sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Dirk Baas
epd-bild/Heike Lyding

ab Juli dieses Jahres steigen die Verdienstuntergrenzen in der Pflege für Hilfskräfte in vier Schritten auf dann bundesweit einheitlich 12,55 Euro. Das soll bis zum 1. April 2022 geschehen. Auch Fachkräfte sollen einen höheren Mindestverdienst erhalten. Die Pflegebranche begrüßte die Einigung der Mindestlohnkommission einhellig. Und doch verstummt die Diskussion über die Einführung eines Branchentarifvertrages nicht, wie ihn Bundesarbeitsminister Hubertus Heim (SPD) fordert.

Die Zahlen sind erschreckend: In Deutschland wird jeder dritte Wohnungssuchende mit Migrationshintergrund auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert. Das geht aus einer neuen Studie hervor. Experten fordern sowohl eine Gesetzesänderung als auch mehr Aufklärung und Beratung über die Rechtslage.

In Grafeneck auf der Schwäbischen Alb ermordeten die Nazis 10.654 Menschen. Den Opfern gedachte die Diakonie Stetten am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Sie rief, wie viele andere Sozialträger und Verbände, zu Wachsamkeit gegenüber Rechtsradikalismus und Judenfeindlichkeit auf.

Kliniken müssen bei Kaiserschnitten, die auf Wunsch der Mutter stattfinden, größtmögliche Sorgfalt walten lassen. Dazu zählt auch, genügend Personal zur Verfügung zu haben, wie jetzt aus einem Urteil hervorgeht. Denn wird der Eingriff nicht mit der "maximalen Planung" vorbereitet und der "obere Rand der ärztlichen Qualität" nicht eingehalten, können das Krankenhaus und die behandelnden Ärzte für den Tod der Mutter haften, entschied das Oberlandesgericht (OLG) Hamm.

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Dirk Baas




sozial-Politik

Arbeit

Kommission einigt sich auf höhere Mindestlöhne in der Pflege




Eine Altenpflegerin misst bei einem Heimbewohner den Blutdruck.
epd-bild/Jürgen Blume
Mehr als eine Million Beschäftigte in der Altenpflege sollen höhere Mindestlöhne erhalten. Bis zum 1. April 2022 soll der Verdienst für Pflegehilfskräfte in vier Schritten auf 12,55 Euro angehoben werden. Ab dem 1. Juli 2021 soll es zudem erstmals einen Mindestlohn für Pflegefachkräfte von 15 Euro geben. Dieser soll zum 1. April 2022 auf 15,40 Euro steigen.

Auf diese Erhöhung hat sich die Pflegekommission aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern einstimmig geeinigt. Der Beschluss stieß in der Branche fast durchweg auf Zustimmung. Die Angleichung der regional unterschiedlichen Pflegemindestlöhne werde zum 1. September 2021 endgültig vollzogen, teilte das Bundesarbeitsministerium am 28. Januar in Berlin mit. Erstmals wurden auch Mindestlöhne für Fachkräfte und angelernte Pflegekräfte festgelegt.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) begrüßte die Empfehlungen der Kommission, die per Verordnung erlassen werden sollen. Der Kommission gehören Vertreter der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite der privaten, öffentlich-rechtlichen und kirchlichen Pflegeeinrichtungen an. Der Mindestlohn für die Branche wurde 2010 eingeführt. In Einrichtungen, die unter den Pflegemindestlohn fallen, arbeiten nach Ministeriumsangaben derzeit rund 1,2 Millionen Beschäftigte.

Mindestlohn erstmals auch für Hilfskräfte

Die Pflegekommission habe zum ersten Mal auch einen Pflegemindestlohn für qualifizierte Pflegehilfskräfte und für Pflegefachkräfte festgelegt, teilte das Ministerium mit. Ab dem 1. April 2021 soll für qualifizierte Pflegehilfskräfte im Osten ein Mindestlohn in Höhe von 12,20 Euro pro Stunde und im Westen in Höhe von 12,50 Euro pro Stunde eingeführt werden. Die Ost-West Angleichung soll zum 1. September 2021 auf einheitlich 12,50 Euro pro Stunde vollzogen werden. Ab 1. April 2022 soll der Mindestlohn für qualifizierte Pflegekräfte auf 13,20 Euro pro Stunde steigen.

Zum 1. Juli 2021 soll für Pflegefachkräfte ein einheitlicher Mindestlohn in Höhe von 15,00 Euro pro Stunde eingeführt werden. Ab 1. April 2022 soll der Mindestlohn für Pflegefachkräfte auf 15,40 Euro pro Stunde steigen.

Arbeitsminister Heil bezeichnete die Empfehlungen der Pflegekommission als "ersten, wichtigen Schritt hin zu einer besseren Entlohnung der Beschäftigten in der Pflegebranche". Das Ergebnis bereite den Weg, die unterschiedlichen Pflegemindestlöhne in Ost- und Westdeutschland zu überwinden und zu einem einheitlichen, bundesweit geltenden Mindestlohn zu kommen.

Heil will Branchentarifvertrag durchsetzen

"Dennoch ist mein Ziel noch nicht erreicht", erklärte Heil. Der bessere Weg zu Verbesserungen für die Beschäftigten in der Pflege sei ein Branchentarifvertrag, den er für allgemeinverbindlich erklären könne. "Die Tarifpartner sind hier in der Verantwortung, ihre laufenden Verhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen", erklärte der Minister.

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betonte, die neuen Mindestlöhne seien nur eine Untergrenze: "Viele Arbeitgeber werden im Wettbewerb um Fachkräfte, ihren Mitarbeitern deutlich mehr zahlen müssen.".

"Ein Mindestlohn kann und soll keine tarifvertragliche Regelung ersetzen", sagte Christel Bienstein, Präsidentin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe. Das vorliegende Ergebnis sei angesichts der dramatischen Personalengpässe in der Pflege und dem anstehenden zusätzlichen Personalbedarf ein eindeutig zu schwaches und damit falsches Signal an alle beruflich Pflegenden im Land. "Ein Lohn von 15 Euro pro Stunde setzt auf keinen Fall die notwendigen Anreize, um den Pflegeberuf zu wählen und einen Arbeitsvertrag zu unterschreiben." Wer gute Pflegefachpersonen rekrutieren und binden wolle, müsse hier noch deutlich drauflegen, forderte Bienstein.

Auch werde der Unterschied in der Bezahlung von angelernten und vollausgebildeten Kräften nicht ausreichend honoriert. "Ein Unterschied von 2,50 Euro pro Stunde reicht da keineswegs."

Für den Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) sagte Präsident Bernd Meurer: "Die Kommission sendet auch ein wichtiges Zeichen an die Altenpflege in den neuen Bundesländern. Ab September 2021 gilt der Mindestlohn für ungelernte Hilfskräfte in der Altenpflege in Ost und West gemeinsam in Höhe von 12,00 Euro und steigt sogar bis April 2022 auf 12,55 Euro." Das Ergebnis, das zügig verhandelt und erzielt wurde, mache deutlich, dass nun ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag nicht mehr nötig ist. "Diese Einigung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zeigt, dass die Beteiligten selbst die Mindestarbeitsbedingungen in der Pflege regeln können, es braucht dazu die Politik nicht."

Ver.di hofft noch immer auf Branchentarifvertrag

Die Gewerkschaft ver.di sieht das anders. Sie sprach von deutlichen Verbesserungen gegenüber den bisherigen Regelungen. Ein bundesweiter Tarifvertrag zu Mindestarbeitsbedingungen in der Altenpflege bleibe jedoch weiterhin das Ziel, sagte Vorstand Sylvia Bühler.

"Wir haben langjährig erhobene Forderungen durchsetzen können, etwa das Mindestentgelt für Fachkräfte und einen Urlaubsanspruch über den gesetzlichen Anspruch hinaus. Die neuen Regelungen werden für Pflegekräfte insbesondere in den neuen Ländern und bei kommerziellen Anbietern zu deutlichen Verbesserungen führen", betonte Bühler. Um den Pflegenotstand zu beseitigen, brauche es aber weitergehende Lösungen. Dazu gehört auch ein bundesweiter Tarifvertrag zu Mindestbedingungen in der Altenpflege, der vom Bundesarbeitsminister auf die gesamte Altenpflege erstreckt wird.

Die Diakonie sprach von einem vernünftigen Kompromiss. "Ziel muss es sein, auch in Zukunft, die Pflege zu stärken und den Pflegeberuf finanziell und gesellschaftlich aufzuwerten", sagte Vorstand Maria Loheide.

Gestaffelte Zahlungen je nach Qualifikation

Ab April beziehungsweise Juli 2021 werden nach ihren Angaben darüber hinaus die Pflegemindestentgelte abhängig von der Qualifikation gestaffelt. So erhalten ab dem 1. April 2021 Hilfskräfte mit einjähriger Ausbildung erstmalig einen Pflegemindestlohn in Höhe von 12,20 Euro in den östlichen Bundesländern und 12,50 Euro in den westlichen Bundesländern, während sich zum selben Zeitpunkt für Hilfskräfte ohne Ausbildung der Mindestlohn auf 11,50 Euro (Ost) beziehungsweise 11,80 Euro (West) erhöht. Für Pflegefachkräfte wird ab dem 1. Juli 2021 ein bundeseinheitlicher Mindestlohn in Höhe von 15,00 Euro eingeführt.

Für Pflegekräfte in der Diakonie hätten die Ergebnisse der Pflegekommission keine direkten Auswirkungen, so Loheide. Die Entgelte in den diakonischen Tarifwerken lägen zum Teil deutlich über den vereinbarten Vergütungen.

Keine regionalisierte Vergütung

Bodo de Vries, Vorsitzender des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflege, begrüßte ebenfalls den Beschluss: "Die heute vereinbarten Werte spiegeln das politische Ziel wider, die Pflege - auch bei den Vergütungen - aufzuwerten. Damit rückt die Umsetzung der Konzertierten Aktion Pflege ein Stück näher."

Thomas Sopp, der als Dienstgebervertreter für die Arbeitsrechtliche Kommission der Diakonie Deutschland an den Verhandlungen teilnahm, sagte, besonders Pflegekräfte in den östlichen Bundesländern würden durch eine Angleichung der Vergütungen profitieren. Wünschenswert wäre allerdings gewesen, in einigen finanzstarken Regionen höhere Stundenentgelte vorzugeben. "Eine regionale Differenzierung, die die unterschiedlichen wirtschaftlichen Situationen ebenso wie die diversen Refinanzierungswege berücksichtigt, war jedoch leider nicht mehrheitsfähig."

Ausbildung wird honoriert

"Endlich spiegelt sich nun auch im Mindestlohn wider, dass sich eine Ausbildung zur Pflegefachkraft lohnt", sagte Norbert Altmann, Mitglied der Kommission für die Dienstgeberseite der Caritas. Für diese werde nun ein Mindestentgelt von monatlich rund 2.600 Euro festgeschrieben. "Pflege ist mehr als nur ein Job und zentral für unsere älter werdende Gesellschaft. Deshalb wird die Caritas auch weiterhin deutlich mehr für ihre Mitarbeitenden in der Pflegebranche bezahlen." Bedingung hierfür sei jedoch weiterhin die Sicherung der Refinanzierung aller tariflichen Entgelte.

Scharfe Kritik kam hingegen von der Pflegekammer Niedersachsen. "15 Euro Mindestlohn für Pflegefachpersonen sind ein Witz", sagte Sandra Mehmecke, Präsidentin der Pflegekammer. Sie forderte langfristig ein Bruttogehalt von mindestens 4.000 Euro im Monat für alle Pflegefachpersonen in Vollzeit – egal in welchem Bereich sie tätig sind: "Die Pflege braucht keine kümmerlichen Mindestlöhne, sondern eine flächendeckende gute tarifvertragliche Bezahlung."

Jürgen Prause, Dirk Baas


Umfrage

Migrationshintergrund erschwert die Wohnungssuche




Eine neue Studie belegt die häufige Diskriminierung von Ausländern auf dem Wohnungsmarkt.
epd-bild/Peter Roggenthin
Keine Muslime, keine Ausländer, keine fremd klingenden Namen: Es gibt viele Gründe für Absagen von Vermietern. Experten fordern eine Gesetzesänderung, um Benachteiligungen auf dem Wohnungsmarkt künftig besser zu begegnen. Das hält auch der Paritätische Wohlfahrtsverband für dringend nötig.

In Deutschland wird jeder dritte Wohnungssuchende mit Migrationshintergrund auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die am 29. Januar in Berlin vorgestellt wurde. Der kommissarische Leiter der Behörde, Bernhard Franke, sprach sich für eine Gesetzesänderung aus, um Diskriminierung zu vermeiden. Ausnahmeregelungen im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) seien offen für Missbrauch und könnten Rechtfertigungen für rassistische Diskriminierungen bieten, sagte er.

Laut einem Rechtsgutachten des Bonner Juraprofessors Gregor Thüsing im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle verstoßen die Ausnahmen vom Diskriminierungsverbot gegen Europarecht und sind EU-weit einzigartig. Zuletzt war Mitte Januar in Berlin ein großes Wohnungsunternehmen wegen Diskriminierung eines türkeistämmigen Bewerbers bei der Wohnungsvergabe von einem Gericht zu einer Entschädigung in Höhe von 3.000 Euro verurteilt worden.

Migranten besonders benachteiligt

Franke sagte: "Oft reicht schon ein fremd klingender Name aus, um gar nicht erst zur Wohnungsbesichtigung eingeladen zu werden." Laut Umfrage machten rund 15 Prozent aller Befragten, die in den vergangenen zehn Jahren auf Wohnungssuche waren, Diskriminierungserfahrungen aus rassistischen Gründen, wegen der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe oder der Herkunft aus einem anderen Land.

Besonders betroffen waren Menschen mit Migrationshintergrund (35 Prozent). Die Studie beruht auf einer telefonischen Befragung von 1.041 zufällig ausgewählten deutschsprachigen Personen ab 16 Jahren in Privathaushalten in der zweiten Oktoberhälfte 2019.

Dabei kam heraus, dass fast zwei Drittel der von Diskriminierung Betroffenen (64 Prozent), in der Folge keine Beratung eingeholt oder den Vorfall gemeldet haben. Deutlich wurde auch, dass knapp die Hälfte (47 Prozent) das gesetzliche Diskriminierungsverbot gar nicht kennt. Vier von fünf Befragten (83 Prozent) waren der Ansicht, dass Diskriminierungen bei der Wohnungssuche eher häufig vorkommen. Zugleich hatten 29 Prozent der Befragten nach eigenen Angaben große oder sehr große Bedenken gegenüber Einwanderern als Nachbarn, bei potenziellen Vermietern sogar 41 Prozent.

Franke: Schlupflöcher schließen

Franke empfahl "rechtliche Schlupflöcher" zu schließen. So gelte das Diskriminierungsverbot im AGG bislang nicht, wenn ein besonderes "Nähe- oder Vertrauensverhältnis" eingegangen werde, etwa bei Nutzung von Wohnraum auf demselben Grundstück. Diese Regelung war den Angaben nach besonders für kleine Vermieter in das Gesetz eingefügt worden und ließ den Diskriminierungsschutz hinter den Schutz der Privatsphäre zurücktreten. Künftig müssten an diese Regelung hohe Anforderungen gestellt werden, hieß es.

Außerdem dürften laut AGG Wohnungsbaugesellschaften zur Vermeidung sogenannter Ghettobildung Wohnungssuchende unterschiedlich behandeln. Gutachter Thüsing sagte, dies sei zwar ein legitimes Interesse, sollte aber künftig nur noch gelten, um bislang diskriminierte Gruppen besser zu stellen. Franke betonte, die Ausnahmeregelungen böten bislang die Gefahr des Missbrauchs und könnten Rechtfertigungen für rassistische Diskriminierungen bieten.

