sozial-Editorial

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Markus Jantzer
epd-bild/Norbert Neetz

Deutschland will durch ein Zuwanderungsgesetz mehr Fachkräfte aus dem Ausland gewinnen - auch für die Sozial- und Gesundheitsbranche. Diakonieunternehmen gehen längst eigene Wege, um Menschen aus Asien und Afrika in ihren Betrieben zu integrieren. Ein Zuwanderungsgesetz wird grundsätzlich begrüßt, als Lösung für die Personalmisere wird es aber nicht betrachtet.

Die Studentenrevolte Ende der 60er Jahre hat nicht nur die Frauenbewegung neu belebt und die spätere bundesweite Umweltbewegung beflügelt. Sie löste auch eine Reform in den psychiatrischen Anstalten aus, die bis heute nachwirkt. In der Psychiatrie seien allerdings noch weitere Reformschritte notwendig, sagt Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité.

Im österreichischen Waldviertel gehen Arbeitslose in einem Pilotprojekt neue Wege. 18 Monate lang können sie recht zwanglos austesten, wo ihre Fähigkeiten liegen und wohin sie sich beruflich entwickeln möchten. Die weiter bezahlte Arbeitslosenunterstützung sorgt für Unabhängigkeit. Dem Arbeitsamt müssen sie nicht zur Verfügung stehen.

Schenkungen von Eltern an ihre Kinder sind vor dem Sozialamt nicht sicher. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Eltern pflegebedürftig geworden sind und ihren Heimaufenthalt nicht selbst bezahlen können. Erst zehn Jahre nach der Schenkung kann nichts mehr zurückgefordert werden, entschied der Bundesgerichtshof.

Hier geht es zur Gesamtausgabe von epd sozial 35/2018.

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Markus Jantzer

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sozial-Thema

Fachkräftemangel

"Zuwanderungsgesetz kann nur einer von vielen Ansätzen sein"




Vietnamesin zur Pflegeausbildung in Deutschland
epd-bild/Hanna Eder
Deutschland will durch ein Zuwanderungsgesetz mehr Fachkräfte aus dem Ausland gewinnen - auch für die Sozial- und Gesundheitsbranche. Diakonieunternehmen begrüßen die Absicht der Bundesregierung und gehen unterdessen weiter eigene Wege, um Menschen aus Asien und Afrika in ihren Betrieben zu integrieren.

In der Sozialbranche wird die Initiative der Bundesregierung für ein Zuwanderungsgesetz begrüßt. Ein wesentlicher Beitrag, um die Fachkräftelücke zu schließen, wird hiervon allerdings nicht erwartet. So betonte die Diakonie Neuendettelsau, die mit 7.200 Mitarbeitern eines der größten diakonischen Unternehmen in Deutschland ist, gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Es ist offensichtlich, dass dem Fachkräftemangel auf ganz unterschiedlichen Wegen begegnet werden muss." Die Diakonie Neuendettelsau werbe bereits seit Jahren Arbeitskräfte aus Drittstaaten an - auch ohne ein Zuwanderungsgesetz.

Vietnamesen zur Ausbildung in Berlin

Im September beginnt die Berliner Paul Gerhardt Diakonie nach eigenen Angaben im Rahmen eines Modellprojekts des Bundeswirtschaftsministeriums, 15 junge Menschen aus Vietnam zu Krankenpflegern auszubilden. Ein Teil der Vietnamesen hat im eigenen Land bereits eine Pflegeausbildung auf Bachelor-Niveau abgeschlossen, wie das Unternehmen dem epd mitteilte. Seit Jahresbeginn lernen die elf Frauen und vier Männer in einer Sprachschule in Hanoi die deutsche Sprache, um die Stufen A1 bis B2 zu erreichen. Wohnen werden sie ab September auf dem Gelände des Evangelischen Johannesstifts in Berlin-Spandau. Ziel sei es, dass die Pflegekräfte aus Vietnam langfristig in Berlin bleiben und damit die Personalmisere ein wenig lindern.

Die in Vietnam erworbenen Fähigkeiten genügen der Paul Gerhardt Diakonie nicht. "Diese Kompetenzen werden in Deutschland komplettiert", sagt Martin von Essen, Vorstandssprecher des diakonischen Unternehmens, bei dem rund 8.900 Beschäftigte angestellt sind. "Gerade an Menschen, die im sensiblen Bereich der Pflege von Menschen tätig sind, sind umfassende Ausbildungsansprüche zu stellen."

Die Anwerbung von Personal aus Drittstaaten ist für den Vorstandssprecher des evangelischen Sozialunternehmens nur einer von vielen Ansätzen, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Die Qualifizierung von Fachfremden, die Technisierung und Digitalisierung der Pflege, Pflegezeit für Berufstätige, die Einbindung von Ehrenamtlichen und vieles mehr zählt von Essen ebenfalls dazu. "Ein wichtiger und noch ausstehender Schritt wäre eine deutlich bessere Bezahlung von Pflegekräften. Dafür machen wir uns stark", sagte von Essen. Auch Mathias Hartmann, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Neuendettelsau, hält "attraktivere Rahmenbedingungen für die Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen für wichtig, um mehr Schulabsolventen für die Branche zu gewinnen".

Der deutschen Sprache mächtig

Für von Essen ist es unverzichtbar, dass die ausländischen Fachkräfte der deutschen Sprache mächtig sind. Denn: "Soziale Arbeit findet in der Regel in Situationen statt, in denen Menschen in einer Krise oder auf unmittelbare Hilfe angewiesen sind. Da ist es wichtig, dass man den anderen versteht. Es ist dazu aber nicht notwendig, dass man das Futur II richtig zu gebrauchen weiß." Nach Auffassung des Chefs der Diakonie Neuendettelsau, Hartmann, ist die in den Eckpunkten zum Zuwanderungsgesetz vorgesehene Förderung von Sprachkursen im Ausland "sehr wichtig".

Auch für die Gewerkschaft ver.di steht fest: Gute Sprachkenntnisse sind eine Voraussetzung für die Tätigkeiten im Gesundheitswesen. Nicht nur um sich mit dem Patienten zu verständigen. "Sprachkenntnisse sind auch für den Austausch mit den Kollegen wichtig, denn die Arbeit im Gesundheits- und Sozialwesen ist ohne Teamarbeit kaum denkbar", sagte die Bereichsleiterin Gesundheitspolitik der Gewerkschaft ver.di, Grit Genster, dem epd. Für Pflegefachkräfte sollte bundesweit einheitlich der Nachweis von Sprachkenntnissen auf dem Niveau B2 verlangt werden, so Genster. Es sei aber auch wichtig, dass die deutschen Kollegen in ihrer Ausbildung interkulturelle Kompetenzen erwerben.

Wie Hartmann dem epd sagte, hält er eine Kenntnisstands- und Qualifikationsprüfung vor dem Arbeitseinsatz in Deutschland für notwendig. Erst dann sei zu beurteilen, ob die Fachkräfte mit ihrer Arbeitserfahrung, ihrer Qualifikation und ihrem Sprachniveau auf den deutschen Arbeitsmarkt passen.

"Flickenteppich an regionalen Regelungen"

In diesem Zusammenhang begrüßte er die in den Eckpunkten zum Zuwanderungsgesetz vorgesehene zentrale "Clearingstelle Anerkennung", die die Berufsabschlüsse prüfen soll. Auch bei ver.di stoßen die in den Eckpunkten vorgesehenen Vorhaben zur Erleichterung der Berufsanerkennung auf Zustimmung. "Im Gesundheitsbereich ist besonders der Flickenteppich an regionalen Regelungen ein Problem", sagt Grit Genster.

Sollten die Qualifikationen noch nicht ausreichen, "kann eine Anpassungsqualifizierung – verbunden mit einer maximal zwölfmonatigen Helfertätigkeit - hilfreich sein, um das nötige Niveau zu erreichen", schlägt Hartmann vor. Die Diakonie Neuendettelsau betreibe in Bayern entsprechende Fachakademien für Erzieher und Krankenpfleger. Auf diesem Feld wünscht sich der Diakoniemanager mehr finanzielle Unterstützung durch den Staat.

Für von Essen ist eines ganz klar: "Wir holen nicht nur Arbeitskräfte, sondern Menschen zu uns, mit denen wir leben wollen und die uns in einer schwierigen sozialen Situation helfen." Daher würden die jungen Vietnamesen nicht nur in ihrer Ausbildung fachlich begleitet, sondern auch bei Problemen im Alltag unterstützt.

Bekenntnis zur Diversität in der Diakonie

"Wir werden alles tun, damit diese Integration gelingt", bekräftigt von Essen. Vom Staat erwarte er, dass er den Diakoniebetrieb dabei unterstützt. Das bekräftigt auch Mathias Hartmann: "Für eine gelingende Integration ist eine individuelle Begleitung durch Mentoren am Arbeitsplatz - für etwa zehn Stunden im Monat - sinnvoll. Hierfür wäre eine Bereitstellung der zusätzlichen Finanzmittel hilfreich, um die Arbeitgeber in ihren Bemühungen um eine individuelle Integration zu unterstützen."

Der Chef der Diakonie Neuendettelsau legt ein klares Bekenntnis zur Diversität in evangelischen Einrichtungen ab: "Verschiedene religiöse und kulturelle Hintergründe von Fachkräften zum Beispiel aus Asien oder Afrika sehen wir als Chance für eine Stärkung der Vielfalt unserer Mitarbeitenden in der Diakonie Neuendettelsau." Er sei überzeugt: "Kulturelle und religiöse Vielfalt sind keine Belastung, sondern eine Chance für die Diakonie."

Zu Deutschlands Engagement im Ausland hat von Essen klare Vorstellungen: "Die Finanzierung der Ausbildung von ausländischen Fachkräften für den deutschen Arbeitsmarkt sollte in den Herkunftsländern maßgeblich durch den deutschen Staat finanziert werden." Er geht noch einen Schritt weiter. Um den Herkunftsländern nicht die besten Kräfte wegzunehmen und den Fachkräftemangel in diesen Ländern zu verschärfen, sollte Deutschland nur einen Teil der Ausgebildeten anwerben, "während wir die anderen für den Arbeitsmarkt ihres Heimatlandes ausbilden. Das wäre solidarisch."

Markus Jantzer


Fachkräftemangel

Positive Erfahrungen mit Anwerbeabkommen



Für die Pflegebranche wurden in den vergangenen Jahren verschiedene bilaterale Abkommen und Programme zur Anwerbung von Menschen aus Drittstaaten aufgelegt. So liegen Erfahrungen mit einem im Jahr 2013 gestarteten Projekt mit dem Partnerland China vor. In weiteren Programmen zur "Fachkräftegewinnung für die Pflegewirtschaft" wurden Abkommen mit Vietnam geschlossen. Auch aus den Philippinen wurden in gegenseitigem Einvernehmen Pflegekräfte angeworben.

Nach Auffassung von Grit Genster, der Bereichsleiterin Gesundheitspolitik bei der Gewerkschaft ver.di, können bilaterale Anwerbeabkommen das geplante Zuwanderungsgesetz sinnvoll ergänzen. Und sie empfahl im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Für das Zuwanderungsgesetz sollten die bisherigen Erfahrungen mit den bilateralen Abkommen und insbesondere die Erfahrungen aus Modellversuchen ausgewertet werden, damit eine gute Integration von Migranten aus Drittstaaten gelingen kann."

Denn die Erfahrungen mit den Anwerbeabkommen zeigten: "Arbeitsmigranten in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen werden üblicherweise zu denselben Bedingungen beschäftigt werden wie die Stammbelegschaften." Außerdem lobt die Gewerkschafterin, dass in diesen Projekten die Integration der Menschen einen hohen Stellenwert habe. Daher könnten die in den Projekten entwickelten Modelle als "gute Beispiele" für eine faire Anwerbung und Bindung von Pflegefachkräften dienen und als Leitbild für die Branche weiterentwickelt werden.

Genster nennt als zentrale Forderungen für eine faire und verantwortungsbewusste Migrationspolitik:

• Beschäftigung der internationalen Fachkräfte zu gleichen Bedingungen • Beratungsangebote im Herkunftsland und keine Zahlung von Vermittlungsgebühren durch Zuwanderer

• weniger Bürokratie bei der Berufsanerkennung in Deutschland durch ein bundesweit einheitliches Verfahren zur Feststellung von Qualifikationen

• Möglichkeiten zum Erwerb fehlender Fähigkeiten durch Nachschulungen in Deutschland

• Sprachlevel B2 als eine Voraussetzung für die Anerkennung als Fachkraft bei gleichzeitiger sprachlicher und kultureller Vorbereitung im Herkunftsland

• mentale und fachliche Vorbereitung auf den Aufenthalt und die Arbeitsweisen in der deutschen Pflege

• Unterstützung, Beratung und Begleitung in Deutschland durch Behörden, Schulen und Arbeitgeber

• die Freiwilligkeit des Verbleibs in Deutschland und jederzeitige Möglichkeit zur Rückkehr in die Heimat.



Fachkräftemangel

Schneider: Personalmisere mit Zuwanderungsgesetz nicht zu bekämpfen




Ulrich Schneider
epd-bild/Die Hoffotografen/Paritätischer Verband
Ein Zuwanderungsgesetz wird nach der Einschätzung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes die Personalnot in der Sozialbranche kaum lindern. Dennoch sei die Absicht der Bundesregierung, Zuwanderern die Jobsuche in Deutschland zu erleichtern, richtig.

Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen, Ulrich Schneider, sieht positive Ansätze in den Eckpunkten zu einem Zuwanderungsgesetz. Er weist im Interview des Evangelischen Pressedienstes (epd) aber auch auf "blinde Flecken" hin. Über das geplante neue Gesetz hinaus seien begleitende Programme im Ausland wie auch in Deutschland notwendig, wenn eine verstärkte Anwerbung und längerfristige Beschäftigung von Fachkräften gelingen soll. Die Fragen stellte Markus Jantzer.

epd sozial: Wie bewerten Sie die bekanntgewordenen Eckpunkte der Bundesregierung für ein Einwanderungsgesetz?

Ulrich Schneider: Die Eckpunkte enthalten einige unterstützenswerte Ansätze. Richtig ist etwa der weitgehende Verzicht auf die Vorrangregelung, nach der Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten nur dann einen Job annehmen dürfen, wenn kein geeigneter anderer Bewerber aus Deutschland oder der EU zur Verfügung steht. Auch begrüße ich, dass beruflich Qualifizierte aus Drittstaaten, die in Deutschland auf Arbeitssuche sind, leichter eine Aufenthaltserlaubnis erhalten sollen. Positiv zu bewerten sind auch die angestrebten Verbesserungen im Bereich der Anerkennung vorhandener beruflicher Qualifikationen. Es gibt jedoch in diesen Eckpunkten auch noch einige blinde Flecken. Was fehlt, ist beispielsweise die unbedingt notwendige Möglichkeit des Spurwechsels, wonach geduldete, gut integrierte Asylbewerber einer regulären Beschäftigung nachgehen können sollen. Völlig unberücksichtigt bleibt zudem der Bereich der Familienzusammenführung. Erleichterungen bei der Familienzusammenführung sind nicht nur aus humanitären Gründen dringend geboten, sondern auch unverzichtbar, wenn man Fachkräfte aus Drittstaaten gewinnen will.

epd: Kann ein neues Zuwanderungsgesetz den Fachkräftemangel in der Sozialbranche spürbar lindern?

Schneider: Das ist aktuell nicht absehbar. Vermutlich wird die Zuwanderung von Fachkräften aus außereuropäischen Staaten – etwa im Pflegebereich – nur einen überschaubaren Beitrag leisten können zur Beseitigung der Engpässe. Sinnvoll wäre perspektivisch die Kooperation mit anderen Staaten und entsprechende zwischenstaatliche Abkommen, in denen die Ausbildung und der Austausch von Fachkräften geregelt werden. Klar ist aber auch: Wer den Pflegenotstand wirklich beheben will, muss vor allem die Rahmenbedingungen verbessern und den Beruf attraktiver machen, um sowohl inländische Potenziale zu heben als auch bei Bedarf ausländische Fachkräfte zu gewinnen.

epd: Sollten Menschen aus Drittstaaten vor einer Anstellung sprachliche und fachliche Prüfungen ablegen?

Schneider: Das hängt davon ab, um welche Tätigkeit es sich handelt. Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass bei Fachkräften die notwendige sprachliche und berufliche Qualifikation auch nachgewiesen sein muss, etwa in Form von Zertifikaten oder Prüfungen. Im Pflegebereich etwa sind in der Regel allgemeinsprachliche oder fachspezifische Deutschkenntnisse auf dem Sprachniveau B2 erforderlich.

epd: Für die Sozialbranche wurden in den vergangenen Jahren verschiedene staatliche Programme zur Anwerbung von Menschen aus Drittstaaten aufgelegt. Sollten solche Programme nach der Einführung eines Zuwanderungsgesetzes noch aufrecht erhalten werden?

Schneider: Gezielte Programme können auch zukünftig die Neuregelung des Zuwanderungsrechts ergänzen. Für qualifizierte Pflegekräfte, deren Ausbildung hier als gleichwertig anerkannt ist, gibt es auch jetzt schon keine ausländerrechtlichen Hürden, die der Beschäftigung entgegenstehen. Daher wird die Neuregelung des Rechts hier keine gravierenden Änderungen bewirken. Notwendig sind begleitende Programme im Ausland wie auch in Deutschland, wenn eine verstärkte Anwerbung und längerfristige Beschäftigung von Fachkräften gelingen soll.

epd: Geht von einem Zuwanderungsgesetz Lohndruck auf einheimische Beschäftigte aus?

Schneider: Da sich das Zuwanderungsgesetz ja auf Erleichterungen beim Zuzug von anerkannten Fachkräften beschränkt und in diesem Bereich in der Regel eine große Nachfrage besteht, ist von einem verstärkten Lohndruck nicht auszugehen.

epd: Ist das Anwerben qualifizierter Kräfte aus Drittstaaten ethisch vertretbar, auch wenn sie die Entwicklungsmöglichkeiten der Länder des Globalen Südens einschränkt?

Schneider: Um dies zu vermeiden sind – insbesondere im Gesundheitsbereich – zwischenstaatliche Abkommen anzustreben. Ob die Beschäftigung qualifizierter Fachkräfte aus Drittstaaten dort die Entwicklungsmöglichkeiten einschränkt, ist nicht pauschal zu beantworten – die Problematik ist aber auch nicht von der Hand zu weisen.




sozial-Politik

Psychiatrie

Der Kampf gegen Kapitalismus und Irrenhaus




Das Offene Atelier der LWL-Kliniken für Forensische Psychiatrie Dortmund
epd-bild/Felix Meschede
Die Studentenrevolte Ende der 60er Jahre hat nicht nur die Frauenbewegung neu belebt und die spätere bundesweite Umweltbewegung beflügelt. Sie löste auch eine Reform in den psychiatrischen Anstalten aus, die bis heute nachwirkt.

Die 17-jährige H. D. hatte schon einiges hinter sich, als sie 1954 in die Nervenklinik Andernach eingewiesen wurde. Laut Krankenakten war sie verwahrlost und möglicherweise vom Vater missbraucht worden. Außerdem litt sie an epileptischen Anfällen. Doch in der Klinik wird für sie alles nur noch schlimmer. Sie muss den ganzen Tag im Bett liegen und darf sich nicht bewegen. "Wenn ich an euch denke, so muss ich weinen", schreibt sie ihren Schwestern.

Der Alltag in den psychiatrischen Anstalten war in der Nachkriegszeit von Zwangsmaßnahmen geprägt. Erst seit einigen Jahren wird ihre Geschichte systematisch aufgearbeitet. So untersuchten zum Beispiel die Historiker Silke Fehlemann und Frank Sparing die Zustände in den Einrichtungen des Landschaftsverbandes Rheinland zwischen 1949 und 1975, in denen Kinder und Jugendliche wie die Patientin H. D. untergebracht waren.

Gewalt war stets präsent

"Gewalt war dort für die Kinder und Jugendlichen ständig präsent", sagt Fehlemann. Extrem schockierend sei auch, dass die jungen Patienten schmerzhafte Diagnoseverfahren erleiden mussten und vielfach durch extrem überdosierte Medikamente ruhiggestellt wurden. "Das hatte Züge kollektiver Vergiftung", sagt Fehlemann.

In den ersten beiden Jahrzehnten nach Kriegsende interessierte sich kaum jemand für die Zustände in den personell oft unterbesetzten psychiatrischen Großanstalten. Erst Ende der 60er Jahre seien Forderungen nach einer Reform der Psychiatrie aufgekommen, sagt Franz-Werner Kersting vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, der über die Entwicklung der psychiatrischen Anstalten forscht. "Die Reform der Psychiatrie wird zum Gegenstand einer sozialen Bewegung. Sie ist ebenso wie die Frauen- und Ökologiebewegung Ergebnis dieser Auf- und Umbruchphase", urteilt Kersting.

Die Kritik an autoritären Strukturen und die gewachsene Sensibilität für Menschenrechte habe Ende der 60er Jahre auch die menschenunwürdigen Zustände in den Psychiatrien in den öffentlichen Fokus gerückt. "Die psychiatrischen Anstalten repräsentierten für viele junge Leute der 68er-Bewegung die nationalsozialistischen Altlasten", sagt Kersting. Sie betrachteten die Einrichtungen als Institutionen, die die Menschen nicht heilen, sondern sie überhaupt erst krank machen.

Forderung, die Kliniken komplett abzuschaffen

Als extreme Variante dieser Kritik entstand eine Anti-Psychiatrie-Bewegung, die diese Kliniken komplett abschaffen wollte. Bundesweit bildeten sich entsprechende Initiativen. Die bekannteste war das Sozialistische Patientenkollektiv an der Universität Heidelberg. Dessen Mitglieder vertraten die These, dass psychische Leiden Folge eines kranken kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems seien.

Doch der Ruf nach einer grundlegenden Reform der Psychiatrie blieb keine Sache kapitalismuskritischer Initiativen. Schon 1969 forderte Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) in seiner Regierungserklärung mehr Solidarität mit körperlich und geistig behinderten Menschen. 1971 wurde ein Expertenrat eingesetzt, die sogenannte Psychiatrie-Enquête. Ihr 1975 vorgelegter Abschlussbericht bedeutete einen Paradigmenwechsel in der Behandlung psychisch kranker Menschen, sagt Kersting.

Das Wegsperren psychisch Kranker in große Anstalten wurde danach weitgehend aufgegeben. Stattdessen war das Ziel nun eine gemeindenahe Versorgung mit all den Angeboten, die heute selbstverständlich erscheinen. So bekamen Allgemeinkrankenhäuser psychiatrische Abteilungen. Patienten konnten sich auch bei niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten behandeln lassen, es entstanden Einrichtungen wie Tages- und Nachtkliniken. An die Stelle des Ruhigstellens trat ein neuer Behandlungsansatz, der auf die Therapie und Rehabilitation der Kranken abzielte.

Die Reform der Psychiatrie sei allerdings ein fortlaufender Prozess, der noch nicht abgeschlossen sei, sagt Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité. Das verdeutlichten auch die nach Protesten wieder entschärften Pläne für das neue Psychisch-Kranken-Gesetz in Bayern, die eine Speicherung der Daten psychisch Kranker vorsahen.

Claudia Rometsch


Psychiatrie

Experte: In den 70er Jahren begonnenen Reformprozess vollenden




Psychiatriedirektor Andreas Heinz
epd-bild/Jürgen Blume
Der Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité, Andreas Heinz, hält die Anfang der 70er Jahre begonnene Psychiatriereform für noch nicht abgeschlossen.

Mit den Psychiatriereformen ist nach Auffassung des Berliner Psychiaters Andreas Heinz viel erreicht worden. So seien etwa die großen Anstalten mit mehreren Tausend Patienten aufgelöst und wohnortnahe Stationen in Krankenhäusern geschaffen worden. "Das ist aber auf halbem Weg steckengeblieben. Man hat viele Einrichtungen verkleinert, aber wohnortfern weiter betrieben", sagte Heinz dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Es hapere aber nach wie vor an der gesellschaftlichen Integration psychisch Kranker. "Die große Beteiligung, die man sich erträumt hat, wo psychisch Kranke in lebendige Nachbarschaften integriert werden, die hat wirklich nur vereinzelt stattgefunden", sagte der Experte.

Leben in normalen Wohngebieten

Auch Tagesstätten und Übergangswohnheime könnten zu Ghettos für psychisch Kranke werden, warnte der Psychiater. Es sei wichtig, dass psychisch Kranke selbstständig im eigenen Haushalt in ganz normalen Wohngebieten leben könnten. Das werde aber angesichts der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt, vor allem in den Ballungszentren, zunehmend schwierig. "Wir erleben hier in Berlin-Mitte, dass wir für unsere Patienten kaum noch Wohnraum finden." In Berlin sei zu beobachten, dass parallel zu den steigenden Wohnungsmieten seit einigen Jahren auch die Bettenzahl in der Psychiatrie langsam wieder hochgehe, sagte Heinz.

Steckengeblieben seien die Reformansätze auch bei der Beschaffung von Arbeit für psychisch Kranke. Langzeitarbeitslosigkeit und psychische Erkrankung hingen oft miteinander zusammen: "Da fehlt ein Stück Integration in den Arbeitsalltag."

Weniger Zwangsmaßnahmen

Fortschritte habe es bei der Öffnung der Stationen in der Psychiatrie gegeben, stellte Heinz fest. Wünschenswert sei, dass diese Entwicklung weiter voranschreite und Stationstüren nach Möglichkeit offenblieben. "Auch wenn Menschen gegen ihren Willen eingeliefert werden, sollte man nicht einfach die Türen verschließen, sondern versuchen, ihnen ein Angebot zu machen, um sie fürs Bleiben zu gewinnen."

Ein vielversprechender neuer Ansatz sei die Versorgung psychisch Kranker zu Hause, sagte Heinz. Dadurch könnte die Zahl der Zwangsmaßnahmen gesenkt werden. Darauf wiesen die Erfahrungen mit einem Projekt in Hamburg hin, bei dem die Patienten von einem mobilen Team in ihren Wohnungen aufgesucht wurden.

Ein Problem in den Kliniken sei nach wie vor, dass die Patienten nicht intensiv genug psychotherapeutisch betreut würden, kritisierte Heinz. "Meines Erachtens hätte jeder Patient, der im Krankenhaus ist, ein Recht auf eine Stunde mehr Psychotherapie pro Woche." Dazu müsste die Zahl der Therapeuten um etwa 20 Prozent erhöht werden.

