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Gesundheit

Chefarzt: Teufelskreis aus Diabetes und Demenz durchbrechen




Jürgen Wernecke
epd-bild/Agaplesion
Jürgen Wernecke, Chefarzt der Klinik für Diabetologie und Medizinisch-geriatrischen Klinik am Agaplesion Diakonieklinikum Hamburg, fordert von Politik und Krankenkassen mehr Einsatz zur Behandlung von dementen Pflegeheimbewohnern, die an Diabetes leiden. Weder die Hausärzte noch die Pflegefachkräfte seien derzeit in der Lage, eine gute Diabeteseinstellung zu schaffen.

Jürgen Wernecke erläutert im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd), dass die Gefahren einer Unterzuckerung bei Heiminsassen weithin unterschätzt werden. Der stellvertretende Vorsitzende der AG Diabetes und Geriatrie des Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) wirbt mit Nachdruck dafür, Pflegekräften deutlich mehr Fortbildungskurse anzubieten. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Die Alterung der Gesellschaft nimmt zu, auch die Zahl der Demenzpatienten mit Diabetes steigt. Gibt es Studien über die Versorgung dieser Personen in Heimen?

Jürgen Wernecke: Nein, aktuelle Daten gibt es leider dazu nicht. Ich habe selbst vor etwa 15 Jahren hier in Hamburg eine kleine Erhebung gemacht. In dieser konnte ich in mehreren Einrichtungen eines inzwischen von der Stadt verkauften Pflegeheimträgers Menschen mit Diabetes herausfiltern, bei denen die Diagnose bereits bekannt war. Wir haben nicht erneut eine Diagnostik betrieben, dann wäre die Zahl vermutlich noch höher ausgefallen. Damals kamen wir auf 25 Prozent der Bewohner, die Diabetes hatten. Ich gehe davon aus, dass das heute die Lage in allen Pflegeheimen ist, denn in den vergangen zehn Jahren hat sich auf diesem Feld nicht wirklich etwas verändert.

epd: Wie war die medizinische Versorgung dieser Personen?

Wernecke: Im Vergleich zu anderen chronisch Kranken war sie schlecht. Das hängt vor allem damit zusammen, dass das Personal kaum Bescheid wusste, auf was bei Diabetes zu achten ist und wo die Risiken liegen. Etwa bei der Frage, wie eine schwere Unterzuckerung zu behandeln ist. Wie sie überhaupt zu erkennen ist. Man muss sich darüber klar sein: Das sind lebensbedrohliche Szenarien. Unterzuckerungen sind im Alter viel häufiger als in jungen Jahren, sie kommen nur bei einem Prozent der jüngeren Menschen mit Diabetes vor. Offiziell liegen die Zahlen bei Senioren bei sechs, sieben Prozent. Vermutlich ist aber die Dunkelziffer deutlich höher, weil der Zucker ja nicht kontinuierlich gemessen wird und die Bewohner sich oft nicht mehr ausreichend melden können.

epd: Ist die Lage in den Kliniken besser, wo es ja auch viele Senioren mit Zuckerkrankheit gibt?

Wernecke: Nicht wirklich. Wir sind noch weit entfernt vom flächendeckend diabetesgeeigneten Krankenhaus. Denn auch die Pflegekräfte in den Kliniken haben große Wissenslücken. Ihnen fehlen zudem die Möglichkeiten zur speziellen Diabetes Fortbildung. Da gibt es einfach nichts adäquates.

epd: Warum sind Senioren durch Diabetes und speziell Demente gefährdet?

Wernecke: Das hat vor allem den Grund darin, dass, selbst wenn sie die Symptome einer Unterzuckerung spüren, viel langsamer reagieren. Wenn die Betroffenen sich dann nicht selbst melden oder melden können und die Pflegekräfte das nicht im Blick haben, wird es richtig gefährlich. Ganz besonders bei Personen mit Herzinsuffizienz. Sie sind eine besondere Risikogruppe.

epd: Welche Gefahren drohen?

Wernecke: Es kann vorkommen, dass ein solcher Patient wegen einer unerkannten schweren Unterzuckerung durch Stresshormonausschüttung schwerwiegende Herzrhythmusstörungen entwickelt und dann ganz unerwartet morgens tot im Bett liegt. Und nicht zu vergessen: Unterzuckerungen und Kreislaufversagen führen oft zu sehr folgenschweren Stürzen.

epd: Also ist nicht der Überzucker, sondern der Unterzucker gefährlich?