Die Diakonie nannte das Ergebnis der Umfrage erschreckend: "Rassismus hat viele Gründe, aber nie eine Rechtfertigung", sagte Präsident Ulrich Lilie in Berlin. Bezahlbarer Wohnraum sei "eine der zentralen Fragen unserer Zeit", der Wohnungsbau gehöre deshalb "ganz oben auf die politische Agenda".

Paritätischer: Aufklärung verbessern

Für den Paritätische Wohlfahrtsverband kommen die Ergebnisse der Studie wenig überraschend. Der Verband forderte eine Aufklärungskampagne zur Rechtslage und den Ausbau örtlicher Antidiskriminierungsstellen.

Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, sagte, Vorbehalte und auch offener Rassismus seien leider weit verbreitet. Auch das belege die Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes: 41 Prozent hätten Bedenken, eine eigene Wohnung an Menschen mit Migrationshintergrund zu vermieten.

Schneider machte darauf aufmerksam, dass Diskriminierung bei der Wohnungsvermietung bereits seit längerem rechtlich untersagt ist. Das Antidiskriminierungsgesetz sehe für solche Fälle Schadensersatz und Schmerzensgeld vor: "Das Problem ist allerdings, dass davon kaum jemand weiß."

Lukas Philippi


Coronavirus

Spahn erlässt Meldepflichten für Fluggesellschaften und Kliniken



Trotz der ersten Fälle von Coronavirus-Infektionen in Bayern mahnt Gesundheitsminister Spahn Gelassenheit an. Dennoch erlässt er Meldepflichten, unter anderem für Fluggesellschaften.

Nach den ersten bestätigten Coronavirus-Infektionen in Deutschland will Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Fluggesellschaften und Kliniken zusätzliche Meldepflichten auferlegen. Piloten auf Flügen aus China sollen den Tower bei der Landung über den Gesundheitszustand der Passagiere informieren, kündigte Spahn am 28. Januar in Berlin an. Reisende aus China sollen zudem auf Formularen Auskunft darüber geben, wo sie in den kommenden 30 Tagen zu erreichen sind.

Kliniken in Deutschland sollen zudem verpflichtet werden, auch Verdachtsfälle einer Corona-Infektion zu melden. Bislang gilt das nur für bestätigte Fälle. Die neue Meldepflicht für Kliniken soll in den nächsten Tagen inkraft treten, die Neuerungen für Fluggesellschaften gelten Spahn bereits seit dem 29. Januar.

"Wir wollen jetzt schnell dafür sorgen, dass Verdachtsfälle früher erkannt und besser nachverfolgt werden können", sagte der Minister in Berlin. "Und wir werden dem Robert-Koch-Institut noch größere Koordinierungsbefugnisse einräumen, als es das bei diesem Thema ohnehin schon hat."

Patienten in Bayern geht es gut

Am 27. Januar wurde die erste Erkrankung mit dem Virus in Deutschland nachgewiesen. Ein 33-jähriger Mann aus Bayern steckte sich nach Angaben der dortigen Behörden offenbar während eines Meetings an seinem Arbeitsplatz im Kreis Starnberg an, an dem auch eine Kollegin aus China teilgenommen hatte. Drei weitere Fälle sind inzwischen bestätigt, allesamt Mitarbeiter einer Starnberger Firma. Allen Betroffenen geht es den Angaben zufolge momentan gut. Sie werden am Klinikum München-Schwabing medizinisch überwacht und isoliert.

Spahn rief jedoch insgesamt zu Gelassenheit auf. Die Gefahr für die Gesundheit der Menschen in Deutschland durch die neue Atemwegserkrankung aus China sei nach derzeitiger Einschätzung gering. "Für übertriebene Sorge gibt es keinen Grund", sagte er.

Der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar H. Wiehler, sagte, mit steigender Zahl der Verdachtsfälle vor allem in China nehme die Zahl der schwerwiegenden Erkrankungen und Todesfälle relativ gesehen ab. "Die Schwere hat eher abgenommen", sagte er.

Verband rügt Stellenabbau bei Ärzten

Dagegen mahnte der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes mehr Personal an, um die Bevölkerungsschutz bei Epidemien zu gewährleisten. "In den vergangenen Monaten und Jahren wurde immer wieder deutlich, dass der Öffentliche Gesundheitsdienst in Krisensituationen an die Grenzen seiner Belastbarkeit stößt", sagte die Vorsitzende Ute Teichert. Sie verwies darauf, dass die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in den Gesundheitsämtern in den vergangenen 20 Jahren um rund ein Drittel zurückgegangen sei – die Folge eines stetigen Personalabbaus und nicht besetzter Stellen.

"Ohne zusätzliche Stellen in den Gesundheitsämtern ist der Öffentliche Gesundheitsdienst nicht in der Lage, seine wichtigen bevölkerungsmedizinischen Aufgaben zu bewältigen", mahnte Teichert: "Im Falle des neuen Coronavirus kann das erhebliche Auswirkungen auf die Eindämmung der Erkrankungsausbreitung und damit für die Bevölkerung haben."



Sucht

Betäubungsmittelgesetz blockiert "Drug Checking"




Drogen im Kriminaltechnischen Institut des LKA Berlin
epd-bild/Jürgen Blume
Experten sind überzeugt: Drug Checking, die chemische Untersuchung von illegalen Drogen, kann Konsumenten schützen. Noch ist das Verfahren in Deutschland gesetzlich verboten, aber es gibt Zeichen, dass das nicht auf Dauer so bleibt.

"Du kannst deine Substanz immer montags von 17.30 Uhr bis 20.30 Uhr oder nach telefonischer Vereinbarung in der Drogenarbeit Z6 abgeben. Eine vorherige Anmeldung ist nicht erforderlich. Bei deinem ersten Besuch findet ein vertrauliches Infogespräch statt." So wirbt die Drogenarbeit Z6 im österreichischen Innsbruck im Internet für ihr Angebot der Drogenuntersuchung (Drug Checking). Noch ist ein solcher Service, gefährliche Stoffe und Beimischungen aufspüren zu lassen, in Deutschland verboten. Doch in die Debatte kommt Bewegung - auch wenn die CDU zu Plänen der Legalisierung weiter auf Distanz bleibt.

Das ist auch der seit September im Amt weilenden Drogenbeauftragte Daniela Ludwig (CSU) zu verdanken. Sie war jüngst in Innsbruck bei Z6 zu Besuch und scheint vom Gesehenen beeindruckt zu sein. Denn jetzt will Ludwig prüfen lassen, ob und wie solche Präventionsangebote auch hierzulande erlaubt werden können.

Erstes Treffen der Beteiligten

Im Februar findet dazu auf ihre Einladung ein Treffen von möglichen Projektträgern und Initiativen der Suchtprävention in Berlin statt. Ziel sei es, so eine Sprecherin, einen gemeinsamen Weg zu finden, wie solche Angebote der Kommunen rechtssicher möglich seien. Noch wisse aber niemand, "wie dieser Prozess ausgeht".

Denn in Deutschland steht der Einführung des Drug Checkings das Betäubungsmittelgesetz im Weg. Danach dürfen Betäubungsmittel weder angebaut, hergestellt, eingeführt, vertrieben oder abgegeben werden. Und: Auch der Umgang mit Drogen zwecks chemischer Untersuchung von Substanzen wie Cannabis, Ecstasy oder Amphetamine ist untersagt.

Deshalb scheiterte auch ein erstes Projekt Mitte der 90er Jahre in Berlin. Dort hatte der Verein "Eve & Rave" Drug Checking in Technoclubs und auf Partys angeboten. Das Aus kam, nachdem gegen drei Mitglieder der Initiative wegen "unbefugten Umgangs mit Betäubungsmitteln" strafrechtlich ermittelt und ein Verfahren eingeleitet worden war.

Experten: Tests haben mehrere Vorteile

Für viele Experten liegen die Vorteile der Drogentests indes auf der Hand. In den staatlich überwachten Laboren ist es möglich, von Konsumenten abgegebene besonders gefährliche und unerwartete Stoffe und Beimischungen (Streckmittel), hohe Dosierungen sowie neu auf dem Markt erschienene Substanzen aufzudecken und schnell Warnungen zu veröffentlichen.

Peter Raiser, stellvertretender Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle Sucht, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Drug Checking kann dazu beitragen, dass Menschen, die illegale Drogen konsumieren, ihre zusätzlichen Gesundheitsrisiken, die durch Beimengungen oder Verunreinigungen entstehen, reduzieren können." Das gelte vor allem vor dem Hintergrund, dass damit Klienten erreicht würden, die nicht in die klassischen Suchtberatungen kommen.

Wie funktioniert das Projekt in Innsbruck? "Bei Pulver oder Kristallen wird eine kleine Menge (ca. 20 mg) für die Testung benötigt. Bei LSD benötigen wir einen ganzen 'Trip' oder einen Tropfen auf Löschpapier oder Zuckerwürfel", heißt es auf der Homepage. Die Tests übernehmen Mitarbeiter der örtlichen Rechtsmedizin.

Eigenen Konsum hinterfragen

Der Träger "Drogenarbeit Z6" ist überzeugt, eine wertvolle Hilfe anzubieten: Die Klienten müssten sich kritisch mit dem eigenen Konsum auseinandersetzen. Und im zwingend vorgeschriebenen Infogesprächs sei es möglich, sich selbstständig über Risiken und schützende Faktoren zu informieren.

Was in Deutschland noch nicht existiert, ist in Österreich, Spanien und den Niederlanden seit langem etabliert. Vorreiter war die Schweiz, wo dieses Beratungsangebot bereits seit 20 Jahren gesetzlich erlaubt ist.

Welches Ausmaß der Konsum von Partydrogen hat, zeigte eine Studie unter Clubbesuchern in Berlin im Jahr 2018. Mehr als die Hälfte (62,3 Prozent) der Befragten hatte nach eigenen Angaben im zurückliegenden Monat Cannabis konsumiert, die Hälfte Amphetamin (50,3) und Ecstasy (49,1). Es folgen Kokain und Ketamin bei rund einem Drittel (36 bzw. 32,2 Prozent). Befragt nach Präventionsangeboten wünschte sich die mit Abstand größte Gruppe (55 Prozent) mehr Beratung und Aufklärung.

Hessen fordert Gesetzesänderung

Auch der hessische Sozialminister Kai Klose (Grüne) will das Drug Checking einführen. "Das Ziel ist, Abhängigkeiten und gefährliche Konsumhandlungen zu verhindern sowie die Häufigkeit des Konsums solcher Substanzen zu reduzieren." Bisher seien Anträge der Hochschule Koblenz, die einen derartigen Versuch in Abstimmung mit dem Wiesbadener Sozialministerium starten wollte, mehrfach vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte abgelehnt worden.

Durch eine Änderung im Betäubungsmittelrecht könnte der Bund laut Klose den Ländern die Möglichkeit einräumen, die Voraussetzungen für die Genehmigung von Drug-Checking-Projekten per Rechtsverordnung zu regeln. Ein solches Vorgehen habe es bereits bei der Einrichtung von Räumen für den Drogenkonsum gegeben. "Drug Checking ist eine wichtige und sinnvolle Maßnahme der Gesundheitsvorsorge", sagt der Grünen-Politiker. Im Fokus stünden Konsumenten von Partydrogen.

Das sieht man auch in Thüringen so. In Erfurt soll das Modellprojekt "SubCheck" starten. Problem auch hier: "Bevor eine laborgestützte Analyse von Substanzen möglich ist, muss der rechtliche Rahmen abschließend geklärt werden und gesichert sein. Insbesondere bedarf es der Zustimmung des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte zu dem Vorhaben", heißt es in einer Antwort der Landesregierung auf eine Anfrage der CDU.

Berlin regelt letzte Details

In der Hauptstadt Berlin sind die Vorbereitungen des Drug Checkings weitgehend abgeschlossen. Dennoch kann auf Anfrage des epd ein Starttermin des Angebotes noch nicht genannt werden. "Um eine zügige Umsetzung zu realisieren, befinden wir uns jetzt in den letzten Detailabstimmungen mit den relevanten Stellen. Derzeit laufen vor allem Absprachen mit einem möglichen Testlabor", teilte Lena Högemann, Sprecherin des Gesundheitssenats, mit.

Konflikte mit dem Betäubungsmittelgesetz sehe man nicht. Högemann verweist auf ein Gutachten von Cornelius Nestler, Professor für Strafrecht an der Universität Köln. Der kam zu dem Schluss, dass das Berliner Konzept für das Drug Checking legal ist und sich die Mitarbeitenden der Einrichtungen des Drug Checkings nicht strafbar machen.

Mit dem Projekt ließen sich auch wissenschaftlich basierte Erkenntnisse über das Konsumverhalten und den Drogenmarkt gewinnen. "Wir gehen davon aus, Menschen zu erreichen, die von den bisherigen Drogenberatungsangeboten nicht erreicht werden." Berlin will handeln und das im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag vereinbarte Drug Checking möglichst zügig starten. "Wir haben für 2020/2021 Mittel im neuen Doppelhaushalt eingestellt", so die Sprecherin.

Der CDU-Gesundheitspolitiker Alexander Krauß bekräftigte dagegen die Ablehnung des Drug Checkings. "Aufgabe des Staates kann es nicht sein, strafbare Handlungen indirekt zu befördern", sagte Krauß. Erst recht nicht sei es die Aufgabe des Staates, dafür auch noch Steuergelder auszugeben. Dass der Staat für solche Tests bezahle sei eine hirnrissige Idee. "Es geht nicht darum, dass man sich möglichst gepflegt die Gesundheit ruiniert - es geht darum, dass man sich die Gesundheit überhaupt nicht ruiniert."

Dirk Baas


Flüchtlingskinder

Bayerns Großstädte machen Druck auf Seehofer



Nürnberg, Würzburg, München: Mehrere bayerische Großstädte würden gerne wenigstens Kinder aus den unerträglichen Zuständen befreien, die in den griechischen Flüchtlingslagern herrschen. Auch mehrere andere Bundesländer und Sozialverbände wollen Kinder aufnehmen. Doch das Bundesinnenministerium mauert bislang.

Mehrere Großstädte in Bayern würden noch in diesem Winter Kinder und Jugendliche aus den griechischen Flüchtlingslagern aufnehmen. Sie fordern vom Bundesinnenministerium eine rasche Klärung der Rahmenbedingungen, wie eine Umfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) ergab.

Das Ministerium hatte einen für 28. Januar angesetzten Gesprächstermin mit Vertretern des Bündnisses "Seebrücke - Städte sicherer Häfen" aufs Frühjahr verschoben - "aus organisatorischen Gründen", wie das Ministerium auf Anfrage sagte.

Die Städte Würzburg und Nürnberg haben grundsätzlich ihre Bereitschaft erklärt, minderjährige Geflüchtete akut von den griechischen Inseln aufzunehmen. Es gehe darum, "in dieser außerordentlichen Notsituation zu helfen und ein humanitäres Zeichen zu setzen", sagte die Würzburger Sozialreferentin Hülya Düber (parteilos). Auch Nürnberg sei "grundsätzlich bereit, humanitäre Hilfe insbesondere für unbegleitete junge Flüchtlinge im Rahmen der Jugendhilfe zu leisten", sagte der dortige Sozialreferent Reiner Prölß (SPD).

