchenleitung sein.

Diakoniechef Bauer zeigte sich über die Entwicklung erfreut. Zugleich bestätigte er: "Die Situation ist befriedet und geklärt." Die Arbeit von Kirche und Diakonie werde weiter verschränkt, die Arbeitsgrundlagen seien geklärt. Bauer dankte dem Ad-hoc-Ausschuss ausdrücklich für die "gute Zusammenarbeit". Die Synodalen zeigten sich erleichtert darüber, dass die Spannungen der vergangenen Jahre beigelegt seien.



Caritas

Pflegeexperten fordern Raum für Sexualität im Altenheim



Die Caritas-Expertin Dorothee Mausberg fordert eine Enttabuisierung von Sexualität im hohen Alter. "Menschen werden im Alter nicht einfältiger, sondern vielfältiger", sagte die Pflegeexpertin des Diözesan-Caritasverbandes für das Erzbistum Köln am 19. November auf einer Tagung zum Thema "Partnerschaft, Intimität und Sexualität im höheren Lebensalter" in Köln. Es sei an der Zeit, dieses Thema aus "der Schmuddelecke herauszuholen" und offen anzusprechen.

Auch als Teil der katholischen Kirche sei man bereit, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen und sich ihm zu öffnen, sagte Helene Maqua, die die Abteilung Altenhilfe der Kölner Caritas leitet. "Unsere Träger sagen alle: 'Wir sind für die Menschen da.' Wir zwängen niemandem unsere Moralvorstellungen auf." Ein Schritt in die richtige Richtung sei etwa, in Altenheimen breitere Betten für Paare und Eheleute anzuschaffen, was das Budget allerdings nicht vorsehe.

Thema in die Ausbildung integriert

Ältere, gesundheitlich eingeschränkte Menschen könnten ihre Bedürfnisse nach Nähe und Zuneigung oft nicht oder nicht adäquat äußern. Pflegekräfte wiederum seien oft noch zu wenig geschult, um diese Bedürfnisse zu erkennen. "Immerhin ist dieses Thema mittlerweile zumindest ansatzweise in die Ausbildung von Pflegekräften integriert worden", sagte Maqua.

Um alleinstehende ältere Menschen mit sexuellen Bedürfnissen zu unterstützen, gibt es in einigen Städten wie Hamburg Agenturen, die sogenannte Sexualassistenten vermitteln. Diese besuchen Klienten zu Hause oder in Altenheimen und bieten sexuelle Dienste wie erotische Massagen an.

"Selbstbestimmung in Institutionen fördern"

"Die Sexualassistenten, die ich vermittele, sind zwischen 24 und 70 Jahre alt und kommen alle aus sozialen Berufen", sagte die Pflegeexpertin und Buchautorin Gabriele Paulsen, die als Beraterin in Gesundheitsfragen tätig ist und die Hamburger Agentur Nessita betreibt. Sie vermittelt erotische Dienstleistungen an Senioren, Seniorinnen und körperlich behinderte Menschen zu Hause oder in Heimen. "Mir geht es darum, Selbstbestimmung in Institutionen zu fördern", sagte Paulsen. "Die meisten Menschen haben Angst davor, in Heimen ihre Autonomie zu verlieren." Die sexuelle Autonomie gehöre dazu.

Dabei sei es oft schwierig, zuvor die Kostenübernahme zu klären, berichtete Helene Maqua von der Caritas. Denn viele Heimbewohner seien dement und nicht mehr geschäftsfähig, so dass finanzielle Fragen mit Angehörigen oder dem gesetzlichen Betreuer geklärt werden müssten. "Wenn das Pflegepersonal den Eindruck hat, dass ein Heimbewohner ein Bedürfnis hat, hat der Mitarbeiter die nicht ganz leichte Aufgabe, die Kinder darauf anzusprechen: 'Ihr Vater möchte gern, übernehmen Sie die Kosten?'", sagte Maqua. Das sei noch sehr oft mit viel Scham besetzt.



Kirche

Stiftung Kreuznacher Diakonie ändert eigene Strukturen



Ein geschäftsführender Vorstand leitet ab 2019 die Stiftung Kreuznacher Diakonie. Das Gremium werde im Laufe der ersten Jahreshälfte um ein viertes Mitglied, zuständig für Soziales, erweitert, teilte die Kreuznacher Diakonie am 16. November in Bad Kreuznach mit. Zudem übernehme ab 1. Januar ein internes Servicecenter Unterstützungsaufgaben und Prozesse der bisher eigenständigen Verwaltungen.

Aufgrund dieser Veränderungen entfällt den Angaben zufolge die Geschäftsführungsebene der fünf Geschäftsfelder Krankenhäuser und Hospize, Leben mit Behinderung, Seniorenhilfe, Kinder-, Jugend- und Familienhilfe sowie Wohnungslosenhilfe.