Wernecke: Beides, aber der Unterzucker ist deutlich gefährlicher. Bis sich Langzeitfolgen von schlecht eingestellten Diabetikern etwa an den Augen, den Nieren, den Nerven und Gefäßen zeigen, vergehen durchschnittlich zehn bis fünfzehn Jahre, die ein älterer Patient oft nicht mehr erlebt. Treten akut Folgeschäden auf, sind das die Folge von lange zurückliegenden zu hohen Blutzuckerwerten. Kurzfristig hätten sie sich nicht mehr verhindern lassen. Natürlich darf man auch die Gefahren einer Austrocknung durch längere Phasen mit zu hohen Blutzuckerwerten nicht unterschätzen. Aber durch den Unterzucker bestehen akute Gefahren eines Sturzes oder von lebensgefährlichen Herzrhythmusstörungen.

epd: Das sind aber noch nicht alle Folgen?

Wernecke: Nein. Studien haben zudem gezeigt, dass Unterzuckerung im Alter zusätzlich das Risiko, an Demenz zu erkranken, deutlich erhöht. Das geht um das zwei- bis dreifache rauf. Umgekehrt ist das Risiko für die Unterzuckerung bei Demenzpatienten wesentlich höher. Zum Beispiel dadurch, dass die Betroffenen vergessen, dass sie schon Insulin gespritzt haben. Oder sie spritzen Insulin, vergessen dann aber das Essen. Das ist ein Teufelskreis.

epd: Sind das neuere Erkenntnisse?

Wernecke: Jüngere Studien aus den USA haben gezeigt, dass es bis dahin unterschätzte Gefahren von Herzrhythmusstörungen bei der Unterzuckerung von Senioren gab. Jetzt ist man aufmerksamer. Man kann mit einem Langzeit-EKG gut ermitteln, was bei einer Unerzuckerung nachts mit dem Herzen passiert. Da kommen zum Teil abstruse Bilder heraus. Und man weiß inzwischen auch, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen schweren Unterzuckerungen, die zum Notarzteinsatz und Klinkaufenthalt führen, und der Demenzrate gibt. Demenz korreliert deutlich mit schwerer Unterzuckerung im Alter.

epd: Können nicht die Hausärzte, die in die Heime kommen, für Besserung sorgen?

Wernecke: Ja, das müssten sie, denn das sind ja die einzigen Ärzte, die überhaupt in die Heime gehen. Diabetologen, da müssen wir uns an die eigene Nase fassen, tauchen dort kaum oder überhaupt nicht auf. Klar ist aber auch: Die Hausärzte sind beim Problem Diabetes häufig überfordert. Sie agieren auf dem Boden ihrer eigenen früheren Ausbildung mit oft viel zu niedrigen Blutzuckerzielwerten und falschem Diätverständnis, was die Gefahren von auch von schweren Unterzuckerungen noch verstärkt.

epd: Seit wann hat die Deutsche Diabetes Gesellschaft speziell die Senioren auf dem Plan?

Wernecke: Eigentlich schon seit 1999. Da haben wir uns erstmals in der Arbeitsgruppe Diabetes und Geriatrie getroffen. Die war aus dem Bedarf heraus entstanden, denn es gab zwar bereits gute Schulungskonzepte für jüngere Diabetiker. Aber für Senioren hatten wir damals nichts, man musste also etwas für Ältere tun. So entstanden Schulungsprojekte für ältere Menschen mit Diabetes und Behinderung und später auch spezielle Kursangebote für Fachkräfte in der Altenpflege. Die DDG ist da bis heute aktiv und bietet verschiedene Kurse an, etwa ein Langzeitprogramm mit monatlich 80 Stunden. Da ist, auch wegen der Kosten, die Nachfrage nicht so groß. Deshalb haben wir jetzt die ersten Trainings für eine Basisqualifikation von Pflegekräften gemacht. Die dauert 16 Stunden und wird deutlich besser nachgefragt. Aber, man muss es klar sagen: Hier ist noch echt viel zu tun.

epd: Der Streit über die optimalen Blutzuckerwerte für verschieden Personengruppen dauert seit Jahren an. Was sind die aktuellen Vorgaben der DDG?

