Paula ist transident, ein Mädchen, geboren in einem Jungenkörper. „Ich wusste schon immer, dass irgendwas mit mir nicht richtig war“, sagt die 13-Jährige aus Elze bei Hildesheim. „Ich war halt Orangensaft in einer Kakaopackung. In einer Zwangsjacke gefesselt.“ Für ihre Familie war es ein langer Prozess, gemeinsam damit umzugehen. Doch sie steht hinter ihr. Auch ein kirchlicher Jugendtreff gibt Paula Rückhalt.
In Hamburg wohnen obdachlose Menschen vorübergehend in Hotels, die wegen der Corona-Krise nicht genutzt werden dürfen. Spendengelder machen das möglich. Unterstützer des Projektes sehen darin einen ersten Schritt zum „Housing First“. Bei diesem Konzept werden Obdachlose zunächst dauerhaft in eine Wohnung vermittelt - erst dann greifen weitere Hilfen. Noch aber wollen sich die Kommunen nicht auf diesen Weg einlassen.
Der heftige Streit um den allgemeinverbindlichen Tarif in der Altenhilfe ist noch immer nicht abgeklungen. Für Hanno Heil, Lehrbeauftragter für Pastoraltheologie und Diakonische Theologie an der Hochschule Vallendar, hat er bei den karitativen Dienstgebern eine Spur der Zerstörung hinterlassen und deren Image schwer beschädigt. Welche Folgen das hat für die Dienstgeber, die seit Jahren die beste Vergütung in der Altenhilfe bezahlen, beschreibt er in seinem Gastbeitrag für epd sozial.
Das Bundessozialgericht hat klargestellt, dass behinderte und erwerbsgeminderte Personen, die mietfrei bei den Eltern wohnen, Anspruch auf eine pauschale Zahlung von Unterkunftskosten durch den zuständigen Sozialhilfeträger haben. Das gilt auch, wenn die Immobilie der Eltern bereits abbezahlt ist.
Lesen Sie täglich auf dem Twitteraccount von epd sozial Nachrichten aus der Sozialpolitik und der Sozialbranche. Auf diesem Kanal können Sie mitreden, Ihren Kommentar abgeben und über Neuigkeiten Ihrer Einrichtung berichten. Gern lese ich auch Ihre E-Mail.
Hier geht es zur Gesamtausgabe von epd sozial 12/2021.
Dirk Baas
Haltern am See (epd). Das Bett mit dem Patienten liegt hinter zwei Türen mit Fenstern. Dazwischen eine Schleuse, kein Virus soll nach draußen dringen. Bevor sie den Raum betreten, legen die Pflegerinnen und Pfleger ihre Schutzkleidung an. Der Ablauf ist auf einem Poster beschrieben: Erst der Kittel, dann die Schutzbrille, Maske, Haube und Handschuhe. „Die Pflege von Covid-Patienten ist sehr aufwendig und anspruchsvoll“, sagt Lars Heining, Chefarzt der Pneumologie im Sankt-Sixtus-Krankenhaus in Haltern am See, „aber Sicherheit geht vor“.
In der Kleinstadt im nördlichen Ruhrgebiet werden derzeit nur drei an Covid-19 erkrankte Patienten in der Klinik behandelt. Ein jüngerer Mann, der erst auf der Intensivstation behandelt werde musste, konnte dann auf die Normalstation verlegt werden. Zwei Frauen, die noch unter den Folgen der Erkrankung leiden, liegen auf einer Spezialstation für Beatmung. Ob das angesichts der aktuell steigenden Infektionszahlen die Ruhe vor dem Sturm ist, werden die nächsten Wochen zeigen.
Das Sankt-Sixtus-Krankenhaus in Haltern gehört zum Klinikverbund der KKRN „Katholisches Klinikum Ruhrgebiet Nord GmbH“, dem noch drei weitere Krankenhäuser in den Städten Dorsten, Marl und Herten-Westerholt angeschlossen sind. Auch in diesen Orten steigen die Infektionszahlen in den letzten Tagen stark an. Sie liegen bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 86,8 (Marl) bis 111 (Haltern) (Stand: 25. März). Der Infektionsschutz in den Krankenhäusern wird daher großgeschrieben. Krankenbesuche sind auf allen Stationen nur in Ausnahmen möglich, das Gebäude darf nur nach einem negativen Schnelltest betreten werden. Die Beschäftigten werden alle ein bis zwei Wochen getestet.
„Wir haben eine Station für alle Neuaufnahmen eingerichtet“, erläutert Chefarzt Heining. Jeder Patient kommt zunächst auf diese Station, wird getestet und erst nach negativem Ergebnis auf die zuständige Abteilung verlegt. Dieses System soll größtmögliche Sicherheit gewährleisten. Denn die Ärzte stellen mit Sorge fest, dass manche Menschen mit ernsten Symptomen aus Angst vor einer Corona-Infektion zu spät ins Krankenhaus kommen. „Wenn eine Blinddarm-Erkrankung verschleppt wird, kann das zu einer Entzündung des gesamten Bauchraumes führen“, erläutert Markus Reidt, Chefarzt für Intensiv- und Notfallmedizin im Klinikverbund. Bei dieser sonst leicht zu operierenden Erkrankung sei dann eine intensivmedizinische Behandlung notwendig.
Insgesamt, sagt Reidt, seien die Intensivstationen des Klinikverbundes in der Pandemie durchgehend gut ausgelastet. Während der hohen Infektionszahlen im Januar seien parallel zwölf Covid-Patienten auf den vier Intensivstationen des KKRN-Klinikverbundes behandelt worden.
Bundesweit gibt es nach Angaben der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) rund 24.000 Intensivbetten. Davon sind (Stand: 24. März) 3.249 mit Covid-Patienten belegt, 17.469 mit anderen Erkrankten. Die Divi befürchtet, dass durch die steigende Inzidenz die Intensivstationen bald noch voller werden. Das Pflegepersonal sei sehr belastet, zahlreiche ausgebildete Fachkräfte hätten ihren Beruf deshalb bereits aufgegeben.
Für den KKRN-Klinikverbund bestätigt Markus Reidt, dass schon während des Regelbetriebes die Personaldecke „sehr dünn“ sei. So könnten auf einer speziellen Beatmungsstation zwei weitere Betten eingerichtet werden - „wenn es der Arbeitsmarkt hergeben würde“.
Dabei hat diese sogenannte „Weaning-Station“ in Haltern überregionale Bedeutung. Dorthin werden auch Patienten aus anderen Städten verlegt, die bei einer schweren Covid-Erkrankung lange beatmet wurden. „Diese Patienten müssen jetzt wieder lernen, selbstständig zu atmen“, erläutert Lungenfacharzt Heining.
In der Klinik sitzen in der Mittagszeit sitzen gerade zwei Krankenschwestern in blauen Kitteln im Pausenraum. Angst sich anzustecken haben die beiden nicht. „Wir sind durch die Kleidung geschützt“, sagen sie. Außerdem seien alle Pflegekräfte geimpft.
