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Armut

Soziologe: Ein Umbau von Hartz IV reicht nicht




Stephan Lessenich
epd-bild/LMU Muenchen
Für den Soziologen Stephan Lessenich würde mit der Abschaffung der umstrittenen Sanktionen bei Hartz IV das ganze System kippen. Das sei zwingend, "weil die Grundidee von Hartz IV die unbedingte Priorität der Arbeitsaufnahme ist", sagte der Professor im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Zur Frage, ob es ausreiche, Hartz IV zu reformieren oder, wie von den Grünen gefordert, eine Garantiesicherung zu schaffen, sagte Lessenich: "Das kommt darauf an was man will." Wenn man einen demokratischen Sozialstaat wolle, dann sei der Übergang zu einem Grundsicherungssystem, das nicht den Arbeitszwang, sondern soziale Teilhabe in den Vordergrund stellt, sicher der richtige Ansatz. Dann reiche ein Umbau von Hartz IV nicht, dann muss man Hartz IV überwinden, sagte der stellvertretende Leiter des Instituts für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Umbau von Hartz IV oder Einführung einer Garantiesicherung, wie sie die Grünen fordern? Welcher Ansatz ist der richtige?

Stephan Lessenich: Das kommt darauf an was man will. Wenn man einen demokratischen Sozialstaat will, dann ist der Übergang zu einem Grundsicherungssystem, das nicht den Arbeitszwang, sondern soziale Teilhabe in den Vordergrund stellt, sicher der richtige Ansatz. Dann reicht ein Umbau von Hartz IV nicht, dann muss man Hartz IV überwinden.

epd: Hartz IV bedeutet Zwang, auch weniger attraktive Jobs anzunehmen. Kann man sich generell von diesem rigiden System lösen, ohne den Arbeitsmarkt zu beschädigen?

Lessenich: Im Zweifel sollte man lieber den Arbeitsmarkt als die Menschen beschädigen, denn anders als der Markt sind Menschen nichts Abstraktes. Was liberale Ökonomen "den Markt beschädigen" nennen, heißt ja für die Menschen, dass mit Blick auf ihre Arbeit der Preismechanismus nicht ungehindert zur Geltung kommen soll: Sie müssen dann im Wortsinne nicht um jeden Preis Arbeit annehmen. Es gab Zeiten, da galt dieses Prinzip als eine zivilisatorische Errungenschaft sozialer Demokratien. In den letzten Jahrzehnten aber meinte man dann zunehmend, dass allein der Markt den Preis der Arbeit bestimmen solle. Dafür steht Hartz IV, das in Deutschland dem Niedriglohnsektor durch politische Intervention erst so richtig zum Durchbruch verholfen hat.

epd: Die Sanktionen bei Hartz IV sind besonders umstritten. Warum kann man sie nicht einfach abschaffen und der Eigeninitiative der Betroffenen vertrauen?

Lessenich: Gute Frage. Es ist einer der bemerkenswerten Widersprüche wirtschaftsliberalen Denkens, dass die Eigeninitiative der Leute als gesellschaftliche Norm immer nur dann und so lange hochgehalten wird, wie diese Eigeninitiative strengen produktivistischen Maßstäben genügt. Selbstbestimmung ist immer dann gut beleumundet, wenn sie sich Marktzwängen fügt - wer die Aufnahme einer Beschäftigung wegen nicht akzeptabler Arbeitsbedingungen ablehnt, gehört dagegen bestraft. Bemerkenswert daran ist vor allen Dingen, dass diese marktkonforme Doppelmoral im öffentlichen Diskurs so ungeheuer erfolgreich ist.

epd: Die Grünen wollen die Menschen nicht länger zwingen, mit dem Jobcenter zu kooperieren, Termine wahrzunehmen, Verpflichtungen zur Vermittlung einzugehen. Kippt damit die Grundidee von Hartz IV?