Claudia Rometsch


Altersvorsorge

Geteilte Reaktionen auf das Rentenpaket der Koalition




Seniorinnen im Grünen
epd-bild/Heike Lyding
Das Echo auf das Rentenpaket der großen Koalition fällt uneinheitlich aus. Der Sozialverband VdK sieht "Schritte in die richtige Richtung", die Arbeitgeber nennen das Pakt "unfair". Union und SPD feiern die kleinen Abweichungen vom Koalitionsvertrag als Durchbruch.

Die große Koalition hat sich im Streit um Rente und Arbeitslosenversicherung geeinigt und Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht. Am 29. August verabschiedete das Bundeskabinett das Rentenpaket, das als wesentlichen Punkt die sogenannte doppelte Haltelinie vorsieht. Sie garantiert bis 2025 ein Rentenniveau von 48 Prozent, während gleichzeitig der Rentenbeitrag nicht über 20 Prozent steigen soll. Zudem soll das Kabinett noch im September eine stärkere Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung als im Koalitionsvertrag verabredet beschließen. Er soll zum 1. Januar 2019 um 0,5 Prozentpunkte auf 2,5 Prozent des Bruttolohns sinken.

Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente

Auch die Verbesserungen bei der Rente sollen bereits im kommenden Jahr in Kraft treten. Das "Kernversprechen" des Sozialstaats, Sicherheit und Gerechtigkeit für alle Generationen zu gewährleisten, werde damit eingelöst, sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Sein Paket, das gegenüber dem Entwurf aus dem Juli nun mit leichten Änderungen ins Kabinett kam, sieht auch Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente und der sogenannten Mütterrente vor.

Bei der Mütterrente wird nach dem Kabinettsbeschluss für Erziehungszeiten von vor 1992 geborenen Kindern dann ein zusätzlicher halber Rentenpunkt angerechnet. Das entspricht im Westen einer Rentenerhöhung von 16, im Osten von 15,35 Euro pro Monat und Kind. Zunächst war geplant, nur Mütter oder Väter mit mindestens drei Kindern - dann aber mit einem ganzen zusätzlichen Rentenpunkt - zu berücksichtigen. Von der Ausweitung auf alle profitieren Heil zufolge nun zehn statt drei Millionen Mütter und Väter.

Die höhere Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung war eine Forderung der CDU. Die SPD setzte im Gegenzug einen Ausbau der Förderung beruflicher Weiterbildung durch. Von der vorgesehenen Senkung um 0,5 Prozentpunkte sollen dem Kompromiss zufolge nur 0,4 Prozentpunkte gesetzlich fixiert werden. Der Anteil von 0,1 Prozentpunkten wird bis Ende 2022 befristet. Ob der Beitrag dann wieder steigt, wird Heil zufolge von den Rücklagen bei der Bundesagentur für Arbeit abhängen. Die Koalition einigte sich darauf, dass sie 0,65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen soll. Derzeit entspricht das 22,5 Milliarden Euro.

VdK fordert Rentenniveau von 50 Prozent

Der Sozialverband VdK forderte weitere Verbesserungen für Menschen, die bereits jetzt Erwerbsminderungsrente erhalten. Außerdem erklärte VdK-Präsidentin Verena Bentele, es genüge es nicht, das Rentenniveau bei 48 Prozent und nur bis zum Jahr 2025 zu stabilisieren: "Ziel muss es sein, dass das Rentenniveau über 2025 hinaus stabilisiert und auf 50 Prozent angehoben wird, damit das Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung wieder gestärkt wird.

Bentele begrüße die im Rentenpaket geplanten höheren Erwerbsminderungsrenten durch die Anhebung der Zurechnungszeiten. "Davon sollten aber nicht nur Menschen profitieren, die ab 2019 aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in Rente gehen müssen, sondern auch die Bestandsrentner", ergänzte die Chefin des mitgliederstarken Verbandes. Sie dürften nicht leer ausgehen, da es schon jetzt ein massives Armutsproblem bei Erwerbsminderungsrentnern gebe.

Während der Deutsche Gewerkschaftsbund das Rentenpaket als Stärkung der gesetzlichen Altersvorsorge lobte, kam von der Opposition Kritik. Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr erklärte, der Beschluss bedeute eine faktische Rentenbeitragserhöhung und steigende Bundeszuschüsse aus Steuergeldern. Heil will von 2021 bis 2024 einen sogenannten Demografiefonds mit zwei Milliarden Euro jährlich ansparen.

Keine Rentengarantie bis 2040

Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer nannte das Rentenpaket unfair. Denn es werde auf nachfolgende Generationen als milliardenschwerer Kostenbumerang zurückkommen. Die beste Rentenpolitik sei eine gute Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Um das Rentensystem sei stabilisieren, forderte der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände eine leistungsstarke Bildungspolitik und eine gezielte Zuwanderung.

Die Grünen wiederholten ihre Forderung nach einer Bürgerversicherung bei der Rente. Der Rentenpolitiker Markus Kurth (Grüne) sagte, alle Erwerbstätigen, also auch Selbstständige, Abgeordnete und Beamte müssten einzahlen, um über den "demografischen Berg" zu kommen. Linken-Chef Bernd Riexinger kritisierte, die SPD sei mit ihrem Vorhaben gescheitert, das Rentenniveau über 2025 hinweg festzuschreiben. Altersarmut werde damit zudem nicht verhindert.

Die SPD hatte in der Diskussion eine Rentengarantie bis 2040 gefordert. Bei der Union stieß das aber auf Widerstand, nachdem im Koalitionsvertrag nur die Haltelinie bis 2025 vereinbart wurde. Über die Zeit danach soll beschlossen werden, nachdem die von der großen Koalition eingesetzte Renten-Kommission ihre Ergebnisse vorgelegt hat. Arbeitsminister Heil betonte, sein Ziel bleibe, das Rentenniveau dauerhaft nicht unter 48 Prozent fallen zu lassen. Wenn das in dieser Wahlperiode nicht beschlossen werden könne, werde seine Partei dies im nächsten Bundestagswahlkampf zum Thema machen.

Corinna Buschow, Markus Jantzer


Ehrenamt

Giffey will Freiwilligendienste ausbauen




Freiwilligendienst in einem Altenheim
epd-bild/Werner Krüper
"Jeder, der sich in Deutschland freiwillig engagieren will, soll dazu die Möglichkeit bekommen", sagt die Bundesfamilienministerin. Die Diakonie begrüßt die Debatte, auch für Geflüchtete seien Freiwilligendienste gut zur Integration.

In der Diskussion um ein soziales Dienstjahr hat Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) einen Ausbau der bestehenden Freiwilligendienste angekündigt. "Jeder, der sich in Deutschland freiwillig engagieren will, soll dazu die Möglichkeit bekommen", erklärte die Ministerin am 27. August in Berlin. Die Diakonie Deutschland begrüßte die Ankündigung, vor allem für Geflüchtete. Sie könnten durch den Freiwilligendienst gesellschaftlich teilhaben und sich beruflich neu orientieren, sagte Diakoniepräsident Ulrich Lilie. Die Grünen kritisierten, dass das Sonderprogramm für Flüchtlingshilfe im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes zum Ende des Jahres ausläuft.

Giffey kündigte für Herbst ein Konzept für den Ausbau der Freiwilligendienste an. Konkrete Details nannte das Ministerium nicht. In seine Verantwortung fällt der Bundesfreiwilligendienst, der 2011 eingeführt wurde, als mit dem Wegfall der Wehrpflicht auch der Zivildienst abgeschafft wurde. Verbände hatten wegen des großen Interesses am "Bufdi" wiederholt eine Aufstockung der Plätze gefordert.

Auch für das Sonderprogramm zur Flüchtlingshilfe im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes ist das Familienministerium zuständig. Nach dessen Angaben wurde das Kontingent von 10.000 Freiwilligenstellen pro Jahr nie ausgeschöpft. Das Programm, das Einheimischen und Flüchtlingen mit guter Bleibeperspektive offensteht, ende daher wie vorgesehen am 31. Dezember, hieß es im Juni aus dem Ministerium.

Grüne: Sonderprogramm fortsetzen

Die Diakonie sprach sich wie die Grünen dafür aus, das Sonderprogramm fortzusetzen. Es sei ein "erfolgreiches Integrationsmodell", die Diakonie habe in ihren Einrichtungen damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Nicht nur die Geflüchteten hätten ihre Deutschkenntnisse und Berufsqualifikationen verbessert. Auch die betreuten Menschen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie in Wohnheimen für Menschen mit Behinderungen hätten davon profitiert.

In den Einrichtungen der Diakonie absolvieren jährlich rund 13.500 Menschen einen Freiwilligendienst, der Anteil der Menschen mit Fluchterfahrungen im Sonderprogramm liegt nach eigenen Angaben bundesweit bei 33 Prozent, bei evangelischen Trägern sogar bei 50 Prozent.

Die Grünen-Abgeordnete Anna Christmann forderte, das Sonderprogramm mit den finanziellen Ressourcen und der höheren Flexibilität in die Regeldienste zu überführen. Derzeit mangele es an finanzieller und organisatorischer Unterstützung, einem begleitenden Bildungsprogramm und einer Anerkennung etwa für einen leichteren Zugang zu Ausbildung und Studium.

Freiwilligendienst steht jedem offen

Einen Bundesfreiwilligendienst kann grundsätzlich jeder machen. Daneben gibt es das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr, das nur Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 27 Jahren offen steht.

In den vergangenen Wochen wurde in der Politik auch über ein verpflichtendes Dienstjahr für junge Männer und Frauen diskutiert. CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte eine sogenannte allgemeine Dienstpflicht vorgeschlagen und war damit auf ein geteiltes Echo gestoßen. Auch für Flüchtlinge könnte ihren Vorstellungen zufolge eine Dienstjahr eingeführt werden.

Die Diakonie bewertete eine Dienstpflicht kritisch. Auch Flüchtlingsorganisationen wie der niedersächsische Flüchtlingsrat betrachten eine Verpflichtung mit Skepsis. "Es wäre unsinnig, Geflüchtete in sozialen Einrichtungen dienstzuverpflichten, bevor sie überhaupt die Sprache erlernt haben", sagte Geschäftsführer Kai Weber dem Evangelischen Pressedienst (epd). Flüchtlinge, die vor Krieg und Verfolgung geflohen seien, bräuchten teils erst einmal Zeit, um Traumata zu überwinden.

Weber sagte weiter, die Voraussetzung für ein Dienstjahr für Flüchtlinge wäre Aufenthaltssicherheit. "Es wäre zynisch, Geflüchtete zu einem sozialen Jahr zu verpflichten und sie anschließend womöglich abzuschieben." Ein solches Vorgehen hätte den "schalen Beigeschmack von Arbeitsausbeutung". Eine weitere zwingende Voraussetzung für ein Dienstjahr für Geflüchtete wäre insofern, dass ihnen ein gleichberechtigter Zugang zum regulären Arbeitsmarkt eröffnet werde.

Corinna Buschow, Christina Denz


Familie

Stiftung mahnt einheitliche Standards bei Kita-Betreuung an




Kita in Taufkirchen bei München
epd-bild/mck
Bundesweit hat sich die Kita-Qualität bei der Betreuung verbessert. Regional gibt es laut einer Studie allerdings große Unterschiede. Die Bertelsmann Stiftung fordert daher bundesweit einheitliche Standards.

Im Osten Deutschlands betreut eine Fachkraft im Durchschnitt doppelt so viele Kinder wie im Westen. "Die Kita-Qualität hat sich bundesweit verbessert - die Kluft zwischen den Ländern ist allerdings geblieben", sagte der Vorstand der Bertelsmann Stiftung, Jörg Dräger, am 28. August in Gütersloh bei der Vorstellung des Ländermonitors für frühkindliche Bildung. Er mahnte bundesweit einheitliche Qualitätsstandards an, was Sozialverbände und die Gewerkschaft GEW befürworteten. Der Deutsche Städtetag äußerte sich hingegen skeptisch.

In Ostdeutschland kamen im vergangenen Jahr den Angaben zufolge sechs Kinder unter drei Jahren auf eine Betreuungskraft, in Westdeutschland waren es 3,6 Kinder. Fünf Jahre zuvor waren es 6,4 Jungen und Mädchen im Osten und 3,9 in Westen. Den besten Personalschlüssel hat Baden-Württemberg (3), Schlusslicht ist Sachsen-Anhalt (6,4). Allerdings würden in Ostdeutschland traditionell deutlich mehr Kinder unter drei Jahren in Krippen betreut, hieß es.

Mecklenburg-Vorpommern ist Schlusslicht

Auch bei den älteren Kita-Kindern liegt Baden-Württemberg mit einem Verhältnis von einer Fachkraft zu sieben Kindern vorn. Das ungünstigste Betreuungsverhältnis hat Mecklenburg-Vorpommern mit 13,4 Kinder pro Fachkraft. Die Experten der Bertelsmann Stiftung empfehlen ein Betreuungsverhältnis von einer Fachkraft für drei unter dreijährige Kinder beziehungsweise für 7,5 ältere Kinder.

Die Stiftung forderte bundesweit einheitliche Qualitätsstandards für Kitas. So sollten Bund und Länder in den Verhandlungen zum Gute-Kita-Gesetz eine Verbesserung der Personalschlüssel und Leitungsausstattung auf den Weg bringen, hieß es. Das Gesetz soll unter anderem zu einer Senkung der Gebühren beitragen und den Betreuungsschlüssel verbessern. Bis 2022 will die Bundesregierung den Ländern rund 5,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Nach Einschätzung der Bertelsmann Stiftung wären jedoch jährlich 8,7 Milliarden Euro nötig.