München (epd). Die fehlende Nähe zu Freunden und Familie gehört nach Ansicht des Münchner Psychologieprofessors Dieter Frey für viele zu den gravierendsten Erfahrungen der Corona-Pandemie. Der Mensch sei ein soziales Wesen, ohne Berührungen und Kontakte könne er sich nicht entwickeln. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) beschreibt der Sozialpsychologe, wie sich ein Jahr Abstand anfühlt. Die Fragen stellte Brigitte Bitto.
epd sozial: Herr Professor Frey, wie geht es den Menschen nach einem Jahr Pandemie?
Dieter Frey: 90 Prozent der Menschen leiden. Wie stark, ist von vielen Faktoren abhängig: etwa ob man introvertiert oder extrovertiert ist. Ob man Ängste vor Arbeitsplatzverlust hat oder Konflikte mit engem Wohnen. Ob Home Schooling dazukommt. In den Phasen des Auf und Abs, der Öffnungen und Schließungen, erlebten die Menschen eine Achterbahn der Gefühle: von Verständnis, Akzeptanz, Verzweiflung, Wut, Ärger, Frustration, Ängsten und Depression. Menschen, die vorher ängstlich waren, sind noch ängstlicher geworden und verlassen das Haus nicht mehr. Zehn Prozent sagen aber auch, die Pandemie hat Vorteile: Soziale Verpflichtungen können reduziert werden.
epd: Was fehlt den Menschen am meisten?
Frey: Die fehlende Nähe wird schon sehr stark vermisst. Den meisten fehlt, dass man sich nicht gemeinsam treffen kann, in einem Café zu einer Tasse Kaffee mit Kuchen. Dass man nicht gemeinsam in Urlaub verreisen kann. Dass man Eltern, Großeltern oder Kinder nicht besuchen konnte. Das ist die gravierendste Erfahrung: die Ohnmacht, die Nähe seiner Lieben und Freunde nicht mehr zu haben und zu genießen.
epd: Diese Nähe fehlt jetzt seit einem Jahr. Was macht das mit Menschen?
Frey: Der Mensch ist ein soziales Wesen, er könnte sich ohne andere gar nicht entwickeln. Und zum sozialen Wesen gehört Nähe und Austausch - insbesondere mit Menschen, die man mag. Umarmen und Berühren sind Symbole von „Wir gehören zusammen“, „Wir sind ein Team“. Dieses Team ist Teil der sozialen Identität, das heißt ein Bestandteil der eigenen Identität.
epd: Der Handschlag, die Umarmung, das Bussi-Bussi: Was steckt hinter diesen vermeintlich oberflächlichen Begrüßungsritualen?
Frey: All diese Gesten sagen, dass sich zwei Menschen mögen und eine enge Beziehung haben. Wenn sie fehlen, spürt man das und entwickelt Sehnsüchte, dass sie zurückkommen. Und man muss sich ziemlich disziplinieren, dass man es nicht trotzdem macht. Gerade eine Umarmung ist etwas besonderes. Sie ist ein Zeichen der emotionalen Nähe, mehr als nur Zuneigung. Ellenbogen-Gruß oder Fußkick als Umarmungs-Ersatz würde ich eher als Akt der Zuneigung sehen, weniger als Akt der emotionalen Nähe. Eine Umarmung bedeutet so etwas wie eine emotionale Begegnung. Ich möchte durch die Umarmung ausdrücken, dass eine tiefe Verbundenheit vorhanden ist.
epd: Dann gibt es noch die andere Nähe: das nah Beieinandersitzen, den Arm um einen Freund legen, jemandem auf die Schulter klopfen - auch diese Berührungen sind für viele nicht mehr existent.
Frey: Die fehlenden Berührungen erzeugen beidseitige Unsicherheit. Es entsteht ein zwiespältiges Gefühl, das man meist zu überwinden versucht, indem man sagt, „Ja wir können uns heute nicht auf die Schulter klopfen, holen wir aber alles nach.“ Aber irgendwie merken alle: es fehlt was.
epd: Ist Nähe allen Menschen gleich wichtig?
Frey: Natürlich unterscheiden sich Menschen darin, inwieweit sie Nähe und Berührungen zulassen. Im Durchschnitt umarmen sich Frauen mehr als Männer. Männer tun sich da manchmal schwer. Auch die Jüngeren, insbesondere die Generation Y, also die Jahrgänge 1980 bis 1999, umarmt sich im Durchschnitt mehr. Deshalb leiden die jüngeren Leute auch mehr darunter, dass sie durch die Pandemie diese Berührungen nicht mehr so zeigen können und permanent Gefühle unterdrücken müssen. Es ist in gewisser Weise eine Generationenfrage: Die sogenannte ältere Generation tut sich diesbezüglich schwerer mit körperlicher Nähe. Aber grundsätzlich denke ich schon, dass der Wunsch nach Nähe und Berührung ein menschliches Grundbedürfnis ist, das immer wieder durchkommt.
epd: Gibt es Kulturen, in denen Berührungen im sozialen Miteinander keine Rolle spielen? Oder eine ganz große?
Frey: Im Süden Europas spielen Familien und das soziale Miteinander eine stärkere Rolle als im Norden. Man kann sogar sagen: In katholischen Gegenden spielen die sozialen Beziehungen eine stärkere Rolle als im individualistischen, protestantischen Norden. Der Katholizismus ist eine eher kollektive Religion, der Protestantismus eine individuelle. Das zeigt sich auch im sozialen Miteinander: Familie, Feiern und auch Berührungen spielen im Süden Europas eine größere Rolle.
epd: Vieles wurde in der Pandemie versucht, digital zu kompensieren. Funktioniert das auch mit Berührungen?
Frey: Berührungen fallen natürlich ganz weg. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass man Nähe durchaus auch herstellen kann durch die Art, wie man interagiert. Ja, man kann Nähe auch digital herstellen. Durch gutes Zuhören, gutes Fragenstellen. Indem man den anderen öfter fragt, wie es ihm geht. Und selber seinen Gefühlszustand beschreibt.
epd: Wird die Social-Distancing-Erfahrung unser Zusammenleben dauerhaft verändern?
Frey: Wenn Herdenimmunität erreicht wird und man keine Infektionszahlen mehr in den Zeitungen liest oder im Radio hört, wird vieles umso herzlicher zurückkommen. Nach dem Motto: Gott sei Dank, wir können uns wieder umarmen! Insofern glaube ich, dass sich im Zusammenleben nicht viel ändern wird: Die Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit, Nähe und Wärme wird bleiben. Man wird sich an die Restriktionen zurückerinnern und die Sehnsucht, sich noch heftiger und herzlicher zu umarmen, wird stärker sein. Auch, weil man weiß, dass es wieder Zustände geben kann, wo man das wieder zurücknehmen muss. Meine Meinung ist: Man wird Umarmungen mehr schätzen - aber nur so lange man weiß, es ist ungefährlich.
Most (epd). Chanov ist ein armes Viertel der Stadt Most, gelegen im Nordwesten Tschechiens nahe der sächsischen Grenze - geprägt von Plattenbauten als Wohnort vieler Roma-Familien. Die örtliche Schule erkannte früh das Beben, das in Corona-Zeiten den Schulunterricht erschütterte. Die Lehrer merkten sofort, dass geordneter Unterricht schwierig werden würde und suchten Unterstützung.
