Kronberg, Berlin (epd). Barbara Müller kommt sofort auf den Punkt: "Du musst brennen für den Diabetes", appelliert sie an die Pflegefachkräfte des Kronberger Altkönig-Stiftes. Die Diabetesberaterin und Buchautorin tut das seit Jahrzehnten. Sie spricht lebendig und in vielen Bildern. Auch in Kronberg hängen die Zuhörerinnen an ihren Lippen - und schauen gespannt auf die von Müller selbst gebastelten Anschauungsobjekte auf dem Tisch in der Mitte des kleinen Schulungsraumes.
Müller bricht in hessischer Mundart unvermittelt zu ihrer "kleinen Reise durch die Diabetologie" auf. Zeit zu verlieren hat sie nicht - und das im doppelten Sinn. Denn die Zahl der Diabetiker in Deutschland werde sich in den nächsten fünf Jahren verdoppeln - und auch vor den Pflegeheimen nicht haltmachen: "Das ist wie Pest und Cholera zusammen", sagt Müller, die seit über 25 Jahren als Beraterin im nahen Oberursel in der Schwerpunktpraxis des Diabetologen Günter Zehrt beschäftigt ist.
An der Magnetwand rechts neben der lebhaften Referentin hängt "Otto", eine fast lebensgroße Menschensilhouette aus grünem Filzteppichboden. Die schematisierten Organe springen dem Betrachter bunt und plastisch entgegen. Magen, Leber, Nieren, Darm, Venen und Arterien: Alles, was wichtig ist für das Verständnis des Stoffwechsels im Körper. "Das ist mein idealer Mann", scherzt die Kursleiterin. Aber: "Er trägt mir keinen Müll runter." Gelächter.
Mit blassgelbem, aufgeblähtem Bauschaum hat Müller graue Abwasserrohre aus dem Baumarkt verstopft. Kleine Schnapsflaschen und Zigaretten schauen daraus hervor - symbolische Ursachen für extreme schädliche Plaques in den Arterien. Und wie funktioniert der Transport des Zuckers vom Darm durch die Blutkörperchen in die Zellen? Müller macht auch das anschaulich: Auf kleine rote Plastikkugeln, den Blutkörperchen, hat sie verschieden viele Stückchen Würfelzucker aufgeklebt. Bei zu viel Zucker werde das Blut dickflüssiger, fließe langsamer: "Es wird 'babbisch'." Klingt einfach - und bleibt hängen.
Diabetes in Pflegeheimen - das ist vielfach noch ein unerkanntes Problem. "Der Fokus in der Pflege lag in den letzten Jahren vor allem auf dem Umgang mit Demenzerkrankten. Die Probleme von Demenz und Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes, die ein hohes Maß an Selbstverantwortlichkeit erfordern, wurden nur wenig beleuchtet", räumt Boris Quasigroch, der Geschäftsführer des Altkönig-Stiftes, ein. Und weiß, wovon er spricht: 180 Bewohner seines Hauses seien betroffen. Das sind rund 30 Prozent aller dort wohnenden über 60-Jährigen.
Dazu kommt erschwerend, dass die Einstellung des Zuckers viel Know-how erfordert und auch Zeit braucht. Der verdichtete Arbeitsalltag in vielen Pflegeheimen ist dagegen oft geprägt von Hektik, Stress und Personalmangel. Kein gutes Arbeitsumfeld also für gewissenhafte Diabetestherapien, potenziert bei Personen mit Demenz.
"Diabetes wird für viele Pflegende zu einer zusätzlichen Herausforderung", sagt Dirk Müller-Wieland, der Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). Jedes Jahr erkrankten etwa 270.000 Menschen in Deutschland neu an Diabetes Typ 2, schätzungsweise 500.000 Heimbewohner sind von der Stoffwechselstörung betroffen. Genaue Zahlen gibt es nicht, teilt die Krankenkasse DAK mit. Nach Schätzungen der AOK sind über die Hälfte aller Diabetiker über 65 Jahre alt.
Barbara Müller, die auch Kreativseminare an der Novo Nordisk-Akademie in Mainz gibt, ist im Altkönig-Stift keine Fremde. Seit vier Jahren gibt sie im genossenschaftlich betriebenen Haus Kurse, die das Personal mit der Diabetes-Behandlung von Senioren vertraut machen. Dabei entfaltet sie einen Potpourri an Themen: Zuckerwertmessung, Laborwerte, Medikamentierung, Ernährung, Insulintherapie, Spritztechnik, Gefahren der Unterzuckerung. Schnell wird deutlich: Es gibt vieles, was die Pflegekräfte wissen müssen - und vieles können sie auch falsch machen.
