Die Fälle von Diabetes in Pflegeheimen nehmen zu, auch bei dementen Bewohnern. Doch das Personal ist häufig überfordert. Es fehle oft an grundlegendem Wissen, sagen Experten. Das ist mehr als bedenklich. Dabei liegt die Lösung eigentlich auf der Hand: die Fortbildung der Fachkräfte müsste ausgeweitet werden. Doch die Krankenkassen ziehen nicht mit. Deshalb geht das Altkönig-Stift im hessischen Kronberg einen vorbildlichen eigenen Weg und schult sein Personal in Sachen Diabeteseinstellung eben selbst. Ich habe den Kurs besucht.
Klar, wer würde da widersprechen: Das problemlose Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung sollte längst der Normalfall sein. Ist es aber nicht. Immerhin hat es sich seit 2009, als die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft trat, einiges zum Positiven verändert. Doch klar ist auch: Grund zum Unmut gibt es noch immer. So etwa jüngst bei den Wahlrechtsausschlüssen für Menschen mit Handicap. Die Opposition macht Druck und will das Wahlrecht für betreute Behinderte schon zur Europawahl in Karlsruhe einklagen.
Werden die Pflegedienstanbieter Diakonie und Arbeiterwohlfahrt in Niedersachsen wirklich ihre Angebote der ambulanten Pflege einstellen? Eigentlich ist das kaum vorstellbar. Doch es könnte dazu kommen, denn sie halten die ambulante Pflege für zu schlecht refinanziert. Sie werfen den Krankenkassen vor, diese Angebote zu vernachlässigen. "Zwei Drittel unserer Dienste schreiben rote Zahlen", sagte der Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Dienstgeberverbandes Niedersachsen (DDN), Rüdiger Becker, in Hannover zur Begründung.
Wer bei der Kirche arbeitet, soll möglichst Kirchenmitglied sein. Sagen die Kirchen. Doch diese umstrittene Einstellungspraxis stößt an Grenzen, seit der Europäische Gerichtshof und das Bundesarbeitsgericht gegen die Sicht der Kirchen entschieden haben. Dagegen wehrt sich die Diakonie, sucht nun den Showdown. Sie will vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Man sehe sich durch die jüngsten Urteile in unzulässiger Weise im verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht beschränkt, erklärte Diakonie-Präsident Ulrich Lilie.
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Kronberg, Berlin (epd). Barbara Müller kommt sofort auf den Punkt: "Du musst brennen für den Diabetes", appelliert sie an die Pflegefachkräfte des Kronberger Altkönig-Stiftes. Die Diabetesberaterin und Buchautorin tut das seit Jahrzehnten. Sie spricht lebendig und in vielen Bildern. Auch in Kronberg hängen die Zuhörerinnen an ihren Lippen - und schauen gespannt auf die von Müller selbst gebastelten Anschauungsobjekte auf dem Tisch in der Mitte des kleinen Schulungsraumes.
Müller bricht in hessischer Mundart unvermittelt zu ihrer "kleinen Reise durch die Diabetologie" auf. Zeit zu verlieren hat sie nicht - und das im doppelten Sinn. Denn die Zahl der Diabetiker in Deutschland werde sich in den nächsten fünf Jahren verdoppeln - und auch vor den Pflegeheimen nicht haltmachen: "Das ist wie Pest und Cholera zusammen", sagt Müller, die seit über 25 Jahren als Beraterin im nahen Oberursel in der Schwerpunktpraxis des Diabetologen Günter Zehrt beschäftigt ist.
An der Magnetwand rechts neben der lebhaften Referentin hängt "Otto", eine fast lebensgroße Menschensilhouette aus grünem Filzteppichboden. Die schematisierten Organe springen dem Betrachter bunt und plastisch entgegen. Magen, Leber, Nieren, Darm, Venen und Arterien: Alles, was wichtig ist für das Verständnis des Stoffwechsels im Körper. "Das ist mein idealer Mann", scherzt die Kursleiterin. Aber: "Er trägt mir keinen Müll runter." Gelächter.
Mit blassgelbem, aufgeblähtem Bauschaum hat Müller graue Abwasserrohre aus dem Baumarkt verstopft. Kleine Schnapsflaschen und Zigaretten schauen daraus hervor - symbolische Ursachen für extreme schädliche Plaques in den Arterien. Und wie funktioniert der Transport des Zuckers vom Darm durch die Blutkörperchen in die Zellen? Müller macht auch das anschaulich: Auf kleine rote Plastikkugeln, den Blutkörperchen, hat sie verschieden viele Stückchen Würfelzucker aufgeklebt. Bei zu viel Zucker werde das Blut dickflüssiger, fließe langsamer: "Es wird 'babbisch'." Klingt einfach - und bleibt hängen.
Diabetes in Pflegeheimen - das ist vielfach noch ein unerkanntes Problem. "Der Fokus in der Pflege lag in den letzten Jahren vor allem auf dem Umgang mit Demenzerkrankten. Die Probleme von Demenz und Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes, die ein hohes Maß an Selbstverantwortlichkeit erfordern, wurden nur wenig beleuchtet", räumt Boris Quasigroch, der Geschäftsführer des Altkönig-Stiftes, ein. Und weiß, wovon er spricht: 180 Bewohner seines Hauses seien betroffen. Das sind rund 30 Prozent aller dort wohnenden über 60-Jährigen.
Dazu kommt erschwerend, dass die Einstellung des Zuckers viel Know-how erfordert und auch Zeit braucht. Der verdichtete Arbeitsalltag in vielen Pflegeheimen ist dagegen oft geprägt von Hektik, Stress und Personalmangel. Kein gutes Arbeitsumfeld also für gewissenhafte Diabetestherapien, potenziert bei Personen mit Demenz.
"Diabetes wird für viele Pflegende zu einer zusätzlichen Herausforderung", sagt Dirk Müller-Wieland, der Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). Jedes Jahr erkrankten etwa 270.000 Menschen in Deutschland neu an Diabetes Typ 2, schätzungsweise 500.000 Heimbewohner sind von der Stoffwechselstörung betroffen. Genaue Zahlen gibt es nicht, teilt die Krankenkasse DAK mit. Nach Schätzungen der AOK sind über die Hälfte aller Diabetiker über 65 Jahre alt.
Barbara Müller, die auch Kreativseminare an der Novo Nordisk-Akademie in Mainz gibt, ist im Altkönig-Stift keine Fremde. Seit vier Jahren gibt sie im genossenschaftlich betriebenen Haus Kurse, die das Personal mit der Diabetes-Behandlung von Senioren vertraut machen. Dabei entfaltet sie einen Potpourri an Themen: Zuckerwertmessung, Laborwerte, Medikamentierung, Ernährung, Insulintherapie, Spritztechnik, Gefahren der Unterzuckerung. Schnell wird deutlich: Es gibt vieles, was die Pflegekräfte wissen müssen - und vieles können sie auch falsch machen.
Der Kardinalfehler mit oft verheerenden Folgen: Die Pflegekräfte spritzen bei der sogenannten konventionellen oder intensivierten konventionellen Therapie Insulin ohne vorherigen Blutzuckertest. "Das geht grundsätzlich gar nicht", sagt Müller: "Den Blutzucker kann man nicht an den Augen ablesen." Werde nämlich zu viel Insulin gespritzt, droht eine gefährliche Unterzuckerung, der Kreislauf kollabiert. "Das müssen wir in den Heimen durchbringen."
Die medizinische Versorgung von Diabetespatienten in Heimen sei im Vergleich zu anderen chronisch Kranken meist schlecht, urteilt der stellvertretende Vorsitzende der AG Diabetes und Geriatrie der DDG, der Hamburger Chefarzt Jürgen Wernecke. "Das Personal weiß kaum Bescheid, wo die Risiken liegen. Etwa bei der Frage, wie eine schwere Unterzuckerung zu behandeln ist", sagte der Leiter der Klinik für Diabetologie und Medizinisch-geriatrischen Klinik am Agaplesion Diakonieklinikum Hamburger dem Evangelischen Pressedienst (epd).
"Die Gefahren in den Pflegeinrichtungen werden weithin unterschätzt", betont Wernecke - und Anzeichen für Unterzuckerung wie Zittern, Schwitzen, innere Unruhe oder auch Sehstörungen würden nicht wahrgenommen. In der Folge entstünden oft lebensbedrohliche Szenarien, die fast immer zum Notarzteinsatz führten. Es drohten Herz-Kreislauf-Attacken und damit auch folgenreiche Stürze.
Auch die Hausärzte könnten kaum dazu beitragen, die Probleme zu lösen. Sie seien häufig überfordert. "Die Ärzte agieren auf dem Boden ihrer eigenen früheren Ausbildung mit oft viel zu niedrigen Blutzuckerzielwerten und falschem Diätverständnis, was die Gefahren von auch von schweren Unterzuckerungen noch verstärkt."
Der Arzt wirbt mit Nachdruck dafür, Pflegekräfte in Kursen besser zu schulen. "Es müsste dafür zwingend mehr Unterstützung geben", sagte der Mediziner - und meint die Krankenkassen. Er regte an, in Heimen eine bestimmte Anzahl an speziell für Diabetes ausgebildete Pflegekräften gesetzlich vorzugeben: "Hier müssen Politik und Krankenkassen mit ins Boot, sonst wird das nichts." Doch die Krankenkassen winken ab. Bei der DAK heißt es auf Nachfrage: "Für Schulungen von Pflegekräften sind die Einrichtungen zuständig. Wir fördern sie nicht."
Aus der Sicht des Verbandes Deutscher Alten- und Behindertenhilfe (VDAB) ist das auch nicht nötig. Es gebe in Pflegeeinrichtungen genügend und gut ausgebildetes Personal für die Betreuung von Bewohnern mit Diabetes. "Das bestätigen auch die Ergebnisse der Qualitätsprüfungen, die keine Auffälligkeiten in diesem Bereich aufweisen", heißt es auf Anfrage. Und: Es gebe genügend Schulungen, auch der VDAB habe dazu ein eigenes Foren- und Seminarangebot. "Ein weiterführendes Engagement seitens der Krankenkassen oder der Politik erachten wir als nicht notwendig."
Barbara Müller hält das schlicht für realitätsfremd. "Der Alltag in Pflegeeinrichtungen sieht leider ganz anders aus." Das Haus hier, und sie lässt den Arm im Schulungsraum kreisen, "das ist in Sachen Diabetes die Creme de la Creme. Das gibt es nicht oft. Und ich kenne viele Heime."
Die Dunkelziffer der Diabetespatienten in Heimen sei hoch, erläutert Müller. "Denn es wird ja meist keine spezielle Diagnostik vorgenommen." Dabei könne man gerade in der Frühphase der Entstehung von Diabetes so viel dagegen machen. "Das geht aber nicht, weil die Krankenkassen das nicht bezahlen. Das ist völlig bekloppt."
Müller strahlt beim Anblick von Aissadou Balde. Sie gehörte vor vier Jahren zu den ersten Kursteilnehmerinnen im Wohnstift. Heute ist sie nach mehreren Fort- und Weiterbildungen die erste Diabetes-Pflegefachkraft - und damit Anlaufstelle für alle, die auf Probleme mit der Zuckereinstellung der von ihnen betreuten Bewohner stoßen. Und die nutzen den neuen Service: "Das Angebot erfreut sich wachsender Nachfrage und stellt einen weiteren Baustein unseres medizinischen und pflegerischen Leistungsspektrum dar", lobt Geschäftsführer Quasigroch.
Für Balde ist es wichtig, dass die Patienten mit ihrem Diabetes gut umgehen können. Wo Unterstützung, etwa bei dementen Bewohnern, nötig sei, soll sie auch gegeben werden: "Wir wollen fachlich kompetent sein. Auch wenn das von den behandelnden Ärzten nicht immer anerkannt wird."
Hamburg (epd). Jürgen Wernecke erläutert im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd), dass die Gefahren einer Unterzuckerung bei Heiminsassen weithin unterschätzt werden. Der stellvertretende Vorsitzende der AG Diabetes und Geriatrie des Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) wirbt mit Nachdruck dafür, Pflegekräften deutlich mehr Fortbildungskurse anzubieten. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Die Alterung der Gesellschaft nimmt zu, auch die Zahl der Demenzpatienten mit Diabetes steigt. Gibt es Studien über die Versorgung dieser Personen in Heimen?
Jürgen Wernecke: Nein, aktuelle Daten gibt es leider dazu nicht. Ich habe selbst vor etwa 15 Jahren hier in Hamburg eine kleine Erhebung gemacht. In dieser konnte ich in mehreren Einrichtungen eines inzwischen von der Stadt verkauften Pflegeheimträgers Menschen mit Diabetes herausfiltern, bei denen die Diagnose bereits bekannt war. Wir haben nicht erneut eine Diagnostik betrieben, dann wäre die Zahl vermutlich noch höher ausgefallen. Damals kamen wir auf 25 Prozent der Bewohner, die Diabetes hatten. Ich gehe davon aus, dass das heute die Lage in allen Pflegeheimen ist, denn in den vergangen zehn Jahren hat sich auf diesem Feld nicht wirklich etwas verändert.
epd: Wie war die medizinische Versorgung dieser Personen?