Eine der Helferinnen ist Eva Pavlíková, die Chefin der Initiative Cesko.Digital. Sie hat hier ein Pilotprojekt gestartet. Ziel ist es festzustellen, wie sich Online-Unterricht unter schwierigen schulischen Voraussetzungen ermöglichen lässt.
„Die Ausgangslage für eine Verbesserung ist gut, weil die Schule sehr engagiert ist“, sagt sie. Und so könnte es sein, dass diese Initiative im wahrsten Wortsinn Schule macht. Denn es ist eine tschechische Besonderheit, dass sich eine private Initiative um das Homeschooling verdient macht.
Cesko.Digital ist ein Zusammenschluss von IT-Experten, die schon lange vor Corona daran arbeiteten, das Land zu digitalisieren - als ehrenamtliche Überzeugungstäter. Als vor rund einem Jahr zum ersten Mal die Schulen geschlossen wurden, bot die Initiative umgehend ihre Hilfe an. „Während die öffentliche Verwaltung ein großer Tanker ist, sind wir ein Schnellboot“, sagt Pavlíková. Als das Ministerium noch an Konzepten arbeitete, waren ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter schon in den Schulen aktiv: Sie bauten Hardware auf und zeigten Lehrern, wie man damit umgeht. „Ucime Online“ nannten sie das Projekt: „Wir lehren online“.
Zugleich boten sie Seminare an, in denen auch Lehrer, die vom digitalen Unterricht noch nie etwas gehört hatten, didaktische Hilfestellung bekommen. Weil die IT-Experten das allein nicht leisten können, holten sie online-affine Lehrerinnen und Lehrer an Bord, die ihre Kollegen in digitalen Seminaren schulen. Inzwischen sind in der Initiative mehr als 600 Lehrer aus ganz Tschechien zusammengeschlossen, die ehrenamtlich solche Weiterbildungen anbieten.
Viele der Seminarteilnehmer arbeiten an gut ausgestatteten Schulen, andere aber auch an solchen, wo es an allem fehlt. Hier kommt die Schule in Chanov ins Spiel: An ihr werden modellhaft unterschiedliche Ansätze ausprobiert. 180 Schüler gibt es dort, viele von ihnen nehmen am Online-Unterricht teil, andere holen sich ihre Aufgaben lieber ausgedruckt in der Schule ab.
Als erstes stattete die private Initiative bedürftige Familien mit Endgeräten aus, zur Verfügung gestellt von Sponsoren. „Wir haben zwar als Schule ein paar Tablets verliehen, aber wir haben selbst nur wenige“, erzählte Schulleiterin Monika Kynclová beim Start des Projekts im tschechischen Fernsehen. „Deshalb sind wir sehr dankbar für die Hilfe.“
Schnell stellte sich heraus, dass die technische Ausstattung nur ein Teil des Problems ist. Manche Kinder lebten in so problematischen Verhältnissen, dass sie das nicht am Videobildschirm der ganzen Klasse zeigen wollten, heißt es bei Cesko.Digital. Häufig redeten sie sich dann damit heraus, dass sie keinen Computer hätten.
„Wir haben zwei Ansatzpunkte“, erläutert Lucie Zajicková, die bei der ehrenamtlichen Initiative die Schulprojekte koordiniert: „Zum einen bieten wir Webinare an, in denen wir die Lehrer gezielt auf diese Aspekte vorbereiten. Sie sollen auf die Entfernung erkennen, wie sie dem Kind helfen können - was gar nicht so einfach ist, wenn man sich nur virtuell sieht.“ Zum anderen werden örtliche Sozialdienste einbezogen.
„Sie können am besten einschätzen, welche Familien am meisten Hilfe benötigen“, sagt Zajicková. Ihre Initiative versucht deshalb, die Schule in Chanov mit den Sozialdiensten und den Eltern ins Gespräch zu bringen. Private Sponsoren bezahlen außerdem Lehr-Assistenten, die helfen sollen, trotz der Distanz beim Online-Lernen eine individuelle Förderung aufrecht zu erhalten - ein Netzwerk, das in einer Mischung aus digitalen Formaten und handfester Kompetenz vor Ort die Bedingungen verbessern könne. Die Erfahrungen sollen später auf andere Orte in Tschechien übertragen werden.
Elze, Laatzen (epd). In das graue Sofa gekuschelt scrollen Paula Rodler und ihr Vater Kai auf dem Tablet durch alte Fotos. Ein blonder Junge ist zu sehen. Die Schultüte in seinem Arm ist fast größer als er selbst. Kai Rodler beugt sich zu ihm hinab - stolz am ersten Schultag. Das Bild zeigt Paula, als sie noch Paul hieß. Paula ist transgeschlechtlich, ein Mädchen, geboren in einem Jungenkörper. Inzwischen trägt sie ihr Haar lang und an diesem Tag ein Kleid und Leggins. „Ich wusste schon immer, dass irgendwas mit mir nicht richtig war“, sagt die 13-Jährige aus Elze bei Hildesheim. „Ich war halt Orangensaft in einer Kakaopackung. In einer Zwangsjacke gefesselt.“
Paula ist neun, als sie sich der Lebensgefährtin des Vaters anvertraut. Schon lange fühlt sie sich „komisch“ in ihrem Körper, sucht nach Erklärungen. „Ich war verunsichert, weil ich niemanden kannte, der so ist wie ich“, berichtet sie. Auch die Angst, den Papa oder den Bruder zu verletzen, beschäftigte sie. Als Vater einen Sohn zu verlieren und dann noch den Erstgeborenen, sei nicht leicht. „Für meinen Vater war das wie ein Schlag ins Gesicht.“ Der zwei Jahre jüngere Max fasst in Worte, was zunächst in ihm vorging: „Ich hab einen Bruder verloren, den ich sieben Jahre so gekannt habe.“
Doch die Akzeptanz und der Rückhalt in der Familie wachsen - auch bei Paulas Entscheidung, später eine Hormonbehandlung machen zu wollen und sich operieren zu lassen, um inneres und äußeres Geschlecht in Einklang zu bringen. „Es hat sich ja nicht wirklich was geändert“, sagt sie. „Ich bin halt noch die gleiche Person.“ Doch sie kennt auch Jugendliche, denen es anders geht.
Eine gesellschaftliche Umwelt, in der es nach wie vor als Norm gelte, heterosexuell zu sein und die bei der Geburt festgelegte geschlechtliche Zugehörigkeit nicht zu hinterfragen, erschwere es Kindern und Jugendlichen, im Heranwachsen ihre Orientierung zu finden, sagt Nora Gaupp vom Deutschen Jugendinstitut. Das Institut in München erforscht seit Jahren die Lebenswelt von „LSBTQ Jugendlichen“, also Jugendlichen, die lesbisch, schwul, bisexuell, „trans“ oder - verallgemeinert - queer sind. Viele von ihnen erlebten nach dem „inneren Coming-out“ oft mehrere Jahre lang eine schwere Zeit, in der sie mit niemandem über ihre Gefühle redeten, sagt Gaupp. Sie fürchteten, von Freunden und der Familie abgelehnt zu werden, wenn sie sich nach außen offenbarten.
