sozial-Thema

Pflege

Migration

Experte: "Weltweit mehr Pflegekräfte ausbilden"




Johannes Oltmer
epd-bild/Michael Gründel
In fast allen Ländern fehlen Fachkräfte in der Pflege, weil deutlich zu wenig Personal ausgebildet wird. Doch es sei ein Irrweg, Pflegepersonal aus wenig entwickelten Staaten in die westlichen Industrieländer zu locken, sagt der Osnabrücker Migrationsforscher Jochen Oltmer. Deren Wegzug habe dramatische Folgen für die Heimatländer, erläutert der Historiker im Gespräch mit "epd sozial".

Der Professor am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Osnabrücker Universität warnt vor den massiven Folgen des "Brain-Drain", also der Verlustes von Fachkompetenz. Er verweist darauf, dass die Abwanderung vielfach auf Kosten der Steuerzahler der ärmeren Gesellschaften gehe, die die Ausbildung finanziert hätten. Dort drohten die dortigen Gesundheitssysteme zu versagen, auch mit negativen Folgen für die meist ohnehin schon begrenzten Kapazitäten für die Ausbildung. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Viele Experten verweisen darauf, dass der Mangel an Pflegefachkräften in Deutschland Folge falscher Gesundheitspolitik und vor allem fehlender Ausbildungskapazitäten ist. Sehen Sie das auch so?

Jochen Oltmer: Ja, verschiedene Elemente kommen hier zusammen: relativ geringe Bezahlung der Fachkräfte, recht schlechte Arbeitsbedingungen vor dem Hintergrund von Einsparungen im Gesundheitssystem.

epd: Doch damit nicht genug ...

Oltmer: Nein, hinzu kommen: Geringes Prestige einer Beschäftigung in der Pflege, geringe Anreize, eine Ausbildung zu absolvieren – und das in einer Situation, in der gar nicht genug Ausbildungskapazitäten zur Verfügung stehen, es also gar nicht so einfach ist, überhaupt eine medizinische oder pflegerische Ausbildung zu beginnen beziehungsweise zu absolvieren.

epd: Die Arbeitgeber suchen schon händeringend Personal für Kliniken, Heime oder ambulante Dienste? Ist es nicht legitim, auch außerhalb Europas gezielt Personal anzuwerben?

Oltmer: Das Grundproblem ist, dass sich weltweit in Mangel an Pflegefachkräften ausmachen lässt. Wir haben es keineswegs nur mit einem deutschen oder europäischen Phänomen zu tun. In vielen Ländern des Globalen Südens ist der Mangel noch viel stärker ausgeprägt als in Europa – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der hohen Ausbildungskosten und der geringen Kapazitäten der Ausbildungssysteme.

epd: Warum ist es für die Heimatländer so heikel, Fachkräfte aus Afrika oder Fernost nach Deutschland zu holen? Stichwort "Brain-Drain".

Oltmer: In einer Situation des weltweiten Mangels an Pflegefachkräften und einer ausgeprägten Konkurrenzsituation sind die reichen Gesellschaften des Globalen Nordens im Vorteil. Sie zahlen bessere Löhne, bieten bessere Arbeitsbedingungen, können bessere Weiterbildungs- und Aufstiegsbedingungen garantieren – und die Abwanderung von Pflegefachkräften etwa nach Europa bedeutet, dass die ohnehin bereits schlechtere Versorgung in den Herkunftsländern noch verschlechtert wird. Außerdem geschieht die Ausbildung von medizinischem und pflegerischem Personal weltweit meist aus Steuermitteln. Das heißt, reiche Gesellschaften profitieren von den meist unter prekären Bedingungen finanzierten Ausbildungssystemen in ärmeren Ländern.

epd: Die Philippinen bilden schon lange über den eigenen Bedarf Pflegenachwuchs aus. Könnte man dieses Potenzial mehr nutzen oder stößt das hierzulande auch an Grenzen?

Oltmer: Die Philippinen erhoffen sich davon hohe Rücküberweisungen, also Geldzahlungen der abgewanderten Pflegekräfte an Familienangehörige, die weiterhin auf den Philippinen leben. Das Problem ist nur: Es gibt keinen Beleg dafür, dass am Ende die Rücküberweisungen höher sind als die Ausbildungskosten, die investiert worden sind.

epd: Es geht um Milliardensummen. Warum profitieren die Philippinen nicht davon?

Oltmer: Ja, zweifellos geht es um hohe Summen, deutlich höhere Summen, als im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit fließen. Allerdings werden die negativen Konsequenzen der Rücküberweisungen selten zur Kenntnis genommen: Vielfach ist beobachtet worden, dass diese Rücküberweisungen die Inflationsgefahr in den Herkunftsländer der Migrantinnen und Migranten erhöhen und einen Rückzug des Staates aus Bildungs- und Gesundheitssystem mit sich bringen - weil die Familienangehörigen von Migrantinnen und Migranten, die Rücküberweisungen erhalten, in der Lage sind, Schul- und Universitätsgebühren, Arzt- und Krankenhausaufenthalte zu bezahlen. Deshalb können, so denken manche Regierungen, staatliche Leistungen zurückgefahren werden - neue Ungleichheiten sind die Folge.

epd: Es gibt eine international anerkannte Liste, die Werbeaktivitäten in bestimmten Ländern wie Indien, Kenia oder Marokko untersagt. Folglich dürfen Pflegekräfte aus allen anderen Ländern umworben werden. Geht das in Ordnung?