Wernecke: Im Vergleich zu anderen chronisch Kranken war sie schlecht. Das hängt vor allem damit zusammen, dass das Personal kaum Bescheid wusste, auf was bei Diabetes zu achten ist und wo die Risiken liegen. Etwa bei der Frage, wie eine schwere Unterzuckerung zu behandeln ist. Wie sie überhaupt zu erkennen ist. Man muss sich darüber klar sein: Das sind lebensbedrohliche Szenarien. Unterzuckerungen sind im Alter viel häufiger als in jungen Jahren, sie kommen nur bei einem Prozent der jüngeren Menschen mit Diabetes vor. Offiziell liegen die Zahlen bei Senioren bei sechs, sieben Prozent. Vermutlich ist aber die Dunkelziffer deutlich höher, weil der Zucker ja nicht kontinuierlich gemessen wird und die Bewohner sich oft nicht mehr ausreichend melden können.
epd: Ist die Lage in den Kliniken besser, wo es ja auch viele Senioren mit Zuckerkrankheit gibt?
Wernecke: Nicht wirklich. Wir sind noch weit entfernt vom flächendeckend diabetesgeeigneten Krankenhaus. Denn auch die Pflegekräfte in den Kliniken haben große Wissenslücken. Ihnen fehlen zudem die Möglichkeiten zur speziellen Diabetes Fortbildung. Da gibt es einfach nichts adäquates.
epd: Warum sind Senioren durch Diabetes und speziell Demente gefährdet?
Wernecke: Das hat vor allem den Grund darin, dass, selbst wenn sie die Symptome einer Unterzuckerung spüren, viel langsamer reagieren. Wenn die Betroffenen sich dann nicht selbst melden oder melden können und die Pflegekräfte das nicht im Blick haben, wird es richtig gefährlich. Ganz besonders bei Personen mit Herzinsuffizienz. Sie sind eine besondere Risikogruppe.
epd: Welche Gefahren drohen?
Wernecke: Es kann vorkommen, dass ein solcher Patient wegen einer unerkannten schweren Unterzuckerung durch Stresshormonausschüttung schwerwiegende Herzrhythmusstörungen entwickelt und dann ganz unerwartet morgens tot im Bett liegt. Und nicht zu vergessen: Unterzuckerungen und Kreislaufversagen führen oft zu sehr folgenschweren Stürzen.
epd: Also ist nicht der Überzucker, sondern der Unterzucker gefährlich?
Wernecke: Beides, aber der Unterzucker ist deutlich gefährlicher. Bis sich Langzeitfolgen von schlecht eingestellten Diabetikern etwa an den Augen, den Nieren, den Nerven und Gefäßen zeigen, vergehen durchschnittlich zehn bis fünfzehn Jahre, die ein älterer Patient oft nicht mehr erlebt. Treten akut Folgeschäden auf, sind das die Folge von lange zurückliegenden zu hohen Blutzuckerwerten. Kurzfristig hätten sie sich nicht mehr verhindern lassen. Natürlich darf man auch die Gefahren einer Austrocknung durch längere Phasen mit zu hohen Blutzuckerwerten nicht unterschätzen. Aber durch den Unterzucker bestehen akute Gefahren eines Sturzes oder von lebensgefährlichen Herzrhythmusstörungen.
epd: Das sind aber noch nicht alle Folgen?
Wernecke: Nein. Studien haben zudem gezeigt, dass Unterzuckerung im Alter zusätzlich das Risiko, an Demenz zu erkranken, deutlich erhöht. Das geht um das zwei- bis dreifache rauf. Umgekehrt ist das Risiko für die Unterzuckerung bei Demenzpatienten wesentlich höher. Zum Beispiel dadurch, dass die Betroffenen vergessen, dass sie schon Insulin gespritzt haben. Oder sie spritzen Insulin, vergessen dann aber das Essen. Das ist ein Teufelskreis.
epd: Sind das neuere Erkenntnisse?
Wernecke: Jüngere Studien aus den USA haben gezeigt, dass es bis dahin unterschätzte Gefahren von Herzrhythmusstörungen bei der Unterzuckerung von Senioren gab. Jetzt ist man aufmerksamer. Man kann mit einem Langzeit-EKG gut ermitteln, was bei einer Unerzuckerung nachts mit dem Herzen passiert. Da kommen zum Teil abstruse Bilder heraus. Und man weiß inzwischen auch, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen schweren Unterzuckerungen, die zum Notarzteinsatz und Klinkaufenthalt führen, und der Demenzrate gibt. Demenz korreliert deutlich mit schwerer Unterzuckerung im Alter.
epd: Können nicht die Hausärzte, die in die Heime kommen, für Besserung sorgen?
Wernecke: Ja, das müssten sie, denn das sind ja die einzigen Ärzte, die überhaupt in die Heime gehen. Diabetologen, da müssen wir uns an die eigene Nase fassen, tauchen dort kaum oder überhaupt nicht auf. Klar ist aber auch: Die Hausärzte sind beim Problem Diabetes häufig überfordert. Sie agieren auf dem Boden ihrer eigenen früheren Ausbildung mit oft viel zu niedrigen Blutzuckerzielwerten und falschem Diätverständnis, was die Gefahren von auch von schweren Unterzuckerungen noch verstärkt.
epd: Seit wann hat die Deutsche Diabetes Gesellschaft speziell die Senioren auf dem Plan?
Wernecke: Eigentlich schon seit 1999. Da haben wir uns erstmals in der Arbeitsgruppe Diabetes und Geriatrie getroffen. Die war aus dem Bedarf heraus entstanden, denn es gab zwar bereits gute Schulungskonzepte für jüngere Diabetiker. Aber für Senioren hatten wir damals nichts, man musste also etwas für Ältere tun. So entstanden Schulungsprojekte für ältere Menschen mit Diabetes und Behinderung und später auch spezielle Kursangebote für Fachkräfte in der Altenpflege. Die DDG ist da bis heute aktiv und bietet verschiedene Kurse an, etwa ein Langzeitprogramm mit monatlich 80 Stunden. Da ist, auch wegen der Kosten, die Nachfrage nicht so groß. Deshalb haben wir jetzt die ersten Trainings für eine Basisqualifikation von Pflegekräften gemacht. Die dauert 16 Stunden und wird deutlich besser nachgefragt. Aber, man muss es klar sagen: Hier ist noch echt viel zu tun.
epd: Der Streit über die optimalen Blutzuckerwerte für verschieden Personengruppen dauert seit Jahren an. Was sind die aktuellen Vorgaben der DDG?
Wernecke: Mit angeschoben durch die USA ist es auch hierzulande zu einer anderen Bewertung gekommen. Man strebt in der Diabetestherapie nicht mehr die gleichen Werte wie bei jüngeren und gesunden Menschen an. Da ist die Herangehensweise komplett anders geworden. Das gilt auch für unsere DDG- Vorgaben. Man muss das Alter einfach differenziert betrachten. Bei jüngeren Menschen gilt der Langzeitwert (HBa1C), also der Wert, der den durchschnittlichen Blutzucker wiedergibt, von 6,5 bis 7,5. Bei funktionell eingeschränkten älteren Personen mit einer Lebenserwartung unter 15 Jahren kann dieser Wert hochgehen bis 8,0 und bei hochgradig eingeschränkten oder ausgeprägt Dementen, wird ein Wert von 8,5 völlig toleriert.
epd: Kommen wir noch mal auf die Behandlung von Diabetes in Heimen zurück. Was ist zu raten?
Wernecke: Wichtig ist, dass Therapien angewendet werden, bei denen man einen gefährlich niedrigen Blutzucker vermeidet. Wenn Insulin zum Tragen kommt, dann muss man auf den erhöhten Zielbereich achten und bei unregelmäßiger Nahrungsaufnahme zum Beispiel nach der Mahlzeit spritzen. Im Heim sollte das möglich sein. Aber wir haben noch größere Probleme, die Patienten in der ambulanten Pflege zu versorgen, wenn die dement werden und noch zu Hause leben. Der Pflegedienst kommt, spritzt Insulin und ist dann Minuten später wieder weg. Das kann dann bei Unterzuckerung echt gefährlich werden. Hier kann nur eine Besserung eintreten, wenn die Angehörigen so geschult werden, dass sie die Insulintherapie begleiten und die Symptome etwa von Unterzuckerung kennen und wissen, was dann akut zu tun ist. Das Ding ist aber noch gar nicht gehoben. Auch hier fehlt ein flächendeckendes Schulungsprogramm.
epd: Was trägt die bessere Ausbildung von Pflegekräften zur Problemlösung bei?
Wernecke: Ich glaube, die Kurse bringen wesentliche Verbesserungen. Das hat mehrere Gründe. Die Zahl der Diabetiker wird absehbar eher größerwerden. Und die Zahl der Pflegekräfte wird nicht stark wachsen, zumindest nicht kurzfristig. Wenn man überhaupt was erreichen will, dann muss man die vorhandenen Pflegekräfte und auch die Angehörigen besser mit dem Thema Diabetes vertraut machen. Nur so lässt sich die Versorgungsqualität überhaupt steigern. Man kann nicht zehn Jahre abwarten, ob neue Ausbildungsinhalte in der Pflege ans Ziel führen und wirksam sind. Das können wir uns nicht leisten.
epd: Warum wird das Kursprogramm denn nicht deutlich ausgeweitet?
Wernecke: Ich habe in der Vergangenheit beim Versuch, die Kostenträger mit ins Boot zu holen, viel Frust erlebt. Das war sehr enttäuschend. Am engagiertesten waren die Pflegekräfte selbst. Die waren regelrecht euphorisch als wir die ersten Kurse gemacht haben und sie haben die Kosten überwiegend selbst getragen. Die Fachkräfte waren auf diesem Gebiet nahezu abgeschnitten von Fortbildungen. Jegliche Versuche, dass die Kranken- und Pflegekasse hier die Kosten übernehmen, sind damals gescheitert. Die Kassen denken meinem Eindruck nach nur von heute bis maximal ins nächste Jahr, und dann ist Schluss. In Sachen Nachhaltigkeit kommt da nichts. Immerhin sind manche, zumeist größere Arbeitgeber aufgeschlossener, denn diese Fortbildungen tragen auch zu einer höheren Zufriedenheit ihrer Mitarbeiter bei.
epd: Braucht es einen zusätzlichen Impuls?
Wernecke: Ja. Ich wünsche mir mehr Interesse auch von der Politik. Es müsste zwingend mehr Unterstützung geben für diese Kurse. In anderen Bereichen, etwa bei der Dekubitusprophylaxe, muss man bestimmte Vorgaben einhalten. So etwas wird auch geprüft, dann wirkt das. Ich wäre sehr dafür, in Heimen auch eine bestimmte Anzahl an speziell für Diabetes ausgebildete Pflegekräften vorzugeben, wobei dann die Gefahr besteht, dass die Kosten nur wieder bei den Arbeitgebern hängenbleiben. Hier müssen Politik und Krankenkassen mit ins Boot, sonst wird das nichts.
Frankfurt a.M. (epd). Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) schätzt, dass bundesweit über 500.000 Heimbewohner zuckerkrank sind. Häufig gesellt sich zu der Stoffwechselstörung auch noch eine Demenzerkrankung, was die Behandlung zusätzlich massiv erschwert. Worauf bei der Therapie zu achten ist und wie Angehörige auch in Heimen unterstützend tätig sein können, erläutert die DGG:
- "Oberstes Therapieziel im vorgerückten Alter ist, schwere Unterzuckerungen zu vermeiden", betont Expertin Anke Bahrmann. Denn diese Hypoglykämien können zu gefährlichen Stürzen führen, fördern Herzrhythmusstörungen und Demenz. Hilfreich ist ein möglichst einfaches, übersichtliches Therapieschema. "Das kann auch bedeuten, möglichst lange an bekannten und eingeübten Therapien festzuhalten, weil selbst gut gemeinte Vereinfachungen bei Demenzkranken schnell zu Therapiefehlern führen können."
- Ob leckere Schokolade, kühler Orangensaft oder hausgemachter Kartoffelsalat - Besucher bringen ihren Verwandten gerne eigene Köstlichkeiten mit, wogegen grundsätzlich nichts spricht. Aber: Das sollte jedoch unbedingt mit dem Pflegepersonal besprochen werden, damit die Blutzuckereinstellung angepasst werden kann.
- Angehörige können die Behandlung auch mit einfachen Maßnahmen wie etwa dem Spazierengehen unterstützen. Jede körperliche Aktivität ist besser als keine.
- Weil 80 Prozent der Heimbewohner nicht in der Lage sind, ihre Füße selbst zu kontrollieren, sollten Angehörige das übernehmen oder das Pflegepersonal darum bitten. Diese Inspektionen sind wichtig, um ein Diabetisches Fußsyndrom zu verhindern, das im schlimmsten Fall zur Amputation führen kann. Auch sollten Pflegebedürftige jedes Jahr auf Folgeerkrankungen wie Polyneuropathie (Störung der Reizübertragung im Nervensystem), Nierenschäden und Retinopathie (Netzhauterkrankung) untersucht werden.
- Bei der Diabetestherapie dementer Senioren sollten Angehörige beharrlich nachfragen, ob die Patienten tatsächlich Insulin gespritzt haben. Wichtig ist, dass Angehörige die Warnzeichen für Über- oder Unterzuckerung erkennen. Dazu zählen vor allem Zittern, Schwitzen und innere Unruhe. Auch Sehstörungen geben Anlass zur Besorgnis. Angehörige sollten das Pflegepersonal über solche Beobachtungen umgehend informieren.