Auch Paula hat „wirklich exzessives Mobbing“ erlebt, wie sie erzählt. Vor einem halben Jahr wechselte sie die Schule und vieles änderte sich zum Guten. Rückhalt und „ein zweites Zuhause“ hat sie zudem im „AndersRoom“, einem queeren Jugendtreff der evangelischen Kirche in Laatzen bei Hannover. Der Diakon Gunnar Ahlborn eröffnete den Treff 2019 als Reaktion auf die Ausgrenzung eines 14-Jährigen, der sich als homosexuell geoutet hatte. Ahlborn kam hinzu, als der Junge auf dem Schulhof von anderen angegangen wurde. „Wir brauchen einen Ort, an dem er und andere so sein können, wie sie möchten“, sagt er.
Laut Auswertung des Deutschen Jugendinstitutes gab es 2016 in Deutschland gerade mal 20 Jugendzentren, die sich speziell an queere Jugendliche wandten. Die meisten LSBT*Q-Jugendgruppen trafen sich eher informell ohne institutionellen Rahmen. Ahlborn fand bei der Kirche gleich ein positives Echo, als er den „AndersRoom“ plante, wie er erzählt. Bis zu 50 Jugendliche besuchten den Treff, bis es zu den Corona-Einschränkungen kam. Der „AndersRoom“ biete auch einen geschützten Raum für diejenigen, die sich ein Coming-out noch nicht trauten, sagt Ahlborn. „Hier muss sich niemand ständig erklären.“
Paula kam mit zwölf das erste Mal in die Gruppe, die eigentlich erst ab 14 Jahren offen ist. Doch sie fühlte sich gleich wohl. Dort werde sie nicht wie in der Schule gefragt, was trans eigentlich bedeute oder wie Hormonblocker wirkten, sagt sie. „Das ist denen im AndersRoom gar nicht mehr so neu. Da fragt man Sachen wie 'Wie geht's dir', 'Was machst du zu Hause'“.
Zu Paulas Weg gehört auch, dass sie pubertätshemmende Mittel nimmt und in ein, zwei Jahren endgültig entscheiden muss, ob sie das weibliche Sexualhormon Östrogen nehmen möchte. Sie ist bei einer Psychologin und dem Hamburger Kinder-Endokrinologen Achim Wüsthoff in Behandlung, der viel Erfahrung mit Transgender-Kindern hat. Auch Vater Kai Rodler gibt das mehr Sicherheit. Er habe sich vorher viele Fragen gestellt, sagt er. Ist der Wunsch, ein Mädchen zu sein, nur eine Laune, oder eine Behandlung richtig? Paula aber war nach der ersten Fahrt nach Hamburg klar: „Jetzt kann ich so sein, wie ich bin. Ich bin richtig.“
Hannover (epd). Als trans* (transident, transsexuell, transgender) bezeichnen sich Menschen, die sich nicht - oder nicht nur - mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Das Spektrum sei breit, sagte Petra Weitzel von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti). Es reiche von Menschen, die ihre Geschlechtsrolle nur sozial wechselten, bis hin zu solchen, die einige oder alle möglichen geschlechtsangleichenden medizinischen Maßnahmen in Anspruch nähmen und ihr eigentliches Geschlecht rechtlich anerkennen ließen.
Wie viele es in Deutschland gibt, ist nicht erfasst. Laut Studien des amerikanischen „Williams Institute“ und „Gallup“ definieren sich in den USA knapp 0,6 Prozent der Erwachsenen als „transgender“. Wendet man einen solchen Bevölkerungsanteil auf Deutschland an, ergibt das nach Berechnungen der dgti entsprechend rund 480.000 Menschen.
Anhaltspunkte bieten daneben die Zahlen über die Anträge zur Vornamens- und Personenstandsänderung nach dem Transsexuellengesetz. Nach Angaben des Bundesjustizamtes waren dies in den Jahren 1991 bis 2019 insgesamt 29.549 Verfahren. Anteilig machte die Zahl derer, die 2019 einen Antrag nach diesem Gesetz gestellt haben, 0,32 Prozent des Geburtenjahrgangs aus, erläutert die dgti-Vorsitzende Weitzel.
Dabei sind die Menschen nicht eingerechnet, die sich nicht in eines der Geschlechter männlich oder weiblich einordnen. Sie konnten bis zu einem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 22. April 2020 keinen Antrag nach diesem Gesetz stellen. Das Transsexuellengesetz steht zudem erst seit 2011 auch Personen offen, die keine medizinischen geschlechtsangleichenden Maßnahmen brauchen.
Weitzel zufolge gibt es zudem noch eine sehr hohe Dunkelziffer von trans* Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nie ein Verfahren nach dem Transsexuellengesetz angestrebt haben. Abschreckend sei zum Beispiel, dass für ein Verfahren nach wie vor zwei teure psychiatrische Gutachten nötig seien. Lobbyverbände wie die dgti sehen darin eine Diskriminierung und Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes.
Wiesbaden (epd). Bundesfamilienministerin Fraziska Giffey begrüßt den Trend, dass mehr Väter Elterngeld in Anspruch nehmen: „Die hohe Väterbeteiligung zeigt, dass immer mehr Väter Zeit mit ihren Kindern verbringen möchten. Und das Kind entwickelt eine intensive Bindung zu beiden Eltern, was sich positiv auf die kindliche Entwicklung auswirkt“, sagte sie am 25. März in Berlin mit Blick auf neue Daten des Statistischen Bundesamtes.
Auch das ElterngeldPlus, das besonders für teilzeitarbeitende Eltern attraktiv sei, werde mehr genutzt, erläuterte Giffey. „Im Jahr 2020 haben sich knapp 30 Prozent der Eltern sich für das ElterngeldPlus entschieden. Ab dem 1.September wird der Partnerschaftsbonus sogar noch flexibler. Damit unterstützen wir partnerschaftliche Modelle der Elternschaft.“
Wie das Statistische Bundesamt mitteilte, erhöhte sich die Zahl der Männer mit Elterngeldbezug im Vergleich zu 2019 um 6.500 oder 1,4 Prozent. Die Zahl der Frauen ging dagegen um 10.500 oder 0,7 Prozent zurück. Dadurch erhöhte sich der Väteranteil leicht auf 24,8 Prozent (2019: 24,4 %). Er steigt seit einigen Jahren kontinuierlich an. 2015 hatte er noch bei 20,9 Prozent gelegen.
Insgesamt erhielten im vergangenen Jahr rund 1,9 Millionen Frauen und Männer Elterngeld, wie es weiter hieß. Das waren rund 4.000 oder 0,2 Prozent weniger als 2019.
