Hannover (epd). Eine neue Untersuchung bestätigt umfangreiche Medikamenten- und Impfversuche an Heimkindern in Niedersachsen zwischen 1945 und 1978. Solche Experimente gab es an den kinderpsychiatrischen Abteilungen des Psychiatrischen Krankenhauses Wunstorf und der Universität Göttingen, der Kinderklinik der Universität Göttingen, den Rotenburger Anstalten und im heilpädagogischen Kinder- und Jugendheim Brunnenhof in Rehburg-Loccum, wie aus der am 14. März in Hannover vorgestellten Studie des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung hervorgeht.
Zu den an den Mädchen und Jungen getesteten Substanzen gehörten demnach Neuroleptika, Antidepressiva, Bromverbindungen, Barbiturate, Antiandrogene, Antiepileptika und Vitaminderivate. Impfversuche fanden unter anderem mit Polioimpfstoffen statt. Wie viele Kinder und Jugendliche konkret betroffen waren, habe sich nicht genau ermitteln lassen, hieß es.
Nachdem Hinweise auf diese Versuche bekannt wurden, hatte das niedersächsische Sozialministerium 2017 die Erhebung beim Institut für Geschichte der Medizin in Auftrag gegeben. Die Historikerinnen sichteten anderthalb Jahre lang Akten, Archive, Fachpublikationen und sahen stichprobenhaft vorhandene Kranken- und Fallakten in Heimen ein. Dabei konnten sie 18 Studien über entsprechende Versuche an Kindern und Jugendlichen in niedersächsischen Heimen und Kinderkliniken im Zeitraum zwischen 1959 und 1978 bestätigen.
Die Untersuchungsergebnisse begründeten den Verdacht, dass die Sorgeberechtigten der Kinder und Jugendlichen nicht immer angemessen über die Versuche aufgeklärt und die notwendigen Einverständnisse nicht immer eingeholt wurden, sagte die Co-Autorin des Reports, Christine Hartig. "Bei einigen Arzneimittelversuchen ist mindestens gegen bereits zum damaligen Zeitpunkt vorhandene ethische und fachliche Standards verstoßen worden." Zumindest bei den Impfversuchen sei den Verantwortlichen klar gewesen, dass sie ohne Einwilligung der Erziehungsberechtigten gegen das im Grundgesetz festgeschriebene Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verstoßen hätten.
Niedersachsens Sozialministerin Carola Reimann (SPD) betonte, der Blick auf die noch gar nicht so lange vergangenen Vorfälle gebe Anlass, heutige Schutzsysteme für Menschen in Obhut von öffentlicher Verwaltung und die Dynamik von Arzneimittelforschung kritisch zu hinterfragen. Die wissenschaftliche Aufarbeitung sei auch für Betroffene sehr wichtig. "Ihnen gegenüber sind wir verpflichtet, die damaligen Vorgänge transparent und vollständig aufzuklären."
Das Sozialministerium hat ein weiterführendes Forschungsprojekt in Auftrag gegeben. Es soll mittels Einzelfallstudien Medikamenten- und Impfversuche vertiefend untersuchen und insbesondere die Rolle der öffentlichen Verwaltung sowie die Auswirkungen der Experimente auf die Probanden in den Blick nehmen.