"Wir haben mit den bisherigen Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern in den vergangenen Wochen ausführliche Gespräche geführt und für alle Beteiligten individuelle Lösungen gefunden", sagte Finanzvorstand Frank Rippel. Zum größten Teil ergeben sich den Angaben zufolge innerhalb der Stiftung Kreuznacher Diakonie neue Arbeitsfelder.

In den vergangenen Jahren sei die Stiftung gewachsen und die wirtschaftlichen Herausforderungen hätten zugenommen, erklärte Rippel. Deswegen sei es konsequent, die Strukturen anzupassen. "Zukünftig werden wir die Stiftung Kreuznacher Diakonie als ein einheitliches Unternehmen mit gemeinsamen Strukturen und Abläufen führen", betonte der Finanzvorstand. Das vierte Vorstandsmitglied steht dann den Angaben zufolge zusammen mit Rippel, dem theologischen Vorstand Christian Schucht und dem Vorstand für Krankenhäuser und Hospize, Dennis Göbel, der Stiftung vor.



Auszeichnung

Regine-Hildebrandt-Preis für Projekte gegen Armut ausgeschrieben



Die Bielefelder Stiftung Solidarität bei Arbeitslosigkeit und Armut zeichnet 2019 wieder vorbildliche Projekte mit den Regine-Hildebrandt-Preis aus. Nachahmenswerte Initiativen oder engagierte Persönlichkeiten können sich bis zum 31. Januar bewerben oder vorgeschlagen werden, wie die Stiftung am 19. November ankündigte. Der mit 10.000 Euro dotierte Preis wird im Frühjahr vergeben. Das Preisgeld kommt gemeinnützigen Projekten zugute, die von den Preisträgern ausgewählt werden.

Der Regine-Hildebrandt-Preis wird seit 1997 vergeben. Die Stiftung Solidarität zeichnet damit Initiativen oder Personen aus, die sich für Hilfen gegen Arbeitslosigkeit und Armut engagieren.

Die Auszeichnung erinnert an die erste Preisträgerin und spätere Schirmherrin der Stiftung, die SPD-Politikerin Regine Hildebrandt (1941-2001). Hildebrandt war 1990 in der ersten frei gewählten Regierung der DDR Ministerin für Arbeit und Soziales, anschließend war sie neun Jahre Ministerin des Landes Brandenburg für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen.



Diakonie

Startup "mitunsleben" von 16 Partnern gegründet



In Berlin hat sich am 19. November unter dem Namen "mitunsleben" ein StartUp aus 16 diakonischen Gesellschaften gegründet. Ziel sei, Menschen dabei zu unterstützen, schnell und einfach das für sie passende Assistenz-, Pflege- oder Unterstützungsangebot zu finden und in Anspruch nehmen zu können, heißt es in einer Mitteilung.

"mitunsleben" ist einen GmbH und den Angaben nach die erste Plattform, die direkt von Leistungserbringern aus der Sozialwirtschaft entwickelt und angeboten wird. Der Vorteil für den Kunden: Es entstehen keine versteckten Zusatzkosten durch einen zusätzlichen Vermittler, hieß es.

Thomas Mähnert, Mitglied des Bundesvorstands der Johanniter-Unfall-Hilfe: "Erstmals wird es eine echte Alternative zu den bestehenden kommerziellen Plattformen in Deutschland geben. 'mitunsleben' bietet ein soziales Angebot direkt von sozialen Trägern, ohne einen Zwischenvermittler." Dadurch entstünde eine höhere Qualität der angebotenen Dienstleistungen. Cornelia Röper, Geschäftsführerin von "mitunsleben", spricht von einem richtungsweisenden Schritt für die Branche.

Die Plattform will ein bundesweites Informations- und Vermittlungsportal für soziale und pflegerische Dienstleistungen sein. Sie ist den Angaben nach offen für weitere Anbieter von sozialen Dienstleistungen und wird voraussichtlich ab Mitte 2019 online gehen.




sozial-Recht

Oberlandesgericht

Keine unbegrenzt lebensverlängernde Therapie für Demenzkranke




Mundpflege bei einem Patienten.
epd-bild/Werner Krüper
Wenn der Wille eines schwerst demenzkranken Patienten zu lebensverlängernden Maßnahmen nicht bekannt ist, muss der behandelnde Arzt auch deren Abbruch in Betracht ziehen. Das hat das Oberlandesgericht München entschieden.

Denn verlängert eine künstliche Ernährung nur noch das Leiden des nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten, muss der Arzt zumindest mit Angehörigen und Betreuer über ein Ende der Maßnahme reden, entschied das Oberlandesgericht (OLG) München. Das Gericht sprach damit dem Sohn als Erben eines mittlerweile verstorbenen Demenzkranken 40.000 Euro Schmerzensgeld zu. epd sozial hatte am 12. Januar 2018 erstmals über das Urteil berichtet, nun wurden am 15. November die schriftlichen Urteilsgründe veröffentlicht.