Berlin (epd). Politik, Gesetzgebung, Alltagsbewältigung: Für behinderte Menschen hat sich seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention vor zehn Jahren in Deutschland vieles zum Besseren verändert. Aber es gibt auch Rückschläge. Diese Bilanz zog das Deutsche Institut für Menschenrechte am 20. März in Berlin und forderte Bund, Länder und Kommunen zu weiteren Anstrengungen auf.
Die Oppositionsfraktionen Grüne, Linke und FDP wollen beim Bundesverfassungsgericht ein Wahlrecht für behinderte Menschen schon zur Europawahl im Mai einklagen.
Trotz zahlreicher Verbesserungen sieht der Bericht des Menschenrechts-Instituts in den zentralen Bereichen Wohnen, Arbeit, Bildung und Personenverkehr weiterhin zu viele Barrieren für behinderte Menschen. Einer der Autoren, Valentin Aichele, kritisierte, es fehlten barrierefreie Wohnungen. Für die Schulen forderte Aichele analog zum Digitalpakt einen "Pakt für Inklusion".
Besorgniserregend sei ein "Trend zur Exklusion" bestimmter Gruppen, warnte Aichele. So arbeiteten heute 273.000 Personen in Werkstätten für behinderte Menschen, 45.000 mehr als vor zehn Jahren. Dies sei ein deutliches Zeichen, dass sie es auf dem normalen Arbeitsmarkt weiterhin schwer haben.
In stationären Einrichtungen wohnten 30.000 vorwiegend geistig behinderte Menschen, mehr als noch 2009. Dass es auch anders gehe, zeige die Entwicklung bei überwiegend seelisch behinderten oder psychisch kranken Menschen, wo die Zahl derer, die nicht in Heimen wohnen, um 94.000 gestiegen ist. Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert, dass jeder Mensch seine Wohnform frei wählen können soll.
Zu den Vorgaben der Konvention zählt auch das inklusive Wahlrecht. Die Oppositionsfraktionen der Grünen, Linken und der FDP im Bundestag wollen, dass alle behinderten Menschen es bei der Europawahl wahrnehmen können. Sie haben eine entsprechende einstweilige Anordnung beantragt, wie die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Bundestag, Britta Haßelmann, sowie die Rechtspolitiker Stephan Thomae (FDP) und Friedrich Straetmanns (Linke) in Berlin mitteilten.
"Wir haben heute gemeinsam mit den Fraktionen Die Linke und FDP eine einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts beantragt, damit Menschen mit Behinderungen in Vollbetreuung nicht von der Europawahl ausgeschlossen werden", sagte Haßelmann. Gegenstand des Verfahrens seien Normen des Europawahlgesetzes, die einen solchen Ausschluss vorsehen.
Der Bundestag hatte am 15. März beschlossen, dass künftig auch behinderte Menschen mit Vollbetreuung wählen und für eine Wahl kandidieren dürfen. Der mehrheitlich angenommene Antrag der Koalitionsfraktionen sieht aber vor, dass die Reform erst zum 1. Juli in Kraft tritt und damit zur Europawahl Ende Mai noch nicht wirksam ist.
Die Reform sieht auch vor, schuldunfähigen psychisch kranken Straftätern, die im Maßregelvollzug untergebracht sind, die Wahlberechtigung zu erteilen. Sie soll ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts umsetzen, das im Februar entschieden hatte, dass auch Behinderte, die unter Betreuung stehen, nicht von Wahlen ausgeschlossen werden dürfen.
Der teilhabepolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Jens Beeck, erklärte, der gemeinsame Gang der Fraktionen von FDP, Linken und Grünen vor das Bundesverfassungsgericht sei die letzte Konsequenz, um diesen Grundrechtsbruch zu verhindern. "Denn mit diesem Vorgehen untergräbt die große Koalition den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes von Anfang dieses Jahres, dass die Wahlrechtsausschlüsse unrechtmäßig sind." Die Ausschlüsse dürften nicht länger angewendet werden: "Andernfalls raubt man diesen Menschen ein elementares Grundrecht."
In Deutschland leben 7,8 Millionen Menschen mit einer anerkannten Behinderung oder Schwerbehinderung, das sind 9,4 Prozent der Bevölkerung. Zentrales Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention ist die Inklusion, also die gleichberechtigte tatsächliche Teilhabe aller Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben. Das Menschenrechtsinstitut überwacht im Auftrag der Bundesregierung die Umsetzung der UN-Konvention. Die Vereinten Nationen haben den Vertrag 2006 beschlossen, seit 2008 ist er in Kraft.
Berlin, Hannover (epd). In Deutschland ist die UN-Behindertenrechtskonvention am 26. März 2009 in Kraft getreten. Die Bundesrepublik hat sich damit verpflichtet, das "Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen" umzusetzen.
Kernziel ist die vieldiskutierte Inklusion. Die UN-Konvention fordert unter diesem Stichwort die selbstbestimmte, umfassende gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen unabhängig von ihren geistigen und körperlichen Fähigkeiten, Geschlecht und Herkunft. In letzter Konsequenz bedeutet Inklusion, dass es keine eigenen Einrichtungen oder Anlaufstellen für behinderte Menschen mehr gäbe, weil sie überall zurechtkämen, etwa in Schule und Kindergarten, auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, im Straßenverkehr oder bei Behörden.
Im Jahr 2011 hat Deutschland den ersten Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Konvention beschlossen und ihn 2016 fortgeschrieben. Auch auf die Gerichtsurteile und die Gesetzgebung wirkt sich die UN-Konvention aus: Zuletzt urteilte das Bundesverfassungsgericht, unter Betreuung stehende behinderte Menschen und in Psychiatrien untergebrachte schuldunfähige Straftäter dürfen nicht von politischen Wahlen ausgeschlossen werden.
Das Institut für Menschenrechte überwacht im Auftrag der Bundesregierung die Umsetzung der Konvention, die am 13. Dezember 2006 von der UN-Generalversammlung beschlossen wurde und am 3. Mai 2008 in Kraft getreten ist.
Hannover, Mainz (epd). Die Bundesländer Niedersachsen und Rheinland-Pfalz wollen das inklusive Wahlrecht schon bei den Kommunalwahlen in diesem Frühjahr umsetzen. "Damit dürfen Menschen mit Behinderungen schon im Mai Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wählen", sagte Sozialministerin Carola Reimann (SPD) anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen am 20. März in Hannover.
Auch in Rheinland-Pfalz soll das Kommunalwahlgesetz geändert werden. Darauf haben sich die Regierungsfraktionen SPD, FDP und Grüne und die oppositionelle CDU geeinigt haben. "Das rheinland-pfälzische Wahlrecht wird damit inklusiver", heißt es in einer am 20. März verbreiteten gemeinsamen Erklärung.
Damit könnte die kuriose Situation entstehen, dass bislang vom Wahlrecht ausgeschlossene psychisch Kranke und Behinderte am 26. Mai zwar an den landesweiten Kommunalwahlen teilnehmen dürfen, nicht jedoch an der zeitgleich stattfinden Europawahl.
Die niedersächsische Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen, Petra Wontorra, sagte: "Wir sind auf einem guten Weg, aber es bleibt noch viel zu tun." Nicht alle Rechte von Menschen mit Behinderungen seien so umgesetzt, dass Inklusion überall gelebt werden könne.
Es sei wichtig, von einer defizitorientierten Sicht auf Behinderungen wegzukommen, sagte Wontorra am Rande einer Tagung des Niedersächsischen Inklusionsrats von Menschen mit Behinderungen. "Wir müssen hinkommen zu einer Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen, die geprägt ist von Respekt, Ressourcenorientierung und Empowerment." Ein Schritt in diese Richtung trüge auch zu mehr Vielfalt in der Politik bei. Niedersachsen gibt es mehr als 1,4 Millionen Menschen mit Behinderungen.
Gütersloh (epd). Timon war knapp drei Jahre alt, als Familie Hagenlüke aus Gütersloh von den Ärzten die Nachricht erhielt: Er ist an "Morbus Alexander" erkrankt. "Die Diagnose wurde uns sozusagen an den Kopf geworfen", erinnert sich Timons Mutter, Stephanie Hagenlüke. Weitere Informationen zu dieser seltenen, unheilbaren Erkrankung hätten sie nicht bekommen - nur den Rat, bloß nicht im Internet nachzuschauen. "Wir fühlten uns alleingelassen", sagt sie.
Stephanie Hagenlüke hat dann doch im Netz gelesen und dabei viel geweint, wie sie sagt: "Ich konnte das alles gar nicht glauben". "Morbus Alexander" gehört zu den Leukodystrophien. Bei diesen durch einen Gendefekt oft im Kindesalter ausgelösten, lebensverkürzenden Krankheiten wird das zentrale Nervensystem geschädigt. Die Betroffenen verlieren nach und nach ihre bereits erlernten Fähigkeiten; viele Kinder sterben früh.
Timon ist inzwischen zwölf Jahre alt. Die Ärzte sprächen von einem eher "milden Verlauf", sagen Stephanie und ihr Mann Jörg Hagenlüke. Aber seine Fähigkeiten haben schleichend nachgelassen. Der freundliche Junge, der eine Förderschule besucht, sitzt inzwischen im Rollstuhl, seine Sehkraft wird schwächer, die Sprache undeutlicher. Seit dem fünften Lebensjahr leidet Timon unter Krampfanfällen.
Leukodystrophien kommen geschätzt einmal bei rund 7.500 Lebendgeburten vor und zählen damit zu den "Seltenen Erkrankungen": Davon spricht man, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen das Krankheitsbild aufweisen. "Morbus Alexander" bekommt sogar nur eines von einer Million Neugeborenen. Insgesamt gibt es mindestens 8.000 verschiedene seltene Erkrankungen.
Eben weil diese Krankheitsbilder so selten sind, beginnen die Probleme schon bei der schwierigen Diagnose: "Betroffene berichten oft von einer Odyssee von Arzt zu Arzt", schildert Christine Mundlos von der "Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen" (Achse). Mit diffusen Symptomen gingen sie erst zu Haus- oder Kinderärzten, die wiederum andere Fachärzte hinzuzögen. Doch weil Detailwissen über die "Seltenen" vielfach fehle, komme es auch zu Fehldiagnosen und falschen Therapien. Spezialisten gebe es nur wenige. Sie sind an bundesweit rund 30 Zentren zu finden, in der Regel an Universitätskliniken.
Familie Hagenlüke bemerkte einige Monate nach der Geburt Timons, dass er manches deutlich später lernte als andere Kinder: sich etwa vom Rücken auf den Bauch zu drehen oder das Köpfchen zu heben. "Erst mit 26 Monaten fing er an zu laufen", erinnert sich die Mutter. Weil eine Entwicklungsverzögerung festgestellt wurde, verordneten die Ärzte auch Krankengymnastik.
Physiotherapeutin Katrin Westhoff, die seither regelmäßig zu Timon kommt, hatte bald das Gefühl: "Da könnte mehr dahinterstecken." Der Kinderarzt riet zu einer MRT-Untersuchung im Krankenhaus, die bei Timon Veränderungen der weißen Hirnsubstanz zeigte - Anzeichen für eine Leukodystrophie. Der dann von einer Uni-Klinik durchgeführte Gentest bestätigte den Verdacht und stellte das Alexander-Syndrom fest.
Im Internet stieß Stephanie Hagenlüke vor fünf Jahren auf den Selbsthilfeverein ELA, die Europäische Vereinigung gegen Leukodystrophien. Bei den jährlichen Vereinstreffen informieren Fachleute über neue Entwicklungen in Diagnostik, Therapie und Medizin. Dort erfuhr Stephanie Hagelüke von einem Spezialisten an der Uni-Klinik Leipzig, zu dem sie nun einmal im Jahr mit Timon reist. Sie hofft auf die Entwicklung neuer Medikamente, die das Fortschreiten der Krankheit zumindest verlangsamen könnten.
Die Fahrten nach Leipzig zahlen Hagenlükes privat, ebenso die Reittherapie für den Zwölfjährigen. Die Krankenkasse finanziert Logopädie und die zweimal wöchentliche Krankengymnastik. Die Physiotherapeutin möchte, so lang es geht, Timons Stehfähigkeit erhalten, die Neigung zu Spastiken bremsen und auch die Atemmuskeln stärken.
Außerdem kommt wöchentlich Familienhelferin Annette Wagner, die durch die Pflegekasse bezahlt wird. "Ich bin vor allem zur Entlastung der Mutter da", sagt Wagner, die Timon zur Reittherapie fährt, Schularbeiten der Geschwister begleitet oder die Wäsche des sechsköpfigen Haushalts übernimmt. Weil Timons Krankheit lebensverkürzend ist, wird die Familie auch von einem ambulanten Palliativ-Team betreut, regelmäßig kommen Hospizbegleiterinnen.
Was es in ihrer Situation an Hilfen gibt, musste die Familie nach eigenen Worten stets selbst herausfinden. Das Gesundheitssystem, findet Stephanie Hagenlüke, sei nicht wirklich auf Patienten wie ihren Sohn eingestellt. "Niemand nimmt einen an die Hand, gefühlt müssen wir um vieles erst kämpfen", sagt die gelernte Groß- und Außenhandelskauffrau, die nach Timons Diagnose ihren Job aufgeben musste.
Wissen über den praktischen Umgang mit der Leukodystrophie bekommen die Hagenlükes vor allem durch den Austausch mit anderen betroffenen Familien - zuletzt über Erfahrungen mit einer Magensonde. Weil Timon zu wenig trank und sich dabei oft verschluckte, nimmt er Flüssigkeit nun durch eine Sonde zu sich. Die Sorge der Mutter, dass ihr Junge dann auch aufhört, normal zu essen, hat sich nicht bestätigt: Pfannkuchen oder Bratwurst mag er noch immer besonders gern.