München prüft Aufnahmeplätze

In München entwirft das Sozialreferat derzeit eine Stadtratsvorlage, um die Bereitschaft zur Aufnahme beschließen zu lassen. Nach epd-Informationen könnten die freien Träger der Jugendhilfe - darunter die Innere Mission München - in ihren Einrichtungen etwa 100 Plätze zur Verfügung stellen. Das Sozialreferat begrüße dieses Angebot und prüfe aktuell die städtischen Kapazitäten, sagte Sozialreferentin Dorothee Schiwy (SPD).

Wichtig sei jetzt aber vor allem, "wie sich das Bundesinnenministerium in dieser Frage positioniert", so Schiwy. Prinzipiell muss das Ministerium grünes Licht geben, damit Kommunen tatsächlich junge Geflüchtete aufnehmen könnten und die Finanzierung gesichert wäre. Schiwy sagte, sie fände es "höchst problematisch", wenn sich Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) in dieser Frage aus der Verantwortung ziehe.

Ihrem Nürnberger Amtskollegen Prölß zufolge leben in den Lagern geschätzt 4.000 Kinder und Jugendliche ohne Angehörige. Die Auswahl müsste durch das UN-Flüchtlingshilfswerk oder eine anerkannte Organisation laufen. Die EU und die Bundesrepublik seien "dringend gefordert, Hilfsprogramme aufzulegen", sagte er. Als erstes müsse Seehofer die Bereitschaft dazu erklären. Auch aus Würzburg hieß es, zunächst bedürfe es "der Klärung der notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen".

Seebrücke will Bundesrat aktivieren

Das Treffen soll laut Innenministerium noch im ersten Quartal 2020 stattfinden. Auf Ebene der EU-Kommission bestehe "Einigkeit, dass es eines gemeinsamen europäischen Ansatzes zur Verbesserung der Situation der unbegleiteten Minderjährigen bedarf", so ein Sprecher. Er verwies darauf, dass die griechischen Lager aktuell mit Hilfsgütern versorgt würden.

Nach epd-Informationen versucht die "Seebrücke"-Initiative aktuell, über den Bundespräsidenten und den Bundesrat möglicherweise eine schnellere Lösung herbeizuführen. Unterdessen haben auch mehrere Verbände den Innenminister aufgefordert, eine Aufnahme zuzulassen - darunter das Landeskomitee der Katholiken in Bayern, der bayerische Flüchtlingsrat und Pro Asyl.

Augsburg hingegen hat eine Beteiligung an der Seebrücke-Initiative 2018 abgelehnt. "Auch die Aufnahme zusätzlicher Flüchtlinge allein auf kommunaler Ebene" aus griechischen Lagern sei nicht geplant, teilte Bürgermeister Stefan Kiefer (SPD) mit. Dies würde "eine ganze Reihe ungeklärter Fragen und sozialpolitischer Diskussionen in einer finanzschwachen Stadt aufwerfen". Eine bundesweite Umverteilung deutscher Flüchtlingskontingente würde Augsburg selbstverständlich wie bisher mittragen.

Mehrere Lände aufnahmebereit

Auch aus anderen Bundesländern, wie etwa Baden-Württemberg, Thüringen und Berlin gibt es die erklärte Bereitschaft, Kinder aufzunehmen. So will etwa Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) trotz der Ablehnung durch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) weiter an seinen Plänen festhalten, Flüchtlingskinder aus Griechenland nach Deutschland zu holen.

"Wir sind da definitiv noch dran, auch wenn viele sagen, man könne nicht allen helfen", sagte Pistorius am 27. Januar der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung". Es gehe "lediglich um ein paar Kinder". Allerdings sei ein niedersächsisches Landesaufnahmeprogramm aufgrund der ablehnenden Haltung des Bundesinnenministeriums nicht möglich.

Berlin ist ebenfalls für die Aufnahme

Berlin wolle 70 Kinder aufnehmen, sagte Bürgermeister Michael Müller (SPD). Er erinnerte jüngst daran, dass Berlin Mitglied im Städteverbund "Sichere Häfen" sei. Die Initiative setzt sich für die Aufnahme von Bootsmigranten in Deutschland ein. "Dazu stehen wir und sind bereit, zu helfen. Das gilt insbesondere für jene, die ohne ihre Eltern auf der Flucht und daher ganz besonders schutzbedürftig sind."

Die Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege München (ARGE) kritisierte die Ablehnung des Bundestags, minderjährige Flüchtlinge aus Griechenland aus humanitären Erwägungen in Deutschland aufzunehmen. Mehr als 120 Kommunen hatten sich im Bündnis "Sichere Häfen" bereiterklärt, besonders schutzbedürftige geflüchtete Kinder und Jugendliche aufzunehmen.

Andrea Betz, Sprecherin der Münchner Wohlfahrtsverbände: "Vor dem Elend, das in Griechenland passiert, dürfen auch wir in München nicht die Augen verschließen." "Kinder haben ein elementares Recht auf Gesundheit, Fürsorge, Bildung und Schutz vor Gewalt." Dies alles erfolge in den griechischen Lagern nicht oder nur höchst unzureichend. Sie begrüßte es, dass München als Mitglied im Bündnis "Sichere Häfen" sich bereit erklärt hat, unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen.

Christine Ulrich


Flüchtlinge

Mehrzahl der Anträge auf Familiennachzug aus Griechenland scheitern



Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hat im vorigen Jahr den Großteil der Anträge auf Familiennachzug von Flüchtlingen aus Griechenland abgelehnt. Zwischen Juni und Dezember 2019 wurden von 747 Anträgen 539 negativ beschieden, wie aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Frage der Linken-Politikerin Gökay Akbulut hervorgeht, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt.

Die Ablehnungsquote lag demnach bei 72 Prozent. Auch in der ersten Jahreshälfte 2019 lehnte das Bamf 75 Prozent der Anträge ab. 2018 hatte das Amt noch 59 Prozent der Aufnahmeersuchen zurückgewiesen.

Recht auf Leben in der Familie betont

"Für die betroffenen Familien ist die lange Trennung von ihren Angehörigen eine extreme Belastung", erklärte die Bundestagsabgeordnete Akbulut. Die Situation in den Hotspots verschlechtere sich zunehmend. "Menschen hausen oft in Zelten und das bei Temperaturen nahe des Gefrierpunkts." Sie betonte, die Menschen hätten ein Recht bei ihrer Familie zu sein. Als Grund für Ablehnungen nannte Akbulut unangemessen hohe Anforderungen an den Nachweis von Familienbindungen.

Nach der sogenannten Dublin-Verordnung der Europäischen Union kann ein Mitgliedstaat einen Antrag auf Übernahme des Asylverfahrens stellen, wenn der Flüchtling Angehörige in dem jeweils anderen EU-Staat hat. Der Zusammenhalt der Familien und das Kindswohl genießen im EU-Asylrecht besonderen Schutz.



Berlin

Bundeshauptstadt bekommt ersten deutschlandweiten Mietendeckel



Nach monatelangen Diskussionen hat das Land Berlin einen Mietenstopp beschlossen. Damit werden die Mieten für die nächsten fünf Jahre eingefroren. Das könnte auch bundesweit ein Signal gegen stark steigende Mieten sein.

Das Berliner Abgeordnetenhaus hat einen bundesweit einmaligen Mietendeckel beschlossen. Das Gesetz wurde am 30. Januar mit 85 Ja-Stimmen, 64 Nein-Stimmen und einer Enthaltung angenommen. Berlin will damit den Anstieg der Mieten in den nächsten fünf Jahren begrenzen. Insgesamt sollen 1,5 Millionen Wohnungen in der Bundeshauptstadt davon profitieren.

Vorausgegangen war eine monatelange teils heftig geführte Kontroverse um den Mietendeckel. Das Vorhaben wird bundesweit und international mit Interesse verfolgt. Vertreter von Opposition und die Wohnungsindustrie hatten den Mietendeckel im Vorfeld scharf kritisiert und Klagen beim Bundesverfassungsgericht angekündigt.

Gesetz gilt rückwirkend

Der Berliner Mietendeckel tritt nach der Verkündung des Gesetzes rückwirkend zum Stichtag 18. Juni 2019 in Kraft. Danach erfolgte Mieterhöhungen werden unwirksam. Die Mieten werden für fünf Jahre eingefroren. Zudem gelten künftig je nach Baujahr und Ausstattung der Wohnung bestimmte Mietobergrenzen. Überhöhte Mieten müssen in den kommenden Monaten auf das jeweils zulässige Mietniveau abgesenkt werden können. Verstöße dagegen können mit bis zu 500.000 Euro bestraft werden, betonte Bausenatorin Katrin Lompscher (Linke).

Das Gesetz sieht allerdings auch mehrere Ausnahmen vor. So dürfen Mieten, die unterhalb von den im Gesetz genannten Obergrenzen bleiben, ab 2022 moderat anziehen. Vorgesehen ist dann ein Anstieg um die jährliche Inflationsrate, maximal jedoch um 1,3 Prozent pro Jahr.

Paradigmenwechsel wird vollzogen

In der lebhaften Debatte im Berliner Abgeordnetenhaus räumte die Bausenatorin ein, dass Berlin mit den Gesetz zur Mietenbegrenzung einen Paradigmenwechsel vollziehe. "Berlin macht Ernst im Kampf gegen rasant steigende Mieten", so Lompscher. Der Mietendeckel sei eine "Atempause" für die Mieterinnen und Mieter der Stadt. Zudem solle damit der soziale Zusammenhalt gestärkt werden.

Lompschers Parteikollege Harald Wolf nannten den Mietendeckel ein "klares Stoppsignal gegen die Mietpreisexplosionen in dieser Stadt". Wohnen sei ein menschliches Grundbedürfnis und dürfe kein "Objekt maßloser Profitmaximierung sein".

Die wohnungspolitische Sprecherin der SPD, Iris Spranger, betonte, der Mietendeckel komme drei Millionen Mietern in Berlin zugute. Katrin Schmidberger, wohnungspolitische Sprecherin der Grünen verwies darauf, dass steigende oder unbezahlbare Mieten ein zentrales Problem für Menschen weltweit seien. Auch deshalb werde der Berliner Mietendeckel von Metropolen auch in anderen Ländern aufmerksam verfolgt. Zugleich räumte Spranger ein, dass mit dem Mietenstopp "juristische Neuland" betreten werde.

Klage angekündigt

Vertreter der Opposition kündigten unterdessen erneut Klagen gegen den Mietendeckel an. Burkard Dregger (CDU) betonte: "Das Gesetz ist verfassungswidrig". Die CDU wolle mit einer Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht eine schnelle Entscheidung erwirken.

Der baupolitische Sprecher der AfD, Harald Laatsch, kritisierte eine "sozialistische Politik" von Rot-Rot-Grün. Der Mietendeckel sei "wahrscheinlich grundgesetzwidrig". Sebastian Czaja (FDP) sprach vom "größten Tabubruch der jüngsten Geschichte". Ebenso wie die Mietpreisbremse werde der Mietendeckel nicht funktionieren, so der FDP-Politiker.

Christine Xuân Müller


Bayern

Landkreise: Reform der Notfallversorgung ist "Katastrophe"



Die vom Bundesgesundheitsministerium geplante Reform der Notfallversorgung wird von den bayerischen Landkreisen und Krankenhaus-Trägern abgelehnt. Es sei zu befürchten, dass Patienten in Notsituationen deutlich längere Wege in Kauf nehmen müssten, warnte der Günzburger Landrat Hubert Hafner (CSU) am 23. Januar in München. Zugleich könnten Kliniken in ihrer Existenz bedroht werden.

Hafner, der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses beim Bayerischen Landkreistag, sprach von einer drohenden "Katastrophe" für die Notfallversorgung auf dem Land.

Plan "total misslungen"

Kritik übte auch der Geschäftsführer der Bayerischen Krankenhausgesellschaft, Siegfried Hasenbein. Der Entwurf aus dem Hause von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sei "total misslungen" - inakzeptabel sei unter anderem der Vorschlag, geplante "Integrierte Notfallzentren" (INZ) unter die fachliche Leitung der Kassenärztlichen Vereinigung zu stellen.

Gleiches gelte für den Plan, die Vergütung von ambulanten Notfallbehandlungen für nicht mit einem INZ ausgestattete Krankenhäuser zu halbieren. Des Weiteren werde die staatliche Krankenhaus-Planung "ausgehöhlt", warnte Hasenbein.

Hintergrund der Debatte ist ein am 10. Januar vorgelegter Referentenentwurf für ein Gesetz zur Reform der Notfallversorgung. Dieser sieht unter anderem die Einrichtung von INZ anstelle von Notfallambulanzen in "ausgewählten Krankenhäusern" vor. Über die Standorte entscheiden sollen Kassen, Kassenärztliche Vereinigung und Landeskrankenhausgesellschaften. Der Bayerische Landkreistag geht derzeit davon aus, dass etwa 80 INZ im Freistaat entstehen könnten - damit werde nicht einmal jeder Landkreis ein solches Zentrum erhalten, hieß es.



Baden-Württemberg

Projekt schützt ältere Strafgefangene vor "Entlassungsloch"



In einem bundesweit einmaligen Projekt hilft das Land Baden-Württemberg seit 2018 älteren Strafgefangenen nach ihrer Entlassung. Die Erfahrungen seien sehr positiv, sagte Justizminister Guido Wolf (CDU) am 24. Januar in Stuttgart in einer ersten Bilanz. In den vergangenen 22 Monaten habe man 80 Betreuungsfälle bearbeitet.

Generalstaatsanwalt Achim Brauneisen, Sprecher des Netzwerks Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg, sagte, keine Gruppe falle in ein "so tiefes Entlassungsloch" wie ältere Gefangene. Sie seien oft lange von der Außenwelt abgeschnitten gewesen, gesellschaftliche Veränderungen wie die Digitalisierung seien an ihnen vorbeigegangen, Behörden seien ihnen fremd. Außerdem litten überdurchschnittlich viele an Krankheiten, Behinderungen, Sucht, Depressionen oder hätten noch Schulden. Sie bräuchten zum Start in die Freiheit Unterstützung.

Von den 80 im Projekt Betreuten seien 45 bereits entlassen, die Mehrheit in bedarfsgerechte Wohnungen, sagte Brauneisen. Es handele sich ausschließlich um Männer. Inzwischen seien 300.000 Euro für das Projekt ausgegeben worden, pro Fall seien das rund 3.750 Euro.

Das Netzwerk Straffälligenhilfe betreibt an den fünf Standorten Böblingen, Karlsruhe, Ludwigsburg, Offenburg und Stuttgart Koordinierungsstellen für die Betroffenen. Finanziert wird das vom Verein "Projekt Chance" getragene Angebot über die Baden-Württemberg-Stiftung (500.000 Euro) und die Lechler-Stiftung (120.000 Euro).



Bayern

235.000 Euro für Integrationsprojekt für Jugendliche



Das bayerische Jugend-Integrationsprojekt "ReThink" für Jugendliche mit Migrations- oder Fluchthintergrund erhält für seine Arbeit in diesem Jahr aus verschiedenen staatlichen Finanzierungstöpfen insgesamt 235.000 Euro. 140.000 Euro kommen dabei aus dem Innenministerium, teilte das Ministerium am 27. Januar mit.

"Rethink" solle Jugendliche dabei unterstützen, "ihr Weltbild kritisch zu hinterfragen". Für eine erfolgreiche Integration müssten Vorurteile und falsche Denkmuster gezielt durchbrochen werden, sagte Innenminister Joachim Herrmann. Als Beispiele nannte er die Gleichberechtigung von Mann und Frau und "die glasklare Absage an jede Form von Antisemitismus".