Einheitliche Standards forderten auch Sozialverbände und die Gewerkschaft GEW. Das Schneckentempo bei der Verbesserung der Kita-Qualität müsse ein Ende haben, kritisierte der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes, Holger Hofmann. Zusätzlich zu den erforderlichen Investitionen für mehr Kita-Plätze sei ein Investitionsprogramm von jährlich fünf Milliarden Euro zur Verbesserung der Betreuungsqualität nötig.

AWO wirbt für bessere Bezahlung

Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) mahnte zudem eine bessere Bezahlung für Erzieherinnen an, um den Beruf attraktiv zu machen. "Wir benötigen einen Kurswechsel, denn ohne eine angemessene Attraktivitätssteigerung der frühkindlichen Förderung wird der Erzieherinnen- und Erziehermangel immer größer", betonte Bundesvorsitzender Wolfgang Stadler. Die Lösung sehe er vor allem in einer deutlich verbesserten Bezahlung: "Wie sonst sollen sich so viele junge Menschen, wie wir benötigen, für diese Ausbildung entscheiden?"

Die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe forderte in der "Neuen Osnabrücker Zeitung", der Bund müsse ein für alle Länder verbindliches Gesetz auf den Weg bringen, um unterschiedliche Standards anzugleichen. Zudem müsse er jährlich zehn Milliarden Euro zusätzlich in die Qualität der Kitas investieren.

Dagegen lehnte der Deutsche Städtetag bundeseinheitliche Standards ab. Diese würden den sehr unterschiedlichen Konzepten der Kitas vor Ort nicht gerecht, sagte Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy. Für die Qualitätsverbesserung müsse der Bund dauerhaft Mittel zur Verfügung stellen. Die bislang in Aussicht gestellten 5,5 Milliarden Euro reichten nicht aus.

Geld für Qualitätsentwicklung fehlt

Bund und Länder haben dem Städtetag zufolge in der vergangenen Legislaturperiode selbst Qualitätsziele benannt, deren Umsetzung in der Summe Kosten von weit mehr als zehn Milliarden Euro jährlich verursachen würde. "Deshalb müssen natürlich auch die Länder erhebliche Summen beisteuern. Bund und Länder sollten außerdem sicherstellen, dass die zusätzlichen finanziellen Mittel zielgerichtet in die Qualitätsentwicklung in der Kindertagesbetreuung fließen", sagte Dedy. Öffentliche Mittel, die für eine Befreiung von Kita-Beiträgen eingesetzt werden, dürften nicht beim weiteren Ausbau der Plätze und bei der Verbesserung der Qualität fehlen.

Für die Grünen sagte Parteichefin Annalena Baerbock: "Dass sich die Personalsituation in den Kitas verbessert hat, ist erfreulich. Doch dass das geplante Kita-Qualitätsgesetz der Bundesregierung laut der Studie diesen Erfolg wieder konterkarieren kann, muss ein Alarmzeichen für Union und SPD sein." Kita-Qualität dürfe nicht vom Wohnort abhängig sein. Es brauche bundesweit einheitliche Qualitätsstandards und eine dauerhafte Beteiligung des Bundes an der Finanzierung der frühkindlichen Bildung.

Ministerin relativiert Resultate

Bayerns Familienministerin Kerstin Schreyer (CSU) relativierte die Untersuchungsergebnisse. "Die Gemeinden tragen die Planungs- und Finanzierungsverantwortung. Sie entscheiden mit ihrer Förderung über die Qualität einer Einrichtung und beispielsweise auch darüber, welchen Anstellungsschlüssel sie zu fördern bereit sind. Unterschiedliche Bedingungen in den Einrichtungen sind daher in erster Linie auf unterschiedliche Prioritätensetzungen der Gemeinden zurückzuführen."

Und sie gab zu bedenken: "Sich nur auf den Personalschlüssel zu fixieren, wird der komplexen und verantwortungsvollen Aufgabe der Kinderbetreuung nicht gerecht. Frühkindliche Bildung umfasst weitaus mehr, als sich in den Zahlenmodellen der Studie abbilden lässt. Auch wenn Bayern hier im deutschlandweiten Vergleich solide abschneidet, sagen die blanken Zahlen nur wenig über die Qualität der Kinderbetreuung aus."

Grundlage des jährlich aktualisierten Ländermonitors sind Auswertungen von Daten der statistischen Ämter des Bundes und der Länder aus der Kinder- und Jugendhilfestatistik sowie weiteren Statistiken. Stichtag war der 1. März 2017.

Holger Spierig


Kriminalität

Mehr Angriffe auf Wohnungslose



Immer mehr Menschen ohne festen Wohnsitz werden in Deutschland Opfer von Gewalt. Die Zahl der Straftaten gegen Obdachlose ist im Jahr 2017 auf rund 1.400 gestiegen, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion hervorgeht, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt. 2011 seien noch 600 Delikte in der Kriminalstatistik registriert worden.

Im gleichen Zeitraum hat sich den Angaben nach die Zahl der gewalttätigen Übergriffe auf rund 600 verdoppelt. Seit 2011 habe die Polizei in 70 Fällen ermittelt, weil ein Obdachloser umgebracht wurde. Zwischen 2011 und 2017 haben sich laut der Antwort der Bundesregierung, die Sexualstraftaten auf 60 Fälle vervierfacht.

Die Bundesregierung wies auf das Fehlen einer amtlichen Statistik zur aktuellen Zahl der Wohnungslosen hin. Vor dem Hintergrund fehlender Bezugsgrößen seien die Daten der Gewaltkriminalität nicht als Grundlage für Erklärungen oder Schlussfolgerungen zur Gewalt gegen obdachlose Personen geeignet, schreibt die Regierung. Zudem gehe sie von einer hohen Dunkelziffer aus.

Die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Ulla Jelpke, verweist darauf, dass die Amadeu Antonio Stiftung 26 getötete Wohnungslose durch rechtsextremistische Täter seit 1990 zählt. Dagegen erfasse das Bundeskriminalamt (BKA) im gleichen Zeitraum lediglich acht Todesopfer durch rechtsextreme Gewalt. Insgesamt wurden zwischen 2011 und 2017 laut BKA 70 Obdachlose getötet. Dagegen geht die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) im gleichen Zeitraum von 150 Gewaltdelikten aus, bei denen Obdachlose getötet wurden.

Jelpke bezeichnete die gestiegene Zahl der Gewalttaten als besorgniserregend. "Die momentane Erfassung von Straftaten gegen Obdachlose ist unzureichend", sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd). Den bestehenden Statistiken sei beispielsweise nicht zu entnehmen, wie sich die Zahl politisch motivierter Straftaten gegen Wohnungslose entwickelt habe. Sie appellierte an die Bundesregierung, Erklärungen für das gestiegene Gewaltniveau zu suchen sowie Gegenmaßnahmen zu entwickeln.



Frauen

Studie: Mütter auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt



Mütter erfahren nach einer Studie große Nachteile auf dem Arbeitsmarkt. Dies gilt sowohl im Vergleich zu kinderlosen Frauen als auch zu Männern, wie aus einer Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) hervor, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt. Auch bei gleicher Qualifikation werden Mütter erst gar nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Außerdem erhalten sie im gleichen Job niedrigere Löhne, und sie werden seltener befördert als Männer oder kinderlose Frauen, wie es in der Studie heißt.

Auf Männer hingegen scheine Elternschaft keine negativen Auswirkungen zu haben, schreibt die WZB-Forscherin Lena Hipp in ihrer Untersuchung. Im Durchschnitt erzielten Väter sogar höhere Gehälter und hätten bessere Aufstiegschancen als kinderlose Männer.

Die systematische Schlechterbehandlung von Müttern erklärt Hipp damit, dass Arbeitgeber annehmen, Mütter seien weniger produktiv als kinderlose Frauen und auch als Männer. Sie hätten auch Grund zu dieser Annahme: "Denn in der Regel sind es trotz aller familienpolitischen Verbesserungen und gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland noch immer Frauen, die den Großteil der Betreuungsarbeit schultern", schreibt Hipp. Bei Männern glauben sie hingegen, dass sie sich sogar stärker im Beruf engagieren, weil sie eine Familie zu versorgen haben.

Frauen, die nur kurz Elternzeit nehmen, haben dadurch nicht unbedingt Vorteile im Beruf, wie Hipp herausfand. In ihrer Studie zeigte sich: Mütter, die zwölf Monate lang in Elternzeit waren, wurden deutlich häufiger zum Vorstellungsgespräch eingeladen als Mütter, die nur zwei Monate Elternzeit nahmen. Die Erklärung der Berliner Wissenschaftlerin für den überraschenden Befund: "Mütter mit kurzer Elternzeit werden als 'Rabenmütter' wahrgenommen. Sie gelten als zu ehrgeizig, zu egoistisch und weniger freundlich als Frauen, die ein Jahr Elternzeit genommen haben."

Bei den Vätern spielte die Dauer der Elternzeit hingegen keine Rolle. Sie wurden genauso häufig zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, auch wenn sie zwölf und nicht nur zwei Monate in Elternzeit gegangen waren.



Bundesländer

NRW-Landesregierung will Altenpflegeausbildung stärker fördern



Das Land Nordrhein-Westfalen steckt mehr Geld in die Altenpflegeausbildung. Das Kabinett stimmte am 28. August in Düsseldorf einem entsprechenden Gesetzentwurf von Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) zu. Die monatliche Pauschale von aktuell 280 Euro je Schüler soll demnach auf 380 Euro steigen. Der Landtag muss den Plänen noch zustimmen.

Falls das Altenpflegegesetz entsprechend geändert wird, steigen die Ausgaben des Landes zur Finanzierung der Schulplätze in der Altenpflegeausbildung um 22,5 Millionen Euro auf insgesamt 85,5 Millionen Euro im kommenden Jahr. Laumann sprach von einem wichtigen Schritt zur Stärkung der Altenpflege. Ziel sei auch, die Fachseminare in der Altenpflege im Blick auf die anstehende Umsetzung der Pflegeberufe-Reform zu stärken.

Die Arbeiterwohlfahrt, selbst Trägerin von Altenpflegefachschulen, hatte kritisiert, dass der Zuschuss des Landes für die Ausbildung seit über 25 Jahren nicht erhöht worden sei. Nach Berechnungen der AWO würde ein Zuschuss von mindestens 490 Euro pro Schüler und Monat benötigt, "um qualifizierte Lehrer zu beschäftigen, die auf modernem Standard ausbilden können".



Bundesländer

Bremen beschließt neues Schwangerenberatungsgesetz



Die Bremische Bürgerschaft hat die bereits im Internet veröffentlichte Liste mit Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, nun auch gesetzlich abgesichert. Der entsprechende Antrag von SPD, Grünen und Linken für eine Änderung des Schwangerenberatungsgesetzes wurde am 29. August vom Landesparlament mit Mehrheit angenommen. Mit der Veröffentlichung habe sich Bremen dazu entschieden, wie die Stadtstaaten Berlin und Hamburg die Liste zu veröffentlichen, sofern die Einrichtungen dem zugestimmt haben, hieß es.

Damit solle den betreffenden Frauen die Möglichkeit gegeben werden, sich zu informieren, sagte Gesundheitssenatorin Eva Quante-Brandt (SPD). Ihre Notlage solle nicht noch dadurch verschärft werden, dass sie durch das bundesweit geltende Werbeverbot des Paragrafen 219a kriminalisiert würden. Dessen Abschaffung sei ihr erklärtes Ziel, betonte die Senatorin. Gespräche dazu auf Bundesebene liefen bereits. Ärzte müssten informieren dürfen, ohne einen Rechtsbruch zu begehen: "Wenn eine Ärztin auf ihrer Internet-Seite einen Button platziert mit dem Hinweis, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt, dann ist das keine Werbung."

Auslöser für die bundesweite Diskussion um die Informationsrechte von Frauen ist ein Gerichtsurteil gegen die Gießener Ärztin Kristina Hänel vom November 2017. Sie wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie auf der Webseite ihrer Praxis über die Ausführung von Abtreibungen informiert hatte.



Bundesländer

Rheinland-Pfalz und Behindertenwerkstätten beenden Rechtsstreit



Die rheinland-pfälzische Landesregierung und die Behindertenwerkstätten im Land haben ihren Rechtsstreit über Prüfrechte außergerichtlich beigelegt. Das Land habe seine Klagen zurückgezogen, teilte Sozialministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) am 24. August in Mainz mit. Nachdem im Juli bereits ein Musterverfahren des Landes gegen die Westeifel-Werke mit einem Vergleich beendet worden war, einigte sich das Land auch mit den Trägern der übrigen 30 Werkstätten.

Bereits 2019 kann das Land demnach im Zuge der anstehenden Vergütungsverhandlungen den Umgang der Werkstätten mit Landesgeldern überprüfen.

Die Regeln und Kriterien für diese Überprüfungen sollen in einem Rahmenabkommen festgelegt werden, dessen Abschluss nach Angaben des Ministeriums bis Ende 2018 erwartet wird. Im vergangenen Jahr hatte das Land alle 31 rheinland-pfälzischen Werkstättenträger verklagt, weil es Streit darum gab, ob anlassunabhängige Qualitätsprüfungen in den Werkstätten zulässig sind.