Im konkreten Fall ging es um einen in einem Pflegeheim lebenden schwerst demenzkranken Mann. Weil er sich nicht mehr selbst ernähren konnte, wurde 2006 eine dauerhafte künstliche Ernährung veranlasst und eine Magensonde gelegt. Weder lag eine Patientenverfügung für den unter Betreuung stehenden Mann vor, noch war sein mutmaßlicher Wille zu lebensverlängernden Maßnahmen bekannt.

Vater musste unnötig leiden

Als der Demenzkranke im Oktober 2011 starb, verlangte der Sohn des Mannes von dem behandelnden Hausarzt Schadenersatz und Schmerzensgeld. Spätestens ab 2010 sei die Magensonde medizinisch nicht mehr angezeigt gewesen, lautete seine Begründung. Diese habe dann nur noch das krankheitsbedingte Leiden "sinnlos verlängert". Sein bettlägeriger Vater habe bis zum Tod rund 21 Monate massive Gesundheitsbeschwerden wie Inkontinenz, Wundgeschwüre, mehrfache Lungenentzündungen, Fieber und auch Krämpfe gehabt.

Der Hausarzt hätte die Sondenernährung abbrechen müssen, so dass der Vater unter palliativmedizinischer Betreuung hätte sterben können. Mit der Fortführung der künstlichen Ernährung ohne medizinisches Erfordernis liege eine rechtswidrige Körperverletzung vor, so der Kläger.

Der Arzt verteidigte sich. Er berief sich unter anderem auf eine Vertrauensperson des Demenzkranken. Der Patient habe in der Vergangenheit ihr gegenüber zweimal geäußert, dass er "alt werden" wolle. Das lasse den Schluss zu, dass er sein Leben subjektiv noch als lebenswert empfunden habe. Das Entfernen der Magensonde hätte zum damaligen Zeitpunkt auch eine verbotene aktive Sterbehilfe durch Verhungern beziehungsweise Verdursten bedeutet.

Arzt entschied "für das Leben"

Gebe es keinen eindeutigen Patientenwillen, müsse der Grundsatz "in dubio pro vita" – "im Zweifel für das Leben" gelten, betonte der Mediziner. Er habe sich auch auf das Urteil eines Klinik-Facharztes für Neurologie verlassen dürfen, der ebenfalls kein eindeutiges medizinisches Erfordernis zur Beendigung der künstlichen Ernährung gesehen hatte.

Das OLG überzeugten die Argumente nicht. Es sprach dem Sohn als Alleinerben 40.000 Euro Schmerzensgeld zu. Der Arzt habe es versäumt, über die in Betracht kommende Beendigung der lebensverlängernden Maßnahmen und eine rein palliativmedizinische Behandlung vertieft mit dem Sohn und Betreuer zu reden.

Das Gericht verwies unter anderem auf die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie zur Sondenernährung. Danach ist eine Sondenernährung "in finalen Krankheitsstadien einschließlich finalen Stadien der Demenz sowie zur Pflegeerleichterung oder Zeitersparnis" medizinisch nicht angezeigt. Für final demente Patienten werde die künstliche Ernährung nicht empfohlen. Maßgeblich sei aber im Einzelfall der (mutmaßliche) Patientenwille.

Ernährungsabbruch habe nahegelegen

Wegen des weit fortgeschrittenen Krankheitsverlaufs habe der Abbruch der künstlichen Ernährung Gutachtern zufolge bei dem bettlägerigen Patienten eher nahegelegen, befand das OLG.

Dem Hausarzt habe die Pflicht, sich mit den Angehörigen und Betreuer über den Abbruch der Maßnahme zu verständigen. Gegebenenfalls hätte auch das Betreuungsgericht entscheiden können. Die Aussage des Patienten, als werden zu wollen, reiche allein noch nicht aus, um Rückschlüsse auf den Patientenwillen zu ziehen.

Auch der lebensschützende Grundsatz greife hier nicht. Denn die medizinische Indikation für die Sondenernährung sei hier bereits sehr zweifelhaft gewesen. Nach den allgemeinen Grundsätzen des Arzthaftungsrechts müsse der behandelnde Mediziner zudem beweisen, dass der Patient im Fall einer ordnungsgemäßen Aufklärung in die Maßnahme eingewilligt hätte. Diesen Beweis sei der Arzt schuldig geblieben.

Als Allgemeinmediziner könne der Beklagte sich auch nicht darauf zurückziehen, dass ein neurologischer Facharzt sich nicht eindeutig zum Abbruch der Sondenernährung ausgesprochen habe. Denn auch Allgemeinmediziner, die in der hausärztlichen Versorgung von Patienten in Alten- und Pflegeheimen tätig sind, müssten das einschätzen können, so das Gericht.