Gütersloh (epd). Von einer "seltenen Erkrankung" spricht man dann, wenn weniger als fünf von 10.000 Einwohnern ein spezifisches Krankheitsbild aufweisen. Es gibt mehr als 8.000 seltene Erkrankungen. In Deutschland sind rund vier Millionen Kinder und Erwachsene betroffen.
Die Diagnose ist langwierig und schwierig, weil oft viele einzelne Symptome zusammen erst das Krankheitsbild ergeben und sich etliche seltene Erkrankungen ähneln. Sie verlaufen meist chronisch und sind oft nicht heilbar. Viele sind genetisch bedingt und betreffen den Stoffwechsel, aber auch Muskulatur und das Nervensystem. Sie führen zu Invalidität und können auch lebensverkürzend sein.
Es gibt im ganzen Bundesgebiet mehr als 30 Zentren, die sich auf die Diagnose und Therapie von seltenen Krankheiten spezialisiert haben - meist an Universitätskliniken. Auch Selbsthilfeorganisationen stehen Betroffenen zur Seite. Die deutsche "Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (Achse)" fordert seit langem, dass die Versorgung der Erkrankten durch spezialisierte Zentren koordiniert werden soll. Zudem setzt Achse sich für eine Förderung der Forschung ein.
Seit 2008 wird jeweils am letzten Februartag der internationale "Tag der seltenen Erkrankungen" begangen. Im vergangenen Jahr gab es in Deutschland Aktionen in mehr als 20 Städten.
Berlin (epd). Patienten mit seltenen Erkrankungen werden nach Einschätzung des Selbsthilfeverbunds Achse noch zu oft unzureichend versorgt. Besondere Ambulanzen und Sprechstunden für seltene Krankheiten gebe es in Universitätskliniken zwar schon lange, sagte Christine Mundlos, stellvertretende Geschäftsführerin der "Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen" (Achse) in Berlin dem Evangelischen Pressedienst (epd). Wichtig sei aber eine übergreifende, koordinierende Struktur, in der die Patienten auf den "richtigen Pfad" geschickt würden.
"Wir brauchen eine bundesweit vernetzte Versorgungsstruktur durch spezialisierte Zentren", erläuterte die Ärztin. Die Umsetzung eines entsprechenden nationalen Aktionsplans aus dem Jahr 2010 hänge hinterher.
In Zentren für seltene Erkrankungen sollte es außerdem eine Anlaufstelle für Betroffene mit unklaren Diagnosen geben. Zur Abklärung der Symptome seien interdisziplinäre Fachkonferenzen der Ärzte notwendig.
Mundlos forderte auch eine finanzielle Stärkung von Selbsthilfeorganisationen, die oft nur von Spenden und Projektmitteln leben müssten. Die meist ehrenamtlichen Gruppen hätten immense Bedeutung für das Leben der Betroffenen mit ihrer Erkrankung. Ärzte könnten Diagnosen stellen und Therapien verordnen, aber die Auswirkungen der Krankheit für Familie, Beruf und den ganzen Alltag müssten die Patienten selbst bewältigen. "Selbsthilfegruppen fangen die Kranken und ihre Angehörigen dabei auf, geben ihnen Gemeinschaft und vermitteln fundiertes Wissen über die Krankheit."
Die Aufmerksamkeit für das Problem der seltenen Erkrankungen sei in den vergangenen Jahren gestiegen, hob Mundlos hervor. Die öffentliche Förderung von Forschung zu den "Seltenen" werde durch Programme und Wissenschaftspreise von Stiftungen ergänzt.
Nach wie vor würden aber viele Betroffene "von Pontius zu Pilatus" geschickt, bis sie endlich eine zutreffende Diagnose erhielten, kritisierte Mundlos, die als "Achse-Lotsin" Ärzte und Therapeuten berät. In der ärztlichen Ausbildung kämen die seltenen Erkrankungen zwar in den einzelnen Fachdisziplinen vor, doch würden deren gemeinsame Probleme nicht im Zusammenhang betrachtet.
Die "Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen" ist nach eigenen Angaben ein Netzwerk von mehr als 120 Selbsthilfeorganisationen von Patienten und Patientinnen und deren Angehörigen.
Berlin (epd). Der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, Peter Tschentscher (SPD), sagte am 21. März nach einem Treffen der Länderchefs in Berlin, die derzeit von Scholz veranschlagten 1,3 Milliarden Euro reichten nicht aus. Man wolle zügig mit dem Bundesfinanzminister weiter verhandeln, kündigte Hamburgs Erster Bürgermeister an. Sollte dies nicht zum Erfolg führen, soll es Tschentscher zufolge eine Sonder-Ministerpräsidentenkonferenz mit Beteiligung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu diesem Thema geben.
Der Bund hatte nach der Fluchtbewegung 2015 die Länder finanziell bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen unterstützt. Er zahlt eine Monatspauschale für Flüchtlinge im Asylverfahren und einen Festbetrag für Unterkunftskosten. In diesem Jahr summiert sich dies auf rund 4,7 Milliarden Euro.
Die Vereinbarung zur finanziellen Unterstützung läuft Ende des Jahres aus. Der Bund hat zugesagt, die Länder weiter zu unterstützen, will aber deutlich weniger zahlen als bislang. Auf Grundlage eines neuen Vorschlags des Bundes würden es Tschentscher zufolge künftig nur noch rund 1,3 Milliarden Euro sein. Er sagte, die Länder bräuchten aber mindestens die 1,8 Milliarden Euro für die Kosten der Unterkunft plus einer Integrationspauschale in geänderter Form.
Der Co-Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, der saarländische Regierungschef Tobias Hans (CDU), sagte, die Länder wollten sich nicht bereichern. Es gehe darum, entstehende Kosten auszugleichen. "In diesem Fall lassen wir auf gar keinen Fall locker", sagte er.
Grundsätzlich begrüßten Tschentscher und Hans das Bemühen um einen neuen Mechanismus für die Unterstützung des Bundes. Auch die Länder seien an einer strukturellen Klärung interessiert, sagte der Hamburger Bürgermeister. Der im Raum stehende Vorschlag, für jeden anerkannten Flüchtling 16.000 Euro über fünf Jahre zu zahlen, gehe aber nicht weit genug. Kosten entstünden auch für nicht anerkannte Asylbewerber und Flüchtlinge im Verfahren sagte Tschentscher.
Berlin (epd). Die Bundesregierung reagiert auf den zunehmenden Bedarf an Fachkräften mit einem neuen Gesetz, das Ausländern die Aufnahme von Jobs erleichtern soll. Dieses Ziel verfolgt der Entwurf eines Fachkräfteeinwanderungsgesetzes, das die "gezielte und gesteuerte Zuwanderung von Fachkräften aus Drittstaaten zu flankiert", teilte der Bundestag am 18. März mit.
"Zur Migrationssteuerung gilt es klar und transparent zu regeln, wer zu Arbeits- und Ausbildungszwecken nach Deutschland kommen darf und wer nicht. Der Grundsatz der Trennung zwischen Asyl und Erwerbsmigration wird beibehalten", betont die Regierung.
Der Vorlage zufolge sollen künftig alle Fachkräfte, die über einen Arbeitsvertrag und eine anerkannte Qualifikation verfügen, in Deutschland arbeiten können. Die Beschränkung auf "Engpassberufe" solle entfallen, hieß es. Auch auf die Vorrangprüfung, ob nicht auch Deutsche oder EU-Bürger für ein e ausgeschriebene Stelle infrage kommen, soll bei Fachkräften im Grundsatz verzichtet werden.
Für Fachkräfte mit abgeschlossener Berufsausbildung solle zudem die Möglichkeit zur befristeten Einreise zur Arbeitsplatzsuche analog zur Regelung für Fachkräfte mit akademischer Ausbildung geschaffen und für fünf Jahre befristet erprobt werden. Zudem solle der Aufenthalt zu ergänzenden Qualifizierungsmaßnahmen für Drittstaatsangehörige mit im Ausland abgeschlossener Berufsbildung attraktiver gestaltet werden, heißt es in der Gesetzesbegründung.
Die Bundesregierung verweist darauf, dass sich der Fachkräftemangel zu einem Risiko für die deutsche Wirtschaft entwickelt habe. Die Zahl der offenen Stellen sei aktuell auf rund 1,2 Millionen angestiegen. Der Fachkräftemangel sei bereits bei vielen Unternehmen, vor allem in der Gesundheits- und Pflegebranche, in den sogenannten Mint-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik), aber auch im Handwerk spürbar. Dabei fehlten nicht nur Hochschulabsolventen, sondern zunehmend auch Fachkräfte mit qualifizierten Berufsausbildungen.
Berlin (epd). Die Bundesregierung will mit einem Gesetz die Duldungen in Deutschland neu ordnen. Der Entwurf eines "Gesetzes über Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung" ziele darauf ab, besondere Fallgruppen der Duldungen neu zu strukturieren, teilte der Bundestag am 18. März mit. Betroffen seien langfristige Duldungen aus persönlichen Gründen, die für bestimmte Ausländer "einen rechtssicheren Aufenthalt ermöglichen und eine Bleibeperspektive aufzeigen", hieß es.
Dabei geht es um Ausländer, die eine qualifizierte Berufsausbildung aufnehmen (Ausbildungsduldung) oder durch eine "nachhaltige Beschäftigung ihren Lebensunterhalt selbst sichern und gut integriert sind (Beschäftigungsduldung)".
Wie die Bundesregierung ausführt, wurde in den vergangenen Jahren in Deutschland eine große Anzahl von Asylanträgen gestellt, die mittlerweile in der Regel nach kurzer Verfahrensdauer beschieden werden. Daran anknüpfend habe sich auch die Zahl der rechtskräftig abgelehnten Asylbewerber erhöht, die ausreisepflichtig sind, "aber aus tatsächlichen, rechtlichen, dringenden humanitären oder persönlichen Gründen eine Duldung erhalten".
Mit Stand vom November 2018 habe es laut Ausländerzentralregister 178.966 Personen mit einem Duldungsstatus gegeben. "Mit zunehmender Duldungsdauer gehe nicht selten auch eine zunehmende Integration einher", so die Regierung.
Die bisherige Regelung der Ausbildungsduldung nach Paragraf 60a Absatz 2 Satz 4ff. AufenthG soll künftig als Unterfall der Duldung aus persönlichen Gründen in eine eigene Norm überführt werden. Gleichzeitig werden wesentliche Voraussetzungen der Ausbildungsduldung gesetzlich genauer gefasst, um eine bundeseinheitliche Anwendungspraxis zu erreichen. Zudem sollen in die Ausbildungsduldung staatlich anerkannte Helferausbildungen einbezogen werden, soweit darauf eine qualifizierte Ausbildung in einem Mangelberuf folgt, hieß es.
Celle (epd). Der Politologe Bernd Grafe-Ulke warnt vor einer zunehmenden Diskriminierung von Sinti und Roma. Zwar seien sie als eine der vier nationalen Minderheiten in Deutschland anerkannt, "in den vergangenen Jahren wurden Sinti und Roma aber deutlich stärker zur Projektionsfläche von Hass und Gewalt", sagte Grafe-Ulke dem Evangelischen Pressedienst (epd). Das gelte nicht nur in Deutschland. "In manchen Westbalkan- und EU-Staaten sind teils schon pogromartige Übergriffe zu beobachten."
Grafe-Ulke leitet in der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten in Celle das Projekt "Kompetent gegen Antiziganismus und Antiromaismus - in Geschichte und Gegenwart".
Sowohl die EU-Politik als auch Einzelstaaten, Bürger und Medien müssten der Entwicklung wirksam entgegentreten, betonte Grafe-Ulke. Ein guter Anlass dafür seien aktuell die "Wochen gegen Rassismus". Diese werben noch bis Sonntag für die Europawahl im Mai. Es dürfe nicht sein, dass im Angesicht des aktuellen Mottos "Europa wählt Menschenwürde" die größte Minderheit Europas längst überwunden geglaubten Hass über sich ergehen lassen müsse. Viele Roma sähen sich als die wahren Europäer, da sie, auch durch Verfolgung und Vertreibung in den vergangen Jahrhunderten, in vielen Ländern Europas beheimatet und vertreten sind.
Historisch betrachtet kennzeichneten Vertreibungen, Entrechtung und Versklavung die Geschichte der Sinti und Roma, sagte der Politologe. Hunderttausende seien Opfer des Rassenwahns der NS-Zeit geworden und in Konzentrationslagern ermordet worden. Als Erbe der Nazizeit habe sich in Teilen der Gesellschaft bis heute die Vorstellung vom "klauenden und ungebildeten Zigeuner" gehalten, sagte Grafe-Ulke. "Dabei sind die Menschen teils noch nie einem Sinto oder Rom persönlich begegnet."
Vor diesem Hintergrund seien die Medien insbesondere in der Berichterstattung über Straftaten gefordert, etwa auf Mutmaßungen oder stereotype Täterbeschreibungen zu verzichten, mahnte der Experte. "Wenn ein Polizeibericht den Täter 'vermutlich als Bayer' beschriebe, würde das sicher eher belächelt. Steht dort aber 'vermutlich ein Roma' im Verdacht, eine Straftat begangen zu haben, kann das bestehende Vorurteile bestärken."