Der Landesrechnungshof hatte zuvor kritisiert, die Werkstätten seien finanziell zu gut ausgestattet. Die Behindertenwerkstätten lehnten Prüfungen ihrer Einrichtungen nicht grundsätzlich ab, bestanden aber darauf, dass es Regeln für deren Ablauf geben müsse. Das Mainzer Sozialministerium will im Zuge einer anstehenden Reform des Behindertenrechts ein anlassunabhängiges Prüfrecht des Landesamtes für Soziales in den Werkstätten einführen.




sozial-Branche

Arbeitslosigkeit

Job- und Sinnsuche ohne Zwang




Arbeitslose gehen in einem Projekt auf Selbstsuche.
epd-bild/Gustavo Alàbiso
Im österreichischen Waldviertel gehen Arbeitslose in einem Pilotprojekt neue Wege. 18 Monate lang können sie austesten, wo ihre Fähigkeiten liegen und wohin sie sich beruflich entwickeln möchten. Die weiter bezahlte Arbeitslosenunterstützung sorgt für Unabhängigkeit.

"Nein", sagt Karl Immervoll, "ein Vorbild gibt es für unser Projekt eigentlich nicht." Die von ihm gegründete Beschäftigungsinitiative in Heidenreichstein im österreichischen Waldviertel nennt sich "Sinnvoll tätig sein". Dabei können Langzeitarbeitslose 18 Monate lang recht zwanglos ausprobieren, wo ihre Fähigkeiten liegen.

Die Teilnehmer erhalten in dieser Zeit weiterhin ihre Arbeitslosenunterstützung, müssen dem Arbeitsamt aber nicht zur Verfügung stehen. 44 Menschen nehmen an dem Beschäftigungsprojekt teil, das vom Betriebsseelsorger Immervoll im April 2017 in Heidenreichstein im österreichischen Waldviertel ins Leben gerufen wurde. Immervoll verweist darauf, dass ein Viertel der Teilnehmer bereits in eine feste Stellung wechseln konnte.

Heidenreichstein ist eine Stadt mit rund 4.000 Einwohnern im Norden Österreichs nahe der tschechischen Grenze. Früher gab es hier Arbeitsplätze in der Industrie, doch das ist seit Anfang der 1980er Jahre vorbei. Seitdem teilt die Region das Schicksal vieler ehemaliger Fabrikstandorte mit Arbeitslosigkeit, Überalterung und Abwanderung.

Initiative der Betriebsseelsorge

Seit den 1980er Jahren setzt die Betriebsseelsorge Oberes Waldviertel dieser Negativentwicklung Alternativen entgegen: Von einer 1984 gegründeten Schuhwerkstatt bis zum Solartaxi 2013, das Mobilität für alle ermöglichen will. 2017 hat dann Pastoralassistent Immervoll, ein gelernter Schuhmacher, das Arbeitslosenprojekt aus der Taufe gehoben.

Es geht um das Ausloten von Möglichkeiten, um das Ausprobieren von Fähigkeiten und um das Arbeiten in sinnvollen Zusammenhängen. Damit verbunden ist die Zurückweisung des Zwangsregimes, mit dem heutzutage der Bezug von Arbeitslosengeld verknüpft ist. In einem Zwischenbericht schreibt Immervoll: "Die Befreiung von Ängsten und Druck ist ein Prozess. Trotzdem: 18 Monate von den Vorgängen rund um die Arbeitssuche befreit zu sein, Zeit zu haben, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Für manche bedeutet das, zum ersten Mal in ihrem Leben sich die Frage zu stellen: Was ist mein Weg?"

Arbeit wird hier aus einer anderen Perspektive aus betrachtet. Es geht darum, die eigenen Fähigkeiten in sinnvolle Tätigkeit einzubringen. Wie sieht das konkret aus?

Die Teilnehmer treffen sich einmal im Monat zu einem gemeinsamen Plenum, dazwischen arbeiten sie und organisieren sich in Arbeitsgruppen. Es entstehen gemeinsame Projekte, die auch der Kommune zugutekommen. So wurde etwa ein städtischer Platz begrünt. Manche Teilnehmer engagieren sich in der Altenbetreuung, andere pflegen Obstbäume, wieder andere versuchen sich als Schriftsteller.

"Bunte Truppe" auf der Suche nach sich selbst

Als eine "bunte Truppe" beschreibt der in Heidenreichstein aufgewachsene Historiker Franz Schandl die Teilnehmer. "Da tummeln sich Frauen und Männer im Alter von 20 bis 60 Jahren" und die meisten seien physisch und psychisch geschwächt, sagt Schandl, der am wissenschaftlichen Begleitprogramm mitarbeitet.

In ihrem Freiraum sollen die Teilnehmer danach forschen können, wo ihre eigenen Fähigkeiten, Stärken und Vorlieben liegen, was den meisten Teilnehmern im bisherigen Arbeitsprozess versagt blieb. "Wir haben erfahren", so Immervoll, "dass Arbeit krank machen kann." Und dass Arbeitslosigkeit deprimiert.

So will die Initiative auch helfen, die eigene soziale Isolation zu überwinden und neue Kontakte zu ermöglichen. Teilweise schon mit Erfolg: ein Viertel der Teilnehmer habe bereits eine feste Stelle gefunden.

Da ist die Frau, die aus der Gastronomie kam und eigentlich nie wieder in dieser Branche arbeiten wollte. Jetzt ist sie doch wieder da, aber in einem geschützten Bereich. Oder der Baggerfahrer, der, weil Analphabet, nicht den erforderlichen Führerschein hatte. Er hat die Prüfung inzwischen bestanden.

"Jeder Mensch hat viele Fähigkeiten, viele liegen brach", heißt es in einem Infoblatt der Betriebsseelsorge. "Immer mehr Menschen haben keine Chance auf einen Arbeitsplatz am ersten Arbeitsmarkt. Und was sie eigentlich gerne tun würden, wird nicht gefragt." Im österreichischen Waldviertel werden neue Wege beschritten. Wenn das Projekt im Herbst beendet sein wird, soll es dazu eine wissenschaftliche Auswertung geben.

Rudolf Stumberger


Löhne

Rothgang: "Pflege braucht allgemeinverbindlichen Tarifvertrag"




Pflegewissenschaftler Heinz Rothgang
epd-bild/David Ausserhofer
Sofortprogramme, eine konzertierte Aktion, anhaltende öffentliche Debatten: Die Pflege bleibt eines der bestimmenden Themen der deutschen Sozialpolitik. Es gibt viel nachzuholen, sagt der Bremer Pflegeforscher Heinz Rothgang. Auch bei den Anbietern.

Der Bremer Gesundheitsökonom und Pflegeforscher Heinz Rothgang kritisiert insbesondere private Anbieter in der Altenpflege kritisiert, die allgemeinverbindliche Tarifverträge in der Branche zur Stützung höherer Löhne ablehnen. "Manchmal klingt das ja schon so, als sei der Kern des freien Unternehmertums der, dass man einen niedrigen Lohn aushandelt", sagte Rothgang im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Höhere Löhne seien ein wichtiges Argument für den Neueinstieg in die Pflege. Die Anwerbung ausländischer Fachkräfte zur Linderung des Pflegenotstandes sieht er hingegen kritisch. Die Fragen stellte Dieter Sell.

epd sozial: Herr Rothgang, das Pflegepersonal-Verstärkungsgesetz von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und die "Konzertierte Aktion Pflege" von drei Ministerien sollen die Situation in der Pflege verbessern, auch durch die Anwerbung südosteuropäischer Pflegekräfte. Wie bewerten Sie das?

Heinz Rothgang: Der Fachkräftemangel ist im Moment das größte Problem im Bereich Pflege, keine Frage. Und der wird noch sehr viel stärker werden. Insofern ist es wichtig, dass wir uns damit beschäftigen, hätten damit aber besser schon zehn Jahre früher angefangen, als der Mangel schon absehbar war. Die Anwerbung ausländischer Pflegekräfte beispielsweise aus Albanien oder dem Kosovo kann kurzfristig helfen.

epd: Das ist aber nicht unumstritten..

Rothgang: Ja, denn damit verlagern wir das Grundproblem ins Ausland, denn überall in Europa gibt es einen Pflegefachkräftemangel. Wir lassen dann andere Länder die Ausbildungskosten tragen und werben ab. Das ist, was die innereuropäische Solidarität angeht, sicherlich problematisch. Da wäre zumindest zu überlegen, inwieweit sich Deutschland im Rahmen von EU-Maßnahmen dann an den Ausbildungskosten beteiligt.

epd: Wo liegen den Grenzen des neuen Gesetzes?

Rothgang: Auch angesichts Tausender Kräfte, die durch das Pflegepersonal-Verstärkungsgesetz in die Altenpflegeeinrichtungen kommen sollen, und das nach Aussage des Ministers nicht zuletzt aus dem Ausland, bleibt konkret die Frage, wie viele ausländische Arbeitskräfte mit den entsprechenden Sprachkenntnissen wirklich kommen wollen und kurzfristig mobilisierbar wären. Es reicht ja nicht, wenn Fachkräfte zwar wissen, wie Pflege geht, aber nicht in Kontakt mit den häufig alten und dementen Menschen treten können. Wir müssen die sprachlichen und fachlichen Anforderungen hochhalten. Zwar ist es sinnvoll, den Versuch zu starten, ausländische Pflegekräfte anzuwerben. Aber in der Vergangenheit hat das nicht immer gut funktioniert. Ich denke da beispielsweise an spanische Pflegekräfte, die schnell hier waren und genauso schnell wieder weg. Langfristig sollten wir unseren Bedarf aus dem eigenen Potenzial heraus decken.

epd: Welchen Themen sollte sich Ihrer Meinung nach die "Konzertierte Aktion" zuerst zuwenden?

Rothgang: Zentrales Thema muss die Personalsituation in Pflegeeinrichtungen sein. Da gibt es zwei Gesichtspunkte. Erstens: Für Menschen, die neu in den Pflegeberuf kommen sollen, ist die Bezahlung ein wichtiger Punkt. Gerade, wenn man den Beruf auch für Männer attraktiv machen will. Zweitens: Wenn wir uns anschauen, warum Leute aus der Pflege rausgehen, spielt Bezahlung eine geringere Rolle. Da geht es vor allem um Arbeitsbedingungen und insbesondere um unzureichende Personalausstattung.

epd: Es geht also nicht ohne mehr Personal?

Rothgang: Ja, wir brauchen einen höheren Stellenschlüssel in den Einrichtungen. Damit würden wir das Problem zunächst natürlich noch verschärfen, denn der Markt für Pflegerinnen und Pfleger ist leer gefegt. Das ist paradox: Um den Pflegenotstand zu bekämpfen, müssen wir ihn zunächst vergrößern. Das Problem kurzfristig erhöhter Stellenschlüssel benennen die Anbieterverbände. Wenn wir ohne Übergangszeiten höhere Stellenschlüssel, wie sie beispielsweise in Bayern gelten, bundesweit einführen, machen morgen die ersten Einrichtungen in Brandenburg und Mecklenburg zu, weil sie nicht genug Personal finden, um diese Schlüssel zu bedienen.

epd: Was ist mit dem Verhältnis von Vollzeit- zu Teilzeitstellen?

Rothgang: Unmittelbar hilfreich wäre ein größerer Anteil an Vollzeitstellen, denn in vielen Häusern gibt es immer noch wahnsinnig hohe Teilzeitquoten, und zwar teils unfreiwillig. Wir haben Häuser, die haben 100 Prozent Teilzeit und sagen dann, sie finden nicht genug Personal. Dem Mangel kann man aber mit höheren Vollzeitquoten begegnen. Die erfordern eine veränderte Arbeitszeitgestaltung etwa durch eine bessere Verteilung von Aufgaben über den Tag. Da ist noch nicht genug Fantasie seitens der Einrichtungen zu sehen und zu wenig Bereitschaft, von den Einrichtungen zu lernen, die hohe Vollzeitquoten haben. Da haben wir ein bisschen zu viel Jammerkultur.

epd: Mit ihrem Team entwickeln Sie im Auftrag des Gesetzgebers bis 2020 ein bundesweit gültiges Verfahren, mit dem bemessen werden kann, wie viel Personal in einer stationären Pflegeeinrichtung nötig ist. Warum ist das wichtig?

Rothgang: Die Personalausstattung fällt im Bundesgebiet äußerst unterschiedlich aus. Länder wie Bayern, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg haben um ein Viertel höhere Personalquoten als beispielsweise Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg. Es ist aber nicht einzusehen, warum jemand, der in Ostdeutschland im Heim gepflegt wird, weniger Pflege braucht als jemand in Süddeutschland. Hier fehlen bundesweite Orientierungswerte.

epd: Und wie ist eine bessere Bezahlung umzusetzen?

Rothgang: Sinnvoll wäre da ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag. Das durchzusetzen, wird aber nicht einfach sein. Gerade die privaten Anbieter sind davon alles andere als begeistert. Manchmal klingt das ja schon so, als sei der Kern des freien Unternehmertums der, dass man einen niedrigen Lohn aushandelt. Im Rahmen des derzeit gültigen Tarifvertragsgesetzes ist es bei einer derart ablehnenden Haltung eines Tarifpartners aber nicht möglich, einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären. Wenn man das will, wird man wohl zunächst das Tarifvertragsgesetz ändern müssen. Doch meine Hoffnung ist, dass letztlich der Wettbewerb um knappe Arbeitskräfte zu einer besseren Bezahlung führen wird. Als Pflegekraft, das sollte inzwischen klar sein, kann ich mir die Jobs aussuchen.

epd: Familienministerin Franziska Giffey (SPD) hat gesagt, es müsse cool sein, Pflegekraft zu sein. Was denken Sie darüber?