Herrmann erklärte, Jugendliche sollten im Rahmen des Projekts durch Rollenspiele "die eigene kulturelle und gesellschaftliche Prägung reflektieren". Teams mit Migrationshintergrund würden die Treffen begleiten. Die Workshop-Leiter sollten mit ihrer eigenen Biografie und Persönlichkeit Vorbilder sein. Pro Jahr würden etwa 25 Workshops mit rund 700 Teilnehmern stattfinden. Das Sozialministerium stelle weitere 30.000 Euro aus Mitteln der Radikalisierungsprävention zur Verfügung, hieß es weiter.



Rheinland-Pfalz

Vertrauliche Hilfen für vergewaltigte Frauen werden ausgeweitet



In Rheinland-Pfalz wollen künftig mehr Kliniken und Ärzte Frauen und Mädchen einer Vergewaltigung eine vertrauliche Betreuung und Spurensicherung anbieten. Ein Modellprojekt in Zusammenarbeit mit den Frauennotrufen in Mainz und Worms sei vor einigen Tagen in Trier gestartet worden und werde im April auch auf Koblenz ausgeweitet, erklärte Frauenministerin Anne Spiegel (Grüne) am 30. Januar in der Fragestunde des rheinland-pfälzischen Landtags: "Ich bin mir sicher, dass weitere Standorte folgen werden."

Nach einer Vergewaltigung können Frauen und Mädchen in den beteiligten Kliniken eine umfassende medizinische und psychologische Behandlung auf Wunsch auch anonym erhalten. Davon hätten seit dem Start des Projekts in Mainz und Worms bereits 50 Frauen Gebrauch gemacht. Nach 20 Fällen im Jahr 2018 hätten sich 2019 bereits 30 Frauen gemeldet.

Spurensicherung wird genutzt

Rund die Hälfte habe auch einer vertraulichen Spurensicherung zugestimmt, die nach einem standardisierten gerichtsfesten Verfahren stattfindet. Die beteiligten Ärzte werden eigens für derartige Fälle geschult. Das Land finanziert das Modellprojekt, das es in ähnlicher Weise auch in anderen Bundesländern gibt.

Die offizielle Kriminalstatistik verzeichnet für Rheinland-Pfalz im Jahr 2018 insgesamt 474 angezeigte Fälle von Vergewaltigung und über 8.400 Fälle von Gewalt im engen persönlichen Umfeld. Zahlen für das vergangene Jahr liegen noch nicht vor.




sozial-Branche

Armut

Erste deutsche Obdachlosenzählung in Berlin




Die Zählung soll erstmals Klarheit schaffen, wie viele obdachlose Menschen auf Berlins Straßen unterwegs sind.
epd-bild/Rolf Zöllner
Rund 3.700 Freiwillige haben in der Nacht zum 30. Januar Obdachlose auf den Berliner Straßen gezählt. Die Helfer in blauen Westen durchstreiften im Auftrag des Senats für drei Stunden die zwölf Bezirke, um die Menschen zu zählen und zu befragen.

Tag für Tag saß der Mann stumm im Vorraum der Berliner Postfiliale und beobachtete das geschäftige Treiben an den Geldautomaten. Auf der Sitzfläche seines Rollators lag seine umgedrehte Mütze. Hin und wieder legte einer der Postkunden eine Münze hinein. Dann nickte der Mann und sagte ein leises "Danke".

Wenn die Nacht einbrach, streckte er sich auf einem der breiten Fensterbretter über den Heizkörpern aus. Er sei in Kroatien geboren und in den 1970er Jahren nach Deutschland gekommen, erzählte er einmal. Auf der Straße lebe er seit zehn Jahren.

Später wurden es dann immer mehr Menschen, mit denen er sich den Platz in dem beheizten Vorraum nachts teilen musste. Zuletzt lagen bis zu acht Menschen zwischen den Geldautomaten, es roch ungewaschen und nach Bier, aus einer kleinen Box plärrten polnische Schlager.

Post in der Kritik

Die Postfiliale reagierte und sperrte den Vorraum nachts ab. Die nächtlichen Gäste verschwanden und mit ihnen auch der Mann mit dem Rollator. Viele Kunden hätten sich beschwert, sagte eine Postangestellte: "Bei einem konnten wir hinwegsehen, aber zuletzt wurden es gefühlt immer mehr."

Die Zahl der Obdachlosen in Berlin hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen, soviel ist sicher. Menschen, die unter Brücken, in Parks und vor Hauseingängen schlafen, gehören längst zum Stadtbild. Nicht sicher ist bislang, wie viele es sind. Schätzungen gehen von 6.000 bis 10.000 Obdachlosen aus, die auf den Berliner Straßen leben.

Um Klarheit zu bekommen, hat Berlin nun die bundesweit erste Obdachlosenzählung durchgeführt. Vorbilder gibt es unter anderem in New York und Paris. Nach fünfmonatiger Vorbereitungszeit in der Senatssozialverwaltung zogen in der Nacht zu Donnerstag mehr als 3.700 freiwillige Helfer, bekleidet in blauen Westen, in mehr als 600 Teams zwischen 22 und ein Uhr durch die Stadt, um Obdachlose zu zählen und zu befragen. Die Fragebögen in acht Sprachen thematisierten zum Beispiel, wie lange die Menschen auf der Straße leben und aus welchen Ländern sie kommen. Die Beantwortung war freiwillig. Wer nicht antworten wollte, wurde nur gezählt.

Wegschauen durchbrechen

"Mit dem Zählen wollen wir das angestrengte Wegschauen bei Obdachlosen durchbrechen, und wir verlassen den Raum der groben und weit auseinandergehenden Schätzungen", sagte die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) zum Auftakt am Mittwochabend. Von den konkreten Zahlen aus der "Nacht der Solidarität", so der Name der Aktion, erhoffen sich Sozialverwaltung und Sozialverbände, die Hilfsangebote für wohnungslose und auf der Straße lebende Menschen verbessern zu können.

Die Zählteams durchstreiften auf festgelegten Routen und Karrees die zwölf Berliner Bezirke. Jedes Team hatte einen eigens geschulten Leiter, der vorab Instruktionen gab, wie vorzugehen ist. "Begegnen sie bitte den Menschen mit Respekt", hieß es da. Auch ein auf der Straße lebender Mensch habe eine Recht auf Achtung seiner Privatsphäre. Bitte auch keinen körperlichen Kontakt, wenn das nicht gewünscht werde. "Und verzichten Sie auf individuelle Beratung der Menschen. In dieser Nacht geht es nur ums Zählen."

An den sogenannten Hotspots von Obdachlosen wie dem Bahnhof Zoo und Bahnhof Lichtenberg, der Rummelsburger Bucht oder dem Kottbuser Tor wurden die Zählteams durch Straßensozialarbeiter verstärkt. "Damit wollen wir möglichen Eskalationen vorbeugen", sagte Klaus-Peter Licht, Referent für Bürgerschaftliches Engagement in der Sozialverwaltung und Koordinator der "Nacht der Solidarität".

Valide Daten fehlen seit Jahrzehnten

Wissenschaftlich ausgewertet werden die Zahlen unter anderem an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin unter Leitung der Armutsforscherin Susanne Gerull. Valide Daten zur Wohnungslosigkeit fordern Wohlfahrtsverbände und Wissenschaft von der Politik schon seit Jahrzehnten. Deshalb dürfe die Zählung auch kein einmaliges Ereignis bleiben, sagte die Professorin für die Soziale Arbeit. Ihr schweben regelmäßige Zählungen im Winter und im Sommer vor.

Zudem müssten bei weiteren Erhebungen auch diejenigen Menschen erfasst werden, die wohnungslos sind, aber nicht auf der Straße leben. "Aus Daten müssen dann Taten werden", sagte Gerull. Die Ergebnisse der ersten Zählung werden am 7. Februar bekanntgegeben.

Markus Geiler


Gedenktage

Diakonie: Für jeden ermordeten Menschen eine Figur




Teil der Kunstinstallation mit 330 Tonfiguren
epd-bild/Diakonie Stetten
330 erdfarbene Tonfiguren symbolisieren in der Diakonie Stetten die 330 Menschen mit Behinderung, die aus ihrer Einrichtung Remstal in Grafeneck ermordet wurden - ein Projekt zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar. Auch andere Sozialverbände gedachten der Opfer und mahnten Wachsamkeit gegen Rechtsradikalismus und Judenfeindlichkeit an.

In Grafeneck auf der Schwäbischen Alb ermordeten die Nazis 10.654 Menschen. Den Opfern gedachte am 27. Januar auch die Diakonie Stetten. Auch 330 Menschen mit Behinderung aus der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Stetten wurden in den "Grauen Bussen" nach Grafeneck deportiert und in der Gaskammer umgebracht. Der sogenannten Aktion T4 fielen über 70.000 Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen zum Opfer, den Krankenmorden europaweit über 200.000 Menschen. Darüber hinaus wurden ungefähr 400.000 Menschen zwangssterilisiert.

"Der Holocaust-Gedenktag ist für die Diakonie Stetten einmal mehr Anlass, um an die Euthanasie-Opfer der damaligen Anstalt Stetten zu erinnern und ihrer zu gedenken", betonten die Verantwortlichen in Stetten. Im Foyer des Wildermuthsaals in Stetten steht jetzt eine Kunstinstallation mit 330 Tonfiguren des Künstlers Jochen Meyder.

Eine Figur für jedes Opfer

Jede einzelne der erdfarbenen Tonfiguren erinnert an einen Bewohner oder eine Bewohnerin aus der Anstalt Stetten. Jede Figur ist ein Teil des Kunstprojekts mit insgesamt 10.654 Tonfiguren, die symbolisch für die in Grafeneck ermordeten Menschen stehen und in der dortigen Gedenkstätte ausgestellt sind.

Meyders Idee war, dass Besucher der Gedenkstätte Grafeneck die Figuren nach Hause mitnehmen und die Opfer dadurch über die Zeit "symbolisch wieder der Welt zurückgegeben werden". Im Rahmen einer Fortbildung waren Bewohnerinnen und Bewohner der Diakonie Stetten in der Gedenkstätte und waren dort auf die Tonfiguren aufmerksam geworden. Die Kunstinstallation ist jetzt in Stetten frei zugänglich und kann tagsüber von Montag bis Sonntag besichtigt werden.

Morde begannen 1940

In Grafeneck begann im Januar 1940 der systematische Mord an Menschen mit Behinderung. Die Diakonie Stetten, die nach dem Mord an ihren Bewohnern geschlossen wurde, erinnert heute auf unterschiedliche Weise an diese dunklen Jahre: Jährlich am Ewigkeitssonntag Ende November findet ein Gebet am "Stein des Gedenkens" statt, auf dem die Namen der Opfer eingraviert sind.

Pfarrer Rainer Hinzen, Vorstand der Diakonie Stetten, sagte: "80 Jahre nach den Euthanasie-Morden und 75 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz gibt es nur noch wenige Zeitzeugen, die von den schrecklichen Ereignissen aus eigener Erfahrung berichten können. Umso wichtiger sind Anlässe wie die Gedenkstunde, um die Erinnerung an das Geschehene wachzuhalten." Zudem sei es wichtig, "jeglichen Bestrebungen, die Würde und das Lebensrecht von Menschen infrage zu stellen, frühzeitig entgegenzutreten".

AWO mahnt Wachsamkeit an

Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) erinnerte am 27. Januar im ehemaligen KZ Sachsenhausen mit einer Kranzniederlegung an die Opfer der NS-Herrschaft. "Wir gedenken der millionenfach Verfolgten und Ermordeten. Dieser Tag ist aber auch in jedem Jahr wieder eine Mahnung an Politik und Gesellschaft, wachsam zu bleiben", sagte Wolfgang Stadler, der Vorstandsvorsitzende des AWO Bundesverbandes.

Die Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, Verena Bentele, sprach in Berlin am Gedenk- und Informationsort der "Euthanasie"-Morde: "Ablehnung, Vorurteile, Verächtlichmachung und Ausgrenzung waren die Grundlage für Verfolgung und Gräueltaten, wie sie im Nationalsozialismus geschehen konnte."Mit dem Gedenken wolle der Deutsche Behindertenrat ein Zeichen für Respekt und Toleranz setzen und mahnen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.

Lilie: Jüdisches Leben ist ein Glücksfall

Vertreter von Kirchen und Diakonie erinnerten am 26. Januar an die Opfer des Holocaust und warnten vor Antisemitismus. "Es ist unerträglich und nicht hinzunehmen, dass Antisemitismus in unserer Gesellschaft zunimmt", erklärte Diakonie-Präsident Ulrich Lilie in Berlin. Der Theologe rief dazu auf, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten und jede Form von Antisemitismus zurückweisen: "Das jüdische Leben in Deutschland ist für uns alle ein Glücksfall. Wir müssen es stärken und unsere Solidarität gerade in diesen Zeiten ganz besonders leben."

Für den Paritätischen Wohlfahrtsverband Niedersachsen sagte Vorsitzende Birgit Eckhardt, alle Bürger seien gefragt, "damit Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassimus nicht wieder salonfähig werden in Deutschland". Es sei Zeit zu handeln.

Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, warnte vor zunehmende Behindertenfeindlichkeit. Menschen mit Behinderungen seien auch heute tagtäglich Diskriminierungen ausgesetzt. Nicht selten würde Menschen mit Behinderungen die Kompetenz oder sogar die Berechtigung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben abgesprochen. "Der bittere Befund auch 75 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ist: Leider sind viele immer noch nicht frei davon, vermeintliche Minderheiten ungleich zu behandeln oder abzuwerten", betonte Dusel am 26. Januar in Berlin.

Susanne Müller, Markus Jantzer


Engagement

Gastbeitrag

Lasst uns alle Gutmenschen sein




Claudia Beck
epd-bild/Anke Jacob
Claudia Beck, ehemalige Pressesprecherin der Caritas, setzt sich in ihrem Gastbeitrag mit dem Begriff "Gutmensch" auseinander. Der prägt die aktuelle Jahreskampagne des katholischen Wohlfahrtsverbandes. 2015 noch als Unwort des Jahres diffamiert, steht er heute bei der Caritas für Solidarität und Zusammenhalt in der Gesellschaft.

2015 wurde "Gutmensch" zum Unwort des Jahres gekürt. Eine Jury aus vier Sprachwissenschaftlern und einem Journalisten erinnerte in der Begründung daran, dass das Wort schon seit langem verwendet würde, doch "im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsthema besonders prominent geworden war". 2011 war "Gutmensch" auf Platz zwei gelandet.

In der Begründung führte die Jury aus: "Mit dem Vorwurf 'Gutmensch', 'Gutbürger' oder 'Gutmenschentum' werden Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm oder weltfremdes Helfersyndrom diffamiert. Der Ausdruck 'Gutmensch' floriert dabei nicht mehr nur im rechtspopulistischen Lager als Kampfbegriff, sondern wird hier und dort auch schon von Journalisten in Leitmedien benutzt. Die Verwendung dieses Ausdrucks verhindert somit einen demokratischen Austausch von Sachargumenten."

Die Jury geht davon aus, dass Unwörter im Gebrauch entstehen: "Sprachliche Ausdrücke werden dadurch zu Unwörtern, dass sie von Sprechern entweder gedankenlos oder mit kritikwürdigen Intentionen verwendet werden, und dies im öffentlichen Kontext … Die Kritik an ihnen ist Ausdruck der Hoffnung auf mehr Verantwortung im sprachlichen Handeln", heißt es auf der Homepage.