Gegen das Urteil wurde Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe eingelegt. Dort ist das Verfahren unter dem Aktenzeichen VI ZR 13/18 anhängig.

Az.: 1 U 454/17

Frank Leth


Bundessozialgericht

Anspruch auf Pflegezulage für Opfer von Impfschäden erleichtert



Infolge eines Impfschadens oder einer Gewalttat schwerst behinderte Menschen können mit der Anstellung eines Angehörigen als Pflegekraft eine erhöhte Pflegezulage beanspruchen. Zusätzlich zu der erhöhten Zahlung kann eine weitere halbe pauschale Pflegezulage beansprucht werden, wenn ein weiterer Angehöriger unentgeltlich ebenfalls Pflegeaufgaben übernimmt, entschied das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel in einem am 13. November veröffentlichten schriftlichen Urteil.

Nach dem Bundesversorgungsgesetz können Kriegsopfer, Opfer einer Gewalttat oder infolge eines Impfschadens schwerstbehinderte Menschen eine pauschale Pflegezulage in Höhe von 321 Euro bis höchstens 1.598 Euro monatlich beanspruchen. Voraussetzung ist, dass der Beschädigte "hilflos" ist. Die Pflegezulage wird allerdings auf das Pflegegeld der Pflegeversicherung angerechnet.

Arbeitsvertrag ist Voraussetzung

Betroffene können auch eine erhöhte Pflegezulage über den Pauschalsatz erhalten, wenn sie laut Gesetz mit "Dritten" einen Arbeitsvertrag zur Regelung der Pflege abgeschlossen haben und die angemessenen Kosten den gewährten Pauschalbetrag übersteigen.

Im konkreten Fall war ein aus dem Saarland stammende Kläger wegen eines erlittenen Impfschadens gehirngeschädigt und schwerst behindert. Mit seiner Mutter hatte er einen Pflegearbeitsvertrag abgeschlossen. Sie leistete die Pflege gegen Entgelt. Sein Vater pflegte den Kläger ebenfalls, allerdings ohne Bezahlung.

Das zuständige Versorgungsamt gewährte zwar eine erhöhte Pflegezulage wegen des Arbeitsvertrages mit der Mutter. Dem Vater stehe dann aber wegen seiner unentgeltlichen Pflege keine hälftige pauschale Pflegezulage mehr zu, befand die Behörde.

Landessozialgericht entschied anders

Das Landessozialgericht Saarland entschied, der Kläger habe keinen Anspruch auf die erhöhte Pflegezulage. Anspruch bestehe nur, wenn "Dritte" die Betreuung übernehmen. Ehegatten oder Elternteile zählten nicht dazu.

Das BSG gab jedoch dem behinderten Kläger recht. Er könne die erhöhte Pflegezulage verlangen, weil er einen Pflegearbeitsvertrag mit seiner Mutter abgeschlossen hat. Mit dem Begriff "Dritte" sollten nicht Angehörige bei der Pflege benachteiligt werden. Ein Anspruch auf eine erhöhte Pflegezulage bestehe daher auch dann, wenn Eltern oder Ehegatten die Pflege entsprechenden einem Pflegearbeitsvertrag übernehmen.

Zusätzlich habe der Kläger auch Anspruch auf die hälftige pauschale Pflegezulage, weil sein Vater ihn unentgeltlich pflegt. Der Gesetzgeber habe Familien auch mit der pauschalen Pflegezulage begünstigen und einen finanziellen Anreiz für unentgeltliche Pflege setzen wollen, "die neben und zusätzlich zu einer bezahlten Arbeitskraft geleistet wird", urteilte das BSG.

Az.: B 9 V 3/17 R



Landessozialgericht

Entschädigungsanspruch nach Kindesmissbrauch



Treten wegen sexuellen Kindesmissbrauchs nach Jahren bei den Opfern vorwiegend Störungen im Intimleben auf, können sie Anspruch auf eine Opferentschädigung haben. Der Grad der Schädigung (GdS) kann dann für eine Beschädigtenrente hoch genug sein, auch wenn Betroffene im beruflichen Alltag ihr Leben gut meistern können, entschied das Sächsische Landessozialgericht (LSG) in einem am 16. November veröffentlichten rechtskräftigen Urteil.

Im konkreten Fall hatte die Klägerin Ende 2011 im Alter von 29 Jahren einen Antrag auf Opferentschädigung gestellt. Sie begründete das mit den Folgen eines sexuellen Missbrauchs im Alter von elf und zwölf Jahren. Nach dem Gesetz ist der mögliche Entschädigungsanspruch nicht verjährt. Bei Kindesmissbrauch ruht die Verjährung bis zum 30. Lebensjahr eines Opfers.

Im hier vorliegenden Fall hatte der Täter das Mädchen obszön fotografiert, es an der nackten Brust angefasst und war mit dem Finger in sie eingedrungen. Der Mann wurde wegen des Geständnisses eines achtfachen sexuellen Missbrauchs zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Auf weitere Ermittlungen hatte das Amtsgericht verzichtet.

