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Niedersachsen

Diakonie warnt vor dem Aus ihrer ambulanten Pflegedienste




Ambulante Pflege vor dem Aus? Hier ein Einsatz der Christlichen Seniorendienste in Hannover.
epd-bild/Werner Krüper
Die tarifgebundenen Pflegedienstanbieter Diakonie und AWO haben am 18. März mit ihrem Ausstieg aus der ambulanten Pflege in Niedersachsen gedroht. "Zwei Drittel unserer Dienste schreiben rote Zahlen", sagte der Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Dienstgeberverbandes Niedersachsen (DDN), Rüdiger Becker, in Hannover zur Begründung.

Die Vergütungen, die die niedersächsischen Pflegekassen für die Leistungen ambulanter Dienste zahlten, seien "völlig realitätsfern", sagte Becker. Nur Dienste, die ihre Mitarbeiter deutlich schlechter als nach Tarif bezahlten, könnten unter diesen Bedingungen wirtschaftlich überleben. Der Verband der Ersatzkassen wies die Vorwürfe umgehend zurück.

Auch Sozialministerin Carola Reimann (SPD) appellierte an die Kassen, für eine angemessene Bezahlung zu sorgen. Die Kassen müssten ihrer Verantwortung für eine gute pflegerische Versorgung und Infrastruktur in Niedersachsen gerecht werden und endlich Tariflöhne refinanzieren, sagte Reimann in Hannover. Auch die zum Teil langen Anfahrtswege auf dem Land müssten angemessen bezahlt werden: "Ein Sparkurs auf dem Rücken der Pflegekräfte ist verantwortungslos." Niedersachsenweit werden der DDN zufolge rund 16.000 Patienten von gut 5.000 Pflegefachkräften ambulant versorgt.

Tarifliche Bindung nur in 15 Prozent der Dienste

Becker betonte, lediglich 15 Prozent der ambulanten Pflegedienste in Niedersachsen arbeiteten mit einem Tarifvertrag für ihre Beschäftigten. Dazu zählten die Dienste der DDN und der AWO. Zur Refinanzierung der Tarifverträge durch die Kassen steht am 21. März ein Schiedsgerichtstermin mit Vertretern der Kostenträger und der Leistungserbringer an (dessen Ergebnis lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor). Ein weiterer Termin ist für Anfang April angekündigt. Würden die Zahlungen an die Dienste nicht erhöht, müssten sich die tarifgebundenen Anbieter aus der ambulanten Pflege in Niedersachsen zurückziehen.

Die Bremer Pflegeforscher Stephan Görres und Heinz Rothgang sehen nach der Drohung von Diakonie und AWO in Niedersachsen, aus der ambulanten Pflege auszusteigen, gute Chancen auf eine Einigung mit den Pflegekassen. Die Wohlfahrtsverbände hätten angesichts des Pflegekräftemangels den Zeitpunkt für ihre Drohgebärde gut gewählt, sagte Görres, Professor für Alterns- und Pflegeforschung an der Universität Bremen, dem epd. Bei einem tatsächlichen Ausstieg «würden wir aus einem Pflegenotstand in eine Pflegekatastrophe rutschen». Die Pflegekassen würden dann dafür verantwortlich gemacht, weil sie den Auftrag hätten, die Pflege sicherzustellen: "Das können sie nicht riskieren."

Verdienstunterschiede sind beachtlich

Rothgang, der Professor für Gesundheitsökonomie an der Bremer Uni ist, sagte, alle Anbieter, auch die privaten, stünden nicht mehr in einem Wettbewerb um Patienten, sondern um Pflegekräfte. Bei den Kassen könnten sie inzwischen bessere Vergütungen für ihre Leistungen durchsetzen. Gleichzeitig können sie es sich nicht mehr leisten, niedrige Löhne zu zahlen. Höhere Löhne für Pflegekräfte gerade im ambulanten Bereich seien zudem dringend notwendig, um die Arbeit dort attraktiver zu machen. Nur dann könne das eigentliche Problem, der Pflegenotstand, behoben werden. Derzeit verdiene eine Fachkraft im Krankenhaus pro Monat im Schnitt rund 500 Euro mehr als in einem ambulanten Dienst.

Der Verband der Ersatzkassen in Niedersachsen (vdek) bezeichnete die Forderung der Wohlfahrtsverbände auf Nachfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) als "unrealistisch". Er warf Diakonie und AWO vor, "mit den Ängsten der Menschen zu spielen, um eigene finanzielle Interessen durchzusetzen". Allein zwischen 2013 und 2018 seien ihre Zuweisungen laut vdek um 14,3 Prozent gestiegen. Dabei sei die Tarifentwicklung ausdrücklich berücksichtigt worden. Ein Ausstiegsszenario aufgrund der Preisentwicklung sei daher nicht nachvollziehbar.

AWO: Land ist Schlusslicht bei der Vergütung

Der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes AWO Deutschland, Rifat Fersahoglu-Weber, sagte, Niedersachsen sei unter den alten Bundesländern Schlusslicht in der Vergütung der Pflege. Die Pflegekassen seien in diesem Bundesland "besonders hartleibig". In anderen Bundesländern funktioniere die Kooperation deutlich besser. Gerade die Pflegedienste, die sich ihren Mitarbeitern gegenüber bei der Bezahlung anständig verhielten, stünden durch dieses Verhalten vor dem Aus. "Wir haben alles optimiert, jeden Handgriff, jeden Tourplan", sagte er. "Da geht nichts mehr."

Unterstützung erhielten AWO und Diakonie vom Bundesverband der privaten Pflegeanbieter (bpa). Der Leiter der niedersächsischen Landesgeschäftsstelle, Henning Steinhoff, forderte ein "Machtwort" der Sozialministerin. Die Blockade- und Hinhaltepolitik der Kassen verschlechterten die Lage der Versicherten. In den neuen Bundesländern sei das Thema vom Tisch. Dort zahlten die Kassen die Tarife und die Fahrkosten adäquat.

Mehmecke fordert komplette Refinanzierung

Die Präsidentin der Pflegekammer Niedersachsen, Sandra Mehmecke, forderte die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung der Bevölkerung: "Hierfür ist die vollständige Refinanzierung von Kosten - ganz besonders von Tariflöhnen - unentbehrlich. Qualitativ hochwertige pflegerische Leistungen gibt es nicht zum Spartarif."

Der Sprecher der Gewerkschaft ver.di, Matthias Büschking, sagte, es sei unverständlich, warum die 2015 geschlossenen Vereinbarungen nicht umgesetzt werden. Das Sozialministerium habe das Papier damals mit unterzeichnet und müsse nun für die Umsetzung sorgen.

Der Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtsverbände, Franz Loth, verwies auf die prekären Lagen etlicher Pflegedienste. Die Möglichkeiten, die Defizite mit Eigenmittel auszugleichen, seien größtenteils erschöpft. Die Lösung liege in der Akzeptanz der transparenten Kostenkalkulation durch die Kassen.

Björn Schlüter