Das Unwort des Jahres wird auf Grundlage der Einsendungen von Bürgerinnen und Bürgern gewählt. 64 Personen hatten "Gutmensch" eingesendet, das am dritthäufigsten vorgeschlagene Wort im Jahr 2015. Diese Menschen waren offensichtlich nicht einverstanden mit der Verwendung dieses diffamierenden Begriffs.

Gemeinwesen lebt vom Engagement

Jedes Gemeinwesen lebt (auch) von Menschen, die bereit sind, sich zu engagieren, sich für andere einzusetzen und zu helfen, wo Hilfe ­benötigt wird. Dieses gute Verhalten durch den Begriff "Gutmensch" herabzusetzen und verächtlich machen zu wollen ist nicht akzeptabel.

Genau hier setzt die Kampagne der Caritas an. Mit der Aufforderung "Sei gut, Mensch!" lädt sie ein, aktiv zu werden. Das heißt, Menschen beizustehen, ganz konkret und auch politisch, die Unterstützung brauchen. Und sich entschieden gegen Herabsetzung und Diffamierung "guten Handelns" zu wehren.

Ganz wichtig ist es, dass es nicht um den moralischen Zeigefinger geht. Es geht vielmehr darum, ins Bewusstsein zu rufen und daran zu erinnern, dass wir alle in der Verantwortung stehen für ein gelingendes Miteinander. Jede und jeder muss etwas tun.

Wir erleben aktuell eine Zeit heftiger Umbrüche. Digitalisierung und Globalisierung verändern gravierend die Arbeits- und Lebenswelt vieler Menschen. Verstärkt werden die Veränderungsprozesse durch Zuwanderung und Migration.

Angst, vergessen oder "überollt" zu werden

Das alles führt dazu, dass sich viele Menschen verunsichert und orientierungslos fühlen. Sie ringen um den eigenen Platz in der Gesellschaft oder sie haben Angst vor dem sozialen Abstieg. Sorgen und Unsicherheit führen dazu, dass die Bereitschaft zu Toleranz abnimmt und die Befürchtungen wachsen, vergessen oder gar "überrollt" zu werden.

Für viele Menschen liegt die Lösung darin, sich abzugrenzen von anderen, sich skeptisch und ablehnend gegenüber Vielfalt zu zeigen und sich auf das Bekannte und Vertraute zu beschränken. Das fördert den Zusammenhalt in einer Gesellschaft nicht. So entstehen Abschottung, Abwertung, Risse im sozialen Gefüge.

Am sichtbarsten und zunehmend kritisch wahrgenommen findet sich diese Entwicklung in den sozialen Medien. Wenn Menschen nur noch die Nachrichten lesen (können), die ihnen die Algorithmen von Facebook und Co. anbieten und die das jeweilige Weltbild entsprechend verfestigen. "Die wechselseitige Abgrenzung auf diesen Plattformen passiert nahezu automatisch durch die dahinterliegenden Algorithmen … Unmerklich zurrt der Zentralrechner die Scheuklappen immer enger", heißt es in einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 2018.

Scheuklappen sind nicht hilfreich, um Vielfalt wahrzunehmen, Unterschiedlichkeit auszuhalten, den Konsens zu suchen. In einer diversen Welt, in der unterschiedliche Milieus, Kulturen, Nationen und Religionen es notwendig machen, sich in konstruktiver Weise auseinanderzusetzen und nach Konsens zu suchen, sind Toleranz und Respekt wichtig. Und ein fast altmodisch anmutender Begriff erfährt seine Renaissance: Solidarität.

Bude: Grundmodus ist das Teilen

Der Soziologe Heinz Bude sieht einen Unterschied zwischen Empathie und Solidarität: "Wer empathisch ist und jemanden versteht, muss noch lange nicht solidarisch sein." Solidarität ist für ihn ein "Modell der Symmetrie", zu dem gehört, dass man das eigene Verhalten an das Verständnis seines Selbst bindet: "Zu ihrem Selbstverständnis gehört, in bestimmten Lagen zu teilen. Der Grundmodus ist nicht das Geben, sondern das Teilen."

Hier setzt die Caritas-Kampagne „Sei gut, Mensch!“ an. Sie fordert zu solidarischem Verhalten mit Menschen in Not auf. Diese Solidarität kann sichtbar werden in konkretem Handeln, in konkreter Hilfe und sie kann sichtbar werden in politischer Aktion und politischen Forderungen.

Der Verweis auf das Leitbild des Deutschen Caritasverbandes bietet sich an. Hier ist zu lesen: Der Deutsche Caritasverband "setzt sich für Menschen ein, die am Rande der Gesellschaft leben, die öffentlich keine Stimme haben und die sich nicht selbst helfen können. Er verschafft ihren Nöten und Anliegen Gehör und unterstützt sie bei der Wahrnehmung ihrer Rechte. Er tritt gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen entgegen, die zur Benachteiligung von Einzelnen und Familien oder zur Ausgrenzung gesellschaftlicher Gruppen führen."

Menschen und ihr Tun im Mittelpunkt

Im Rahmen der Kampagne werden Menschen vorgestellt, die auf ganz unterschiedliche Weise empathisch und solidarisch sind mit anderen. Sie engagieren sich in der Not- und Katastrophenhilfe von Caritas international; sie verhindern, dass Lebensmittel auf dem Müll landen; sie fahren virtuelle Autorennen mit Senioren; sie begleiten trauernde Kinder und Jugendliche und sie engagieren sich in Demokratie-Projekten. Sie arbeiten in Einrichtungen und Diensten der Caritas, sie engagieren sich ehrenamtlich und freiwillig bei der Caritas oder bei anderen Organisationen und Vereinen. Jede und jeder Einzelne von ihnen zeigt, dass man einen Beitrag leisten kann - ganz gleich wie groß oder klein er sein mag –, um das soziale Miteinander in unserer Gesellschaft und weltweit zu bewahren.

Alle sind "gute" Menschen. Sie sind Menschen, die sich anrühren lassen; die anpacken können und wollen; die bereit sind, ihre Zeit, ihre Aufmerksamkeit und auch materielle Dinge zu teilen. Sie sind Menschen, die im Leben stehen, die Arbeit, Freunde und Familie haben, und die dennoch Zeit und Kraft finden, für andere da zu sein. Sie wollen Verantwortung übernehmen über das eigene Umfeld hinaus. Ihnen ist wichtig, Schwachen eine Stimme zu geben. Ihnen ist wichtig, sich politisch zu engagieren.

"Gutmensch" wurde zum Unwort, weil dieser Begriff Hilfsbereitschaft und Toleranz diffamiert. Die häufige und missbräuchliche Verwendung des Begriffs durch Populisten hat die negative Konnotation des Begriffs ermöglicht und verstärkt.

An dieser Stelle Widerstand zu leisten und die Perspektive zu drehen - nicht nur mit Blick auf die Verwendung des Wortes "Gutmensch", sondern auch auf entsprechende Debatten -, ist auch ein Ziel der Kampagne. Es ist ein zugegebenermaßen ambitioniertes Vorhaben, das auch herausfordern wird. So werden wir uns im Kampagnenjahr 2020 darauf einstellen müssen, dass es Widerspruch und Häme geben mag. Wir müssen mit Verunglimpfung rechnen, mit Hass, mit übler Nachrede. Doch wir wollen ganz bewusst ein Zeichen setzen: Ein guter Mensch zu sein darf nicht verunglimpft werden.

Gegen Abwertung solidarischen Verhaltens

Wir sind nicht allein mit diesem Anliegen. So unterstützen auch andere das Bestreben, solidarisches Verhalten in der Gesellschaft nicht abwerten und verächtlich machen zu lassen. Die Caritas will mit der Kampagne ihren Beitrag gegen diese Diffamierung leisten. Wir wollen die Bedeutung des Wortes "drehen", wir wollen das Negative umkehren in das Positive. Das ist ein großer Anspruch, ob es gelingt, ist offen. Aber wir müssen es versuchen.

Gutes Leben für alle ist nur möglich, wenn der Zusammenhalt bewahrt wird, wenn Menschen füreinander einstehen. Dazu leisten die vielen Mitarbeitenden der Caritas in all den Einrichtungen und Diensten jeden Tag ihren Beitrag. Dies unterstützen viele Tausend Ehrenamtliche und Freiwillige in der Caritas und bei vielen anderen Verbänden, Vereinen und Organisationen. „Solidarität ist das einzige Mittel gegen Verbitterung", sagt Heinz Bude.

In diesem Sinn ist die Kampagne zu verstehen: Gemeinsam mit vielen solidarisch handeln für den Zusammenhalt und ein gutes Miteinander. Sei gut, Mensch!

Claudia Beck war bis vergangenes Jahr Pressesprecherin des Deutschen Caritasverbandes


Pflege

Pflegewissenschaftler: Rolle der Kommunen stärken




Thomas Klie
epd-bild/Stefan Arend
Der Freiburger Pflegewissenschaftler Thomas Klie wirbt dafür, bei der Pflege die Rolle der Kommunen zu stärken. Sie seien vor Ort nah an den Bedürfnissen der Bürger.

"Pflege geschieht vor Ort", sagte Thomas Klie dem Evangelischen Pressedienst" (epd). Städte, Gemeinden und Landkreise müssten eine zentrale Rolle dabei übernehmen, passende Versorgungsangebote und ambulante Hilfen für die Pflegebedürftigen und deren Angehörige zu schaffen, erläuterte Klie am Rande der "Niedersächsischen Landespflegekonferenz 2020" jüngst in Hannover.

"Die Beratung gerade in schwierigen Lebenssituationen muss in der Nähe des jeweiligen Wohnortes angesiedelt sein", sagte der Professor der Evangelischen Hochschule Freiburg, der auch Mitglied der "Kommission Niedersachsen 2030" ist. Dazu müssten die Kommunen notfalls selbst Angebote initiieren oder aufbauen.

Telefonservice reicht nicht aus

Die Kranken- und Pflegekassen böten vielfach nur telefonische Hotlines an. Viele von ihnen würden sich vor Ort nicht auskennen, wenn etwa Angehörige mit der Pflege überfordert seien oder jemand nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht mehr weiter wisse. "Was nützt es, wenn ich in Wiesbaden jemanden am Telefon erreiche, aber im Emsland lebe?"

Klie ist an der Konzeption des im Oktober eröffneten Pflegekompetenzzentrums in Nordhorn in der Grafschaft Bentheim beteiligt, das als bundesweites Modellprojekt Akteure der Pflege in der ländlich geprägten Region vernetzen soll. Solche kommunal verankerten Angebote böten die Chance, systematisch aus schwierigen Fällen zu lernen, Angebote besser zugänglich zu machen und gegebenenfalls neue zu schaffen, sagte er.

Angebote regional sehr unterschiedlich

In Niedersachsen seien die Regionen wie im gesamten Bundesgebiet sehr unterschiedlich aufgestellt, erläuterte Klie. So gebe es etwa im Landkreis Osnabrück mit etwa 870 die meisten Tagespflegeplätze in ganz Deutschland. In anderen Kreisen seien es nur zehn. Für die bedarfsgerechte Planung müssten Daten bis in die Regionen zur Verfügung gestellt werden. Er halte es für unverantwortlich, einen existenziellen Bereich wie die Pflege allein dem Markt zu überlassen. "Der Wettbewerb hat zwar zu mehr Heimplätzen, aber auch dazu geführt, dass die Bevölkerung Vertrauen verloren hat."

Durch demokratische Beteiligung lasse sich aber Vertrauen zurückgewinnen, erläuterte Klie. Ein Bürgermeister, der einen Planungsprozess in Gang setze, könne mit viel Resonanz rechnen. Die Deutsche seien pflegeerfahren: Die Pflege werde zu einem großen Teil von Angehörigen geleistet, auch unterstützt von Freunden und Nachbarn. Netzwerke zu schaffen, gewinne an Bedeutung. Dazu könnten ein gutes Quartiersmanagement und Ehrenamtliche ebenso betragen wie der Pfarrer oder der Moscheeverein. "Es geht um eine Kultur der Sorge."

Karen Miether


Diakonie

Modellversuch vernetzt Dorfbewohner in fünf Bundesländern



Die Diakonie hat in Berlin gemeinsam mit der Nachbarschaftsplattform nebenan.de das Modellprojekt "Dörfer mit Zukunft" gestartet. "Ziel ist ein digitaler Dorfplatz als Chance für mehr Teilhabe von Dorfbewohnern am öffentlichen Leben", sagte Diakonievorstand Maria Loheide am 24. Januar in Berlin. Man wolle in fünf Bundesländern testen, ob und wie sich das soziale Miteinander in ländlichen Räumen durch digitale Vernetzung ergänzen und verbessern lasse.

Bei dem Testlauf werden fünf diakonische Einrichtungen mit Unterstützung des bundesweit größten sozialen Nachbarschaftsnetzwerkes nebenan.de individuelle digitale Nachbarschaften für ihre Gemeinde aufbauen und die Bewohner vernetzen. Das solle den persönlichen Austausch initiieren und fördern.

Plattform dient Austausch von Neuigkeiten

Beteiligt sind Einrichtungen in Züssow (Mecklenburg-Vorpommern), Weilrod (Hessen), Hörstel (Nordrhein-Westfalen), Bischofswerda (Sachsen) und Ratzeburg (Schleswig-Holstein). Sie erhalten den Angaben nach ein sogenanntes Organisationsprofil bei nebenan.de, über das sie vorher registrierte Personen im Dorf über Neuigkeiten, Veranstaltungen und Aktionen informieren und in Dialog treten können. So entstehe ein digitaler Dorfplatz, an dem sich alle Akteure in einem geschützten Raum vernetzen können.

Während Nachbarschaftsplattformen in der Stadt bereits erfolgreich genutzt würden, seien sie im ländlichen Raum noch selten, erläutert die Diakonie. Digitale Nachbarschaftsnetzwerke böten als Plattform gerade für kleine Ortschaften und weit verstreut lebende Menschen enormes Potenzial.



Berufsbildung

CJD steigt bei Pepko-Gruppe ein



Das Christliche Jugenddorfwerk Deutschlands gemeinnütziger (CJD) ist seit Jahresbeginn Hauptgesellschafter der PepKo-Gruppe in Hamburg. Weiterer Gesellschafter ist die Hamburger akquinet health service GmbH, ein Tochterunternehmen der akquinet AG, teilte das CJD in Eberbach mit. Zur PepKo-Gruppe gehören ein Berufsförderungswerk, ein Berufsbildungswerk, ein Berufliches Trainingszentrum und die ausblick hamburg GmbH.

"Mit dem CJD und dem IT-Unternehmen aquinet steigen zwei erfahrene Partner der beruflichen Bildung und der Digitalisierung bei der PepKo ein", heißt es in der Mitteilung. Das gemeinsame Ziel sei es, die Angebote weiterzuentwickeln und moderne Dienstleistungen für Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen anzubieten, damit sie ihren Weg in den Arbeitsmarkt (wieder-)fänden.

Passende Partner

"Das CJD hat eine hohe Kompetenz und große Expertise in der beruflichen Rehabilitation. Damit passen PepKo und CJD sehr gut zusammen", sagte Samuel Breisacher, Mitglied des CJD-Vorstands. "Die Digitalisierung der Wirtschaft ist ein großes Thema. Mit aquinet haben wir dafür genau den richtigen Partner an Bord, der diese Profession auf technischer Seite beherrscht sowie über eine große Branchenerfahrung verfügt."