Oltmer: Im Rahmen von Richtlinien und Abkommen haben sich viele Länder darauf verständigt, dort keine Fachkräfte anzuwerben, in denen es ohnehin bereits einen tiefgreifenden Mangel an Pflegekräften gibt. Aber: Der geschilderte weltweite Mangel an Pflegekräften bietet kaum Perspektiven, Länder zu finden, in denen es ein Überangebot gibt. Wir haben es also mit einem echten Dilemma zu tun.

epd: Haben Sie einen Vorschlag, wie sich das Problem auf dem Wege der internationalen Kooperation für beide Seiten adäquat lösen lässt?

Oltmer: Angesichts des weltweiten Mangels an Pflegefachkräften und der globalen strukturellen Alterung der Weltbevölkerung, die den Bedarf zukünftig weiter ansteigen lässt, sind alle Länder aufgerufen, sich um die Entwicklung der Gesundheitssysteme und der Ausbildungssysteme für Fachkräfte zu kümmern. Das gilt für die reichen Gesellschaften wegen ihrer deutlich besseren Ausstattung mit finanziellen Ressourcen und Kapazitäten der Anpassung an Veränderungen noch in weitaus höherem Maße als für arme Gesellschaften. Und es gilt für die reichen Gesellschaften auch deshalb in höherem Maße, als sie in deutlich stärkerem Maße von der Alterung betroffen sind.

epd: Wie könnte eine mögliche Kooperation aussehen?

Oltmer: Wenn Anwerbungen von Fachkräften in anderen Ländern laufen, dann müssen die Bedingungen zwischen Herkunfts- und Zielstaaten vertraglich geregelt werden, damit die Anwerbung nicht zulasten der Herkunftsstaaten geht. Internationale Standards müssen entwickelt werden, damit die Konkurrenz um Pflegefachkräfte die globale Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung nicht weiter anwachsen lässt. Und wenn der Ausbau der nationalen Ausbildungssysteme vorangetrieben wird, sollte im Sinne von Entwicklungszusammenarbeit auch daran gedacht werden, Pflegekräfte aus Gesellschaften des Globalen Südens zu integrieren, damit sie nach einer möglichen Rückkehr einen Beitrag leisten können, Gesundheits- und Ausbildungssysteme in ihren Herkunftsgesellschaften zu verbessern.

epd: Warum muss man als Personal suchender Staat überhaupt tätig werden? Die Pflegekräfte könnten doch auch von sich aus gemäß der geltenden Gesetze kommen?

Oltmer: Im Prinzip ja, allerdings geschieht die Abwanderung vielfach auf Kosten der Steuerzahler der ärmeren Gesellschaften weltweit, die die Ausbildung finanziert haben. Je mehr Fachkräfte aus diesen Systemen abwandern, je größer der dortige Mangel an Fachkräften wird, desto eher drohen die dortigen Gesundheitssysteme zu versagen und desto geringer sind die Kapazitäten für die Ausbildung. Die reichen Gesellschaften des Globalen Nordens können kein Interesse daran haben, dass die Gesundheitssystem im Globalen Süden zusammenbrechen und der Mangel an Fachkräften sich weltweit verstärkt.

epd: Ist Deutschland überhaupt ein attraktives Zielland, in das sich deutlich mehr Ausländer locken lassen würden?

Oltmer: Die angelsächsischen Länder sind ohne Zweifel wegen der weltweiten Dominanz des Englischen im Vorteil. Und in Osteuropa, wohin sich bislang vielfach das deutsche Anwerbeinteresse richtete, lässt sich eine Dynamik der Alterung der Gesellschaft ausmachen, die die dortigen Gesundheitssysteme zukünftig sehr stark belasten wird. Aus Osteuropa dürften zukünftig eher weniger als mehr Pflegekräfte kommen können.

epd: Der Zuzug von ausländischen Pflegekräften wird auch kritisch gesehen. Lassen sich auf diesem Wege überhaupt die immensen Probleme in der Pflege, wie schlechtes Image und auch nicht gerade üppige Bezahlung, lösen?

Oltmer: Nein, lösen lassen sie sich nicht. Zuwanderung von Pflegekräften kann einen Beitrag dazu leisten, in einer Übergangsphase, in der es um eine grundsätzliche Neuausrichtung im Pflegebereich geht, ein Stück weit einen Mangel auszugleichen. Er kann auch dazu dienen, Pflegekräfte aus anderen Ländern aus- und fortzubilden. Sehr viel mehr aber nicht.