Bei den Väteranteilen zeigten sich den Angaben zufolge große regionale Unterschiede. Spitzenreiter im Bundesländervergleich mit einem Väteranteil von 30 Prozent im Jahr 2020 war Sachsen, gefolgt von Bayern und Berlin mit je 27,2 Prozent. Am niedrigsten lagen die Anteile 2020 im Saarland (19,1 Prozent) sowie in Bremen (20,7 Prozent).
Die durchschnittliche Dauer des geplanten Elterngeldbezugs betrug bei den Frauen im vergangenen Jahr 14,5 Monate (2019: 14,3 Monate). Die von Männern angestrebte Bezugsdauer war mit durchschnittlich 3,7 Monaten dagegen deutlich kürzer, wie die Statistiker erklärten. Sie blieb damit in den vergangenen Jahren praktisch konstant (2017 und 2019: ebenfalls 3,7 Monate; 2018: 3,8 Monate).
„Es ist gut, dass die Inanspruchnahme des Elterngelds durch Väter steigt, doch weiterhin ist bei der partnerschaftlichen Ausgestaltung des Elterngeldes sehr viel Luft nach oben“, sagte Katrin Werner für die Linkspartei. Immer noch nähmen Väter sehr viel kürzer Elterngeld in Anspruch als Mütter. „Jeweils 12 Elterngeldmonate für beide Elternteile, die nicht übertragbar sind, würden für deutlich mehr Partnerschaftlichkeit bei Erziehungs- und Sorgearbeit sorgen.“ Für Alleinerziehende brauche es entsprechend einen Anspruch auf 24 Monate, sagte die familienpolitische Sprecherin der Linken.
„Zudem muss endlich der Mindestbetrag des Elterngeldes auf 400 Euro angehoben werden. Seit Einführung des Elterngeldes im Jahr 2007 ist dieser nicht mehr erhöht worden.“ Seither seien jedoch die Verbraucherpreise gestiegen. „Durch die fehlende Erhöhung des Mindestbetrags werden Familien mit geringem Einkommen durch das Elterngeld diskriminiert, und das muss endlich ein Ende haben.“
Berlin (epd). Der Bundestag hat am 25. März in Berlin ein Gesetz zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern beschlossen. Die Taten werden künftig grundsätzlich als Verbrechen mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsentzug geahndet. Das gilt auch für den Besitz und die Verbreitung von Bildern und Filmen. Bisher konnten Täter unter Umständen mit Geldstrafen davonkommen.
Nach dem Bekanntwerden mehrerer schwerer Missbrauchsfälle im baden-württembergischen Staufen und in Nordrhein-Westfalen hatte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) auf Druck der Union im vorigen Sommer Pläne für die Strafverschärfungen vorgelegt. Die Höchststrafen für den Umgang mit Missbrauchsdarstellungen werden nun spürbar angehoben, von drei auf fünf Jahre für den Besitz und von fünf auf zehn Jahre für die Verbreitung der Bilder und Filme. Durch die Digitalisierung und die Möglichkeiten des Internets hätten sich die Gefahren für Kinder in der realen und der virtuellen Welt deutlich erhöht, hieß es zur Begründung.
Neben den Koalitionsfraktionen Union und SPD stimmte auch die AfD dem Gesetzentwurf der Koalition zu. Die anderen Oppositionsfraktionen enthielten sich der Stimme. Grüne und FDP hatten beantragt, geringere Strafen für minderschwere Fälle vorzusehen. Andernfalls müsse künftig auch ein ungewollter Kuss zwischen Teeangern als Verbrechen behandelt werden. Das führe zu einer Schieflage bei den Strafen und bürde Ermittlungsbehörden unnötige Verfahren auf.
Frankfurt a.M. (epd). Die Frankfurter Professorin Kathrin Schrader sieht dringenden Handlungsbedarf in Hessen für mehr Schutz vor Gewalt gegen Frauen und Kinder. Im Land habe sich zwar ein Netzwerk von Unterstützungsangeboten gegen häusliche Gewalt, bestehend aus Frauenhäusern und Beratungsstellen, gebildet, „jedoch reichen die vorhandenen Kapazitäten bei weitem nicht aus“, heißt es in einer Mitteilung vom 22. März. Um einen flächendeckenden Schutz für vulnerable Gruppen zu gewährleisten und auch präventiv tätig sein zu können, brauche es mehr Geld.
Mit ihrer Stellungnahme stützt sich die Professorin für Menschen in prekären Lebenslagen in der Sozialen Arbeit auf Ergebnisse ihres Forschungsprojekts „Frauenhäuser und die Implementierung der Istanbul-Konvention - Herausforderungen in Hessen“. Derzeit werde versucht, in enger Zusammenarbeit mit den hessischen Frauenhäusern und Fachleuten aus Politik und Verwaltung ein reales Lagebild der Situation in Hessen zu bekommen. Das Projekt, finanziert im Rahmen der hessischen Forschungskampagne „Forschung für die Praxis“, läuft noch bis August 2021.
Schrader zieht ein erstes Zwischenfazit: Die Frauenhäuser seien aufgrund unzureichender personeller, baulicher und finanzieller Ausstattung nicht in der Lage, alle betroffenen Frauen und Mädchen vor geschlechtsbezogener Gewalt zu schützen. „Das gilt vor allem für die besonders verletzlichen Gruppen von Müttern von Söhnen, die älter als zwölf Jahre sind, Frauen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen, EU-Bürgerinnen, Frauen ohne Aufenthaltstitel, mit Suchtproblemen oder ohne festen Wohnsitz.“
Als positiv hebt die Professorin hervor, dass vor Ort bereits ein starkes Problembewusstsein bezüglich der Umsetzung der Istanbul-Konvention entstanden sei. „Potenzielle Lösungen werden nicht mehr allein, sondern in enger Kooperation entwickelt. Einige Runde Tische in Hessen haben schon aus einer Eigeninitiative heraus mit lokalen Bestands- und Bedarfsanalysen begonnen.“ Jedoch fehlten auch hier die Mittel, um diese Aktivitäten zu verstetigen und zu professionalisieren. Kleine Häuser, die personell und finanziell ohnehin schlecht ausgestattet sind, hätten nicht die Kapazitäten, sich in die unübersichtliche Förderstruktur einzuarbeiten.
Leider sei die Zusammenarbeit vor Ort untereinander und mit allen involvierten Behörden stark von Einzelpersonen und deren Bewusstsein für die Thematik abhängig. „In manchen Landkreisen gibt es schon länger sehr gut funktionierende Kooperationen, in anderen Landkreisen nicht“, so Schrader. „Eine Empfehlung wäre, Institutionen und Berufsgruppen wie zum Beispiel Jugendämter, Familienrichter- und -richterinnen oder Verfahrensbeistände zu sensibilisieren und in die erweiterten Unterstützungsnetzwerke zu integrieren“, rät die Expertin.