Später trat traumatische Störung ein

Laut Klägerin war der tatsächliche Missbrauch aber häufiger und ging über etwa ein Jahr. Wegen der Ereignisse sei erst Jahre später eine posttraumatische Belastungsstörung aufgetreten. Die äußere sich unter anderem in immer wiederkehrenden Erinnerungen. Die Frau sagte, sie vermeide körperliche Berührungen und sexuelle Kontakte. Ihr Intimleben sei stark gestört.

Den Antrag auf Opferentschädigung lehnte das Versorgungsamt jedoch ab. Es bestehe kein nachgewiesener Zusammenhang zwischen dem Missbrauch und der psychischen Störung. Psychische Probleme seien wohl Folge einer Ehekrise aufgetreten, mutmaßte die Behörde.

Das Sozialgericht Chemnitz stellte zwar einen Zusammenhang zwischen dem Missbrauch und den psychischen Problemen her. Die Traumafolgen wirkten sich aber im Wesentlichen auf das Intimleben aus. Den normalen Alltag könne die Frau gut bewältigen. Es bestehe daher ein Grad der Schädigung von nur 20 und nicht von 30, ab dem eine Beschädigtenrente gezahlt werde.

Das LSG urteilte, dass ein GDS von 30 vorliegt. Der Missbrauch habe zu einer posttraumatischen Belastungsstörung geführt. Denn es sei typisch, dass erst Jahre nach dem erlittenen Trauma sich Gesundheitsbeschwerden bemerkbar machten. Hier habe die Gutachterin plausibel den Zusammenhang zwischen Missbrauch und psychischen Beschwerden dargelegt.

Es habe auch ein für die Opferentschädigung erforderlicher tätlicher Angriff vorgelegen. Maßgeblich hierfür sei, dass die sexuelle Handlung eine Straftat war.

Auch dass die Klägerin ihren Alltag gut bewältigen könne, begründe keinen geringeren GdS. Die Klägerin pflege infolge des Missbrauchs kaum soziale Kontakte, habe deutliche Probleme in ihrem Intimleben und lasse sogar körperbetonte Kontakte zu ihren Kindern kaum zu, befand das LSG.

Az.: L 9 VE 16/1



Oberverwaltungsgericht

Ausweisung von Ausländer wegen Sexualstraftat bestätigt



Wer als Ausländer eine schwere Sexualstraftat begeht, kann nach einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz ausgewiesen werden. Dabei sei das Geschehen vor der Tat und die sich daraus ergebende Einstellung des Täters von besonderer Bedeutung, erklärte das Gericht am 20. November in Koblenz. Zur Verhinderung weiterer schwerer Straftaten sei es erforderlich, jemanden, der frauenverachtende und damit gegen das Grundgesetz gerichtete Einstellungen habe, auszuweisen.

Im konkreten Fall kam der Kläger den Angaben zufolge als türkischer Staatsangehöriger im Alter von sieben Jahren nach Deutschland. Mit 19 Jahren vergewaltigte er zusammen mit zwei weiteren jungen Männern in einem Parkhaus eine 16-jährige Bekannte, die die Täter zuvor unter Alkohol gesetzt hatten. Einer der Mittäter verletzte das Mädchen so schwer am Unterleib, das mehrere Operationen nötig waren. Die Männer ließen nach Gerichtsangaben das unbekleidete und stark blutende Mädchen im Parkhaus zurück. Die Jugendstrafe von sechs Jahren verbüßte der Kläger vollständig.

Keine Berufung zugelassen

Mit Bescheid vom Juni 2017 wies ihn der beklagte Rhein-Lahn-Kreis aus generalpräventiven Gründen aus und lehnte die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis ab. Nachdem die Vorinstanz die Klage gegen die Ausweisung abwies, schloss sich das Oberverwaltungsgericht dieser Entscheidung an und lehnte den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung ab.

Wegen der Straftat liege ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vor, dem kein gleichwertiges Bleibeinteresse gegenüberstehe, erklärte das Gericht. Die Schwere der Tat und die Motivation dahinter ließen die Ausweisung als erforderlich erscheinen, um andere Ausländer in vergleichbaren Situationen von ähnlichen Delikten abzuhalten.

So kannten die Täter dem strafgerichtlichen Urteil zufolge das Opfer, das wie sie einen türkischen beziehungsweise kurdischen Migrationshintergrund hatte. Das Mädchen habe allerdings westliche Wertevorstellungen angenommen, sich westlich gekleidet und geschminkt und sei ohne Begleitung ausgegangen. Dies habe sie nach dem Welt- und Frauenbild der Täter als "Schlampe" qualifiziert, erklärte das Gericht. Diese Einstellung zeuge von einem archaischen Frauenbild, das mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht vereinbar sei. Es sei Aufgabe des Rechts zu verhindern, dass es aufgrund solcher Einstellungen zu Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung komme, erklärte das Gericht.