Problematisch sei auch, dass meist im Zusammenhang mit Sinti und Roma über "gescheiterte Biografien" berichtet werde. Über Sinti und Roma werde häufig im Kontext von Armutsmigration, Billig-Arbeit oder Obdachlosigkeit berichtet. Roma oder Sinti als erfolgreiche Unternehmerinnen und Unternehmer, Anwältinnen, Politiker oder Wissenschaftler seien dagegen selten ein Thema, sagte Grafe-Ulke.
Gießen, Kassel (epd). Nach der Einigung von Bund und Ländern zur Kostenübernahme bei Flüchtlingsbürgschaften bleiben weiterhin Fragen offen. So sind etwa beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Kassel noch immer etwa 20 Verfahren wegen Flüchtlingsbürgschaften anhängig, wie ein Sprecher des Gerichts dem Evangelischen Pressedienst (epd) sagte. Der zuständige Fünfte Senat habe die Jobcenter in diesen Verfahren mit der Bitte um eine Stellungnahme angeschrieben. Danach betrieben die Jobcenter die Verfahren "wie bisher weiter".
Anfang des Monats war eine Anweisung der Bundesagentur für Arbeit an die Jobcenter bekannt geworden, wonach Flüchtlingsbürgen von staatlichen Rückforderungen in vielen Fällen verschont bleiben. Die Hessische Landesregierung hat zudem die kommunalen Jobcenter aufgefordert, die Weisung des Bundes umzusetzen und Flüchtlingsbürgen nicht mehr zur Erstattung von Sozialleistungen heranzuziehen.
Das Jobcenter Gießen habe die Umsetzung der Weisung des Bundes zunächst zurückgestellt, da in dem Verfahren "noch einige offene Fragen abschließend geklärt werden müssen", teilte der Sprecher des Gießener Jobcenters, Marco Röther, dem epd auf Anfrage mit. "Dies betrifft unter anderem die Frage, wie in den abgeschlossenen Klageverfahren vorzugehen ist, die bereits zugunsten des Jobcenters entschieden wurden." Das Jobcenter Gießen habe die Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit in Frankfurt um eine Antwort gebeten. Bis zur abschließenden Klärung sehe man davon ab, die Flüchtlingsbürgen zur Erstattung von Sozialleistungen heranzuziehen.
Das Verwaltungsgericht Gießen hat in den vergangenen anderthalb Jahren rund 40 Verfahren zu Flüchtlingsbürgschaften entschieden. Weitere 60 Verfahren seien anhängig und würden "im Moment nicht terminiert", sagte die Gerichtssprecherin Sabine Dörr dem epd. Viele der bereits entschiedenen Verfahren seien zum VGH gegangen und somit "noch nicht rechtskräftig abgeschlossen". Auch sie sieht offene Fragen: So seien etwa die Prozesskosten bisher kein Thema gewesen. In den Verfahren habe die unterlegene Seite immer auch die Prozesskosten getragen.
Berlin (epd). In Berlin soll bis 2020 eine zentrale Anlauf- und Kompetenzstelle zur Wohnungsvermittlung für Flüchtlinge eingerichtet werden. Das kündigte Integrationsstaatssekretär Daniel Tietze (Linke) am 20. März an.
Die neue Stelle ist ein Ergebnis des Runden Tisches zur Verbesserung der Situation geflüchteter Menschen auf dem Wohnungsmarkt. An ihm nahmen Vertreter der Senatverwaltungen für Soziales, Wohnen und Antidiskriminierung, der Bezirke, der städtischen Wohnungsbaugesellschaften, der wohnungswirtschaftlichen Verbände sowie Flüchtlingsinitiativen und -organisationen teil.
Nach Schätzungen des Berliner Flüchtlingsrates leben derzeit rund 60.000 Wohnungslose in Berlin, wovon etwa die Hälfte Flüchtlinge sind.
In Einrichtungen des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) lebten im Mai 2018 rund 22.800 Geflüchtete. Weitere sind als Wohnungslose von den Bezirken in Hostels, sozialen Einrichtungen oder Wohnheimen untergebracht. Im vergangenen Jahr hat das LAF insgesamt 2.142 Asylsuchende in Wohnungen vermittelt. Von den jährlich etwa 15.000 Wohnungen der landeseigenen Wohnungsunternehmen wird im Durchschnitt jede vierte an Flüchtlinge vermietet.
Hannover (epd). Die Vergütungen, die die niedersächsischen Pflegekassen für die Leistungen ambulanter Dienste zahlten, seien "völlig realitätsfern", sagte Becker. Nur Dienste, die ihre Mitarbeiter deutlich schlechter als nach Tarif bezahlten, könnten unter diesen Bedingungen wirtschaftlich überleben. Der Verband der Ersatzkassen wies die Vorwürfe umgehend zurück.
Auch Sozialministerin Carola Reimann (SPD) appellierte an die Kassen, für eine angemessene Bezahlung zu sorgen. Die Kassen müssten ihrer Verantwortung für eine gute pflegerische Versorgung und Infrastruktur in Niedersachsen gerecht werden und endlich Tariflöhne refinanzieren, sagte Reimann in Hannover. Auch die zum Teil langen Anfahrtswege auf dem Land müssten angemessen bezahlt werden: "Ein Sparkurs auf dem Rücken der Pflegekräfte ist verantwortungslos." Niedersachsenweit werden der DDN zufolge rund 16.000 Patienten von gut 5.000 Pflegefachkräften ambulant versorgt.
Becker betonte, lediglich 15 Prozent der ambulanten Pflegedienste in Niedersachsen arbeiteten mit einem Tarifvertrag für ihre Beschäftigten. Dazu zählten die Dienste der DDN und der AWO. Zur Refinanzierung der Tarifverträge durch die Kassen steht am 21. März ein Schiedsgerichtstermin mit Vertretern der Kostenträger und der Leistungserbringer an (dessen Ergebnis lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor). Ein weiterer Termin ist für Anfang April angekündigt. Würden die Zahlungen an die Dienste nicht erhöht, müssten sich die tarifgebundenen Anbieter aus der ambulanten Pflege in Niedersachsen zurückziehen.
Die Bremer Pflegeforscher Stephan Görres und Heinz Rothgang sehen nach der Drohung von Diakonie und AWO in Niedersachsen, aus der ambulanten Pflege auszusteigen, gute Chancen auf eine Einigung mit den Pflegekassen. Die Wohlfahrtsverbände hätten angesichts des Pflegekräftemangels den Zeitpunkt für ihre Drohgebärde gut gewählt, sagte Görres, Professor für Alterns- und Pflegeforschung an der Universität Bremen, dem epd. Bei einem tatsächlichen Ausstieg «würden wir aus einem Pflegenotstand in eine Pflegekatastrophe rutschen». Die Pflegekassen würden dann dafür verantwortlich gemacht, weil sie den Auftrag hätten, die Pflege sicherzustellen: "Das können sie nicht riskieren."
Rothgang, der Professor für Gesundheitsökonomie an der Bremer Uni ist, sagte, alle Anbieter, auch die privaten, stünden nicht mehr in einem Wettbewerb um Patienten, sondern um Pflegekräfte. Bei den Kassen könnten sie inzwischen bessere Vergütungen für ihre Leistungen durchsetzen. Gleichzeitig können sie es sich nicht mehr leisten, niedrige Löhne zu zahlen. Höhere Löhne für Pflegekräfte gerade im ambulanten Bereich seien zudem dringend notwendig, um die Arbeit dort attraktiver zu machen. Nur dann könne das eigentliche Problem, der Pflegenotstand, behoben werden. Derzeit verdiene eine Fachkraft im Krankenhaus pro Monat im Schnitt rund 500 Euro mehr als in einem ambulanten Dienst.
Der Verband der Ersatzkassen in Niedersachsen (vdek) bezeichnete die Forderung der Wohlfahrtsverbände auf Nachfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) als "unrealistisch". Er warf Diakonie und AWO vor, "mit den Ängsten der Menschen zu spielen, um eigene finanzielle Interessen durchzusetzen". Allein zwischen 2013 und 2018 seien ihre Zuweisungen laut vdek um 14,3 Prozent gestiegen. Dabei sei die Tarifentwicklung ausdrücklich berücksichtigt worden. Ein Ausstiegsszenario aufgrund der Preisentwicklung sei daher nicht nachvollziehbar.
Der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes AWO Deutschland, Rifat Fersahoglu-Weber, sagte, Niedersachsen sei unter den alten Bundesländern Schlusslicht in der Vergütung der Pflege. Die Pflegekassen seien in diesem Bundesland "besonders hartleibig". In anderen Bundesländern funktioniere die Kooperation deutlich besser. Gerade die Pflegedienste, die sich ihren Mitarbeitern gegenüber bei der Bezahlung anständig verhielten, stünden durch dieses Verhalten vor dem Aus. "Wir haben alles optimiert, jeden Handgriff, jeden Tourplan", sagte er. "Da geht nichts mehr."
Unterstützung erhielten AWO und Diakonie vom Bundesverband der privaten Pflegeanbieter (bpa). Der Leiter der niedersächsischen Landesgeschäftsstelle, Henning Steinhoff, forderte ein "Machtwort" der Sozialministerin. Die Blockade- und Hinhaltepolitik der Kassen verschlechterten die Lage der Versicherten. In den neuen Bundesländern sei das Thema vom Tisch. Dort zahlten die Kassen die Tarife und die Fahrkosten adäquat.
Die Präsidentin der Pflegekammer Niedersachsen, Sandra Mehmecke, forderte die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung der Bevölkerung: "Hierfür ist die vollständige Refinanzierung von Kosten - ganz besonders von Tariflöhnen - unentbehrlich. Qualitativ hochwertige pflegerische Leistungen gibt es nicht zum Spartarif."
Der Sprecher der Gewerkschaft ver.di, Matthias Büschking, sagte, es sei unverständlich, warum die 2015 geschlossenen Vereinbarungen nicht umgesetzt werden. Das Sozialministerium habe das Papier damals mit unterzeichnet und müsse nun für die Umsetzung sorgen.
Der Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtsverbände, Franz Loth, verwies auf die prekären Lagen etlicher Pflegedienste. Die Möglichkeiten, die Defizite mit Eigenmittel auszugleichen, seien größtenteils erschöpft. Die Lösung liege in der Akzeptanz der transparenten Kostenkalkulation durch die Kassen.
Berlin (epd). Ein neuer Pflege-TÜV soll alten Menschen und ihren Angehörigen vom kommenden Jahr an die Suche nach einem guten Heim erleichtern. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV-Spitzenverband) gab am 20. März in Berlin bekannt, die neuen Prüfungen sollten im November dieses Jahres beginnen. Bis Ende 2020 sollen alle Heime geprüft werden. Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung und Sozialverbände begrüßten den Beschluss.
Der Vorstand des GKV-Spitzenverbands, Gernot Kiefer, sagte, gute und weniger gute Qualität werde erkennbar. Die neue Transparenz sei längst überfällig. Die bisherigen Pflegenoten stehen seit Jahren in der Kritik, weil sie zu positiv und einheitlich ausfallen. Die Durchschnittsnoten in allen Bundesländern bewegen sich nach Angaben des GKV-Spitzenverbands zwischen 1,1 und 1,4.
Künftig sollen laut GKV-Spitzenverband Ernährung, Körperpflege und Wundversorgung geprüft werden sowie die Anstrengungen einer Einrichtung, die Mobilität ihrer Bewohner zu erhalten oder Druckgeschwüren vorzubeugen. Bewertet wird auch, ob und wie oft die alten Menschen durch Bettgitter oder Gurte fixiert werden. Damit soll die eigentliche Pflege und Betreuung der Bewohner bei der Prüfung stärker im Fokus stehen als heute.
Schließlich soll auch das Pflegeheim selbst bewertet werden, etwa die Personalausstattung, die Erreichbarkeit oder ob Interessenten probewohnen können. Die Ergebnisse werden auf den Seiten der Kranken- und Pflegekassen veröffentlicht und in den Einrichtungen ausgehängt. Darauf hatte sich am Dienstagabend der erweiterte Qualitätsausschuss Pflege von Krankenkassen und Heimbetreibern verständigt.
Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, lobte die Einigung auf den neuen Pflege-TÜV als Durchbruch. Er sagte der "Neuen Osnabrücker Zeitung", künftig werde nicht mehr bewertet, ob und wie etwa ein Heim ein Konzept zur Dekubitusvermeidung aufgeschrieben habe, sondern "ob ein Pflegebedürftiger sich wundgelegen hat oder nicht. Das war überfällig".
Ein neues Prüfverfahren hätte eigentlich schon bis März 2017 entwickelt werden müssen. Die künftigen Regeln basieren auf Vorschlägen von Pflegewissenschaftlern, die diese dem Qualitätsausschuss im September vergangenen Jahres vorgelegt hatten.
Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele, begrüßte den künftigen Pflege-TÜV und sagte, für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen sei es wichtig, dass die Informationen verständlich aufbereitet würden. Der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, erklärte, jedes Jahr müssten mehr als 300.000 Pflegebedürftige eine stationäre Einrichtung finden. Ein Pflege-TÜV müsse eine schnelle Einschätzung ermöglichen.
In Deutschland beziehen rund 3,4 Millionen Menschen Leistungen der Pflegeversicherung. Rund 820.000 Pflegebedürftige werden in Heimen betreut.
