Bremen (epd). Der Bremer Gesundheitsökonom und Pflegeforscher Heinz Rothgang kritisiert insbesondere private Anbieter in der Altenpflege kritisiert, die allgemeinverbindliche Tarifverträge in der Branche zur Stützung höherer Löhne ablehnen. "Manchmal klingt das ja schon so, als sei der Kern des freien Unternehmertums der, dass man einen niedrigen Lohn aushandelt", sagte Rothgang im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Höhere Löhne seien ein wichtiges Argument für den Neueinstieg in die Pflege. Die Anwerbung ausländischer Fachkräfte zur Linderung des Pflegenotstandes sieht er hingegen kritisch. Die Fragen stellte Dieter Sell.
epd sozial: Herr Rothgang, das Pflegepersonal-Verstärkungsgesetz von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und die "Konzertierte Aktion Pflege" von drei Ministerien sollen die Situation in der Pflege verbessern, auch durch die Anwerbung südosteuropäischer Pflegekräfte. Wie bewerten Sie das?
Heinz Rothgang: Der Fachkräftemangel ist im Moment das größte Problem im Bereich Pflege, keine Frage. Und der wird noch sehr viel stärker werden. Insofern ist es wichtig, dass wir uns damit beschäftigen, hätten damit aber besser schon zehn Jahre früher angefangen, als der Mangel schon absehbar war. Die Anwerbung ausländischer Pflegekräfte beispielsweise aus Albanien oder dem Kosovo kann kurzfristig helfen.
epd: Das ist aber nicht unumstritten..
Rothgang: Ja, denn damit verlagern wir das Grundproblem ins Ausland, denn überall in Europa gibt es einen Pflegefachkräftemangel. Wir lassen dann andere Länder die Ausbildungskosten tragen und werben ab. Das ist, was die innereuropäische Solidarität angeht, sicherlich problematisch. Da wäre zumindest zu überlegen, inwieweit sich Deutschland im Rahmen von EU-Maßnahmen dann an den Ausbildungskosten beteiligt.
epd: Wo liegen den Grenzen des neuen Gesetzes?
Rothgang: Auch angesichts Tausender Kräfte, die durch das Pflegepersonal-Verstärkungsgesetz in die Altenpflegeeinrichtungen kommen sollen, und das nach Aussage des Ministers nicht zuletzt aus dem Ausland, bleibt konkret die Frage, wie viele ausländische Arbeitskräfte mit den entsprechenden Sprachkenntnissen wirklich kommen wollen und kurzfristig mobilisierbar wären. Es reicht ja nicht, wenn Fachkräfte zwar wissen, wie Pflege geht, aber nicht in Kontakt mit den häufig alten und dementen Menschen treten können. Wir müssen die sprachlichen und fachlichen Anforderungen hochhalten. Zwar ist es sinnvoll, den Versuch zu starten, ausländische Pflegekräfte anzuwerben. Aber in der Vergangenheit hat das nicht immer gut funktioniert. Ich denke da beispielsweise an spanische Pflegekräfte, die schnell hier waren und genauso schnell wieder weg. Langfristig sollten wir unseren Bedarf aus dem eigenen Potenzial heraus decken.
epd: Welchen Themen sollte sich Ihrer Meinung nach die "Konzertierte Aktion" zuerst zuwenden?
Rothgang: Zentrales Thema muss die Personalsituation in Pflegeeinrichtungen sein. Da gibt es zwei Gesichtspunkte. Erstens: Für Menschen, die neu in den Pflegeberuf kommen sollen, ist die Bezahlung ein wichtiger Punkt. Gerade, wenn man den Beruf auch für Männer attraktiv machen will. Zweitens: Wenn wir uns anschauen, warum Leute aus der Pflege rausgehen, spielt Bezahlung eine geringere Rolle. Da geht es vor allem um Arbeitsbedingungen und insbesondere um unzureichende Personalausstattung.
epd: Es geht also nicht ohne mehr Personal?