Az.: 7 A 10866/18.OVG



Oberlandesgericht

Kindeswille ist nicht immer Kindeswohl



Getrennt lebende Väter können kein geteiltes Umgangsrecht mit ihren bei der Mutter wohnenden Kinder verlangen, nur weil diese das auch so wollen. Denn das Aufenthaltsrecht eines Kindes muss sich am Kindeswohl orientieren, das nicht mit dem Kindeswillen gleichgesetzt werden kann, entschied das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main in einem am 14. November bekanntgegebenen Beschluss. So beeinflussten auch andere Faktoren, etwa die Erziehungseignung der Eltern, das Kindeswohl, hieß es zur Begründung.

Im konkreten Fall hatte ein getrennt lebender Vater beim Familiengericht beantragt, dass seine drei Kinder bei ihm und nicht wie bisher bei der Mutter leben sollen. Er war auch mit dem sogenannten paritätischen Wechselmodell einverstanden, bei dem die Kinder sich abwechselnd eine Woche bei der Mutter und dann eine Woche bei dem Vater aufhalten.

Doch das Familiengericht lehnte das ab. Dem Vater wurde jedoch ein "ausgedehnter Umgang" mit den vier und fünf Jahre alten Kindern gewährt. Danach konnten sich die Kinder alle 14 Tage von Donnerstag 17.00 Uhr bis montags zum Schulbeginn bei ihm aufhalten.

Gründe für Abänderung lagen nicht vor

Diese Entschiedung bestätigte nun auch das OLG. Nur aus "triftigen Gründen des Kindeswohls" könne die erste Entscheidung des Familiengerichts zum Umgangsrecht – hier der Verbleib bei der Mutter – abgeändert werden. Jede Umgangsentscheidung müsse sich im Einzelfall nach den allgemeinen Kindeswohlkriterien richten, erläuterte das Gericht.

Dazu gehöre aber nicht allein der vermeintliche Wille des Kindes. Vielmehr müssten zur Bestimmung des Kindeswohls auch andere Faktoren wie die Erziehungseignung der Eltern oder die Bindungen des Kindes an die Eltern berücksichtigt werden. Der Kindeswille sei nur einer von mehreren Gesichtspunkten.

Wegen grundsätzlicher Bedeutung ließ das OLG die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe zu. Dort ist das Verfahren unter dem Aktenzeichen XII ZB 512/18 anhängig.

Az.: 1 UF 74/1



Europäischer Gerichtshof

Rechte von Flüchtlingen gestärkt



Anerkannte Flüchtlinge dürfen nicht weniger Sozialleistungen erhalten als eigene Staatsbürger. Dies gelte unabhängig davon, ob der Flüchtling nur ein befristetes Aufenthaltsrecht besitzt, entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 21. November in Luxemburg. Anlass war ein Fall aus Österreich. Das Urteil ist aber für alle EU-Mitgliedsstaaten bindend.

Konkret ging es um einen Afghanen, der mit seiner Familie nach Österreich gekommen und dort 2016 als Flüchtling anerkannt worden war. Damit ging eine Aufenthaltsberechtigung für drei Jahre einher. Der Mann erhielt Sozialhilfe, allerdings gemäß einer österreichischen Regelung weniger als Flüchtlinge ohne eine Befristung des Aufenthaltsrechts. Diese erhalten ebensoviel Sozialhilfe wie Inländer.

EU-Gesetz von 2011 ist eindeutig

Fraglich war, ob die unterschiedliche Behandlung mit der sogenannten Anerkennungsrichtlinie vereinbar ist, einem EU-Gesetz von 2011 zum Schutz von Flüchtlingen. Die EuGH-Richter befanden nun, dass das Gesetz in diesem Punkt eindeutig sei: Anerkannte Flüchtlinge haben in einem EU-Land Anspruch auf Sozialleistungen in gleicher Höhe wie die eigenen Staatsangehörigen, und zwar unabhängig von einer möglichen Befristung des Aufenthalts. Das entspreche auch der Genfer Flüchtlingskonvention, in deren Licht die Richtlinie zu lesen sei.

Stehe nationales Recht dem entgegen, gehe das EU-Recht vor, befand das Gericht. Eine andere Frage seien Sozialleistungen für bloß subsidiär Schutzberechtigte, welche niedriger sein könnten, stellten die Richter zugleich klar. Die österreichische Justiz muss den konkreten Fall nun anhand des europäischen Urteils abschließen. Das Urteil gilt aber auch für alle anderen EU-Staaten.

Für Deutschland dürfte der Richterspruch keine direkten Folgen haben. Denn nach Auskunft der Behörden gibt es keine unterschiedliche Behandlung anerkannter Flüchtlinge bei der Sozialhilfe, die von der Dauer des Aufenthaltsrechts abhinge.