Hannover (epd). Michael C. wollte eigentlich nur kurz Bier holen gehen. Doch er kam nicht mehr bis zum Kiosk, Schmerzen stachen in seinen rechten Fuß. "Da kam Blut aus dem Schuh", erzählt der 58-Jährige mit Schildmütze und grauem Rauschebart, der viele Jahre ohne Obdach auf der Straße gelebt hat. "Und es kamen Fliegen, die haben das gerochen." Im Krankenhaus erhielt er eine schockierende Diagnose: In dem schwer entzündeten Fuß hatten sich schon Maden eingenistet. "Ich hatte ja drei Wochen die Stiefel nicht ausgezogen." An das Leben auf der Straße war nicht mehr zu denken.
Seit einem halben Jahr lebt Michael C. jetzt in der diakonischen Krankenwohnung "Die Kurve" in Hannover. Sechs deutsche Städte bieten inzwischen solche Wohnungen an, alle betrieben von Diakonie und Caritas. Hier können Obdachlose zur Ruhe kommen und ihre Leiden auskurieren. Hannover und Köln waren vor rund 20 Jahren die Pioniere, Osnabrück, Hamburg, Berlin und Dortmund sind nachgezogen.
Werena Rosenke von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ist froh über das steigende Angebot: "Die Wohnungen sind ein Ankerpunkt, um von da aus weiterführende Hilfe zu organisieren." Zwar bleibe es oberstes Gebot, für jeden Obdachlosen eine eigene Wohnung zu finden. Doch Krankenwohnungen seien eine gute Zwischenlösung für Wohnungslose, die gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden seien und auf keinen Fall auf die Straße zurück könnten: "Es muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass wohnungslose Menschen diesen Bedarf haben und dass man sie nicht einfach vor die Tür setzen kann."
Michael C. hatte in Hannover drei Jahre lang "Platte gemacht", bevor er in die "Kurve" kam. Vor einem Geschäft in der City war sein Stammplatz, hier hat er mit Decken und Schlafsack auch bei Regen und Schnee genächtigt. Nur bei eisigen Minusgraden zog er in eine Notunterkunft. Sein Hab und Gut schob er in einem Einkaufswagen vor sich her.
"Das Schöne an der Straße ist: Du kannst machen, was du willst", sagt der gebürtige Lübecker. Okay, die Polizei schränke einen manchmal ein. Doch viel schlimmer seien die Diebstähle von Schlafsäcken oder Kleidern: "Da wirst du als Obdachloser auf der Straße noch von anderen beklaut - da kann man den Glauben an die Menschheit verlieren." Einmal wurde er nachts auf einer Parkbank von zwei Jugendlichen angegriffen und am Kopf verletzt.
Michael C. hat mal Betriebswirtschaft studiert, so erzählt er. Doch als sein Elternhaus verkauft werden musste, sei er auf der Straße gelandet und dann quer durch Norddeutschland gezogen. Lebte zeitweise bei Freunden, in Heimen oder in Schrebergärten. Sonne, Wind und Wetter haben ihre Spuren in seine Haut gegraben. "Ich bin nie dem Staat zur Last gefallen, ich hab mich immer durchgeschlagen."
Auch in der Krankenwohnung ist er noch im Zwiebellook gekleidet wie früher: ein T-Shirt, zwei Hemden, eine Weste und zwei Jacken übereinander. "Wenn man draußen lebt, ist man gewohnt, immer die Klamotten anzuhaben." Mit fünf Mitbewohnern teilt er sich jetzt die Wohnung. Einige sind sehr schwer krank: Ein Mann und eine Frau haben Krebs. Einer anderen Frau sind in der Kälte die Beine erfroren, sie mussten amputiert werden. Eine Krankenschwester versorgt alle Bewohner medizinisch.
Einmal in der Woche kocht oder backt die ganze Gruppe zusammen. "Es ist wie in einer Familie", sagt Sozialarbeiterin Sibylle Petersen. Sie steht den Bewohnern der "Kurve" im Alltag zur Seite und begleitet sie auch bei Arztbesuchen, Behördengängen oder zur Schuldnerberatung. Petersen sieht Staat und Gesellschaft in der Pflicht, Wohnungen für Obdachlose bereitzustellen: "Wenn sie erst einmal ein Zuhause haben, entstehen viele Krankheiten erst gar nicht."
Zehn Quadratmeter hat Michael C. jetzt vorübergehend für sich, dazu gemeinsame Wohnräume, Küche, Bad. "Man hat sein eigenes Reich und kann auch mal die Tür zumachen." Allerdings musste er sich erst einmal an den neuen Lebensstil gewöhnen. Anfangs hortete er seine Sachen noch zum Teil im Bett und schlief im Sitzen. Doch das hat sich nach ein paar Wochen geändert.
Zeitlich begrenzt ist der Aufenthalt in der Krankenwohnung nicht. Doch die "Kurve" entwickelt gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohner eine Perspektive, wie es weitergehen soll. Ziel ist meist der eigene Wohnraum. Je nach Bedarf vermitteln Petersen und ihre Kolleginnen auch in ein Wohnheim, ein Pflegeheim und manchmal sogar ins Hospiz.
Michael C. hofft auf eine neue Bleibe, die er bald beziehen kann. Eine eigene Wohnung zu finden, ist schwer, das weiß er: "Einen Schrebergarten würde ich auch nehmen." Für Sibylle Petersen jedenfalls steht fest: "Wir bieten den Menschen nicht die Möglichkeit und den Raum, ihre gesundheitliche Situation zu verbessern, um sie anschließend wieder auf die Straße zu entlassen."
Hannover (epd). Seit Herbst 2016 forscht das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in empirischen Studien zur Wahrnehmung der Diakonie. Die Studie verbindet zwei unterschiedliche Perspektiven in den Ansichten der Bevölkerung. Zum ersten werden durch Vergleiche mit zwei Vorgängerbefragungen aus den Jahren 2001 und 2005 Trends in der Bekanntheit und dem Image der großen Wohlfahrtsorganisation sichtbar. Zum zweiten befasst sich die Studie erstmals mit der Ankopplung der Arbeit von Diakonie und Kirche an die sozialen Themen und an Probleme, die in der Bevölkerung virulent sind.
In bisherigen kirchen- und religionssoziologischen Untersuchungen stand die Intensität der (subjektiven) Religiosität und - damit verbunden - die Relevanz religiöser Themen oder religiöser Kommunikation im Zentrum des Interesses. Dabei wird durchgehend ein Bedeutungsverlust der christlich-religiösen Orientierungen in unserer Gesellschaft diagnostiziert. Zugleich haben aber die Erwartungen der Bevölkerung - auch der konfessionell nicht gebundenen - an ein soziales Engagement der Kirche im Allgemeinen höchsten Stellenwert. Das legt die Frage nahe, inwieweit Kirche und Diakonie daran anknüpfen können.
Die aktuelle Studie basiert auf einer telefonischen Repräsentativbefragung der Bevölkerung in Deutschland ab 14 Jahren mit 2.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Die Ergebnisse zu Bekanntheit und Image der Diakonie wurden 2018 publiziert. Die Auswertung zur Relevanz sozialer Themen und ihrer Verbindung zur Wahrnehmung diakonischen beziehungsweise kirchlichen Handelns ist gerade erschienen.
Für die Diakonie ergibt sich - wie bei fast allen der insgesamt 19 nachgefragten Hilfsorganisationen, darunter auch die sechs Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege - ein "doppelter Negativeffekt", wenn es um die Bekanntheit und das Image in der Bevölkerung geht: Noch stärker als der Bekanntheitsgrad ist die zugesprochene Unterstützungswürdigkeit zurückgegangen.
Die Ergebnisse lassen auf einen gesellschaftlichen Negativtrend in der Wahrnehmung der unterschiedlichen Organisationen schließen. Dazu könnten auch strukturelle Veränderungen in der Landschaft gemeinnütziger Organisationen beitragen, die sich aus der seit 1995 anhaltenden Zunahme von Vereinen - das ist die häufigste Rechtsform - mit unterschiedlichsten inhaltlichen und räumlichen (häufig auch lokalen) Bezügen ergeben.
Ebenfalls, aber weniger stark gesunken ist der gesellschaftliche Stellenwert, den die Diakonie aus Sicht der Befragten hat: Ihr Ansehen und ihre Wichtigkeit werden geringer als in den Vorgängerbefragungen bewertet. Allerdings überwiegt 2016 noch deutlich die Anerkennung, auch unter Konfessionslosen.
Besondere Relevanz für das Selbstverständnis der Diakonie als soziale Dienstleisterin, deren Handeln zugleich Wesensäußerung der evangelischen Kirche und damit Ausdruck ihrer christlichen Fundierung ist, hat Folgendes: Sie erhält gute Noten für die Qualität ihrer Leistungen. Die Bedeutung des christlichen Hintergrunds ihrer Arbeit wird jedoch geringer als früher veranschlagt.
Auch ihre Wahrnehmung als Anwältin von Hilfebedürftigen hat deutlich nachgelassen, von 73 Prozent auf 59 Prozent. Darüber hinaus sprechen sich weniger Befragte als in den Vorgängerbefragungen dafür aus, dass die kirchlich Beschäftigten den christlichen Hintergrund der Diakonie zu erkennen geben sollen (2001: 53 Prozent, 2016: 41 Prozent). Dies ist vor allem bei den Konfessionslosen der Fall (2001: 41 Prozent, 2016: 20 Prozent), deren Anteil im Zeitvergleich der Befragungen stark gestiegen ist: von 22 auf 35 Prozent.
Im Unterschied zu religiösen Themen oder gar zur religiösen Kommunikation haben soziale Themen in der Bevölkerung eine hohe Bedeutung, und sie sind bei den meisten über Gespräche mit anderen in das eigene Alltagsleben eingebunden: 76 Prozent nennen von sich aus soziale Themen, die ihnen "besonders wichtig" sind, und sie sprechen darüber nicht nur mit der Familie oder mit Freunden, sondern auch mit Kollegen, Nachbarn oder Zufallsbekanntschaften. Soziale Themen könnten sich damit für Diakonie und Kirche als aussichtsreicher Anknüpfungspunkt für eine stärkere Präsenz ihres Wirkens erweisen. Dies darf jedoch nicht im Sinne einer Alternative missverstanden werden. Es sind nämlich zugleich die Kirchenzugehörigen, und unter ihnen die kirchlich-religiös Hochidentifizierten, die sozialen Themen die größte Relevanz einräumen.
Am häufigsten werden die Themen Armut (23 Prozent), Flüchtlinge/Migration/Integration (18 Prozent) und Unterstützung für Bedürftige (elf Prozent) angegeben. Das gesellschaftlich drängende Problem der Pflege erreicht den zehnten Platz in der Rangfolge (sieben Prozent) und genießt damit keine besondere Priorität. Demgegenüber wird die Diakonie in spontanen Assoziationen zuallererst als Pflegedienst (63 Prozent) gesehen.
Zur Frage, inwieweit sich Diakonie und Kirche um die den Befragten jeweils wichtigen sozialen Themen kümmern, schneidet die Diakonie besser ab. An erster Stelle wird ihr für den Bereich der Pflege ein starkes Engagement attestiert (54 Prozent). Einen ähnlich hohen Wert erreichen die Unterstützung für Bedürftige und soziale Hilfen (jeweils 53 Prozent). Im Hinblick auf das Thema Armut, dem die Befragten den höchsten Stellenwert beimessen, ist das erheblich seltener der Fall (39 Prozent); entsprechendes gilt für die Flüchtlingsthematik (36 Prozent).
Genauere Analysen zeigen, dass die Relevanz sozialer Themen und die Bewertung des Engagements von Diakonie und Kirche an die traditional geprägte Religiosität gebunden sind: Kirchenzugehörigkeit, vor allem aber eine stärkere religiös-kirchliche (Ein-)Bindung der Kirchenmitglieder tragen in hohem Maß zu einer intensiveren Kommunikation und Präsenz des Engagements von Diakonie und Kirche im sozialen Themenfeld bei.
Fazit: Gerade für die Diakonie scheint ein Ansetzen bei sozialen Themen aussichtsreich, wenn es gelingt, die Aufmerksamkeit in der Bevölkerung für die unterschiedlichen Bereiche diakonischen Handelns zu stärken. Derzeit wird die Diakonie vor allem anderen als Pflegedienst wahrgenommen, was wohl nicht zuletzt auf die Entwicklung des sozialen Dienstleistungsmarktes seit Einführung der Pflegeversicherung 1995 zurückgeführt werden kann, in dem sich die Diakonie erfolgreich behauptet hat. Zugleich muss aber damit gerechnet werden, dass sich die anhaltend nachlassende religiös-kirchliche Bindung der Bevölkerung bemerkbar machen wird, da die Wahrnehmung diakonischen Handelns an die traditional geprägte Religiosität gekoppelt ist.
Hannover (epd). Eine neue Untersuchung bestätigt umfangreiche Medikamenten- und Impfversuche an Heimkindern in Niedersachsen zwischen 1945 und 1978. Solche Experimente gab es an den kinderpsychiatrischen Abteilungen des Psychiatrischen Krankenhauses Wunstorf und der Universität Göttingen, der Kinderklinik der Universität Göttingen, den Rotenburger Anstalten und im heilpädagogischen Kinder- und Jugendheim Brunnenhof in Rehburg-Loccum, wie aus der am 14. März in Hannover vorgestellten Studie des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung hervorgeht.
Zu den an den Mädchen und Jungen getesteten Substanzen gehörten demnach Neuroleptika, Antidepressiva, Bromverbindungen, Barbiturate, Antiandrogene, Antiepileptika und Vitaminderivate. Impfversuche fanden unter anderem mit Polioimpfstoffen statt. Wie viele Kinder und Jugendliche konkret betroffen waren, habe sich nicht genau ermitteln lassen, hieß es.
