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Psychiatrie

Experte: In den 70er Jahren begonnenen Reformprozess vollenden




Psychiatriedirektor Andreas Heinz
epd-bild/Jürgen Blume
Der Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité, Andreas Heinz, hält die Anfang der 70er Jahre begonnene Psychiatriereform für noch nicht abgeschlossen.

Mit den Psychiatriereformen ist nach Auffassung des Berliner Psychiaters Andreas Heinz viel erreicht worden. So seien etwa die großen Anstalten mit mehreren Tausend Patienten aufgelöst und wohnortnahe Stationen in Krankenhäusern geschaffen worden. "Das ist aber auf halbem Weg steckengeblieben. Man hat viele Einrichtungen verkleinert, aber wohnortfern weiter betrieben", sagte Heinz dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Es hapere aber nach wie vor an der gesellschaftlichen Integration psychisch Kranker. "Die große Beteiligung, die man sich erträumt hat, wo psychisch Kranke in lebendige Nachbarschaften integriert werden, die hat wirklich nur vereinzelt stattgefunden", sagte der Experte.

Leben in normalen Wohngebieten

Auch Tagesstätten und Übergangswohnheime könnten zu Ghettos für psychisch Kranke werden, warnte der Psychiater. Es sei wichtig, dass psychisch Kranke selbstständig im eigenen Haushalt in ganz normalen Wohngebieten leben könnten. Das werde aber angesichts der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt, vor allem in den Ballungszentren, zunehmend schwierig. "Wir erleben hier in Berlin-Mitte, dass wir für unsere Patienten kaum noch Wohnraum finden." In Berlin sei zu beobachten, dass parallel zu den steigenden Wohnungsmieten seit einigen Jahren auch die Bettenzahl in der Psychiatrie langsam wieder hochgehe, sagte Heinz.

Steckengeblieben seien die Reformansätze auch bei der Beschaffung von Arbeit für psychisch Kranke. Langzeitarbeitslosigkeit und psychische Erkrankung hingen oft miteinander zusammen: "Da fehlt ein Stück Integration in den Arbeitsalltag."

Weniger Zwangsmaßnahmen

Fortschritte habe es bei der Öffnung der Stationen in der Psychiatrie gegeben, stellte Heinz fest. Wünschenswert sei, dass diese Entwicklung weiter voranschreite und Stationstüren nach Möglichkeit offenblieben. "Auch wenn Menschen gegen ihren Willen eingeliefert werden, sollte man nicht einfach die Türen verschließen, sondern versuchen, ihnen ein Angebot zu machen, um sie fürs Bleiben zu gewinnen."

Ein vielversprechender neuer Ansatz sei die Versorgung psychisch Kranker zu Hause, sagte Heinz. Dadurch könnte die Zahl der Zwangsmaßnahmen gesenkt werden. Darauf wiesen die Erfahrungen mit einem Projekt in Hamburg hin, bei dem die Patienten von einem mobilen Team in ihren Wohnungen aufgesucht wurden.

Ein Problem in den Kliniken sei nach wie vor, dass die Patienten nicht intensiv genug psychotherapeutisch betreut würden, kritisierte Heinz. "Meines Erachtens hätte jeder Patient, der im Krankenhaus ist, ein Recht auf eine Stunde mehr Psychotherapie pro Woche." Dazu müsste die Zahl der Therapeuten um etwa 20 Prozent erhöht werden.

Claudia Rometsch


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