"Ein anerkannter Flüchtling, sofern er nicht für den Lebensunterhalt von sich und seiner Familie aufkommen kann, hat Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung", sagte eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Eine Sprecherin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) erklärte: "Für alle Personen, die Flüchtlingsschutz bekommen, gelten die gleichen rechtlichen Grundlagen und Folgen."

Az.: C-713/17




sozial-Köpfe

Diakonie

Karsten Bepler wird Klinik-Chef in Hannover




Karsten Bepler
epd-bild/Elisabeth Vinzenz Verbund GmbH
Karsten Bepler (38) übernimmt ab Januar die Aufgaben als Geschäftsführer des Vinzenzkrankenhauses Hannover. Er folgt auf Michael Hartlage, der das Amt seit 2006 innehatte.

Bepler ist Diplom-Betriebswirt und seit über zehn Jahren in der Krankenhausbranche tätig. Der gebürtige Mittelhesse absolvierte nach seinem Studium verschiedene Positionen bei der Rhön-Klinikum AG. Aktuell ist er Verwaltungsdirektor der Carl-Thiem-Klinikum Cottbus gGmbH. Zuvor war er unter anderem Verwaltungsleiter der Reinhard-Nieter Krankenhaus Städtische Kliniken gGmbH in Wilhelmshaven sowie in der Herz- und Gefäß-Klinik GmbH in Bad Neustadt/Saale.

Beplers Vorgänger ist Michael Hartlage (58), der die Geschäfte seit Juli 2006 leitet und nun eine neue berufliche Herausforderung sucht. Ihm gelang es, das Vinzenzkrankenhaus erfolgreich in den Elisabeth Vinzenz Verbund zu integrieren und auch die Patientenzahlen deutlich zu steigern. Olaf Klok, Geschäftsführer des Elisabeth Vinzenz Verbundes, sagte, mit Hartlage verliere man "einen höchst qualifizierten und erfolgreichen Geschäftsführer".

Das Vinzenzkrankenhaus Hannover gehört zum Elisabeth Vinzenz Verbund, einem der größten katholischen Krankenhausträger in Deutschland. Das Krankenhaus versorgt pro Jahr über 37.000 Patienten in sieben Fachabteilungen. Mit einer eigenen Gesundheits- und Krankenpflegeschule und seit 1979 als akademisches Lehrkrankenhaus der Medizinischen Hochschule Hannover engagiert sich das Vinzenzkrankenhaus in der Aus- und Fortbildung pflegerischen und medizinischen Nachwuchses.



Weitere Personalien



Andreas Wedeking übernimmt im kommenden Jahr die Geschäftsführung des Verbands katholischer Altenhilfe in Deutschland (VKAD). Er tritt die Nachfolge von Andreas Leimpek-Mohler an. Wedeking ist Leiter einer stationären Senioreneinrichtung mit 68 Plätzen. Der Netzwerk- und Dienstleistungsmanager hat zuvor in Führungspositionen in den Bereichen Jugendhilfe, Eingliederungshilfe und Seniorenhilfe gearbeitet. Wedeking hat Sozialpädagogik mit Schwerpunkt Verwaltung und Organisation sowie Heimpädagogik studiert. Der VKAD hat nach eigenen Angaben rund 1.200 Mitgliedseinrichtungen.

Donya Farahani (31), Fernsehredakteurin, erhält den diesjährigen Journalistenpreis "Demenz" der Diakonie Neuendettelsau. Sie bekam die Ehrung, die mit 5.000 Euro dotiert ist, für ihre Reportage "Ich und meine Alzheimer-WG". Farahani hat selbst eine Woche lang in dieser WG gelebt. Den Beitrag strahlte der WDR aus. Der 2. Preis (3.000 Euro) ging an Sidney Gennies für seinen Artikel "Das vergessene Leben", der im Tagesspiegel Berlin erschienen ist. Mit dem 3. Preis (2.000 Euro) wurde der Arzt und Journalist Lothar Zimmermann ausgezeichnet. Prämiert wurde sein Beitrag "Vergesslich oder schon dement"» aus der WDR-Serie "betrifft".

Ursula Groden-Kranich, CDU-Bundestagsabgeordnete, ist neue Vorsitzende des Kolpingwerks Deutschland. Sie wurde auf der Bundesversammlung in Köln von den 370 Delegierten ins Amt gewählt. Sie tritt die Nachfolge von Thomas Dörflinger, der die Leitung 14 Jahre lang innehatte. Groden-Kranich, geboren 1965 in Mainz, ist Mitglied der Kolpingsfamilie Mainz-Zentral. Im Bundestag ist sie Mitglied im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie im Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union.

