Berlin (epd). Politik, Gesetzgebung, Alltagsbewältigung: Für behinderte Menschen hat sich seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention vor zehn Jahren in Deutschland vieles zum Besseren verändert. Aber es gibt auch Rückschläge. Diese Bilanz zog das Deutsche Institut für Menschenrechte am 20. März in Berlin und forderte Bund, Länder und Kommunen zu weiteren Anstrengungen auf.
Die Oppositionsfraktionen Grüne, Linke und FDP wollen beim Bundesverfassungsgericht ein Wahlrecht für behinderte Menschen schon zur Europawahl im Mai einklagen.
Trotz zahlreicher Verbesserungen sieht der Bericht des Menschenrechts-Instituts in den zentralen Bereichen Wohnen, Arbeit, Bildung und Personenverkehr weiterhin zu viele Barrieren für behinderte Menschen. Einer der Autoren, Valentin Aichele, kritisierte, es fehlten barrierefreie Wohnungen. Für die Schulen forderte Aichele analog zum Digitalpakt einen "Pakt für Inklusion".
Besorgniserregend sei ein "Trend zur Exklusion" bestimmter Gruppen, warnte Aichele. So arbeiteten heute 273.000 Personen in Werkstätten für behinderte Menschen, 45.000 mehr als vor zehn Jahren. Dies sei ein deutliches Zeichen, dass sie es auf dem normalen Arbeitsmarkt weiterhin schwer haben.
In stationären Einrichtungen wohnten 30.000 vorwiegend geistig behinderte Menschen, mehr als noch 2009. Dass es auch anders gehe, zeige die Entwicklung bei überwiegend seelisch behinderten oder psychisch kranken Menschen, wo die Zahl derer, die nicht in Heimen wohnen, um 94.000 gestiegen ist. Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert, dass jeder Mensch seine Wohnform frei wählen können soll.
Zu den Vorgaben der Konvention zählt auch das inklusive Wahlrecht. Die Oppositionsfraktionen der Grünen, Linken und der FDP im Bundestag wollen, dass alle behinderten Menschen es bei der Europawahl wahrnehmen können. Sie haben eine entsprechende einstweilige Anordnung beantragt, wie die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Bundestag, Britta Haßelmann, sowie die Rechtspolitiker Stephan Thomae (FDP) und Friedrich Straetmanns (Linke) in Berlin mitteilten.
"Wir haben heute gemeinsam mit den Fraktionen Die Linke und FDP eine einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts beantragt, damit Menschen mit Behinderungen in Vollbetreuung nicht von der Europawahl ausgeschlossen werden", sagte Haßelmann. Gegenstand des Verfahrens seien Normen des Europawahlgesetzes, die einen solchen Ausschluss vorsehen.
Der Bundestag hatte am 15. März beschlossen, dass künftig auch behinderte Menschen mit Vollbetreuung wählen und für eine Wahl kandidieren dürfen. Der mehrheitlich angenommene Antrag der Koalitionsfraktionen sieht aber vor, dass die Reform erst zum 1. Juli in Kraft tritt und damit zur Europawahl Ende Mai noch nicht wirksam ist.
Die Reform sieht auch vor, schuldunfähigen psychisch kranken Straftätern, die im Maßregelvollzug untergebracht sind, die Wahlberechtigung zu erteilen. Sie soll ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts umsetzen, das im Februar entschieden hatte, dass auch Behinderte, die unter Betreuung stehen, nicht von Wahlen ausgeschlossen werden dürfen.
Der teilhabepolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Jens Beeck, erklärte, der gemeinsame Gang der Fraktionen von FDP, Linken und Grünen vor das Bundesverfassungsgericht sei die letzte Konsequenz, um diesen Grundrechtsbruch zu verhindern. "Denn mit diesem Vorgehen untergräbt die große Koalition den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes von Anfang dieses Jahres, dass die Wahlrechtsausschlüsse unrechtmäßig sind." Die Ausschlüsse dürften nicht länger angewendet werden: "Andernfalls raubt man diesen Menschen ein elementares Grundrecht."
In Deutschland leben 7,8 Millionen Menschen mit einer anerkannten Behinderung oder Schwerbehinderung, das sind 9,4 Prozent der Bevölkerung. Zentrales Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention ist die Inklusion, also die gleichberechtigte tatsächliche Teilhabe aller Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben. Das Menschenrechtsinstitut überwacht im Auftrag der Bundesregierung die Umsetzung der UN-Konvention. Die Vereinten Nationen haben den Vertrag 2006 beschlossen, seit 2008 ist er in Kraft.