Sie wirbt dafür, eine Regelfinanzierung der Frauenhäuser zu schaffen anstatt einer Einzelfall- oder Tagessatzfinanzierung. Zudem müssten ausreichende Frauenhausplätze auch im ländlichen Raum entstehen und eine Landeskoordinierungsstelle zur Istanbul-Konvention aufgebaut werden. Schrader: „Aus unserer Sicht wäre es ein wichtiger Schritt, wenn eine bundesgesetzliche Regelung den gleichwertigen Zugang zum Hilfesystem verbindlich regelt.“
Berlin (epd). Die Bundesarbeitsgemeinschaft kommunaler Frauenbüros und Gleichstellungsstellen (BAG) hat den Austritt der Türkei aus der internationalen Istanbulkonvention zum Schutz von Frauen gegen Gewalt scharf kritisiert. Die türkische Regierung sehe Gewalt gegen Frauen als privates Thema an und entziehe sich der Verantwortung, Frauen und Mädchen vor Gewalt zu schützen, beklagte Simone Thomas, eine der BAG-Bundessprecherinnen, am 23. März. Damit entferne sich die Türkei weiter von demokratischen Werten.
Weltweit ist der BAG zufolge jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben von körperlicher oder sexueller Gewalt betroffen. Auch in Deutschland gebe es unvermindert hohe Zahlen an Partnerschaftsgewalt. Jeden 3. Tag werde eine Frau vom Partner oder Ex-Partner getötet. Es sei davon auszugehen, dass die Corona-Pandemie die häusliche Gewalt weiter verschärft habe.
Laut BAG gab es in der Türkei 2020 über 300 Femizide. Die Aufkündigung der Istanbul-Konvention in dieser Situation sei an Zynismus kaum zu übertreffen, erklärte Thomas. Antifeministischen Strömungen müssten mit aller Kraft entgegengetreten werden. „Frauenrechte sind Menschenrechte und dürfen nicht zurückgenommen werden.“
2011 verständigte sich der Europarat auf ein Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Die Türkei ratifizierte die Konvention dem Gremium zufolge als erstes Land, 45 weitere Staaten folgten.
Hamburg (epd). Ein eigenes Zimmer, ein eigenes Bad, ein eigener Schlüssel - was für viele selbstverständlich ist, ist für obdachlose Menschen ein unerreichbarer Luxus. Seit Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 wurde dieser Traum in Hamburg für mehrere Hundert Menschen für einige Monate Wirklichkeit. Durch private Spenden konnten von April bis Juni 2020 etwa 170 Menschen in Hotels untergebracht werden, die wegen der Corona-Beschränkungen kaum Gäste aufnehmen durften. So sind die Menschen nicht nur besser vor einer Ansteckung geschützt als auf der Straße oder in Sammelunterkünften - die Einzelunterbringung wirkt sich auch positiv auf ihren Allgemeinzustand aus.
„Es war beeindruckend zu sehen, wie schnell sich Menschen erholen, wenn sie einen Schutzraum haben“, erzählt Jonas Gengnagel, Sozialarbeiter bei „Hinz&Kunzt“ und dort zuständig für das Hotelprojekt. „Die Menschen haben sich körperlich und seelisch stabilisiert“ bestätigt Dirk Hauer, Fachbereichsleiter Migration und Existenzsicherung beim Diakonischen Werk Hamburg. „Dadurch konnten wir mit unseren Beratungsangeboten viel besser zu ihnen durchdringen.“ Mit vielen Menschen konnten so zum Beispiel Behördengänge erledigt, Ansprüche auf Sozialleistungen geklärt oder sogar Jobs gefunden werden.
Umgesetzt haben das Hotel-Projekt die Tagesstätte Alimaus, das Straßenmagazin „Hinz&Kunzt“ und die Diakonie. Seit Dezember 2020 sind erneut etwa 120 Personen in Hotels untergebracht, voraussichtlich bis Ende April. Der größte Teil der Spenden kam vom Hamburger Unternehmen Reemtsma und privat von dessen Mitarbeitern. Auch die Nordkirche spendete für das Projekt. Zudem engagiert sich der katholische Caritasverband mit Sozialarbeitern.
Diese Erfahrungen aus der Hotelunterbringung haben für Hauer und Gengnagel alle Argumente für den Ansatz Housing First (engl. „Zuerst eine Wohnung“) bestätigt. Dieses Konzept sieht vor, obdachlosen Menschen zunächst eine Wohnung zu vermitteln. Die Idee ist, dass sie aus diesem geschützten Raum heraus ihre oft weiteren Probleme in Angriff nehmen können, wofür sie auf der Straße, aber auch in größeren Gemeinschaftsunterkünften, keine Kraft haben. Im Januar 2020 beschloss die Hamburgische Bürgerschaft ein Housing-First-Modellprojekt - bisher wurde das jedoch nicht umgesetzt.
„Die Planungen sind noch nicht abgeschlossen“, sagt dazu Martin Helfrich, Sprecher der Sozialbehörde. Er sehe keinen Zusammenhang zwischen der Hotelunterbringung und dem Housing-First-Projekt. Vor allem die Sozialberatung sei in Gemeinschaftsunterkünften besser zu leisten als in dezentralen Wohnungen.
Dem widerspricht Sozialarbeiter Jonas Gengnagel von „Hinz&Kunzt“. Obdachlose Menschen müssten zuallererst in Ruhe „ihren Akku wieder aufladen“ - danach seien sie erst in der Lage, Beratung anzunehmen, die dann durchaus auch außerhalb des Hauses stattfinden könne. Gengnagel wird ab Sommer 24 Menschen betreuen, die in einem stiftungsfinanzierten Neubau im Stadtteil St. Georg in langfristige Wohngemeinschaften ziehen werden - ein Housing-First-Projekt im Kleinen.
Schleswig-Holstein hat sich im vergangenen Jahr entschieden, den Housing-First-Ansatz zu unterstützen und stellt mit dem Sonderprogramm „Wohnraum für besondere Bedarfsgruppen“ in den kommenden zwei Jahren insgesamt 20 Millionen Euro bereit. Mit besonders günstigen Förderkonditionen sollen Kommunen und Institutionen im Land angeregt werden, in den Bau von Wohnungen für besonders hilfsbedürftige Menschen zu investieren.
„Das war eine Richtungsentscheidung“, sagt Jo Tein, Vorstand der Hempels-Stiftung in Kiel. Die Stiftung wird mit der Landesförderung neben einem bereits bestehenden eigenen Haus mit zwölf Wohneinheiten bald einen Neubau errichten. In weiteren neun Wohnungen können dort ehemals obdachlose Menschen einziehen und endlich zur Ruhe kommen.
Hamburg (epd). Die Idee von Housing First im Kampf gegen Wohnungslosigkeit stammt aus den USA. Dort wurde der Ansatz „Pathways to Housing“ Anfang der 90er Jahre unter der Leitung von Sam Tsemberis entwickelt. Heute wird Housing First in mehreren US-Städten erfolgreich praktiziert.
Das Konzept richtete sich ursprünglich an obdachlose Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen. Die Zielgruppe wurde aber später erweitert auf Menschen, die langjährig obdachlos waren, und auf Personen, die nach der Entlassung aus Krankenhäusern und Haftanstalten von Obdachlosigkeit bedroht waren.