Nora Neye ist neue Pressesprecherin des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Sie folgt auf Maike Rademaker, die die Pressestelle seit 2014 geleitet hat und nun den DGB auf eigenen Wunsch verlässt, um wieder als freie Journalistin zu arbeiten. Neye war bisher in der Abteilung für Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Die Leitung der Abteilung Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit übernimmt Timm Steinborn.

Rolf Zettl (54) wird zum Jahreswechsel kaufmännischer Geschäftsführer des Robert-Bosch-Krankenhauses in Stuttgart. Er ist promovierter Biologe und war in den vergangenen 20 Jahren in leitenden Funktionen unter anderem für die Charité-Universitätsmedizin Berlin und das Berliner Institut für Gesundheitsforschung tätig. Werner Cieslik, Geschäftsführer der Robert Bosch Stiftung, lobte Zettl als "einen sehr erfahrenen Manager, der sich ausgezeichnet im Gesundheitswesen und in der internationalen Forschungslandschaft auskennt". Zettl übernimmt die Geschäftsführung von Ullrich Hipp, der das Amt 28 Jahre lang innehatte und Ende Juni 2018 in den Ruhestand ging. Das Robert-Bosch-Krankenhaus ist mit mehr als 1.000 Betten und rund 2.700 Mitarbeitern eine der größten Kliniken Südwestdeutschlands.

Christian Jostes (46), Betriebswirt, leitet ab dem 1. April 2019 den Krankenhausverbund der Katholischen Hospitalvereinigung Weser-Egge (KHWE). Er folgt auf Reinhard Spieß, der Ende März in den Ruhestand tritt. Jostes war zuletzt Geschäftsführer des Stadtkrankenhauses Korbach sowie des St. Franziskus Hospitals Winterberg. Die KHWE hat sieben Standorte im Kreis Höxter und beschäftigt rund 2.500 Mitarbeiter.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Januar



November

30.11. Berlin:

Fachtagung "Pflegepersonal-Stärkungsgesetz und Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung"

des Bundesverbandes Pflegemanagement

Tel.: 030/44037693

30.11. Nürnberg:

13. Fachtag "Demenz und Sterben"

der Rummelsberger Diakonie und mehrerer Partner

Tel.: 09128/50-2257

Dezember

3.-4.12. Reinhausen:

Vernetzungstagung "Agil arbeiten in der Caritas" der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

4.12. Berlin:

Seminar "Jahresabschluss richtig vorbereiten und gestalten - Grundlagen und Sonderprobleme der Sozialwirtschaft" der BFS Serivice GmbH

Tel.: 0221/97356-159

4.12. Berlin:

Seminar "Steuer-Update" für Non-Profit-Organisationen"

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.:02203/8997-221

5.12. Bonn:

Fachtag "Von Anfang an – Förderung inklusiver Angebote für Kinder und Jugendliche" des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-287

5.-6.12. Würzburg:

Fachtagung "Doppeldiagnose - Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen und psychischen Auffälligkeiten"

des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200478

6.12. Köln:

Seminar "SGB II - Unterkunfts- und Heizkosten"

des Diözesan-Caritasverbandes für das Erzbistum Köln

Tel.: 0221/2010276

6.12. Berlin:

Seminar "Social-Media-Branding"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356160

10.-12.12. Freiburg:

Seminar "Wenn Führung nervt. Sich selbst und andere erfolgreich führen - Lernen im 'Common Space'"

der Fortbildungsakademie der Caritas

Tel.:0761/200-1700

11.-12.12. Münster:

Seminar "Beziehungen stiften durch Regeln, Grenzsetzung und Konsequenzen"

der Fachhochschule Münster

Tel.: 0251/8365720

12.-14.12. Remagen:

Seminar "Politische und rechtliche Rahmenbedingungen der Beschäftigung von Drittstaatsangehörigen und EU-Bürger*innen"

der AWO-Bundesakademie

Tel.:030/2630900

13.12. Berlin:

Fachtagung "Geschlecht. Gerecht gewinnt: Geschlechtergerechtigkeit und die Zukunftsfähigkeit der Sozialwirtschaft" des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-0

Januar

10.-11.1. Berlin:

Seminar "Professionelle Schlagfertigkeit und professionelle Kommunikation" - The high End of Communication"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837470

16.-18.1. Freiburg:

Seminar "Die Eingliederungshilfe nach dem Bundesteilhabegesetz"

der Fortbildungsakademie der Caritas

Tel.: 0761/200-1700

21.-23.1. Remagen-Rolandseck:

Seminar "Begleitung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe"

der AWO-Bundesakademie

Tel.: 030/26309416

23.-24.1. Fulda:

Facgtagung "Teilhabe am Arbeitsleben - Mission Impossible?"

der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie

Tel.: 030/284447-822

23.-25.1. Loccum:

Tagung "Beruf 4.0 - Eine Institution im Wandel"

der Evangelischen Akademie Loccum

Tel. 05766/81114