Rothgang: Da denke ich an Kollegen, die seit Jahren Imagekampagnen fordern. Ich sage immer: Nein, wir brauchen zunächst gute Arbeitsbedingungen, dann Imagekampagnen. Aber bitte nicht umgekehrt. Wenn eine Imagekampagne "Es ist cool, in der Pflege zu sein" dazu führt, dass junge Menschen in die Pflege gehen und dann sehen, wie es wirklich ist und sagen: Um Gottes willen, diesen Beruf will ich nicht ausüben - das wäre das Schlimmste. Also, wenn Frau Giffey meint, es muss cool sein, Pflegekraft zu sein, weil es tatsächlich cool ist, bin ich ganz bei ihr. Wenn es nur darum geht, den Eindruck zu erwecken, ohne dass sich Arbeitsbedingungen und Bezahlung ändern, halte ich das für fatal.



Studie

Kinder von Eltern mit niedriger Bildung oft weniger gesund



Kinder von Eltern mit geringer Bildung leiden einer Studie zufolge eher an Karies, Übergewicht oder Sprachstörungen als andere. Wie aus dem am 28. August in Berlin vorgestellten Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit hervorgeht, sind Jungen und Mädchen aus solchen Familien bis zu dreimal häufiger von bestimmten Erkrankungen betroffen als Akademiker-Kinder.

Die Krankenkasse hat für die repräsentative Erhebung in Zusammenarbeit mit der Universität Bielefeld die Versichertendaten von fast 600.000 Kindern und 430.000 Eltern aus dem Jahr 2016 ausgewertet.

Nach Erkenntnissen der Kasse hängt die Diagnose der Kinder oft mit dem Lebensstil von Mutter oder Vater zusammen. Deutlich würden die Unterschiede etwa bei Fettleibigkeit: Davon sind den Angaben nach Kinder von Eltern ohne Ausbildungsabschluss im Alter zwischen fünf und neun Jahren bis zu 2,5 Mal häufiger betroffen als Kinder von Akademikern. So hätten von 1.000 Kindern bildungsarmer Eltern 52 ein krankhaftes Übergewicht. Bei Akademikerkindern seien es hingegen 15 Jungen und Mädchen.

Bei Karies gibt es laut Studie in Familien mit geringer Bildung 2,8-mal so viele Fälle wie beim Nachwuchs von Akademikern. Sprach- und Sprechprobleme treten bei Kindern von Eltern ohne abgeschlossener Ausbildung um 45 Prozent häufiger auf. Bei der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung ADHS gebe es einen Unterschied von 44 Prozent.

Ferner gebe es bis zu 68 Prozent mehr Krankenhausaufenthalte dieser Kinder und es seien bis zu 43 Prozent mehr Arzneimittel verschrieben worden. Weiter heißt es im Report, dass die Bildungseinflüsse der Familie im direkten Vergleich deutlich größere Auswirkungen auf die Kindergesundheit haben als Einkommensunterschiede.

Besonders gefährdet seien Kinder suchtkranker Eltern. Der Anteil von psychischen Erkrankungen ist der Studie zufolge bei diesen Kindern stark erhöht: Depressionen sind bei ihnen um 80 Prozent häufiger als bei unbelasteten Kindern, ADHS um 70 Prozent und Schulangst um 50 Prozent häufiger.



Familie

Experte: Trotz vieler Inobhutnahmen keine Kinderschutzdebatte



Der Schutz von Kindern durch Inobhutnahmen des Jugendamtes gewinnt nach Ansicht des Jugendhilfe-Experten Thomas Mühlmann wieder an Bedeutung. Überraschend sei dabei, dass "diesmal – anders als im Zeitraum von 2006 bis 2012, in dem es deutliche Steigerungen der Inobhutnahmen gab – keine Kinderschutzdebatte geführt werde", sagte der Dortmunder Wissenschaftler dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Zahl der Inobhutnahmen liegt nach Angaben des Statistischen Bundesamts mit 61.300 Fällen weiter auf hohem Niveau.

Rechnerisch bedeute die Zahl, dass jedes der 574 Jugendämter in Deutschland durchschnittlich einmal pro Woche ein Kind oder einen Jugendlichen aufgrund einer Gefährdung in Obhut nehmen musste, sagte der Dortmunder Wissenschaftler. In weniger als drei Viertel der Fälle hielt sich das Kind oder der Jugendliche zuvor bei seinen Eltern auf, in den restlichen Fällen lebte es in betreuten Wohnformen oder anderen Orten. Bei den Zahlen seien unbegleitet minderjährige Flüchtlinge ausgenommen.

Mühlmann betonte allerdings auch, Inobhutnahmen seien noch immer nur ein kleiner Teil der staatlichen Schutzmaßnahmen. Nur rund 0,3 Prozent aller Kinder waren 2016 davon betroffen. Die Gesamtzahl der Inobhutnahmen weise zwar auf das Ausmaß der Fälle hin, in denen Jugendämter diese vorläufigen Maßnahmen ergreifen, die Gründe dafür könnten allerdings sehr unterschiedlich sein.

Die erneut gestiegenen Zahlen könnten auf eine wachsende Sensibilität für notwendige Schutzmaßnahmen hindeuten, sagte Mühlmann. Eine Inobhutnahme könne aber auch bedeuten, dass andere Teile des Schutzsystems vorher nicht ausreichend wirksam waren.

"In vielen Fällen erfolgt anschließend eine Rückführung in die Familie", sagt Mühlmann. So kehrten 41 Prozent der in Obhut genommenen Kinder (ohne unbegleitete ausländische Minderjährige) wieder zu den Sorgeberechtigten zurück. Nur ein Teil der Maßnahmen stelle deshalb einen Eingriff in die familiäre erzieherische Autonomie dar. Bei der Diskussion über die Verhältnismäßigkeit des Handelns der Jugendämter sei das zu beachten. Inobhutnahmen seien zudem nur ein kleiner Teil des Kinder- und Jugendhilfesystems.



Sozialunternehmen

Bethel erzielt höchstes Jahresergebnis der Geschichte



Die v. Bodelschwinghschen Stiftungen haben das beste Jahresergebnis und die höchsten Spendeneinnahmen ihrer 150-jährigen Geschichte erzielt. Das Ergebnis für 2017 von rund 12,8 Millionen Euro sei annähernd eine Verdoppelung des Vorjahresresultates, sagte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende Rainer Norden am 28. August in Bielefeld. Auch die Spenden und Nachlässe haben mit 62,7 Millionen Euro - ein Zuwachs von rund zehn Millionen Euro - einen neuen Höchststand erzielt, wie der Bethel Chef Ulrich Pohl bei der Vorstellung der Jahresbilanz erklärte. Die Gesamterträge stiegen leicht von 1,14 Milliarden Euro auf 1,24 Milliarden Euro.

Die Steigerung der Gesamterträge geht Norden zufolge auf die Ausweitung der Arbeit des diakonischen Unternehmens mit neuen Einrichtungen zurück. Weitere Gründe seien die Zunahme der Fachleistungsstunden in der Betreuung und die hohe Zahl von Berechnungstagen im stationären Bereich. Die Sachinvestitionen lagen mit 78,1 Millionen Euro um rund zwei Millionen Euro unter der Summe des Vorjahres. Die Zahl der Mitarbeiter stieg zum Ende des vergangenen Jahres auf 19.052 (Vorjahr: 18.449).

Das Evangelische Klinikum Bethel erzielte ein positives Gesamtergebnis von 1,8 Millionen Euro. Die Fallzahlen seien mit 170.000 leicht gestiegen, erklärte Norden. Mit rund 1.755 Betten und 4.600 Beschäftigten sei das Krankenhaus das größte einzelne evangelische Krankenhaus in Deutschland.

Bethel Chef Pohl zog eine positive Bilanz des Jubiläumsjahres zum 150-jährigen Bestehen des diakonischen Unternehmens. Viele Menschen seien bestärkt worden, sich weiter für Bethel zu engagieren und die Arbeit zu begleiten. Als großes Projekt kündigte Pohl ab 2019 den Beginn des Neubaus des Kinderzentrums Bethel an. Das neue Kinderzentrum soll die gesamte Behandlung und Diagnostik unter einem Dach bündeln. Die Kosten von voraussichtlich 70 Millionen Euro sollen zur Hälfte aus Eigenmitteln sowie Spenden und zur anderen Hälfte vom Land finanziert werden.



Kriminalität

Missbrauchsprozess gegen Ex-Kindergartenleiter hat begonnen



In Heilbronn hat am 27. August der Prozess gegen den ehemaligen Leiter eines evangelischen Kindergartens wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes begonnen. Die Anklage wirft ihm zudem Vergewaltigung und den Besitz Zehntausender kinderpornografischer Dateien vor. Der 31-Jährige war aufgeflogen, als er kinderpornografische Bilder im Internet der verdeckt ermittelnden Polizei zum Tausch angeboten hatte.

Fünf weitere Verhandlungstage sind bis Ende September vorgesehen. Der Mann sitzt seit März in Untersuchungshaft und hat die Taten gestanden.

In der Anklageschrift heißt es, der Erzieher habe zwischen Mitte 2012 und Anfang 2018 einen anfangs siebenjährigen Jungen aus seinem Bekanntenkreis, der jetzt Nebenkläger in dem Verfahren ist, sexuell missbraucht. Zuerst habe der Mann an dem Jungen Oralverkehr vollzogen, zum Teil während das Kind schlief. Das gilt als Vergewaltigung. Teilweise machte er von seinen Taten Aufnahmen. Ab 2013 ließ sich der Mann dann selbst von dem Jungen oral befriedigen. Nur in 2 der 19 angeklagten Fälle sei es nicht bis zum Oralverkehr gekommen, heißt es in der Anklage.

Den Missbrauchsfall hatte der Vater des Jungen angezeigt, nachdem der Erzieher ursprünglich nur wegen des Besitzes von Kinderpornografie angeklagt worden war. Auf die Anzeige hin durchsuchte die Polizei erneut die Wohnung des Angeklagten und die bereits beschlagnahmten Dateien und fand Hinweise, dass er Bilder und Videos nicht nur getauscht, sondern auch selbst erstellt hatte.



Kirchen

Verband: Über 75 Prozent der diakonischen Kliniken bilden aus



Der Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland (VdDD) rückt mit einer Informationskampagne die wirtschaftliche und soziale Bedeutung der kirchlichen Sozialunternehmen in den Fokus. "Sie entwickeln seit jeher soziale Dienstleistungen als Antworten auf akute Problemlagen. Als Sozialunternehmen mit rund 525.000 Mitarbeitenden sind sie bedeutende Akteure im Arbeitsmarkt und zentrale Pfeiler von Wirtschaft und Gesellschaft“, betonte VdDD-Vorstandsvorsitzender Christian Dopheide am 28. August in einer Mitteilung.

Mit Hilfe von Zahlen und Best-Practice Beispielen aus verschiedenen Hilfefeldern sowie Veranstaltungen und erhöhter Web- und Social-Media-Präsenz wolle man den Blick der Politik auf diese Stärken schärfen, hieß es.

Die Kampagne werde verschiedene Facetten innovativer, diakonischer Arbeit in den unterschiedlichen Hilfefeldern zeigen. Zum Auftakt stehe das Thema "Lehre" im Mittelpunkt: 77,5 Prozent aller diakonischen Krankenhäuser bilden in der Krankenpflege aus. "Durch die Ausbildung in gesundheitlichen und sozialen Berufen leisten diakonische Unternehmen einen unverzichtbaren Beitrag zur gesundheitlichen Versorgung der gesamten Bevölkerung. Sie arbeiten aktiv dem Fachkräftemangel in der Branche entgegen", betonte Dopheide.



Familie

Evangelische Frauen fordern Kindergrundsicherung



Die Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD) fordern eine Kindergrundsicherung von 800 Euro monatlich. Berechnungen auf Grundlage des festgelegten Existenzminimums könnten zwar richtungsweisend sein, doch sie seien deutlich zu niedrig bemessen, teilte der in Hannover ansässige Dachverband mit rund drei Millionen Mitgliedern am 28. August mit. "Es wird allerhöchste Zeit, dass sich hier etwas zum Positiven verändert", hieß es. Die Bundesregierung müsse endlich aktiv werden.

Die Vorsitzende, Susanne Kahl-Passoth, sagte, die Zahl von 4,4 Millionen Kindern, die laut Kinderschutzbund in Armut lebten, sei beschämend. "Über das Ausmaß der Kinderarmut in Deutschland darf nicht länger hinweggesehen werden." Die bisherigen Transferleistungen und Steuerbegünstigungen seien nicht geeignet, allen Kindern Bildung und Teilhabe zu ermöglichen.




sozial-Recht

Bundesgerichtshof

Sozialamt kann auf geschenktes Haus zugreifen




Neubausiedlung
epd-bild/Caro/Oberhäuser
Schenkungen von Eltern an ihre Kinder sind vor dem Sozialamt nicht sicher. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Eltern pflegebedürftig geworden sind und ihren Heimaufenthalt nicht selbst bezahlen können. Erst zehn Jahre nach der Schenkung kann nichts mehr zurückgefordert werden.