Mit insgesamt 473 Mitarbeitern an zwölf Standorten in der Metropolregion Hamburg bietet die Pepko-Unternehmensgruppe den Angaben nach Berufsausbildungen und Umschulungen mit anerkanntem Abschluss für verschiedene Altersgruppen, berufliche Trainings sowie speziell zugeschnittene Qualifizierungen.. Weiterhin bietet sie Unterstützung bei der Berufsfindung, Coachings zur Vermittlung in Arbeit, betreutes Jugendwohnen, erzieherische Hilfen und Orientierung beim Übergang von der Schule in den Beruf. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt auf der beruflichen Rehabilitation.



Pflege

Diakonie-Vorstand: Großer Wurf gegen Personalmangel fehlt



Im Kampf gegen den Fachkräftemangel in der Pflege ist nach Ansicht der Diakonie ein großer Wurf nicht in Sicht. "Es gibt nur viele kleinteilige Antworten", sagte der niedersächsische Diakonie-Vorstandssprecher Hans-Joachim Lenke im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Zwar werde die "Konzertierte Aktion Pflege" die Arbeitsbedingungen spürbar verbessern. Dennoch sei der Fachkräftemangel in Kliniken und noch mehr in der Altenpflege weiter eklatant.

Das vor einem Jahr vom Bund beschlossene Pflegepersonal-Stärkungsgesetz sieht Lenke in Teilen zwiespältig. Das Gesetz schreibt unter anderem Untergrenzen für das Personal in vier besonders pflegeintensiven Krankenhaus-Bereichen vor: für die Intensivmedizin, die Geriatrie, die Kardiologie und die Unfallchirurgie. Dabei gehe es um Qualität und dagegen lasse sich nichts einwenden, sagte Lenke.

Negative Nebenwirkungen

"Aber es gibt auch in Kauf genommene Nebenwirkungen." Fehle das Personal, werde die Kapazität angepasst und weitere Patienten könnten aus haftungsrechtlichen Gründen nicht aufgenommen werden. "Für Betroffene ist das eine Katastrophe."

Ein Ziel der Regelung sei es, Krankenhausbetten vom Markt zu nehmen. "Wir haben in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern relativ viele Plätze auf 1.000 Einwohner." Doch Krankenhausplanung sei Ländersache und zudem komplex. Es müsse auch bedacht werden, dass weite Wege zur nächsten Klinik besonders für ältere Patienten zum Problem werden könnten.

Berufsabschlüsse schneller anerkennen

Lenke sieht einen Baustein gegen den Personalengpass in der Anwerbung ausländischer Pflegekräfte. "Das muss aber ethisch verantwortet sein", sagte er. "Wir wollen unsere demografischen Probleme nicht auf Kosten anderer lösen." Die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse müsse flexibler werden, forderte er. Zudem müssten die Pflegekräfte aus dem Ausland begleitet werden, etwa durch Paten oder Mentoren, damit sie sich besser einfinden können. "Wir sind als Diakonie dabei, dafür ein Modell zu prüfen."

Lenke warb weiter dafür, den Wiedereinstieg in den Beruf etwa nach Erziehungszeiten zu erleichtern. Möglich sei es etwa, Mütter oder Väter während dieser Zeiten mit kleinen Stundenanteilen weiterzubeschäftigen, damit sie den Anschluss nicht verlören. Um junge Menschen für die Pflegeberufe zu gewinnen, sei zudem bezahlbarer Wohnraum besonders in Ballungsgebieten wichtig.

Karen Miether


Behinderung

DRK: Hoher Bürokratieaufwand beim Teilhabegesetz



Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) beklagt massive Umsetzungsprobleme beim zum Jahreswechsel in Kraft getretenenBundesteilhabegesetz. Statt die Chance für Menschen mit Behinderung zu mehr Teilhabe konsequent zu nutzen, "ist der bürokratische Aufwand für Kostenträger und Leistungserbringer enorm. Das widerspricht jedoch der gesamten Intention des Gesetzes", sagte Präsidentin Gerda Hasselfeldt am 24. Januar in Berlin. Sie kritisierte vor allem die Änderungen bei der Eingliederungshilfe.

Mit der Gesetzereform wird die Leistungserbringung in Wohnheimen für behinderte Menschen neu strukturiert. Bisher waren mehrere einzelne Leistungen wie die Kosten für Wohnraum, Lebensmittel und verschiedene Hilfsleistungen zu einem Komplex zusammengefasst und wurden in einem Vorgang abgerechnet. Jetzt werden die bisherigen stationären Wohneinrichtungen in "besondere Wohnformen" umbenannt und die dort erbrachten Leistungen aufgesplittet in existenzsichernde Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch XII (Sozialhilfe) und Fachleistungen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch IX. Für beide Leistungssysteme sind je nach Bundesland unterschiedliche Ämter zuständig.

"Auf die Spitze getrieben wird der zusätzliche Verwaltungsaufwand bei der Frage der Umsatzsteuer auf Nahrungsmittel", sagt Hasselfeldt. Bisher seien Nahrungsmittel für die behinderten Menschen umsatzsteuerfrei gewesen. Künftig sei nur noch die Zubereitung der Speisen umsatzsteuerfrei. Die Nahrungsmittel selbst würden als existenzsichernde Leistung dem SGB XII zugeordnet und seien damit umsatzsteuerpflichtig.

"Die Träger müssen jetzt neue gesonderte Verträge abschließen, mehr Rechnungen schreiben und mehr Geldeingänge prüfen. Dieser bürokratische Aufwand ist unnötig, kostet Zeit und verschlingt personelle Ressourcen", sagt Hasselfeldt.

Die Präsidentin fordert vom Bundesfinanzministerium deshalb eine generelle Umsatzsteuerbefreiung der Leistungen in besonderen Wohnformen für behinderte Menschen und eine Nachbesserung des Bundesteilhabegesetzes. "Es braucht handhabbare Lösungen, damit Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt entscheiden können, in welcher Wohnform sie leben möchten", sagte Hasselfeldt. Von der Neuregelung sind nach ihren Angaben rund 212.000 Menschen in stationären Wohneinrichtungen betroffen.



Bremen

Kita-Träger sehen inklusive Erziehung "massiv gefährdet"



Die evangelische Kirche und die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (LAG) haben vor einer unzureichenden Finanzierung der inklusiven Erziehung in den Kindertagesstätten gewarnt. In einem am 28. Januar verbreiteten offenen Brief an die Senatorin für Kinder und Bildung, Claudia Bogedan (SPD), heißt es, die Versorgung sei "massiv gefährdet". Die Personalausstattung sei bis 2018 gar nicht und danach nur marginal erhöht worden. Bogedan räumte auf epd-Anfrage ein, eine Neuausrichtung der Infrastrukturausstattung sei dringend erforderlich.

Der Bremer Senat arbeitet gerade am Doppelhaushalt für die Jahre 2020 und 2021. Deshalb haben die Träger ihren Brandbrief jetzt losgeschickt und führen darin aus, seit Jahren machten sie darauf aufmerksam, dass die fehlende Ausstattung zulasten der Kinder und der Mitarbeitenden gehe.

Mit dem Ausbau der Kita-Plätze sei auch die Zahl der Kinder mit Förderbedarf gestiegen, verdeutlichten sie die zugespitzte Lage. "Von 2008 bis 2018 verdoppelt", schreiben der Leiter des Landesverbandes Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder, Carsten Schlepper, und LAG-Sprecher Arnold Knigge.

Mehr Personal gefordert

Die Kita-Träger wollten jetzt wissen, in welchem Umfang zusätzliches Personal eingeplant werde: "Die bislang veranschlagten Mittel reichen aus unserer Sicht nicht aus, um eine Versorgung in verantwortbarer Weise sicherzustellen." Jetzt stelle die Politik die finanziellen Weichen für das kommende Kita-Jahr. "Deshalb fordern wir ausreichende Mittel und vor allem Planungssicherheit für die Förderung von Anfang an."

Auch Bogedan sprach davon, dass die Zahl von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf deutlich steige. Deshalb habe die Senatorin dafür im Haushalt 2018/2019 zusätzlich 1,14 Millionen Euro eingesetzt. "Es muss in angemessener Form auf die steigende Zahl von Kindern mit besonderem Förderbedarf reagiert und der Ressourceneinsatz verstärkt werden." Dabei solle die jeweils von einem Träger betreute Anzahl von Kindern maßgeblich sein.




sozial-Recht

Oberlandesgericht

Maximale Sorgfalt bei Kaiserschnitt auf Wunsch




Einem Gerichtsurteil zufolge müssen Kliniken bei Kaiserschnitten auf Wunsch die volle Personalstärke sicherstellen.
epd-bild/Jens Schulze
Krankenhäuser können bei Kaiserschnittoperationen kaum vorsichtig genug sein. Das zeigt ein Urteil des Oberlandesgerichts Hamm, bei dem die werdende Mutter zu Tode kam. Der Bundesgerichtshof hat schon in früheren Urteilen auf die besonderen Sorgfaltspflichten der Klinikärzte hingewiesen.

Kliniken sollten einen Kaiserschnitt, der allein auf Wunsch der werdenden Mutter erfolgt, nicht mit einer Mindestpersonal-Besetzung vornehmen. Denn wird der Eingriff nicht mit der "maximalen Planung" vorbereitet und der "obere Rand der ärztlichen Qualität" nicht eingehalten, können das Krankenhaus und die behandelnden Ärzte für den Tod der Mutter haften, entschied das Oberlandesgericht (OLG) Hamm in einem kürzlich veröffentlichten Urteil vom 10. Dezember 2019. Die Hammer Richter ließen die Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe zu.

Im konkreten Fall ging es um eine schwangere Frau, die im Juni 2012 wegen des Verdachts eines Blasensprungs und leichter Blutungen zur Geburt ihres Kindes ins Krankenhaus kam. Als die Geburt begann und die Wehen einsetzten, verlangte sie wegen der Schmerzen einen Kaiserschnitt. Medizinisch war dies nicht erforderlich.

Tod durch unkontrollierbare Blutung

Unter Vollnarkose führten die anwesende Oberärztin und der diensthabende Arzt den Kaiserschnitt auch durch. Bei der Mutter entwickelte sich jedoch eine nicht mehr zu kontrollierende Blutung. Parallel dazu musste die Oberärztin wegen einer weiteren Problemgeburt den OP-Saal zeitweise verlassen. Auch der später hinzugerufene Chefarzt der Frauenklinik sowie der Oberarzt der Gefäßchirurgie konnten mehrfache Wiederbelebungen und schließlich den Tod der Frau wegen Multiorganversagens nicht verhindern.

Der Ehemann der Verstorbenen sowie die zwei Kinder verlangten Schadenersatz in Höhe von mehr als 140.000 Euro sowie für die Beaufsichtigung und Erziehung der Kinder einen Betreuungsunterhaltsschaden in Höhe von monatlich 3.256 Euro. Das Schmerzensgeld war nicht beziffert.

Es fehlte an "maximaler Sorgfalt"

Es habe kein ausreichendes Personal für den Kaiserschnitt zur Verfügung gestanden, weil gleichzeitig noch eine andere Risikogeburt gelaufen sei. Der Eingriff sei dennoch ohne ausreichende medizinische Notwendigkeit vorgenommen worden. Auch die Aufklärung der Kindesmutter über die Risiken des Kaiserschnitts nach bereits begonnener Geburt sei unzureichend erfolgt.

Das OLG urteilte, dass der Kaiserschnitt fehlerhaft erfolgte. Ein Kaiserschnitt, der allein auf Wunsch der Kindesmutter vorgenommen wird, müsse "sowohl unter organisatorischen als auch personellen Gesichtspunkten mit maximaler Sorgfalt vorbereitet werden". Der "obere Rand der ärztlichen Qualität" sei dabei einzuhalten.

Dies habe hier die Klinik aber nicht sichergestellt. Die behandelnden Ärzte hätten sich in dieser Situation nicht auf den Wunsch der Patientin einlassen dürfen.

Vor diesem Hintergrund könne es dahinstehen, ob die Patientin über die Blutungsrisiken richtig aufgeklärt worden sei. Äußere jedoch eine Mutter mit Beginn der Geburt überraschend den "unvernünftigen Wunsch" nach einem Kaiserschnitt, müsse ihr im Gespräch "auch die bestehende Gefahr des Todes deutlich vor Augen geführt werden", erklärte das OLG zu den Aufklärungspflichten der Ärzte. Über die Höhe des Schmerzensgeldes und des Schadenersatzanspruchs entschied das Gericht noch nicht.

Ein "eiliger Kaiserschnitt"

Bereits am 28. August 2018 hatte der BGH geurteilt, dass ein Arzt bei konkreten Hinweisen einer drohenden Problemgeburt Schwangere über einen Kaiserschnitt als Behandlungsalternative frühzeitig aufklären müssen. Erfolgt die Aufklärung erst, wenn nur noch ein "eiliger Kaiserschnitt" infrage kommt, stellt dies einen Behandlungsfehler dar, für den Ärzte und Klinik haften können.

Ähnlich hatte der BGH zur Aufklärungspflicht bei einem Kaiserschnitt am 28. Oktober 2014 entschieden. Danach müssen Ärzte bei der "ernsthaften Möglichkeit" eines Kaiserschnitts die Patientin frühzeitig über Risiken, Vor- und Nachteile des Eingriffs aufklären. Wenn sich die Gefahrenlage dann tatsächlich deutlich zuspitzt, sind entsprechende Informationen, nicht aber eine erneute Aufklärung erforderlich.

Während eines Kaiserschnitts müssen Klinik und behandelnde Ärzte sicherstellen, dass die verwendeten Geräte einwandfrei funktionieren, urteilte der BGH am 24. Juli 2018. Wird ein CTG-Gerät, welches die Wehentätigkeit der Mutter und die Herztöne des Kindes misst, beim Papierwechsel an einem Stecker beschädigt, reicht es nicht aus, den Schaden mit einem Pflaster notdürftig zu reparieren.

Führt der Reparaturversuch zu lückenhaften Aufzeichnungen und einer unzureichenden Überwachung des Kindes, stellt dies ein Behandlungsfehler dar, für den Klinik und Ärzte im Fall eines Geburtsschadens haften können.

Az.: 26 U 2/18 (OLG Hamm, Wunsch-Kaiserschnitt)

Az.: VI ZR 509/17 (BGH, Aufklärungspflicht Kaiserschnitt)

Az.: VI ZR 125/13 (BGH, Aufklärungspflicht zugespitzte Gefahrenlage)

Az.: VI ZR 294/17 (BGH, Geräte)

Frank Leth


Bundesarbeitsgericht

Bewerbung: Behinderte müssen trotz E-Mail-Flut eingeladen werden



Ein übervoller E-Mail-Briefkasten eines öffentlichen Arbeitgebers ist kein Grund für die unterbliebene Einladung eines schwerbehinderten Stellenbewerbers zum Vorstellungsgespräch. Das hat am 23. Januar das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt entschieden. Nur wenn der Arbeitgeber glaubhaft darlegen kann, dass er nicht alle E-Mail-Bewerbungen zur Kenntnis nehmen konnte, lasse sich Vorwurf einer Benachteiligung schwerbehinderter Bewerber entkräften, befand das Gericht.

Nach den gesetzlichen Bestimmungen sind öffentliche Arbeitgeber bei einer Stellenausschreibung verpflichtet, geeignete schwerbehinderte oder mit diesen gleichgestellte Bewerber zum Vorstellungsgespräch einzuladen. So sollen behinderte Bewerber die Chance erhalten, ihre Eignung für die Stelle persönlich zu erläutern. Unterlässt der Arbeitgeber die Einladung, kann das ein Indiz für eine Diskriminierung wegen der Behinderung sein. Kann er das nicht widerlegen, wird eine Entschädigungszahlung fällig.