Nachdem Hinweise auf diese Versuche bekannt wurden, hatte das niedersächsische Sozialministerium 2017 die Erhebung beim Institut für Geschichte der Medizin in Auftrag gegeben. Die Historikerinnen sichteten anderthalb Jahre lang Akten, Archive, Fachpublikationen und sahen stichprobenhaft vorhandene Kranken- und Fallakten in Heimen ein. Dabei konnten sie 18 Studien über entsprechende Versuche an Kindern und Jugendlichen in niedersächsischen Heimen und Kinderkliniken im Zeitraum zwischen 1959 und 1978 bestätigen.
Die Untersuchungsergebnisse begründeten den Verdacht, dass die Sorgeberechtigten der Kinder und Jugendlichen nicht immer angemessen über die Versuche aufgeklärt und die notwendigen Einverständnisse nicht immer eingeholt wurden, sagte die Co-Autorin des Reports, Christine Hartig. "Bei einigen Arzneimittelversuchen ist mindestens gegen bereits zum damaligen Zeitpunkt vorhandene ethische und fachliche Standards verstoßen worden." Zumindest bei den Impfversuchen sei den Verantwortlichen klar gewesen, dass sie ohne Einwilligung der Erziehungsberechtigten gegen das im Grundgesetz festgeschriebene Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verstoßen hätten.
Niedersachsens Sozialministerin Carola Reimann (SPD) betonte, der Blick auf die noch gar nicht so lange vergangenen Vorfälle gebe Anlass, heutige Schutzsysteme für Menschen in Obhut von öffentlicher Verwaltung und die Dynamik von Arzneimittelforschung kritisch zu hinterfragen. Die wissenschaftliche Aufarbeitung sei auch für Betroffene sehr wichtig. "Ihnen gegenüber sind wir verpflichtet, die damaligen Vorgänge transparent und vollständig aufzuklären."
Das Sozialministerium hat ein weiterführendes Forschungsprojekt in Auftrag gegeben. Es soll mittels Einzelfallstudien Medikamenten- und Impfversuche vertiefend untersuchen und insbesondere die Rolle der öffentlichen Verwaltung sowie die Auswirkungen der Experimente auf die Probanden in den Blick nehmen.
Kassel (epd). Noch bis zum 29. März läuft die Abstimmung zum mit 3.000 Euro dotierten innovatio-Publikumspreis, heißt es in einer Mitteilung vom 19. März. Unter www.innovatio-sozialpreis.de kann Jeder seinem bevorzugten Projekt unter den 20 in der Endauswahl seine Stimme geben. Die Preisverleihung findet am 24. September statt.
Der Sozialpreis innovatio ist insgesamt mit 30.000 Euro dotiert und wird alle zwei Jahre verliehen. Ausgezeichnet werden Initiativen, die benachteiligten Menschen neue Perspektiven eröffnen, die sich für andere stark machen oder mit Kreativität und Mut nach sozialen Lösungen suchen, hieß es in der Mitteilung.
Gestiftet wird der Preis von den "Versicherern im Raum der Kirchen" und gefördert durch das Magazin chrismon. Schirmherren sind die Präsidenten des Deutschen Caritasverbandes und der Diakonie Deutschland.
Neuendettelsau, Schwäbisch Hall (epd). Das größte süddeutsche Diakonieunternehmen erhält den Namen "Diakoneo". Der neue Zusammenschluss der Diakoniewerke Neuendettelsau und Schwäbisch Hall werde in Zukunft mit dem Slogan "Weil wir das Leben lieben" werben, teilte der neue Verbund am 21. März in Nürnberg mit. Das neue Logo ist ein dreibalkiges Kreuz. Das fusionierte Unternehmen mit rund 10.000 Mitarbeitenden geht zum 1. Juli an den Start.
Man sei nach der Fusion unter den fünf größten Diakoniewerken in Deutschland, sagte der designierte Vorstandsvorsitzende von Diakoneo, Mathias Hartmann, bisher Vorstand der Diakonie Neuendettelsau. Der Leitung des Unternehmens sollen außerdem die bisherigen Vorstände aus Schwäbisch Hall und Neuendettelsau angehören. Auch die Aufsichtsgremien gehen zusammen. Sitz des Diakoneo wird Neuendettelsau.
Von den 2.300 Mitarbeitenden des bisherigen Evangelischen Diakoniewerks Schwäbisch Hall und den 7.800 Neuendettelsauer Beschäftigten müsse sich keiner Sorgen um seinen Arbeitsplatz machen, sagte Hartmann. "Wir brauchen alle Mitarbeiter und fusionieren, weil wir mehr Arbeit nachhaltig und stabil machen wollen".
Berlin (epd). Im Streit um das Verlangen einer Kirchenmitgliedschaft bei Stellenbewerbern ruft die Diakonie das Bundesverfassungsgericht an. Wie der Bundesverband am 19. März in Berlin mitteilte, hat das evangelische Werk Verfassungsklage gegen ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (Az.: 8 AZR 501/14) und ein vorhergehendes des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) eingelegt (Az.: C-414/169).
Beide Gerichte hatten im vergangenen Jahr entschieden, dass Kirchen und ihre Einrichtungen nicht in jedem Fall von Stellenbewerbern die Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche verlangen dürfen. Dadurch sehe man sich in unzulässiger Weise im verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht beschränkt, erklärte Diakonie-Präsident Ulrich Lilie.
"Wir brauchen Klarheit darüber, dass unser Recht auf Selbstbestimmung nicht durch EU-Recht ausgehöhlt wird", sagte Lilie. Er verwies auf den Vertrag zur Arbeitsweise der EU, der Religionsgemeinschaften in den einzelnen Mitgliedstaaten vor Beeinträchtigung schütze. Der EuGH habe die deutsche Rechtslage nicht angemessen beachtet und außerhalb seines Mandats gehandelt, sagte Lilie. Die Klage in Karlsruhe richtet sich deswegen nicht nur gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts, sondern auch gegen das der Luxemburger Richter.
Die hatten entschieden, dass eine Religionsgemeinschaft ihr sogenanntes Ethos, also ihre Wertegrundlage, selbst festlegen darf. Mit Verweis auf die Antidiskriminierungsrichtlinie der EU hatten sie aber auch entschieden, dass das Verlangen einer Kirchenzugehörigkeit von Stellenbewerbern "wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt" sowie gerichtlich überprüfbar sein muss. Darin sieht die Diakonie ein Problem: "Mit unserer Verfassungsklage wenden wir uns dagegen, dass theologische Kernfragen von Juristen entschieden werden", sagte Lilie.
"Wir sind aus gutem Grund evangelisch. Deshalb müssen wir auch die Möglichkeit haben, unser evangelisches Profil deutlich zu machen", sagte der Theologe dem epd. Das gelte auch für die Möglichkeit, "dass wir zunächst grundsätzlich von unseren Mitarbeitenden erwarten, dass sie evangelisch sind", sagte der Diakonie-Präsident. Es gebe bereits Ausnahmen und Öffnungsregelungen im kirchlichen Arbeitsrecht. "Aber wir möchten selbst entscheiden können, wann von diesem Grundsatz abgewichen werden kann", sagte Lilie.
Im konkreten Fall, über den die Gerichte zu entscheiden hatten, ging es um die Berlinerin Vera Egenberger, die sich beim Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung erfolglos für eine Referentenstelle beworben hatte. Die konfessionslose Bewerberin klagte auf Entschädigung, weil sie eine Diskriminierung aus religiösen Gründen annahm. Das Bundesarbeitsgericht sprach ihr im vergangenen Oktober eine Entschädigung von knapp 4.000 Euro zu.
Egenberger bedauerte die Entscheidung der Diakonie. "Ich halte den Schritt nicht für hilfreich, da die Diakonie an alten Strukturen festhalten will, die sich längst überlebt haben", sagte sie dem epd. Der Schritt habe sich jedoch abgezeichnet, sagte Egenberger.
In der Verhandlung vor dem Bundesarbeitsgericht im vergangenen Oktober hatte die dortige Richterin selbst gesagt, es könne gut sein, dass das letzte Wort in Karlsruhe gesprochen werde. Auch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di kritisierte die Diakonie. Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler warf dem Wohlfahrsverband vor, an "überkommenen Mustern" festzuhalten.
Erfurt (epd). Wegen eines Kirchenaustritts von einem kirchlichen Arbeitgeber abgelehnten Stellenbewerber steht nicht generell eine Entschädigung zu. Denn hat sich der Bewerber nur um die Stelle beworben, um später eine Diskriminierungsentschädigung erhalten zu können, handelt er "rechtsmissbräuchlich", entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einem am 18. März veröffentlichten Urteil. Die Erfurter Richter wiesen damit die Klage eines Rechtsanwalts gegen die Diakonie Mitteldeutschland ab.
Der Anwalt hatte sich im Juli 2011 bei der Diakonie auf eine Stelle als "Referent Arbeitsrecht" beworben. Dabei wurde auch "die Zugehörigkeit zur Evangelischen Kirche" oder einer anderen christlichen Kirche verlangt.
In seiner Bewerbung schrieb der Anwalt: "Derzeit gehöre ich aus finanziellen Gründen nicht der evangelischen Kirche an, jedoch kann ich mich mit den Glaubensgrundsätzen der evangelischen Kirche identifizieren, da ich lange Mitglied der evangelischen Kirche war."
Als er eine Absage erhielt und die Stelle im September 2011 neu ausgeschrieben wurde, warf er der Diakonie Diskriminierung vor. Die Absage sei wegen seiner fehlenden Kirchenzugehörigkeit erfolgt. Er verlangte mindestens 3.705 Euro Entschädigung.
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Sachsen-Anhalt wies die Klage mit Verweis auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ab. Danach dürften kirchliche Arbeitgeber unabhängig von der Tätigkeit von Bewerbern die Zugehörigkeit zur Kirche verlangen.
Vor dem BAG hatte die Klage ebenfalls keinen Erfolg, jedoch aus anderen Gründen. Nach dem AGG dürften kirchliche Arbeitgeber zwar die Besetzung einer Stelle von der Kirchenzugehörigkeit abhängig machen. Die entsprechende Vorschrift verstoße jedoch gegen EU-Recht und dürfe nicht angewendet werden, erklärte das BAG mit Verweis auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 17. April 2018 (Az.: C-414/16). Danach könne eine Kirchenzugehörigkeit bei einer Stelle nur verlangt werden, wenn dies für die Tätigkeit "wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt" sei.
Im jetzt entschiedenen Fall erhält der Anwalt keine Entschädigung, weil er sich nur beworben hatte, um später eine Entschädigung oder Schadenersatz einklagen zu können, so das BAG. Das sei ein "unredliches Verhalten" und "grundsätzlich nicht schutzwürdig". Mit seiner Aussage im Bewerbungsschreiben, dass er aus finanziellen Gründen keiner Kirche angehöre, habe er eine Absage provoziert. Er hätte die Kirchenzugehörigkeit auch unbeantwortet lassen können. Ihm musste klar sein, dass der Arbeitgeber den Kirchenaustritt als "Akt bewusster Abkehr von der evangelischen Kirche" betrachten würde.
Die Formulierungen ließen nur den Schluss zu, dass er den Arbeitgeber nicht überzeugen wollte, der bestmögliche Bewerber zu sein. Die Klage sei damit rechtsmissbräuchlich, so dass kein Entschädigungsanspruch bestehe.
Az.: 8 AZR 562/16
Erfurt (epd). Während der Elternzeit haben Arbeitnehmer Anspruch auf den gesetzlichen Urlaub. Arbeitgeber können diesen allerdings bis auf null kürzen, wenn sie das vor der Elternzeit der Beschäftigten mitteilen, stellte das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einem am 19. März verkündeten Urteil klar.
Damit kann die als Assistentin der Geschäftsleitung angestellte Klägerin während ihrer Elternzeit nicht den gesetzlichen Urlaub beanspruchen. Die Frau befand sich ab 2013 bis Ende 2015 durchgehend in Elternzeit. Im März 2016 kündigte sie das Arbeitsverhältnis und machte noch Urlaubsansprüche geltend. Sie meinte, dass sie während der Elternzeit auch Urlaubsansprüche habe. Insgesamt machte sie aus dem Zeitraum ihrer Elternzeit noch 89,5 Urlaubstage geltend.
Vor dem BAG hatte sie aber keinen Erfolg. Zwar besteht während der Elternzeit nach dem Elterngeldgesetz grundsätzlich Anspruch auf den gesetzlichen Urlaub, erklärten die Erfurter Richter. Der Arbeitgeber dürfe diesen aber pro Monat Elternzeit um ein Zwölftel und damit bis auf null kürzen, wenn er dies entsprechend erklärt.
Es sei ausreichend, dass der Arbeitgeber erkennbar von der Kürzungsmöglichkeit Gebrauch machen will. Hier habe der Arbeitgeber rechtzeitig erkennbar gemacht, dass die Urlaubsansprüche der Klägerin gekürzt werden sollen.
Az.: 9 AZR 362/18
Erfurt (epd). Arbeitnehmer können wegen eines unbezahlten Sonderurlaubs nicht den vollen gesetzlichen Mindesturlaub beanspruchen. Einem Arbeitnehmer steht in dem Kalenderjahr, in dem er sich durchgehend im unbezahlten Sonderurlaub befindet, kein Anspruch auf Erholungsurlaub zu, urteilte am 19. März das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt.