Wernecke: Mit angeschoben durch die USA ist es auch hierzulande zu einer anderen Bewertung gekommen. Man strebt in der Diabetestherapie nicht mehr die gleichen Werte wie bei jüngeren und gesunden Menschen an. Da ist die Herangehensweise komplett anders geworden. Das gilt auch für unsere DDG- Vorgaben. Man muss das Alter einfach differenziert betrachten. Bei jüngeren Menschen gilt der Langzeitwert (HBa1C), also der Wert, der den durchschnittlichen Blutzucker wiedergibt, von 6,5 bis 7,5. Bei funktionell eingeschränkten älteren Personen mit einer Lebenserwartung unter 15 Jahren kann dieser Wert hochgehen bis 8,0 und bei hochgradig eingeschränkten oder ausgeprägt Dementen, wird ein Wert von 8,5 völlig toleriert.

epd: Kommen wir noch mal auf die Behandlung von Diabetes in Heimen zurück. Was ist zu raten?

Wernecke: Wichtig ist, dass Therapien angewendet werden, bei denen man einen gefährlich niedrigen Blutzucker vermeidet. Wenn Insulin zum Tragen kommt, dann muss man auf den erhöhten Zielbereich achten und bei unregelmäßiger Nahrungsaufnahme zum Beispiel nach der Mahlzeit spritzen. Im Heim sollte das möglich sein. Aber wir haben noch größere Probleme, die Patienten in der ambulanten Pflege zu versorgen, wenn die dement werden und noch zu Hause leben. Der Pflegedienst kommt, spritzt Insulin und ist dann Minuten später wieder weg. Das kann dann bei Unterzuckerung echt gefährlich werden. Hier kann nur eine Besserung eintreten, wenn die Angehörigen so geschult werden, dass sie die Insulintherapie begleiten und die Symptome etwa von Unterzuckerung kennen und wissen, was dann akut zu tun ist. Das Ding ist aber noch gar nicht gehoben. Auch hier fehlt ein flächendeckendes Schulungsprogramm.

epd: Was trägt die bessere Ausbildung von Pflegekräften zur Problemlösung bei?

Wernecke: Ich glaube, die Kurse bringen wesentliche Verbesserungen. Das hat mehrere Gründe. Die Zahl der Diabetiker wird absehbar eher größerwerden. Und die Zahl der Pflegekräfte wird nicht stark wachsen, zumindest nicht kurzfristig. Wenn man überhaupt was erreichen will, dann muss man die vorhandenen Pflegekräfte und auch die Angehörigen besser mit dem Thema Diabetes vertraut machen. Nur so lässt sich die Versorgungsqualität überhaupt steigern. Man kann nicht zehn Jahre abwarten, ob neue Ausbildungsinhalte in der Pflege ans Ziel führen und wirksam sind. Das können wir uns nicht leisten.

epd: Warum wird das Kursprogramm denn nicht deutlich ausgeweitet?

Wernecke: Ich habe in der Vergangenheit beim Versuch, die Kostenträger mit ins Boot zu holen, viel Frust erlebt. Das war sehr enttäuschend. Am engagiertesten waren die Pflegekräfte selbst. Die waren regelrecht euphorisch als wir die ersten Kurse gemacht haben und sie haben die Kosten überwiegend selbst getragen. Die Fachkräfte waren auf diesem Gebiet nahezu abgeschnitten von Fortbildungen. Jegliche Versuche, dass die Kranken- und Pflegekasse hier die Kosten übernehmen, sind damals gescheitert. Die Kassen denken meinem Eindruck nach nur von heute bis maximal ins nächste Jahr, und dann ist Schluss. In Sachen Nachhaltigkeit kommt da nichts. Immerhin sind manche, zumeist größere Arbeitgeber aufgeschlossener, denn diese Fortbildungen tragen auch zu einer höheren Zufriedenheit ihrer Mitarbeiter bei.

epd: Braucht es einen zusätzlichen Impuls?

Wernecke: Ja. Ich wünsche mir mehr Interesse auch von der Politik. Es müsste zwingend mehr Unterstützung geben für diese Kurse. In anderen Bereichen, etwa bei der Dekubitusprophylaxe, muss man bestimmte Vorgaben einhalten. So etwas wird auch geprüft, dann wirkt das. Ich wäre sehr dafür, in Heimen auch eine bestimmte Anzahl an speziell für Diabetes ausgebildete Pflegekräften vorzugeben, wobei dann die Gefahr besteht, dass die Kosten nur wieder bei den Arbeitgebern hängenbleiben. Hier müssen Politik und Krankenkassen mit ins Boot, sonst wird das nichts.