Mail wurde nicht bearbeitet

Im jetzt entschiedenen Fall hatte sich ein Mann dem Grad der Behinderung 30 beim Oberlandesgerichtsbezirk Köln als Quereinsteiger für den Gerichtsvollzieherdienst per E-Mail beworben. Der Bewerber hatte in seiner Bewerbung ausdrücklich auf seine Behinderung hingewiesen.

Dennoch wurde er nicht eingeladen. Grund: Das E-Mail-Postfach war wegen der Vielzahl an Bewerbungen übervoll, so dass es nach dem Schreiben des Mannes nicht zu einer Einladung kam, sich vorzustellen.

Das BAG urteilte nun, dass der Bewerber wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt wurde und ihm daher eine Entschädigung in Höhe von rund 3.700 Euro zustehe. Werde ein schwerbehinderter Bewerber von einem öffentlichen Arbeitgeber nicht zum Bewerbungsgespräch eingeladen, bestehe die begründete Vermutung einer unzulässigen Benachteiligung.

Das Land als Arbeitgeber habe diese Annahme auch nicht mit dem Argument des vollen E-Mail-Postfaches widerlegen können. Daher sei bei dem Bewerber von einer Diskriminierung wegen der Behinderung auszugehen, hieß es.

Az.: 8 AZR 484/18



Bundesarbeitsgericht

Klage wegen Versetzung wahrt Lohnansprüche



Arbeitnehmer können mit einer Klage gegen eine Arbeitsplatz-Versetzung auch damit einhergehende Lohnansprüche sichern. Wird eine entsprechende Beschäftigungsklage rechtzeitig eingereicht, werden daher auch tarifliche Ausschlussfristen für Entgeltansprüche gewahrt, entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt in einem am 15. Januar veröffentlichten Urteil im Fall einer Oberärztin.

Die Medizinerin arbeitet seit November 2006 an einer Uni-Klinik für Knochenmarktransplantation. Ihr Arbeitsvertrag sah auch Rufbereitschaften vor, für die sie 2009 monatlich durchschnittlich knapp 2.000 Euro brutto erhielt.

Als die Frau Anfang 2010 für rund drei Monate arbeitsunfähig erkrankt war und dann bis Juni 2010 Urlaub nahm, versetzte der Arbeitgeber sie in die Klinik für Nephrologie. Rufbereitschaften fielen dort nicht an, so dass die Oberärztin die bislang hierfür erhaltene Vergütung nicht mehr erhielt.

Vergütung für Bereitschaftsdienste

Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf hatte auf Klage der Oberärztin die Versetzung für rechtswidrig erklärt. Für den Streitzeitraum Juli 2010 bis Ende April 2011 verlangte die Medizinerin nun, dass die Uniklinik ihr auch die entgangene Vergütung für Bereitschaftsdienste bezahlen müsse, insgesamt über 19.000 Euro brutto.

Die Uniklinik lehnte dies ab. Die Lohnansprüche hätten innerhalb der sechsmonatigen tariflichen Ausschlussfrist geltend gemacht werden müssen. Die Klägerin habe aber in dieser Zeit nur auf Beschäftigung am alten Arbeitsplatz, nicht aber auf Vergütung geklagt.

Dem folgte das BAG jedoch nicht. Da die Oberärztin innerhalb der sechsmonatigen tariflichen Ausschlussfrist ihre Klage auf Beschäftigung am alten Arbeitsplatz eingereicht habe, habe sie damit auch etwaige Ansprüche auf Vergütung, hier für Rufbereitschaften, gewahrt.

Die obersten Arbeitsrichter verwiesen auf die BAG-Rechtsprechung zu Kündigungsschutzklagen. Damit ziele ein Arbeitnehmer nicht nur auf den Erhalt des Arbeitsplatzes, sondern im Fall des Obsiegens auch auf Fortzahlung der Vergütung. Gleiches müsse auch nach einer Versetzung für Klagen auf Beschäftigung am bisherigen Arbeitsplatz gelten. Den konkreten Fall verwies das BAG an das Landesarbeitsgericht Düsseldorf wegen fehlender Tatsachenfeststellungen zurück.

Az.: 5 AZR 240/18



Bundesarbeitsgericht

Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung hat Grenzen



Behinderte Arbeitnehmer können mit ihrem Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Beschäftigten im Betrieb noch nicht auf die Unterstützung der Schwerbehindertenvertretung hoffen. Erst wenn von der Bundesagentur für Arbeit (BA) wirksam festgestellt wurde, dass der Arbeitnehmer mit einem Schwerbehinderten gleichgestellt ist, muss der Arbeitgeber der Schwerbehindertenvertretung Beteiligungsrechte gewähren, entschied am 23. Januar das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt.

Nach dem Gesetz soll die Schwerbehindertenvertretung die Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben im Betrieb fördern und deren Interessen vertreten. Danach muss diese in "allen Angelegenheiten" beteiligt und angehört werden, die einzelne behinderte Beschäftigte im Betrieb oder behinderte Menschen als Gruppe betreffen. Entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen ist die Schwerbehindertenvertretung etwa bei der Bewerbung von schwerbehinderten Stellenbewerbern oder auch bei der Umgestaltung eines behinderungsgerechten Arbeitsplatzes zu beteiligen.

Kündigung ohne Anhörung unwirksam

Setzt sich der Arbeitgeber über die Beteiligungsrechte hinweg, hat dies Konsequenzen. So ist etwa eine Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers ohne Anhörung der Schwerbehindertenvertretung unwirksam. Auch Bußgelder können von der BA verhängt werden.

Doch die Beteiligungsrechte haben Grenzen. Im aktuellen, vom BAG entschiedenen Fall ging es um die Umsetzung einer Mitarbeiterin eines Berliner Jobcenters auf einen anderen Arbeitsplatz. Die Frau mit einem Grad der Behinderung von 30 hatte einige Monate zuvor einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen gestellt. Der Arbeitgeber hatte die Schwerbehindertenvertretung nicht über die Umsetzung informiert und angehört.

Die Schwerbehindertenvertretung sah daraufhin ihre Beteiligungsrechte verletzt. Bereits mit dem Antrag auf Gleichstellung und nicht erst mit der späteren Anerkennung müsse sie zur Umsetzung angehört werden.

Keine Informationspflicht

Dem widersprach jedoch das BAG. Die Schwerbehindertenvertretung habe zwar das Recht, für schwerbehinderte oder mit ihnen gleichgestellte Beschäftigte einzutreten. Mit einem Antrag auf Gleichstellung bei der Bundesagentur für Arbeit sei aber noch nicht über Behinderteneigenschaft entschieden worden. Der Arbeitgeber habe die Schwerbehindertenvertretung daher auch nicht über die Umsetzung informieren müssen. Keine Rolle spiele es, dass dem Gleichstellungsantrag der Jobcenter-Mitarbeiterin später rückwirkend stattgegeben wurde.

Mit Urteil vom 22. August 2013 hatte das BAG die Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretung bei ausgeschriebenen Stellen bekräftigt. So darf danach der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung nicht übergehen, nur weil sich die Vertrauensperson der Vertretung und deren Stellvertreter ebenfalls auf die Stelle beworben haben.

Im konkreten Fall hatte der Arbeitgeber, eine Spielbank, zwei Stellenausschreibungen für einen "Tischchef" veröffentlicht. Auf die beiden Spielbank-Jobs bewarben sich 46 schwerbehinderte Menschen, darunter auch die Vertrauensperson der Schwerbehindertenvertretung und dessen Stellvertreter. Der Arbeitgeber vermutete damit eine Interessenkollision und beteiligte die Schwerbehindertenvertretung nicht am Auswahlverfahren. Zwei andere Bewerber bekamen die Stelle.

10.800 Euro Entschädigung

Die stellvertretende Vertrauensperson fühlte sich wegen der fehlenden Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung diskriminiert und verlangte eine 10.800 Euro hohe Entschädigung.

Das BAG urteilte, dass der Arbeitgeber tatsächlich die Schwerbehindertenvertretung an der Auswahlentscheidung hätte beteiligen müssen. Dies gelte selbst dann, wenn sich auf die zwei Stellen auch die Vertrauensperson der Schwerbehinderten und dessen Das Stellvertreter beworben haben. Den konkreten Fall verwies das BAG an die Vorinstanz zurück. Dort muss der Arbeitgeber wegen der unterbliebenen Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung beweisen, dass er nicht diskriminiert hat.

Arbeitgeber dürfen bei den Beteiligungsrechten auch nicht trödeln. So sieht das Gesetz bei einer beabsichtigten Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers die "unverzügliche" Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung vor. Allerdings bedeutet dies auch nicht "sofort", urteilte das BAG am 13. Dezember 2018.

Informiert der Arbeitgeber zuerst das Integrationsamt und den Betriebsrat über die Kündigung und erst neun Tage später die Schwerbehindertenvertretung ist das noch "unverzüglich", entschied das BAG. Die Kündigung ist deshalb noch nicht unwirksam.

Az.: 7 ABR 18/18 (BAG, Gleichstellungsantrag)

Az.: 8 AZR 574/12 (BAG, Interessenkonflikte)

Az.: 2 AZR 378/18 (BAG, unverzügliche Beteiligung)

Frank Leth


Landessozialgericht

Private Unfallrente mindert nicht Beschädigtenversorgung



Gewaltopfern darf die Beschädigtenversorgung nicht wegen Leistungen einer privaten Unfallversicherung gekürzt werden. Zwar hat der Gesetzgeber etwa für eine gesetzliche Unfallrente eine Anrechnung auf die Beschädigtenversorgung vorgesehen, nicht jedoch für eine private Unfallrente, entschied das Sächsische Landessozialgericht (LSG) in einem am 13. Januar veröffentlichten Urteil. Die Chemnitzer Richter ließen allerdings wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision zum Bundessozialgericht in Kassel zu.

Vor Gericht war eine heute 59-jährige Frau gezogen, die am Neujahrsmorgen des Jahres 2010 Opfer einer Gewalttat wurde. Ein unbekannter Mann hatte sie angegriffen, so dass sie mit dem Hinterkopf auf den Asphalt stürzte. Infolge des dabei erlittenen Schädel-Hirn-Traumas bestehen bei ihr unter anderem Gedächtnisstörungen und ein Verlust des Riechvermögens. Seit Mai 2012 kann sie nur noch fünf Stunden täglich in ihrem Beruf arbeiten. Damit sind Einkommenseinbußen von rund 1.000 Euro verbunden.

Behörde: Rente erhöht Bruttoeinkommen

Sie erhielt den Grad der Schädigung von 50 und ab Juli 2012 eine Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz in Höhe von 708 Euro und nach einer Gesetzesänderung 469 Euro monatlich. Darin war neben einer Grundrente auch ein Berufsschadensausgleich enthalten. Wegen des Erhalts einer privaten Unfallrente in Höhe von rund 590 Euro monatlich verringere sich der in der Beschädigtenversorgung enthaltene Berufsschadensausgleich. Die private Unfallrente diene als "Bruttoeinkommen" dazu, den Lebensunterhalt abzusichern, lautete die die Begründung der Behörde für die Kürzung.

Das LSG hielt jedoch die Minderung der Beschädigtenversorgung wegen des Erhalts der privaten Unfallrente für rechtswidrig. Zwar vermehre die private Unfallrente das derzeitige Bruttoeinkommen der Klägerin. Bruttoeinkommen seien auch grundsätzlich geeignet, den Berufsschadensausgleich zu mindern. Der Gesetzgeber habe aber genau aufgezählt, was mindernd berücksichtigt werden müsse. Dazu gehörten etwa gesetzliche Renten und gesetzliche Unfallversicherungsrenten oder andere Zahlungen, die der Beschädigte aus Einkünften aus einer Erwerbstätigkeit geschaffen hat.

Eine private Unfallrente sei hier nicht aufgeführt. Es fehle ein entsprechender Bezug zur Erwerbstätigkeit. So seien die privaten Unfallversicherungsbeiträge aus eigener Tasche und ohne Beteiligung eines Arbeitgebers gezahlt worden. Zwar gebe es ein Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, die privaten Unfallrenten bei der Beschädigtenversorgung mindernd zu berücksichtigen. An solche behördlichen Meinungsäußerungen seien die Gerichte aber nicht gebunden, befand das LSG.

Az.: L 9 VE 7/17



Landessozialgericht

Kein Eigenanteil behinderter Heimbewohner für Familienheimfahrten



In einem Heim lebende behinderte Menschen müssen für Familienheimfahrten zum elterlichen Wohnhaus im Rahmen der Eingliederungshilfe keinen Eigenanteil bezahlen zahlen. Das gilt zumindest dann, wenn der Kontakt zu den Angehörigen notwendiger Teil der Eingliederung ist, entschied das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) in einem kürzlich veröffentlichten Urteil vom 27. November 2019. Die Schleswiger Richter ließen die Revision zum Bundessozialgericht (BSG) in Kassel zu.

Im konkreten Fall lebt die geistig und körperlich behinderte Klägerin seit über 20 Jahren in einer stationären Einrichtung. Ihre Eltern sind zu ihren gesetzlichen Betreuern bestellt worden.

Sozialhilfeträger forderte Eigenbeteiligung

Der zuständige Sozialhilfeträger übernimmt die Heimkosten als Leistung der Eingliederungshilfe. Zudem werden ein Taschengeld, Bekleidungs- und Krankenkassenkosten mitsamt Zuzahlungen übernommen. Einmal pro Monat wird die behinderte Frau von ihren Eltern über das Wochenende in das 404 Kilometer entfernte Zuhause abgeholt. Der Sozialhilfeträger zahlt hierfür 0,20 Euro pro Kilometer.

Die Behörde verlangte jedoch, dass die Klägerin pro Monat auch einen Eigenanteil von 15 Euro für die Familienheimfahrten zahlt. Für das Streitjahr 2012 sollte die Frau daher 180 Euro übernehmen. Den Eigenanteil könne sie ja auch von ihrem Taschengeld bezahlen, so die Behörde. Schließlich müsse berücksichtigt werden, dass im Sozialhilferegelsatz ebenfalls ein Anteil für den Bereich "Verkehr" enthalten sei.

Das LSG urteilte, dass die Klägerin keinen Eigenanteil an den Familienheimfahrten bezahlen muss. Sind Heimreisen notwendiger Bestandteil der Eingliederungshilfemaßnahmen, muss der Sozialhilfeträger die Besuchsfahrten für den behinderten Menschen im Rahmen der Eingliederungshilfe in voller Höhe übernehmen, ohne dass das Taschengeld dafür verwendet wird. Hier habe der Sozialhilfeträger selbst die Anzahl der Heimfahrten und das Transportmittel anerkannt. Somit habe er sie als "erforderlich" eingestuft und ein Eigenanteil sei folglich nicht zu leisten.

Az.: L 9 SO 20/18



Landgericht

Krankenpflegehelfer wegen Missbrauchs zu Haftstrafe verurteilt



Das Landgericht Hannover hat den Krankenpflegehelfer Roland W. wegen sexuellen Missbrauchs und Vergewaltigung von widerstandsunfähigen Personen am 28. Januar zu einer Haftstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Verteidigung hatte drei Jahre Gefängnis gefordert, die Staatsanwaltschaft auf fünf Jahre Haft plädiert, sagte Gerichtssprecher Dominik Thalmann dem Evangelischen Pressedienst. Als strafmildernd habe die 3. Große Strafkammer das umfassende Geständnis des 59-Jährigen gewertet.