Kernziel ist die Vermittlung von dauerhaftem Wohnraum. Dahinter steckt die Idee, dass es einfacher ist, bei den Klienten bestehenden Probleme wie Sucht, Depressionen oder Arbeitslosigkeit anzugehen, wenn sie bereits eine stabile Wohnsituation haben. Meist kaufen die Sozialträger die Wohnungen, weil der Mietmarkt oft keine passenden Objekte bietet.
Housing First überwindet alle sonst üblichen „Stufenpläne“, in denen Wohnungslose aus der Notunterkunft über Aufnahmehäuser, Übergangswohnungen, Wohnheime, Trainingswohnungen und betreute Wohngemeinschaften Stufe für Stufe herangeführt werden an das „normale“ Wohnen - ein völlig anderer Ansatz, als ihn die klassische Wohnungslosenhilfe verfolgt.
Organisatorisch begleitet von Sozialträgern oder Vereinen, besteht von Anfang an ein normales, unbefristetes Mietverhältnis mit allen Rechten und Pflichten. Wohnbegleitende Hilfen werden ergänzend, aber nicht verpflichtend angeboten - sie sind grundsätzlich von Akzeptanz, dem Recht auf Selbstbestimmung, Respekt und Verlässlichkeit geprägt.
Dort wo Housing-First bereits praktiziert wird, sind die Ergebnisse überzeugend. So etwa in Finnland, wo die Obdachlosigkeit in den zurückliegenden zehn Jahren massiv gesunken ist.
Berlin (epd). Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) betrachtet das Infektionsgeschehen in Kindertageseinrichtungen und Schulen mit großer Sorge. „Die Einrichtungen fast uneingeschränkt zu öffnen, ohne das mit ausreichend Impfungen und Testungen zu flankieren, ist fahrlässig“, kritisierte die stellvertretende ver.di Vorsitzende Christine Behle am 19. März in Berlin. „Hier wird die Gesundheit der Kinder, Eltern und der Beschäftigten aufs Spiel gesetzt.“
Behle verwies in diesem Zusammenhang auf eine Studie der Hochschule Fulda. Darin haben fast 30 Prozent der befragten Beschäftigten aus dem Bereich der sozialen Arbeit angegeben, über einen Stellenwechsel nachzudenken. Rund 16 Prozent planen danach sogar, aus dem Beruf auszusteigen.
„Mich wundert das nicht“, sagte die Vize-Vorsitzende: „Die Beschäftigten in der Sozialen Arbeit werden von ihren Arbeitgebern und der Politik allein gelassen.“ Aktuelle Daten der Krankenkassen bestätigen, dass sich Beschäftigte dieser Berufsgruppen häufiger infizieren als andere Beschäftigte. Behle forderte die Träger der Einrichtungen auf, in dieser Situation gegenzusteuern und verlorenes Vertrauen wieder zurückzugewinnen, ansonsten drohe eine weitere Verschärfung des bereits bestehenden akuten Fachkräftemangels in den Einrichtungen der frühkindlichen Bildung und in der gesamten sozialen Arbeit.
Eine Verbesserung kann der Gewerkschaft zufolge nur erreicht werden, indem die allgemeingültigen Arbeitsschutzverordnungen genau eingehalten würden. In Kitas, Schulen und Jugendhilfeeinrichtungen müssten, solange es keinen ausreichenden Impfschutz gibt, Kontakte durch kleine kontinuierliche Gruppen begrenzt und der Abstand zwischen den Erwachsenen eingehalten werden. Außerdem müssten weitere Schutzmaßnahmen getroffen werden, hieß es.
Ver.di erwarte, dass die Bundesregierung dafür sorge, dass Covid-19 durch die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen als Berufskrankheit für alle Beschäftigten, die im direkten Kontakt zu Menschen stehen und wo kein Abstand eingehalten werden kann, anerkannt werde.
München (epd). Mit der Aktion „#alle13minuten“ will die Organisation SOS-Kinderdorf gemeinsam mit Prominenten auf die Gefährdung von Kindeswohl in Deutschland aufmerksam machen. Die Corona-Pandemie habe die Situation in vielen Familien massiv verschärft, teilte die Organisation mit Sitz in München am 23. März mit. Alle 13 Minuten müsse ein Kind zum eigenen Schutz aus seiner Familie genommen werden.
Bundesligaprofi Marco Reus, Fernsehmoderatorin Nazan Eckes und Sänger Joris rufen mit dem Verein auf, Familien in der Krise besser zu unterstützen und Kindeswohlgefährdung und Vernachlässigung nicht hinzunehmen. Gerade in Zeiten sozialer Kontaktbeschränkungen und geschlossener Bildungs- und Betreuungseinrichtungen seien junge Menschen häuslicher Gewalt und Vernachlässigung oft schutzlos ausgeliefert.
Gewalt, Vernachlässigung und Streits sind für viele Kinder der Kampagne zufolge trauriger Alltag. Überforderung, Überlastung oder mangelnde Unterstützung brächten immer mehr Familien an ihre Grenzen. 2019 habe die Statistik mit 55.527 Gefährdungen einen neuen Höchststand erreicht. Knapp 60 Prozent der Kindeswohlgefährdungen seien auf Vernachlässigung zurückzuführen. Die Dunkelziffer liege vermutlich deutlich höher.
Das SOS-Kinderdorf hat sich zum Ziel gesetzt, Kindeswohlgefährdungen mit gezielter präventiver Hilfe für Familien vorzubeugen.
Uelzen (epd). „Eine Wohnung zu finden, ist sehr schwierig - in Corona-Zeiten noch schwerer“, bilanziert Volker Jung. Er leitet die Beratungsstelle Wohnen und Leben der Diakonie in Uelzen. Die Zahl der Wohnungslosen sei drastisch gestiegen. Obwohl in der City alte Häuser leerstehen. Obwohl am Stadtrand neue Eigenheime gebaut werden. Die Mieten klettern rasant nach oben. Nicht nur in den Großstädten, auch in den ländlichen Gebieten Niedersachsens.
Uelzen ist eine typische Kleinstadt so wie viele im Land. Die 34.000-Einwohner-Kommune ist weit entfernt von Schickimicki. Keine Universität, weder quirliges Kulturleben noch Ausgehmeile. Ein entspanntes Umfeld für den Wohnungsmarkt, könnte man meinen. Doch die Mieten sind innerhalb von zehn Jahren um mehr als 30 Prozent gestiegen.
Seit 2015 schrumpft auch die Anzahl der inserierten Angebote - bis 2019 um über 40 Prozent, wie aus der aktuellen Statistik der NBank hervorgeht. Landesweit kletterten danach die Angebotsmieten zwischen 2009 und 2017 um rund 30 Prozent auf sieben Euro im Mittelwert.
Mit 6,17 Euro kalt pro Quadratmeter war Uelzen 2019 zwar günstiger als Hannover. Für Menschen mit geringem Einkommen aber oft noch zu teuer. „Was fehlt, sind Wohnungen bis 50 Quadratmeter für eine Person“, beobachtet Sozialpädagoge Jung. Seine Klientel sind vor allem Singles ohne Wohnung. Für sie empfangen Jung und seine sechs Mitarbeiter die Post, damit sie weiterhin erreichbar bleiben. Aktuell zählt Jung 59 Menschen, die in seinem Büro ihre Briefe abholen. „Sonst waren es um die 40“, vergleicht er. „Seit der Coronapandemie hat das erheblich zugenommen.“ Wohnungsbesichtigungen seien seltener geworden.