Das Sozialamt kann auf eine Schenkung von Eltern an ihre Kinder zugreifen, um damit die Pflegekosten der Mutter zu decken. Als Schenkung gilt dabei nicht nur ein auf die Kinder übertragenes Haus, sondern auch der Wertzuwachs eines Grundstücks aufgrund des Verzichts auf ein zuvor vereinbartes lebenslanges Wohnrecht, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in einem am 23. August veröffentlichten Urteil. Zahlen die Eltern dann noch Miete an ihre Kinder, müsse auch dieser Nutzen aus der Schenkung berücksichtigt werden, so die Karlsruher Richter.

Verzicht auf lebenslanges Wohnrecht

Nach den gesetzlichen Bestimmungen kann eine Schenkung wegen "Verarmung des Schenkers" zurückgefordert werden. Herausgegeben werden müssen dabei auch die Nutzungen, die aus dem Geschenk gezogen wurden. Erst zehn Jahre nach Erhalt der Schenkung können diese nicht mehr zurückgefordert werden. Sogenannte "Pflicht- oder Anstandsschenkungen" muss der Beschenkte generell nicht zurückgeben. Dazu gehören Weihnachtsgeschenke oder Geschenke, die eine Belohnung für Hilfen oder geleistete Diensten darstellen sollen.

Im konkreten Fall hatten Eltern ihrer Tochter 1995 ein Haus im Raum Bielefeld geschenkt. Die Eltern verzichteten 2003 auf ein zuvor im Grundbuch eingetragenes lebenslanges Wohnrecht. Die Mutter zahlte der Tochter nun für die bewohnte Wohnung monatlich 340 Euro Kaltmiete.

Als der Vater starb und die Mutter 2012 in ein Pflegeheim zog, kam der Landkreis Schaumburg als Sozialhilfeträger für die Heimkosten auf. Bis zum Tod der Mutter fiel so Hilfe zur Pflege in Höhe von 22.248 Euro an.

Schenker in wirtschaftlicher Notlage

Dieses Geld forderte der Landkreis von der Tochter zurück. Das 1995 geschenkte Haus könne wegen des Ablaufs der Zehnjahresfrist zwar nicht mehr als Schenkung zurückgefordert werden. Anders sehe dies aber bei dem nachträglich erklärten Verzicht der Eltern auf ihr Wohnrecht und dem damit verbundenen Wertzuwachs des Grundstücks sowie mit der daraufhin erhaltenen Miete aus.

Dies bestätigte nun auch der BGH. Innerhalb von zehn Jahren könnten Schenkungen bei einer wirtschaftlichen Notlage des Schenkers zurückgefordert werden. Als Schenkung sei hier der erst 2003 erklärte spätere Verzicht auf das lebenslange Wohnrecht anzusehen. Denn dadurch sei der Wert des Grundstücks gestiegen, so der BGH. Um den objektiven Wert des Grundstücks bestimmen zu können, könne der Verkehrswert, zu dem das Haus veräußert werden kann, herangezogen werden.

Auch die Mieteinnahmen müsse sich die Tochter anrechnen lassen, die sie von ihrer Mutter erhalten hatte. Das Oberlandesgericht Hamm muss nun den genauen Rückforderungsanspruch des Landkreises bestimmen.

Rückforderung von Geldgeschenken

Auch regelmäßige kleine Geldgeschenke sind vor dem Sozialamt nicht sicher. Zahlt eine Mutter ihren Töchtern die monatlichen Beiträge zu ihren Lebensversicherungen, können diese Schenkungen über die vergangenen zehn Jahre für die Unterbringung im Pflegeheim zurückgefordert werden, urteilte das Landessozialgericht Baden-Württemberg im Oktober 2017 in Stuttgart.

In entschiedenen Fall wurde von einer 84-jährigen, in einem Pflegeheim untergebrachten Rentnerin verlangt, dass sie zur Deckung der Heimkosten regelmäßige, seit Jahren getätigte Geldgeschenke an ihre Töchter zurückfordert. Das Geld wurde für deren Lebensversicherungsbeiträge verwendet.

Die Töchter könnten ja die Lebensversicherungen wieder verkaufen, so das LSG. Die Schenkungen der Mutter an ihre Töchter dienten auch nicht deren Unterhalt, so dass kein Rückforderungsanspruch bestünde. Gleiches gelte für "Anstandsgeschenke" und "übliche Gelegenheitsgaben" zu besonderen Tagen oder Anlässen. Diese setzten einen geringen Wert voraus. Bei Einzahlungen in eine Lebensversicherung handele es sich aber nicht um "Anstandsgeschenke", befand das LSG.

Rechte von noch nicht geborenen Erben

Der BGH stellte zudem in einem Urteil vom Mai 2012 klar, dass Schenkungen selbst dann innerhalb von zehn Jahren zurückgegeben werden müssen, wenn der Schenkende gestorben ist und die Erben auf diese Weise ihren Pflichtteil beanspruchen können. Die Rückforderung könnten sogar Erben geltend machen, die zum Zeitpunkt der Schenkung noch gar nicht geboren waren. Könnten bereits zum Zeitpunkt der Schenkung geborene Erben Ansprüche geltend machen, damals noch nicht geborene Erben aber nicht, wäre dies eine "mit dem Gleichheitsgrundsatz nicht zu vereinbarende Ungleichbehandlung", so der BGH.

Damit eine versprochene Vermögensschenkung wirksam werden kann, muss nach einer weiteren Entscheidung des BGH vom Juni 2016 ein Notar diese beurkunden. Andernfalls sei die Schenkung selbst dann nichtig, wenn das Vermögen bereits an den Beschenkten übergeben wurde. Dies gelte erst recht, wenn die Vermögensübertragung kurz vor dem Tod erfolgen soll. Mit dem Zwang zur notariellen Beurkundung sollen laut BGH Betroffene vor übereilten Übertragungen ihres Vermögens geschützt werden.

Az.: X ZR 65/17 (BGH, Verzicht auf Wohnrecht)

Az.: L 7 SO 1320/17 (LSG Stuttgart, Lebensversicherung)

Az.: IV ZR 250/11 (BGH, Pflichtteil)

Az.: X ZR 65/14 (BGH, Notar)

Frank Leth


Bundesverwaltungsgericht

Ausländer brauchen nach Scheidung neue Aufenthaltserlaubnis



Einem Ausländer, der sich von seinem deutschen Ehepartner trennt, steht nach der Scheidung nicht automatisch eine Aufenthaltserlaubnis zu. Die Voraussetzung für einen Aufenthalt in Deutschland aus familiären Gründen falle bei der Trennung eines Paares weg, entschied das Bundesverwaltungsgericht am 21. August in Leipzig. Einer möglichen anderen Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Beschäftigung müsse dann zunächst die Bundesagentur für Arbeit zustimmen.

Im konkreten Fall hatte ein libyscher Staatsangehöriger geklagt, der wegen seiner Ehe mit einer Deutschen eine befristete Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Familiennachzugs erhalten hatte. Sein Antrag nach der Ehescheidung, wegen einer Beschäftigung in Deutschland bleiben zu dürfen, hatte die Ausländerbehörde abgelehnt. Zuvor verweigerte die Bundesagentur für Arbeit dem Kläger ihre Zustimmung.

Das Verwaltungsgericht Berlin verpflichtete in einem Urteil 2015 die Ausländerbehörde zu einem neuen Bescheid. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg wies hingegen 2017 die Klage in vollem Umfang ab. Dabei ließ es offen, ob es der Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit bedürfe. Mit seiner aktuellen Entscheidung folgte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig dem Oberverwaltungsgericht. Zugleich erklärte der erste Revisionssenat am Dienstag, dass es bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit der Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit bedürfe.

Lediglich Personen, die bereits im Besitz einer Blauen Karte EU oder einer Aufenthaltserlaubnis sind, benötigten eine solche Zustimmung nicht, hieß es. Ist einem Ausländer auf diesem Weg der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt eröffnet worden, bedürfe es nicht der nochmaligen Einbeziehung der Bundesagentur für Arbeit zur Prüfung der beschäftigungsrechtlichen Voraussetzungen.

Az.: BVerwG 1 C 22.17



Bundesarbeitsgericht

Kündigung wegen Diebstahls: Videobeweis nach sechs Monaten zulässig



Arbeitgeber müssen bei einem Diebstahlverdacht Aufnahmen aus einer Videoüberwachung nicht sofort auswerten. Gibt es für den Arbeitgeber erst nach einem halben Jahr einen Anlass, das Bildmaterial zu sichten, darf dieses für eine fristlose Kündigung als Beweismittel verwertet werden, wie das Bundesarbeitsgericht am 23. August in Erfurt urteilte.

Im Streitfall hatte der Arbeitgeber, ein Tabak- und Zeitschriftenhändler aus dem Raum Iserlohn, einer Beschäftigten fristlos wegen Unterschlagung gekündigt und Schadenersatz geltend gemacht. In dem Laden hatte der Arbeitgeber eine offene Videoüberwachung installiert, um Diebstähle von Kunden und Beschäftigten aufdecken zu können.

Als er im dritten Quartal 2016 einen Warenschwund feststellte, wertete er die vorhandenen Videoaufnahmen aus. Dabei stellte er fest, dass die Beschäftigte im Februar 35 Euro geklaut hatte.

Die daraufhin erklärte fristlose Kündigung hielt die Frau für unwirksam. Sie habe das Geld nicht vorsätzlich unterschlagen. Außerdem hätte der Arbeitgeber die Aufnahmen nicht als Beweismittel verwerten dürfen. Denn die Videoaufnahmen seien erst sechs Monate später ausgewertet worden. Nach dem Bundesdatenschutzgesetz müssten diese aber unverzüglich gelöscht werden.

Dem widersprach das Bundesarbeitsgericht. Bei einer rechtmäßigen offenen Videoüberwachung müsse das Bildmaterial nicht sofort ausgewertet werden. Der Arbeitgeber durfte laut Gericht so lange warten, "bis er dafür einen berechtigten Anlass sah". Dies sei auch mit der Datenschutzgrundverordnung vereinbar. Das Landesarbeitsgericht Hamm muss nun feststellen, ob es sich im vorliegenden Fall um eine rechtmäßige offene Videoüberwachung gehandelt hat.

Az.: 2 AZR 133/18



Bundesgerichtshof

Höherer Pfändungsfreibetrag wegen Mietkosten möglich



Ein überschuldeter Vater, der mit seinem Einkommen auch für die Unterkunftskosten seiner Familie aufkommt, kann mit höheren Freibeträgen vor Pfändung geschützt werden. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe in einem am 27. August veröffentlichten Beschluss entschieden. Die Höhe der im Pfändungsfreibetrag zu berücksichtigenden Unterkunftskosten müsse sich nach den üblichen angemessenen Aufwendungen für eine alleinstehende Person richten und nicht nach dem jeweiligen Anteil der im Haushalt lebenden Personen, entschied der BGH.

Im konkreten Fall kann ein Vater, der für sein nichteheliches Kind mit Unterhaltszahlungen in Rückstand geriet, einen höheren Pfändungsfreibetrag geltend machen. Der Mann lebt derzeit mit seiner Ehefrau und einem zweiten Kind in einer Wohnung im Raum Eckernförde zusammen.

Das Land Schleswig-Holstein gewährte dem nichtehelichen Kind wegen der Unterhaltsrückstände einen Unterhaltsvorschuss. Das Geld wollte sich das Land per Zwangsvollstreckung von dem Vater zurückholen. Einen Teil seines Nettoeinkommens durfte der Mann für seinen eigenen Lebensunterhalt und für den Unterhalt seiner Frau und der gemeinsamen Tochter behalten. Außerdem wurde der auf ihn entfallende Anteil der Mietkosten in Höhe von 241,77 Euro als pfändungsfrei angesehen.

Der Mann verlangte indes einen höheren Pfändungsfreibetrag. Er komme mit seinem Einkommen vorwiegend für die Unterkunftskosten seiner Familie auf, lautete die Argumentation. Daher müsse auch ein größerer Anteil der Unterkunftskosten als pfändungsfrei gelten.

Dies bestätigte nun der BGH. Von den Unterkunftskosten müssten 471,46 Euro und damit 65 Prozent der Mietkosten als pfändungsfrei gelten. Um den Unterkunftsbedarf des Mannes bestimmen zu können, müssten im Zwangsvollstreckungsverfahren die fiktiven angemessenen Mietkosten für eine alleinstehende Person herangezogen werden. Maßstab sei dabei das "ortsübliche Mietpreisniveau", wie es sich aus Mietspiegeln oder aus einer Mietdatenbank ableiten lässt. Danach stehe dem Mann ein höherer Pfändungsfreibetrag zu, befand das Gericht.

Az.: VII ZB 40/17



Sozialgericht

Kreis muss behinderter jungen Frau Grundsicherung zahlen



Menschen mit Behinderungen, die erwerbsgemindert sind, haben nach einem Urteil ab dem 18. Lebensjahr Anspruch auf Grundsicherung. Das gilt auch dann, wenn sie eine Ausbildung in einer Werkstatt für behinderte Menschen absolvieren, wie das Sozialgericht Detmold in einem am 28. August bekanntgewordenen Urteil entschied. Das Gericht verurteilte den Kreis Herford, einer 19-jährigen jungen Frau mit Down-Syndrom rückwirkend ab dem 18. Lebensjahr Grundsicherung zu zahlen.