Während seiner beruflichen Tätigkeit in einem Pflegeheim der Diakonie Himmelsthür für mehrfach geistig und körperlich behinderte Personen in Hannover hatte W. zwischen 2016 und 2018 an drei dort lebenden Frauen sexuelle Handlungen vorgenommen und diese zudem mit seinem Mobiltelefon gefilmt. Die betroffenen Bewohnerinnen seien aufgrund ihrer geistigen beziehungsweise körperlichen Einschränkungen nicht in der Lage gewesen, einen entgegenstehenden Willen zu bilden und zu äußern, sagte das Gericht.

Taten mit dem Handy gefilmt

Die Opfer sind 26, 43 und 52 Jahre alt. Die jüngste der drei Frauen ist eine gelähmte Spastikerin, sie kann nicht sprechen und nur in einem Liegerollstuhl bewegt werden. Sie wurde von W. mehrfach und langanhaltend im Intimbereich berührt, dabei hielt dieser die Taten per Handy-Video fest.

Die 52-jährige Rollstuhlfahrerin ist geistig behindert, die 43-Jährige gilt leidet nach Medienberichten an Autismus und soll sehr verschlossen sein. Diesen beiden Frauen hatte W. in Bett, Dusche oder Patientenlifter mehrfach die Brüste geknetet, er filmte auch diese Taten. Wegen der Behinderungen sei es für die Kammer schwierig gewesen, die Folgen der Übergriffe für die Opfer zu bewerten, sagte Gerichtssprecher Thalmann.

W. hatte 23 Jahre lang in einer Pflegeeinrichtung in Wietze bei Celle gearbeitet und war 2011 in die Himmelsthür-Einrichtung nach Hannover gewechselt. Diese hatte dem Angeklagten im April 2018 kurz nach Bekanntwerden der Vorwürfe gekündigt.

Az.: 33 Kls 17/18



Verwaltungsgericht

Gericht weist Klage gegen Flüchtlingsheimbau zurück



In Berlin-Lichterfelde darf wie geplant eine Flüchtlingsunterkunft weiter gebaut werden. Das Verwaltungsgericht Berlin wies am 23. Januar den Eilantrag einer Nachbarin des Geländes am Osteweg zurück, den Bau der sogenannten Modularen Flüchtlingsunterkunft (MUF) zu stoppen. Die bauaufsichtliche Zulassung und die erteilten Befreiungen verstießen nicht gegen Nachbarrechte der Antragstellerin, urteilte die 13. Kammer. Das Grundstück der Nachbarin befindet sich in den denkmalgeschützten Telefunken-Werken, auf dem ein weiteres Unternehmen eine Privatschule betreibt.

Der geplante Bau erweist sich laut Gericht unter Berücksichtigung des Abstands von mehr als 50 Metern bis zur gemeinsamen Grundstücksgrenze auch nicht als rücksichtslos. Unzumutbare Störungen oder Belästigungen seien bei bestimmungsgemäßer Nutzung nicht zu erwarten. Schließlich wahre der geplante Bau auch die nötige Achtung vor dem Denkmalbereich, in dem das Grundstück der Antragstellerin liege.

Interessen als Denkmaleigentümerin verletzt

Die Nachbarin hatte in ihrem Antrag geltend gemacht, das Vorhaben verletze ihre Interessen als Denkmaleigentümerin, aber auch ihren Gebietserhaltungsanspruch. Sie bestritt zudem, dass die Errichtung der modularen Flüchtlingsunterkunft angesichts sinkender Flüchtlingszahlen noch erforderlich sei.

Die Flüchtlingsunterkunft ist laut Gericht für 211 Personen geplant. Auf dem Gründstück sollten ursprünglich ein Sport-, Schul- und Kitastandort entstehen. Dafür kämpft auch eine Bürgerinitiative Osteweg.

Gegen die Entscheidung kann Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt werden.

Az.: VG 13 L 326.19




sozial-Köpfe

Kirche

Hephata-Vorstand Christian Dopheide geht in den Ruhestand




Christian Dopheide
epd-bild/privat
Der theologische Vorstand der Evangelischen Stiftung Hephata, Christian Dopheide, scheidet zum Ende dieses Jahres aus dem Amt und geht in den Ruhestand. Nachfolger wird Harald Ulland.

Wie die in Mönchengladbach ansässige Stiftung mitteilte, hat Dopheide 14 Jahre lang mit dem kaufmännischen Vorstand Klaus-Dieter Tichy das Unternehmen geleitet. Dopheide ist Theologe und war seit 1992 Diakoniepfarrer im Kirchenkreis Iserlohn und baute die Diakonie Mark-Ruhr mit auf. Deren Vorstandssprecher war er bis zu seinem Wechsel 2007 nach Mönchengladbach. Dopheide ist auch Vorstandsvorsitzender des Verbandes diakonischer Dienstgeber (VdDD).

"Ich blicke zurück auf die schönste und übrigens auch erfolgreichste Strecke meiner beruflichen Laufbahn", erklärte der scheidende theologische Vorstand. Mit seinem Schritt wolle er "den Generationenwechsel in der Stiftungsleitung und damit den langfristigen Erfolg der Stiftung verantwortungsvoll" absichern.

Nachfolger von Dopheide wird Harald Ulland (55), der seit 1997 Pfarrer in der Kirchengemeinde Waldniel und seit 2012 stellvertretender Superintendent des Kirchenkreises Gladbach-Neuss ist. In dieser Zeit hat er maßgeblich die Umstrukturierungsprozesse mitgestaltet, die durch den Rückgang der Zahl der Gemeindemitglieder und die Reduzierung von Pfarrstellen notwendig wurden.

"Mit Harald Ulland verlieren die Kirchengemeinde Waldniel und der Kirchenkreis Gladbach-Neuss zum Jahresende einen engagierten und profilierten Theologen", sagte der Superintendent des Kirchenkreises, Dietrich Denker.



Weitere Personalien



Abraham Lehrer aus Köln bleibt Präsident der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Ebenso behalten die beiden Vizepräsidenten Michael Licht und Sarah Singer ihre Ämter. Die Mitgliederversammlung in Frankfurt am Main bestätigte sie nach vier Jahren im Amt. Neu im neunköpfigen Vorstand ist Michael Rubinstein aus Düsseldorf. Besonders gewürdigt wurde Aviva Goldschmidt, die nicht erneut kandidierte und deren über 60-jähriges Engagement, unter anderem als Leiterin des ZWST-Sozialreferates und seit 2011 im Vorstand der ZWST, ein großes Vermächtnis hinterlässt.

Georg Gabriel (66), Organisationsentwickler, unterstützt ab sofort als Interimsmanager die niedersächsische Pflegekammer. sofort Unterstützung in ihrer Geschäftsstelle. Der Sozialpädagoge war von 1991 bis 2017 Geschäftsführer der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Niedersachsen. Pflegekammer-Präsidentin Sandra Mehmecke sagte, die Kammer gewinne mit Gabriel einen ausgewiesenen Experten. Gabriel selbst sagte, er wolle dazu beitragen, die administrativen und strategischen Herausforderungen der Pflegekammer zu lösen, damit sich diese "voll und ganz" den inhaltlichen Aufgaben widmen könne.

Gabriele Arnold (58), Stuttgarter Prälatin, ist neue Vorsitzende des Stiftungsrats der Evangelischen Diakonissenanstalt Stuttgart. Sie folgt auf den Juristen Oberkirchenrat Michael Frisch, der das Amt seit Herbst 2017 innehatte, teilte die Diakonissenanstalt mit. Frisch hatte nicht wieder kandidiert. Stellvertretender Vorsitzender bleibt der Diplomkaufmann Harald Fuchs. Dem Stiftungsrat gehören zehn Personen an. Die Evangelische Diakonissenanstalt Stuttgart wurde 1854 gegründet. Ihre Schwesternschaft hat derzeit rund 450 Diakonissen, Diakonische Schwestern und Brüder. Zu ihren Einrichtungen gehören unter anderem Pflegeheime und das Diakonie-Klinikum Stuttgart, dessen Träger sie gemeinsam mit der diakonischen Paulinenhilfe ist.

Dirk Ashauer, Pflegedirektor am Alfried Krupp Krankenhaus in Essen, ist beim Pflege-Kongress in mit dem Preis "Pflegemanager des Jahres" ausgezeichnet worden. Er setze auf Wertschätzung, Kommunikation und Förderung der Mitarbeitenden, hieß es seitens der Jury. Der promovierte Manager trägt Verantwortung für über 1.000 Pflegekräfte. Zudem treibe er die Digitalisierung voran, in der er eine herausragende Chance für die Pflege sehe. Ashauer ist bundesweit engagiert für die Qualität in der Pflege und setzt sich für den internationalen Austausch im Rahmen eines Fellowship-Programms ein. Nachwuchs-Pflegemanager des Jahres wurde Catharina Bothner, stellvertretende Pflegedirektorin, Universitäts- und Rehabilitationskliniken Ulm gGmbH. Ein von ihr entwickeltes Modell befindet sich hausintern in der Pilotphase und soll mit Personalentwicklungsmöglichkeiten, dem gezielten Einsatz von Experten sowie flexibelsten Personalplanungsmodellen qualifizierte Mitarbeiter binden und vor Überlastung schützen.

Remi Stork (53), ist als Professor von der FH Münster zum Sommersemester an den Fachbereich Sozialwesen berufen worden. Der Erziehungswissenschaftler forscht und lehrt zur Kinder- und Jugendhilfe, sein Schwerpunkt sind die Hilfen zur Erziehung – eines der Betätigungsfelder der Absolventen des Fachbereichs. Neben dem Studium arbeitete er in der Heimerziehung und in sozialen Brennpunkten. Nach seinem Abschluss war er am Münsteraner Institut für Soziale Arbeit wissenschaftlicher Mitarbeiter, anschließend Fachberater für Hilfen zur Erziehung und Jugendarbeit im Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Es folgten zwölf Jahre, in denen er als Referent in der Diakonie in Münster Träger dabei unterstützt hat, Methoden zu entwickeln, um Kinder, Jugendliche und Eltern besser an den Hilfen zu beteiligen. Promoviert hat Stork zur Partizipation in der Heimerziehung.

Stefanie Zernikow (36) wird ab Mitte Februar neue Leiterin der Rostocker Seemannsmission. Sie leitete seit 2016 die Seemannsmission in Kiel und arbeitet bereits seit Dezember 2019 in Rostock. Zernikow wird Nachfolgerin des langjährigen Leiters Folkert J. Janssen (62), der Mitte Februar in den Ruhestand geht. Der Seemannsdiakon wird am 31. Januar in der Rostocker Nikolaikirche feierlich verabschiedet.

Günther Bauer, Vorstandsvorsitzender der Inneren Mission München, wird am 7. Februar in der Christuskirche in München-Neuhausen offiziell in den Ruhestand verabschiedet. Er stand fast 26 Jahre im Dienst des diakonischen Trägers. Seine Nachfolge in der Leitung des größten Sozialträgers im Kirchenkreis München und Oberbayern tritt Thorsten Nolting an, der von der Diakonie in Düsseldorf kommt.

Eckart Hammer, Leiter des Campus Reutlingen der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, wird am 31. Januar nach über 40 Hochschulsemestern in den Ruhestand verabschiedet. Die Nachfolge des Diplom-Sozialpädagogen und Sozialwissenschaftlers übernimmt Professor Jo Jerg, der bisher schon als Studiengangleiter tätig war. Rektor Norbert Collmar dankte namens Eckart Hammer "für sein Engagement und seine Kompetenz, die wesentlich zum bisherigen Erfolg beigetragen haben". Der Alternswissenschaftler habe die mehr als fünfjährige Aufbau- und Entwicklungsarbeit für den Studiengang Soziale Arbeit am Campus Reutlingen sehr gut bewältigt.

Margarethe Mergen-Engelbert (64), Rektorin der Bethesda-Förderschule in Trägerschaft der kreuznacher Diakonie in Bad Kreuznach, geht am 31. Januar in den Ruhestand. Sie war seit 1982 dort Lehrerin. Die letzten zehn Jahre lang war die Sonderpädagin Schulleiterin. Die Bethesda-Schule ist eine von sieben Schulen in Rheinland-Pfalz mit dem Förderschwerpunkt motorische Entwicklung mit rund 120 Schülerinnen und Schülern.

Heinrich Aust, Mitbegründer des ökumenischen Augustinuswerks in Wittenberg, hat die Ehrennadel des Landes Sachsen-Anhalt erhalten. Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) übergab den Orden in der Staatskanzlei in Magdeburg. Aust 1990 war er Mitbegründer des Hilfswerks in Wittenberg, in dem heute 700 Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderung sowie pflegebedürftige alte Menschen von rund 350 Mitarbeitenden betreut werden.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis März



Februar

4.2. München

Symposium "Kassensturz in der Pflege"

des Kuratoriums Wohnen im Alter gAG

Tel.: 089/66558-565

5.-6.2. Köln:

Seminar "Gestaltung und Optimierung von Dienst- und Schichtplänen"

der Paritätischen Akademie

Tel.: 0202/2822-247

6.2. München:

KWA-Symposium "Kassensturz in der Pflege"

der Kuratorium Wohnen im Alter gAG

Tel.: 089/66558-565

12.-14.2. Tutzing

Tagung "Die Rentenpolitik vor Zukunftsentscheidungen"

der Evangelischen Akademie Tutzing

Tel.: 08158/251-128

12.-14.2. Berlin:

Seminar " Sozialräumliches Arbeiten in multikulturellen Wohnquartieren - Grundlagenkurs - Der Einbezug migrantischer Milieus als Gegenentwurf zur Stigmatisierung von "Parallelgesellschaften"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-495

17.2. Weimar:

Seminar "Bedarfsermittlung und Leistungsplanung auf Grundlage der ICF"

des Deutschen Vereins

Tel.: 030/62980 605

17.-19.2. Berlin:

Seminar "Verantwortungsbewusst handeln in der Arbeit mit illlegalisierten Menschen - Aktuelle Rechtslage und verbleibende Handlungsspielräume"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-495

18.2. Berlin:

Seminar "Einführung in das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)"

der Bundesakademie der AWO

Tel.: 030/26309-0

25.-26.2. Paderborn:

Seminar "Grundlagen der Personaleinsatz-planung in der stationären Altenhilfe"

der IN VIA Akademie

Tel.: 05251/2908–0

27.2. Köln:

Seminar "Pflegeversicherung aktuell: Die ambulante Pflege"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

März

4.3. Mainz:

Seminar "Fördermittel für Vereine und gemeinnützige Organisationen"

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/25298921

6.3. Berlin:

Seminar "Rund ums Urlaubsrecht - Beseitigung von Unklarheiten bei Urlaubsansprüchen"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/2758282-17

10.3. Berlin:

Seminar "Aktuelle Fragen der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (§§ 67 ff. SGB XII)"

des Deutschen Vereins

Tel.: 030/62980 301

10.3. Ludwigsburg:

Workshop "Digitale Moderationstools"

der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg

Tel.: 0170/6117483

10.-12.3. Berlin:

Fortbildung "Psychisch kranke Wohnungslose zwischen den Hilfesystemen - Aspekte bedarfsgerechter Hilfen"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/488 37-495

17.3. Braunschweig:

Fachtag "Pflege - Mehr Verantwortung für die Kommune – es funktioniert?!"

des DEVAP

Tel.: 030/83001-265

20.3. Leipzig:

Kongress "Aufarbeitung von DDR-Unrecht, Zwangsadoption und Säuglings-/ Kindstod in der ehemaligen DDR"

der Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR

Tel.: 0176/20144406

24.3. Berlin:

Seminar "Rechtliche Grundlagen der Dienstplangestaltung"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/2758282 17