Der Kardinalfehler mit oft verheerenden Folgen: Die Pflegekräfte spritzen bei der sogenannten konventionellen oder intensivierten konventionellen Therapie Insulin ohne vorherigen Blutzuckertest. "Das geht grundsätzlich gar nicht", sagt Müller: "Den Blutzucker kann man nicht an den Augen ablesen." Werde nämlich zu viel Insulin gespritzt, droht eine gefährliche Unterzuckerung, der Kreislauf kollabiert. "Das müssen wir in den Heimen durchbringen."
Die medizinische Versorgung von Diabetespatienten in Heimen sei im Vergleich zu anderen chronisch Kranken meist schlecht, urteilt der stellvertretende Vorsitzende der AG Diabetes und Geriatrie der DDG, der Hamburger Chefarzt Jürgen Wernecke. "Das Personal weiß kaum Bescheid, wo die Risiken liegen. Etwa bei der Frage, wie eine schwere Unterzuckerung zu behandeln ist", sagte der Leiter der Klinik für Diabetologie und Medizinisch-geriatrischen Klinik am Agaplesion Diakonieklinikum Hamburger dem Evangelischen Pressedienst (epd).
"Die Gefahren in den Pflegeinrichtungen werden weithin unterschätzt", betont Wernecke - und Anzeichen für Unterzuckerung wie Zittern, Schwitzen, innere Unruhe oder auch Sehstörungen würden nicht wahrgenommen. In der Folge entstünden oft lebensbedrohliche Szenarien, die fast immer zum Notarzteinsatz führten. Es drohten Herz-Kreislauf-Attacken und damit auch folgenreiche Stürze.
Auch die Hausärzte könnten kaum dazu beitragen, die Probleme zu lösen. Sie seien häufig überfordert. "Die Ärzte agieren auf dem Boden ihrer eigenen früheren Ausbildung mit oft viel zu niedrigen Blutzuckerzielwerten und falschem Diätverständnis, was die Gefahren von auch von schweren Unterzuckerungen noch verstärkt."
Der Arzt wirbt mit Nachdruck dafür, Pflegekräfte in Kursen besser zu schulen. "Es müsste dafür zwingend mehr Unterstützung geben", sagte der Mediziner - und meint die Krankenkassen. Er regte an, in Heimen eine bestimmte Anzahl an speziell für Diabetes ausgebildete Pflegekräften gesetzlich vorzugeben: "Hier müssen Politik und Krankenkassen mit ins Boot, sonst wird das nichts." Doch die Krankenkassen winken ab. Bei der DAK heißt es auf Nachfrage: "Für Schulungen von Pflegekräften sind die Einrichtungen zuständig. Wir fördern sie nicht."
Aus der Sicht des Verbandes Deutscher Alten- und Behindertenhilfe (VDAB) ist das auch nicht nötig. Es gebe in Pflegeeinrichtungen genügend und gut ausgebildetes Personal für die Betreuung von Bewohnern mit Diabetes. "Das bestätigen auch die Ergebnisse der Qualitätsprüfungen, die keine Auffälligkeiten in diesem Bereich aufweisen", heißt es auf Anfrage. Und: Es gebe genügend Schulungen, auch der VDAB habe dazu ein eigenes Foren- und Seminarangebot. "Ein weiterführendes Engagement seitens der Krankenkassen oder der Politik erachten wir als nicht notwendig."
Barbara Müller hält das schlicht für realitätsfremd. "Der Alltag in Pflegeeinrichtungen sieht leider ganz anders aus." Das Haus hier, und sie lässt den Arm im Schulungsraum kreisen, "das ist in Sachen Diabetes die Creme de la Creme. Das gibt es nicht oft. Und ich kenne viele Heime."
Die Dunkelziffer der Diabetespatienten in Heimen sei hoch, erläutert Müller. "Denn es wird ja meist keine spezielle Diagnostik vorgenommen." Dabei könne man gerade in der Frühphase der Entstehung von Diabetes so viel dagegen machen. "Das geht aber nicht, weil die Krankenkassen das nicht bezahlen. Das ist völlig bekloppt."
Müller strahlt beim Anblick von Aissadou Balde. Sie gehörte vor vier Jahren zu den ersten Kursteilnehmerinnen im Wohnstift. Heute ist sie nach mehreren Fort- und Weiterbildungen die erste Diabetes-Pflegefachkraft - und damit Anlaufstelle für alle, die auf Probleme mit der Zuckereinstellung der von ihnen betreuten Bewohner stoßen. Und die nutzen den neuen Service: "Das Angebot erfreut sich wachsender Nachfrage und stellt einen weiteren Baustein unseres medizinischen und pflegerischen Leistungsspektrum dar", lobt Geschäftsführer Quasigroch.
Für Balde ist es wichtig, dass die Patienten mit ihrem Diabetes gut umgehen können. Wo Unterstützung, etwa bei dementen Bewohnern, nötig sei, soll sie auch gegeben werden: "Wir wollen fachlich kompetent sein. Auch wenn das von den behandelnden Ärzten nicht immer anerkannt wird."