Nach dem Bundesurlaubsgesetz haben bei einer gleichmäßigen Verteilung der Arbeit auf sechs Tage pro Woche Arbeitnehmer Anspruch auf jährlich mindestens 24 Werktage Urlaub. Bei einer Fünftagewoche beträgt der Mindesturlaubsanspruch 20 Tage. Bei weniger oder mehr Arbeitstagen muss der Mindesturlaub entsprechend dem Arbeitsrhythmus berechnet werden.
Im jetzt entschiedenen Fall hatte die Klägerin unbezahlten Sonderurlaub erhalten. Als dieser vorbei war, meinte die Beschäftigte, dass ihr noch der gesetzliche Mindesturlaub von 20 Arbeitstagen für ein Kalenderjahr zustehe. Der Sonderurlaub sei als Arbeitszeit zu werten, so dass diese auch beim gesetzlichen Mindesturlaub mitzählen müsse.
Doch für den Sonderurlaub kann die Klägerin keinen bezahlten Mindesturlaub verlangen, urteilte das BAG. Denn während des unbezahlten Sonderurlaubs sei die Arbeitspflicht der Arbeitnehmerin ausgesetzt gewesen. Ihr stehe damit kein Anspruch auf Erholungsurlaub zu.
Az.: 9 AZR 315/17
Celle (epd). Strafgefangene können nach einem Urteil des Landessozialgerichtes Niedersachsen während einer Haftunterbrechung durch einen Krankenhausaufenthalt Hartz-IV-Leistungen bekommen. Zwar hätten sie während der Haft grundsätzlich keinen Anspruch, da sie im Gefängnis versorgt seien. Werde jedoch die Vollstreckung der Freiheitsstrafe für die Dauer einer stationären Behandlung außerhalb des Strafvollzugs unterbrochen, sieht das nach dem am 18. März in Celle bekanntgemachten Urteil anders aus.
Geklagt hatte ein 50-jähriger Langzeithäftling, der vor seiner Inhaftierung obdachlos war. Im Jahre 2016 wurde er herzkrank und brauchte eine Bypass-Operation. Krankenhausbehandlung und Reha dauerten rund drei Wochen. Für diese Zeit wollte er Unterstützung, da er kein Geld und kaum Kleidung hatte, die er außerhalb der Haft tragen konnte. In dieser Zeit sei der Kläger kein Strafgefangener, denn die Haftzeit verschiebe sich insgesamt um die Dauer der Behandlung, urteilte das Gericht in Celle. Das Jobcenter müsse ihm deshalb die Sozialleistungen zahlen.
Laut dem Gericht spielt es dabei keine Rolle, dass es nur um Leistungen für drei Wochen gehe. Das Sozialgesetzbuch kenne keine zeitliche Mindestgrenze der Hilfebedürftigkeit. Der Kläger müsse sich auch nicht die Vollverpflegung im Krankenhaus und der Rehaklinik anrechnen lassen, da der Regelbedarf pauschaliert sei. Eine individuelle Berechnung sei nicht vorgesehen.
Az.: L 11 AS 474/17
Brüssel, Luxemburg (epd). Eine durch Täuschung zustande gekommene Aufenthaltserlaubnis in der EU zum Zweck der Familienzusammenführung kann entzogen werden, auch wenn der Betreffende nicht von der Täuschung wusste. Das entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg am 14. März zum Fall einer chinesischen Familie in den Niederlanden.
Der Vater hatte laut den niederländischen Behörden seinen eigenen Aufenthaltstitel erschwindelt, teilte der EuGH mit. Über eine Familienzusammenführung erhielten seine Frau und ihr Sohn Aufenthaltstitel, die von dem Schwindel nichts gewusst haben sollen. Nach mehreren Jahren in den Niederlanden erhielten beide langfristige Aufenthaltsberechtigungen.
Der EuGH urteilte nun zur Aufenthaltserlaubnis zwecks Familienzusammenführung, dass diese laut EU-Gesetzgebung der Integration dessen diene, der sich in der EU aufhalte - hier also des Mannes und Vaters. Da die Aufenthaltstitel von Frau und Kind demnach bloß abgeleitet waren, könnten sie bei Täuschung entzogen werden.
Allerdings dürfe das nicht automatisch passieren, sondern erst nach individuellen Prüfungen, machten die Richter klar. Diese betreffe zum Beispiel die Bindungen, die Mutter und Sohn zu dem EU-Land entwickelt hätten. Abgesehen davon seien die langfristige Aufenthaltsberechtigungen auf jeden Fall zu entziehen. Das EU-Recht sehe dies bei Täuschung vor, egal ob der Betreffende diese verantwortete oder davon wusste.
Az.: C-557/17
Frankfurt a.M. (epd). "Bernd Henkemeier ist ein erfahrener Krankenhausmanager, der über zehn Jahre die Geschicke eines großen Klinikums in Nordrhein-Westfalen mitgeführt hat", erklärte Markus Horneber, Vorstandsvorsitzender Agaplesion gAG. Der bisherige Geschäftsführer Marko Ellerhoff (43) wird weiterer Geschäftsführer der Agaplesion Ev. Klinikum Schaumburg gGmbH.
Henkemeier studierte Rechtswissenschaft und begann seine Karriere in einer wirtschaftsrechtlich orientierten Kanzlei, bevor er ins Krankenhausmanagement wechselte. Er verfügt darüber hinaus über einige Zusatzqualifikationen im Gesundheitssektor, etwa im Gesundheitsmanagement und im Medizinrecht.
Dass Marko Ellerhoff nach Schaumburg wechselt, sobald die Nachfolge in Holzminden geregelt ist, hatte der Gesundheitskonzern bereits im November 2018 bekanntgegeben.
"Mit der Nachbesetzung in Holzminden und dem Wechsel von Herrn Ellerhoff nach Schaumburg ist die Geschäftsführung in Schaumburg nun wieder vollständig besetzt", sagte Jörg Marx, Vorstand der Agaplesion gAG. Zuvor hat Diana Fortmann für eine Interimszeit die Geschäfte in Schaumburg alleine geführt. Die Klinik verfügt über 437 Betten und 14 Fachabteilungen.
Gernot Kiefer wird stellvertretender Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbandes. Das hat der Verwaltungsrat am 19. März entschieden. Die neue Aufgabe übernimmt er am 1. Juli. Derzeit ist Kiefer Mitglied des Vorstandes. Damit ist die Nachfolge von Johann-Magnus v. Stackelberg geregelt, der am 30. Juni in den Ruhestand geht. Stefanie Stoff-Ahnis wird als Nachfolgerin von Johann-Magnus v. Stackelberg neu in den Vorstand einziehen. Kiefer wird seinen inhaltlichen Themen- und Arbeitsgebieten treu bleiben. Mit der Abteilung Gesundheit umfasst sein Verantwortungsbereich unter anderem Themen wie Pflegeversicherung, Leistungsrecht, Hilfsmittel und Prävention.
Stephanie Scholz, Europa-Referentin der Diakonie Deutschland, ist in den Eurodiaconia-Vorstand gewählt worden. Sie tritt die Nachfolge von Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik, an. Loheide konnte nach zweimaliger Amtszeit nicht wieder gewählt werden. Als weitere Vorstände wählte das Netzwerk der Diakonien in Europa auf seiner Jahreskonferenz in Edinburgh Sindre Skeie (Norwegen), Ramona Petrika (Lettland), Victoria Munsey (Italien), Olli Holmström (Finnland), Iwona Baraniec (Polen) und Vasileios Meichanetsidis (Griechenland). Gemeinsam mit Generalsekretärin Heather Roy werden sie vor allem das Büro von Eurodiaconia in Brüssel und damit das europäische Netzwerk als Ganzes unterstützen.
Albert Berner, Unternehmer mit Stammsitz in Künzelsau (Hohenlohekreis) wird in diesem Jahr mit dem "Deutschen CSR-Award" ausgezeichnet. CSR steht für sozialverantwortliche Unternehmensführung. Berner habe gezeigt, dass soziales Unternehmertum und wirtschaftlicher Erfolg einander gegenseitig ergänzen können, teilte das Deutsche CSR-Forums mit. Die Firma rüstet weltweit Handwerker mit Profi-Werkzeug bis zur Komplettausstattung für Kfz-Werkstätten aus. Wolfgang Schuster, Vorsitzender der Jury des CSR-Preises, sagte, Berner habe sein ganzes Leben lang die Grundsätze gesellschaftlicher Verantwortung als Unternehmer gelebt und sei Vorbild. Überreicht wird der Preis am 3. April in Stuttgart.
Claus Helmert beging kürzlich ein stolzes Dienstjubiläum. Der Finanzdirektor ist seit 40 Jahren beim Paritätischen Gesamtverband aktiv. Ulrich Schneider gratulierte und sagte, er freue sich auf die Zusammenarbeit der nächsten Jahre. Schneider ist 2019 seit 20 Jahren Hauptgeschäftsführer.
Can Durmusoglu (29), Erziehungswissenschaftler, ist neuer Referent für Kinder- und Jugendhilfe beim Paritätischen Hessen. Er folgt auf Marek Körner, der nach 21 Jahren im Dienst desd Paritätischen Hesen zur Fröbelgruppe gewechselt ist, einem Träger von Kitas. Durmusoglu studierte Erziehungswissenschaften und soziale Arbeit und war zuvor als Referent für Freiwilligendienste tätig.
26.3. München:
Seminar "Die Änderung von Arbeitsbedingungen - Weisung, Versetzung, Änderungskündigung, Mitbestimmung"
der Solidaris-Unternehmensgruppe
Tel.: 02203/8997-221
26.-27.3. Essen:
Seminar "Veränderungsprozesse in Unternehmen steuern - Bewusst kommunizieren und Widerstände verstehen"
der Paritätischen Akademie LV NRW
27.-29.3. Berlin:
Caritaskongress "Wir.Jetzt.Hier.Zusammenhalt"
des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/200-408
28.3. München:
Seminar "ABC des Umsatzsteuer- und Gemeinnützigkeitsrechts"
der Solidaris Unternehmensgruppe
Tel.: 02203/8997-221
28.-29.3. Herrenberg:
1. Betreuungsgerichtstag Baden-Württemberg "Unterwegs in neuen Galaxien - Qualität in der Betreuung"
des Badischen und Württembergischen BTG
Tel.: 0234/6406572
28.-29.3. Frankfurt a.M.:
Seminar "Was ist der Early Excellence Ansatz? - Philosophie und Geschichte, Leitgedanken, Pädagogische Strategien und Ethischer Code"
des Paritätischen Bildungswerks
Tel.: 069/6706-219/252
29.-31.3. Loccum:
Tagung "Mensch im Alter - Der Umgang mit Alter in Gesellschaft und hospizlicher Begleitung"
der Ev. Akademie Loccum und dem Zentrum für Seelsorge
Tel.: 05766/81-0
1.4. Berlin:
Seminar "Aktuelle Entwicklungen in der Heimaufsicht"
Tel.: 030/62980-606
2.4. Meckenbeuren:
Seminar "Sozialrecht in der Behindertenhilfe"
Tel.: 07542/10-0
2.-4.4. Nürnberg:
Messe "Altenpflege - Zukunftstag"
Tel.: 0511/89-30417
3.4. Berlin:
Seminar " Strategieentwicklung für Träger von ambulanten Pflege- und Betreuungsdiensten - Erfolgreiche Dienste zukunftsorientiert entwickeln - mit bewährten und neuen Ideen"
der BFS Service GmbH
Tel.: 0221/97356-159
4.4. München:
Seminar "Interne Revision bei gemeinnützigen Trägern"
der Solidaris Unternehmensgruppe
Tel.: 02203/8997-211
5.-6.4. Tutzing
Seminar "Arbeitsmarkt und Sozialsysteme im digitalen Wandel"
der Akademie für politische Bildung
Tel.: 08158/256-47
8.4. Hannover:
Seminar "Junge volljährige Flüchtlinge: Betreuung, Bildung, Arbeitsmarktintegration und Aufenthalt"
Tel.: 030/62980605
8.-9.4. Hannover:
Seminar "Junge volljährige Flüchtlinge: Betreuung, Bildung, Arbeitsmarktintegration und Aufenthalt"
Tel.: 030/62980-605
8.-9.4. Köln:
Seminar "Auf die Dauer hilft nur - Resilienz. Der Steh-Auf-Männchen-Effekt"
des Diözesan-Caritasverbandes Köln
Tel. 0221/2010273
8.-10.4. Remagen:
Seminar "Kritik- und Konfliktgespräche professionell führen"
Tel.: 030/26309-0
11.-12.4. Eichstätt:
Seminar "Ökonomie und Management der Sozialimmobilie"
der Katholischen Universität Eichstätt
Tel.:08421/932167
13.4. Wilhelmsdorf:
Fachtag "Teilhabe(n)": Gelingende Kommunikation im Erwachsenenalltag"
Tel.: 07503/929-0
13.4. Frankfurt a.M.:
Studientag "Zukunft der Pflege - von einer Gesellschaft in Sorge zu eine sorgenden Gemeinschaft"
der Diakonie Hessen
Tel.: 069/174152611
15.4. Köln:
Seminar "Kultur-Vielfalt und Kita",
des Diözesan-Caritasverbandes Köln
Tel. 0221/2010273
29.-30.4. Dortmund:
Seminar "Versteh mich nicht zu schnell - achtsames Arbeiten mit geflüchteten Familien"
Tel.: 0231/557026-41