Der Kreis, der den Antrag auf Grundsicherung abgelehnt hatte, hatte sich auf die Praxis des Bundessozialministeriums berufen. Das Ministerium war nach einer Neufassung im Sozialgesetzbuch der Auffassung, dass eine dauerhafte Erwerbsminderung erst nach Ende des Berufsbildungsbereichs festgestellt werden könne.

Das Gericht hingegen entschied, dass von einer weiteren vollen Erwerbsminderung auszugehen sei, wenn die Frau die Voraussetzung für eine Bildungsmaßnahme einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung erfülle. Das müsse nicht nach Ende der Ausbildung noch einmal überprüft werden, heißt es in dem Urteil. Die 19-jährige Frau mit Down-Syndrom lernt im Berufsbildungswerk der Herforder Lebenshilfe-Werkstätten.

Die Lebenshilfe, die die Klage der Eltern der behinderten Frau unterstützte, begrüßte das Urteil. "Nach dem Detmolder Urteil muss die Bundesregierung endlich handeln", erklärte die Bundesvorsitzende Ulla Schmidt in Berlin. Die Lebenshilfe forderte das Bundessozialministerium auf, seine Rechtsauffassung an die Rechtsauffassung der Gerichte anzupassen. Außerdem sollte der Bundestag das Gesetz so ändern, dass künftig voll und vorübergehend erwerbsgeminderte Menschen gleichermaßen Anspruch auf Grundsicherung erhielten.

Az.: S 2 SO 15/18




sozial-Köpfe

Arzneimittelskandal

Brandenburgische Gesundheitsministerin Golze tritt zurück




Diana Golze
epd-bild/BILDHAUS/Karoline Wolf
Die brandenburgische Gesundheitsministerin Diana Golze (Linke) ist zurückgetreten. Sie zieht damit persönliche Konsequenzen aus dem Lunapharm-Arzneimittelskandal.

Brandenburgs Gesundheitsministerin Diana Golze (Linke) hat Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) am 28. August ihren "sofortigen Rücktritt vom Amt der Ministerin erklärt", wie die Linken-Politikerin auf einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz mitteilte. Laut Golze haben in dem vor sechs Wochen enthüllten Lunapharm-Arzneimittelskandal nicht nur einzelne Mitarbeiter Fehler begangen. Vielmehr seien auch strukturelle und organisatorische Mängel bei Aufsicht und Kontrolle zu beanstanden, die das Ministerium zu verantworten habe, wie der Bericht der Expertenkommission über den Handel des brandenburgischen Unternehmens mit gestohlenen Krebsmedikamenten zeige.

Die umstrittenen Medikamente hätten dem Bericht zufolge bereits im März 2017 von der Arzneimittelaufsicht aus dem Verkehr gezogen werden müssen, sagte sie: "Dies unterblieb jedoch." Problematisch habe sich in dem Fall auch die unzureichende personelle Ausstattung der Fachaufsicht ausgewirkt. Bei den zuständigen Stellen habe es in dem Fall zudem keine Klarheit über Handlungsspielräume gegeben. Ob Patienten, die die Medikamente bekommen haben, mit gesundheitlichen Folgen rechnen müssten, könne "weder bestätigt noch ausgeschlossen" werden.

Der Skandal war Mitte Juli durch einen Bericht des RBB-Magazins "Kontraste" bekanntgeworden. Erst danach wurde dem Unternehmen der Handel mit Medikamenten verboten. Die Staatsanwaltschaft Potsdam ermittelt unter anderem wegen Hehlerei gegen Lunapharm. Laut RBB soll eine griechische Apotheke allein in den Jahren 2013 bis 2016 Medikamente für mehr als 20 Millionen Euro an Lunapharm geliefert haben. Die Arzneimittel sollen zum Teil in griechischen Krankenhäusern gestohlen worden sein. Ob sie wegen falscher Lagerung auch unwirksam gewesen sein könnten, ist bisher unklar.



Weitere Personalien



Renate Zimmer, Erziehungswissenschaftlerin und emeritierte Expertin für frühkindliche Bildung, gibt nach zehn Jahren ihr Amt als Direktorin und Vorstandsvorsitzende des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe) in Osnabrück ab. Der Sportwissenschaftler Jan Erhorn wird ihr Nachfolger als Vorstandsvorsitzender. Er wurde von der Mitgliederversammlung gewählt. Er ist Professor für Sportpädagogik und -didaktik leitet geschäftsführend auch das Institut für Sport- und Bewegungswissenschaften der Universität Osnabrück. Zimmer soll dem Institut als wissenschaftliche Beraterin und Projektleiterin erhalten bleiben. Niedersachsens Wissenschaftsminister Björn Thümler (CDU) würdigte Zimmers Verdienste. Sie habe nicht nur über Jahrzehnte die frühkindliche Bildung auf nationaler und internationaler Ebene geprägt, sondern auch das nifbe zu einer Erfolgsgeschichte gemacht, sagte Thümler. Die Mitgliederversammlung wählte zudem Monika Kleine-Kuhlmann vom Caritasverband der Diözese Osnabrück und Thomas Südbeck, Leiter der Historisch-Ökologischen Bildungsstätte in Papenburg, in den Vorstand.

Andreas Kruse (63), Direktor des Instituts für Gerontologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, hat den Vorsitz der achten Altersberichtskommission der Bundesregierung übernommen. Sie steht unter dem Motto "Ältere Menschen und Digitalisierung". Die Sachverständigen soll herausarbeiten, welchen Beitrag Digitalisierung und Technik zu einem guten Leben im Alter leisten können und welchen Nutzen und Mehrwert dies für ältere Menschen hat. Kruse ist Psychologe und Philosoph und saß bereits vergangenen Altersberichtskommissionen vor. Mitglied dieser Gremien ist der Professor seit 1989. Er sitzt in diversen anderen Fachgremien, so auch seit 2016 im Deutschen Ethikrat, derzeit als stellvertretender Vorsitzender. Von 2006 bis 2010 war Kruse Vorsitzender der Kommission "Altern" des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD).

Ulrich Kuther, Geschäftsführer der "hessenstiftung - familie hat zukunft", ist in Frankfurt am Main zum ersten Vorsitzenden der neu gegründeten Landesarbeitsgemeinschaft Väterarbeit in Hessen gewählt worden. Bei der Gründungsversammlung bestimmten die Teilnehmer Stefan Sigel-Schönig von Männerarbeit Ev. Kirche Kurhessen-Waldeck zum stellvertretenden Vorsitzenden. Beisitzer wurden Alexander Miksch (Mütterzentrum Fulda), Uli Severin (Väteraufbruch für Kinder, Marburg) und Alexandros Stathopoulos (Verband binationaler Familien und Partnerschaften iaf). Laut Satzung will die Landesarbeitsgemeinschaft insbesondere in den Bereichen Familien- und Gleichstellungspolitik, Bildungs-, Rechts-, Arbeits- und Sozialpolitik aktiv werden.

Corinna Deininger (52), Sozialpädagogin und Sozialmanagerin, übernimmt zum 1. September die Geschäftsführung des Diakonischen Werkes Neu-Ulm. Ihre Vorgängerin, Sigrun Rose, wechselt nach 20 Dienstjahren zur Bruderhausdiakonie nach Württemberg. Deininger war zuletzt stellvertretende Geschäftsführerin im Diakoniewerk Neu-Ulm und unter anderem für die Abteilungsleitung Sozialpsychiatrie, Jugend- und Behindertenhilfe zuständig. Deiniger sitzt im Vorstand des Gemeindepsychiatrischen Verbundes Günzburg/Neu-Ulm. Weiterhin ist sie Mitglied im Arbeitskreis Psychiatrie des Fachverbands evangelische Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie.

Günther Weydt, Leiter des Europäischen DRK-Berufsbildungswerkes (Euro-BBW) Bitburg, ist in den Ruhestand verabschiedet worden. Der gelernte Diplom-Sozialwissenschaftler und Qualitätsmanager leitete 18 Jahre das Zentrum der beruflichen Qualifizierung und Rehabilitation für junge Menschen und Erwachsene mit psychischen, körperlichen Beeinträchtigungen und/oder Lernbehinderungen aus Europa. Aktuelle können knapp 190 Auszubildende einen von 18 Berufen erlernen. Zusätzlich werden Berufsfindungs- und Arbeitserprobungsmaßnahmen angeboten. Nachfolgerin von Weydt ist seit dem 1. Juli die studierte Betriebswirtin Anita Sonndag, die bereits seit 2003 in leitender Funktion im Euro-BBW tätig ist.

Günther Kolbe ist neuer Präsident des bayerischen Landessozialgerichts. Er tritt am 1. September die Nachfolge von Elisabeth Mette an, die in den Ruhestand geht. Kolbe, geboren 1959 in Osterhofen, begann seine berufliche Laufbahn 1990 als Regierungsrat beim damaligen Versorgungsamt Landshut (heute Zentrum Bayern Familie und Soziales). Von 1991 an war er beim damaligen Landesversorgungsamt Bayern tätig, bevor er im November 1992 an das Sozialministerium wechselte. Im Februar 2000 wurde er zum Richter am Sozialgericht Landshut berufen wurde. Ab Dezember 2004 war Kolbe Richter am bayerischen Landessozialgericht und wurde zum 1. November 2008 zum Präsidenten des Sozialgerichts Regensburg ernannt. Im Oktober 2010 wechselte er als Präsident an das Sozialgericht München.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Oktober



September

6.9. Paderborn:

Seminar "Hinterm Horizont geht's weiter ... Spirituelle Kompetenz für Hospizkoordinator(inn)en" der

IN VIA Akademie

Tel.: 05251/290838

10.9. Eisenach:

33. Streetworkertagung "Streetwork als Menschenrechtsprofession"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-495

10.9. Berlin:

Seminar "Vereinbarkeit von Pflege und Beruf"

des Deutschen Vereins

Tel.: 030/62980605

10.9. Berlin:

Seminar "Einführung in das Asylrecht und in die anschließenden humanitären Aufenthaltstitel"

der AWO Bundesakademie

Tel.: Tel.: 030/263090

11.9. Frankfurt a.M.:

Seminar "Fachtagung "Ehrenamtliches Engagement für geflüchtete Frauen - helfen auf Augenhöhe"

des Verbandes IN VIA

Tel.: 0761/200640

11.-12.9. Meckenbeuren:

Seminar "Grau Panther oder altes Eisen? Älter werdende Menschen mit geistiger Behinderung"

der Akademie Schloss Liebenau

Tel.: 07542/101263

13.9. Münster:

Seminar "Die Zukunft sichern - Verbundbildung bei Trägern der Altenhilfe"

der BPG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

Tel.: 0251/48204-12

13.-15.9. München:

Jahrestagung "Alle anders - Diversität beraten"

der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung

Tel.: 0911/977140

18.9. München:

Seminar "Integrierte Finanzplanung und Berichtswesen in Pflegeeinrichtungen und anderen Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens"

der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Solidaris

Tel.: 02203/8997221

19.9. Kassel:

Tagung "Eine Sprache sprechen. Kommunikationsmöglichkeiten in der Beratung mit fremdsprachigen Menschen"

der Ev. Konfenrenz für Familien- und Lebensberatung

Tel.: 030/521355929

20.-21.9. Berlin:

Seminar "Recht und Urheberrecht im Umgang mit Social Media und Internet"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/263090

24.-26.9. Berlin:

Seminar "Teilhabe am Leben und Förderung der persönlichen Entwicklung - Wie kann Teilhabe bei Menschen mit Behinderung unterstützt und Entwicklung gefördert werden?"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-495

25.9. Frankfurt a.M.:

Seminar "Datenschutz in der sozialen Beratung"

der Fortbildungsakademie der Caritas

Tel.: 0761/2001700

25.9. Berlin:

Seminar "Ihr Weg zum Ende der Überstunden - der effektive Personaleinsatz in stationären Pflege- und Betreuungseinrichtungen"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356159

26.9. Freiburg:

Seminar "Rechtliche Risiken bei Internetauftritten und Social Media Marketing"

der Fortbildungsakadademie der Caritas

Tel.: 0761/200-1700

26.-27.9. Berlin:

Jahrestagung "Was uns bewegt - was wir bewegen. Erziehungshilfen gestalten Alltag, ermöglichen Teilhabe und eröffnen Zukunft" des Bundesverbandes für Erziehungshilfe

Tel.: 0511/3539913

27.9. Erkner:

Seminar "Aktuelle Entwicklungen in der europäischen Sozialpolitik"

des Deutschen Vereins

Tel.: 030/62980605

27.9. Berlin:

Seminar "Schreckgespenst Betriebsprüfung"

der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Solidaris

Tel.: 02203/8997221

27.9. Berlin:

Forum "Pflege stärken und Versorgung neu denken: Sind wir auf dem richtigen Weg?"

der Deutschen Hochschulmedizin

Tel.: 030/394051725

Oktober

4.10. Erfurt:

Seminar "ABC des Umsatzsteuer- und Gemeinnützigkeitsrechts" der Solidaris Unternehmensgruppe

Tel.: 02203/8997-221

14.-19.10. Berlin:

BFS Managementwoche – Intensivlehrgang für Führungskräfte der Sozialwirtschaft der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159