Rothgang: Ja, wir brauchen einen höheren Stellenschlüssel in den Einrichtungen. Damit würden wir das Problem zunächst natürlich noch verschärfen, denn der Markt für Pflegerinnen und Pfleger ist leer gefegt. Das ist paradox: Um den Pflegenotstand zu bekämpfen, müssen wir ihn zunächst vergrößern. Das Problem kurzfristig erhöhter Stellenschlüssel benennen die Anbieterverbände. Wenn wir ohne Übergangszeiten höhere Stellenschlüssel, wie sie beispielsweise in Bayern gelten, bundesweit einführen, machen morgen die ersten Einrichtungen in Brandenburg und Mecklenburg zu, weil sie nicht genug Personal finden, um diese Schlüssel zu bedienen.
epd: Was ist mit dem Verhältnis von Vollzeit- zu Teilzeitstellen?
Rothgang: Unmittelbar hilfreich wäre ein größerer Anteil an Vollzeitstellen, denn in vielen Häusern gibt es immer noch wahnsinnig hohe Teilzeitquoten, und zwar teils unfreiwillig. Wir haben Häuser, die haben 100 Prozent Teilzeit und sagen dann, sie finden nicht genug Personal. Dem Mangel kann man aber mit höheren Vollzeitquoten begegnen. Die erfordern eine veränderte Arbeitszeitgestaltung etwa durch eine bessere Verteilung von Aufgaben über den Tag. Da ist noch nicht genug Fantasie seitens der Einrichtungen zu sehen und zu wenig Bereitschaft, von den Einrichtungen zu lernen, die hohe Vollzeitquoten haben. Da haben wir ein bisschen zu viel Jammerkultur.
epd: Mit ihrem Team entwickeln Sie im Auftrag des Gesetzgebers bis 2020 ein bundesweit gültiges Verfahren, mit dem bemessen werden kann, wie viel Personal in einer stationären Pflegeeinrichtung nötig ist. Warum ist das wichtig?
Rothgang: Die Personalausstattung fällt im Bundesgebiet äußerst unterschiedlich aus. Länder wie Bayern, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg haben um ein Viertel höhere Personalquoten als beispielsweise Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg. Es ist aber nicht einzusehen, warum jemand, der in Ostdeutschland im Heim gepflegt wird, weniger Pflege braucht als jemand in Süddeutschland. Hier fehlen bundesweite Orientierungswerte.
epd: Und wie ist eine bessere Bezahlung umzusetzen?
Rothgang: Sinnvoll wäre da ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag. Das durchzusetzen, wird aber nicht einfach sein. Gerade die privaten Anbieter sind davon alles andere als begeistert. Manchmal klingt das ja schon so, als sei der Kern des freien Unternehmertums der, dass man einen niedrigen Lohn aushandelt. Im Rahmen des derzeit gültigen Tarifvertragsgesetzes ist es bei einer derart ablehnenden Haltung eines Tarifpartners aber nicht möglich, einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären. Wenn man das will, wird man wohl zunächst das Tarifvertragsgesetz ändern müssen. Doch meine Hoffnung ist, dass letztlich der Wettbewerb um knappe Arbeitskräfte zu einer besseren Bezahlung führen wird. Als Pflegekraft, das sollte inzwischen klar sein, kann ich mir die Jobs aussuchen.
epd: Familienministerin Franziska Giffey (SPD) hat gesagt, es müsse cool sein, Pflegekraft zu sein. Was denken Sie darüber?
Rothgang: Da denke ich an Kollegen, die seit Jahren Imagekampagnen fordern. Ich sage immer: Nein, wir brauchen zunächst gute Arbeitsbedingungen, dann Imagekampagnen. Aber bitte nicht umgekehrt. Wenn eine Imagekampagne "Es ist cool, in der Pflege zu sein" dazu führt, dass junge Menschen in die Pflege gehen und dann sehen, wie es wirklich ist und sagen: Um Gottes willen, diesen Beruf will ich nicht ausüben - das wäre das Schlimmste. Also, wenn Frau Giffey meint, es muss cool sein, Pflegekraft zu sein, weil es tatsächlich cool ist, bin ich ganz bei ihr. Wenn es nur darum geht, den Eindruck zu erwecken, ohne dass sich Arbeitsbedingungen und Bezahlung ändern, halte ich das für fatal.