Lessenich: Ja, weil die Grundidee von Hartz IV die unbedingte Priorität der Arbeitsaufnahme ist. Wobei die Erwerbslosen freilich nie als gleichberechtigte Partner und Partnerinnen in einem Prozess der Reintegration in Erwerbsarbeit gesehen wurden, sondern sich eher als Hilfsabhängige, ja geradezu als Angeklagte fühlen mussten. Zusätzlich zu dem Beschäftigungsverlust, der in dieser Gesellschaft eine wahrhaft existenzielle Erfahrung ist, müssen sie sich als Antragsteller verstehen und stets gute Führung an den Tag legen. Solche Gesetze werden von Leuten gemacht, die selbst keine Arbeitslosigkeitserfahrung haben und sich nicht auf Ämtern gängeln lassen müssen. Das ist vielleicht das Geburtsproblem nicht nur von Hartz IV, sondern vieler sogenannter Sozialgesetze.

epd: Die SPD will sich auch von der Agenda 2010 lösen. Partei-Vize Ralf Stegner sagt aber: "Jeder, der arbeiten kann, muss arbeiten." Wie passt das zusammen?

Lessenich: Nun, das passt wohl eher nicht zusammen, passt insofern aber wiederum ganz gut zur SPD. Die Sozialdemokratie hat eine lange Tradition des Arbeitsautoritarismus: Zu der ja faktisch nicht falschen Überzeugung, dass in dieser Gesellschaft die Teilhabe an Erwerbsarbeit für die allermeisten Menschen ökonomisch zwingend ist, gesellt sich bei ihr schon lange die durchaus zweifelhafte Ansicht, dass die Menschen deshalb auch politisch zum Arbeiten gezwungen werden sollen. Damit sind die Parteimitglieder leider obergelehrige Schülerinnen und Schüler dieses Systems. Weil aber die auch soziokulturelle Bedeutung von Erwerbsarbeit nicht von der Hand zu weisen ist, halte ich umgekehrt den Vorschlag der Grünen nicht für der Weisheit letzten Schluss. Nicht die Pflicht zur Arbeit, aber wohl das Recht auf Arbeit muss in einer sozialen Demokratie politisch gewährleistet werden.

epd: Was raten Sie der SPD: Soll sie Hartz IV komplett hinter sich lassen oder nur so reformieren, dass eine menschenwürdiges Leben oberhalb des Existenzminimums möglich ist?

Lessenich: Wer bin ich, dass ich einer Partei, die sich nun seit Jahrzehnten zielstrebig und teils mutwillig dem politischen Abgrund entgegenbewegt, Ratschläge geben sollte oder auch könnte? Hier sind wohl eher Politpsychotherapeuten gefragt. Aber wenn Sie mich zu einer Antwort nötigen, jenseits von Hartz IV: Auflösen und neu gründen.

epd: Die Grünen gehen von mehr Empfängern ihrer "Garantiesicherung" aus, aber von weniger Armut. Ist das schlüssig?

Lessenich: Wenn man die "Garantiesicherung" als ein Instrument der Armutsbekämpfung versteht, dann steigt mit jeder Empfängerin die bekämpfte Armut. Aber eine solche Sicherung erschöpft sich in ihrer Wirkung ja nicht in der Bekämpfung von – in Einkommensgrößen gemessener – Armut. Eine solche Sicherung, ernst gemeint und konsequent durchgesetzt, müsste insbesondere der sozialen Teilhabe dienen; von Menschen, die zuallererst als Berechtigte gesehen werden, nämlich als Menschen mit dem Recht, an dem gesellschaftlich produzierten Reichtum wenigstens zu einem Mindestmaß teilzuhaben. Angesichts der ungeheuren, teils geradezu obszönen Ungleichheit in diesem Land sollte dies eigentlich ein allgemein akzeptabler politischer Anspruch sein.

epd: Viele Kritiker sagen, dann würden für teures Geld Leute unterstützt, die gar keine Hilfe bräuchten. Was meinen Sie?

Lessenich: Der Vorschlag der Grünen ist ja gar nicht so radikal, die Bedürftigkeitsprüfung für eine "Garantiesicherung" abschaffen zu wollen, so dass diese eben kein bedingungsloses Grundeinkommen wäre und die Kritiker weiterhin gut schlafen können sollten. Davon abgesehen aber steht hinter der von vielen kritisch beäugten Idee der Bedingungslosigkeit die Überlegung, dass ein Rechtsanspruch, der ohne Ansicht der Person wirklich allen Bürgerinnen und Bürgern zukäme, ein Ausdruck und eine Quelle verallgemeinerter Solidarität sein könnte. Über diesen tieferen Sinn wird aber selten gesprochen - weil wir uns das Thema der Solidarität von der gesellschaftspolitischen Agenda haben nehmen lassen, im Zangengriff von Wirtschaftsliberalen und Rechtspopulisten. Und leider bisweilen auch unter tätiger Mithilfe der Sozialdemokratie.



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