Es sei eher noch möglich, große Wohnungen zu finden, meint Jung. 80 Quadratmeter, 100 Quadratmeter und mehr. Aber zu teuer für Menschen mit wenig Geld. Die Mietobergrenze bei Hartz IV liege bei 419 Euro mit Betriebskosten. Ältere Wohnungen seien oft schlecht isoliert, zu teuer beim Heizen. „Da kann es Schwierigkeiten geben, wenn das Jobcenter die Kosten nicht übernimmt.“ Ein Grund vielleicht, weshalb sich der Leerstand in der City häuft.
„Ein Leerstandsproblem ist aktuell nicht erkennbar“, widerspricht Ute Krüger, die Pressesprecherin der Stadt Uelzen. Doch im Zentrum ist er kaum noch zu übersehen. Schmucke Fachwerkhäuser, sanierungsbedürftige Altbauten. Aber ohne Balkon, niedrige Decken, kein Blick ins Grüne.
Am Stadtrand entstehen dagegen neue Eigenheime. So wurden in den letzten zehn Jahren bis 2019 allein in Uelzen 212 Wohneinheiten im Eigenheimformat errichtet, aber nur 40 in Mehrfamilienhäusern. Selbst im Landesdurchschnitt übertrifft der Bau von Ein- und Zweifamilienhäusern laut NBank den Geschosswohnungsbau um fast 50 Prozent.
Als „Donut-Effekt“ werden mitunter die Folgen bezeichnet. Die Zentren verlieren Bewohner und veröden, während der Neubau am Stadtrand immer weiter in die Landschaft vordringt. Aber es geht auch anders. Das zeigen die kommunalen Förderprogramme „Jung kauft Alt“. Das Landesbauministerium verweist auf die Beispiele Elze, Wolfenbüttel und den Landkreis Rotenburg. Das Prinzip: Familien, die einen Altbau erwerben anstatt auf der grünen Wiese neu zu bauen, werden finanziell gefördert. Dem Flächenverbrauch will die Regierung damit entgegenwirken und die Zentren neu beleben.
Ein Ansatz, der offenbar funktioniert und Nachahmer findet. Viele Landkreise in mehreren Bundesländern bieten auf diesem Wege finanzielle Hilfen an, die oft auch gekoppelt sind an die Kinderzahl der Antragsteller. Vorreiter war die Gemeinde Hiddenhausen im Kreis Herford. Familien, die einen Altbau in der Dorfmitte kaufen, erhalten Zuschüsse für die Sanierung von bis zu 9.000 Euro. Zusätzlich gibt es einen Bonus für jedes Kind. Die Gemeinde Hiddenhausen im Kreis Herford ist Vorreiter für das Programm. Schon wenige Jahre nach dem Start das Projektes 2007 gab es hier wieder mehr Zu- als Wegzüge - und vor allem mehr junge Leute.
Bühl (epd). Die Gründung von Genossenschaften liegt vor allem bei sozialen Projekten im Trend. So ermöglichen etwa Familien- oder Seniorengenossenschaften eine bessere Vereinbarung von Familie und Beruf oder altersgerechte Wohnformen in vertrauter Umgebung, schreibt der Baden-Württembergische Genossenschaftsverband auf seiner Homepage.
Dabei sind Genossenschaften im Kern auf wirtschaftliche Zusammenarbeit angelegt. Genossenschaft sei das sichtbare Ergebnis gemeinsamen Wirtschaftens, sagte der Berater für Genossenschaftsgründungen Thomas Hann. Anders als bei anderen Rechtsformen stehen Genossenschaften laut Hann für Werte, Solidarität und basisdemokratische Strukturen.
Die meisten Bürgergenossenschaften verfolgen ein konkretes Ziel: Wohnen im Alter, Kinderbetreuung oder Energie, wie etwa die „Solar-Bürger-Genossenschaft“ in Freiburg. Mehrere Bereiche - Mobilität, Entwicklung des ländlichen Raumes, Wohnen im Alter - deckt das Netzwerk „K-Punkt Ländliche Entwicklung“ der katholischen Diözese Stuttgart-Rottenburg ab.
Hann sieht gute Chancen für Bürgergenossenschaften vor allem für kleinere Orte. In Städten müssten sich Genossenschaften dagegen auf ein einzelnes Quartier konzentrieren. Der Betriebswirt forscht für die Evangelische Hochschule in Freiburg im Rahmen des Pilotprojektes Kommunale Daseinsvorsorge durch Bürgergenossenschaften zu „Sozialer Nachbarschaft und Technik“.
Er berät auch die Gemeinde Bühl-Eisental bei ihrem Dorfentwicklungsprozess. Die Gemeinde will als eine der landesweit ersten eine „Multifunktionsgenossenschaft“ gründen. Dazu soll es in den kommenden zwei Monaten einen Bürgerdialog geben, sagte Ortsvorsteher Jürgen Lauten dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Wenn Bürger sich organisieren können, kann man viel erreichen“, ist er überzeugt.
Es werde zunehmend schwieriger das soziale Leben am Ort aufrecht zu erhalten, sagt Lauten. Die Gesellschaft ändere sich, Berufstätige seien heute mehr eingespannt als früher. In der Bürgergenossenschaft könnten die 2.100 Einwohner der mittelbadischen Gemeinde ihre Zukunft im Dorf mitgestalten.
Anders als die meisten Bürgergenossenschaften, die nur ein Themenfeld haben, sollen in Bühl-Eisental gleich mehrere Bereiche abgedeckt werden. Als Beispiele nennt der Ortsvorsteher etwa Konzepte für die Einrichtung von Solaranlagen mit eigenem Stromtarif, die Pflege der Kulturlandschaft in dem Weinanbaugebiet und die Nachbarschaftshilfe.
Dabei sieht er mehrere Vorteile: So könnten nicht nur Verwaltungskosten gespart werden. Zudem gebe es auch weniger Konflikte unter den Mitgliedern. Statt sich etwa zwischen Kindertagesstätten oder einer Solaranlage entscheiden zu müssen, ließen sich verschiedene Projekte gleichermaßen umsetzen, ist Lauten überzeugt.
Vallendar (epd). Die hohen Wogen des Streits um den allgemeinverbindlichen Tarif in der Altenhilfe ebben inzwischen ab. Sie hinterlassen bei den caritativen Dienstgebern eine Spur der Zerstörung: Image, Glaubwürdigkeit und Vertrauen wurden stark beschädigt. Aber warum gerade bei den Dienstgebern, die seit Jahren die beste Vergütung in der Altenhilfe bezahlen?
Die Gründe dafür sind komplexer, als offenbar in wenigen Minuten einer Satireshow oder auf einer Kampagnen-Webseite darstellbar. Auch eine seitenlange, sozialethische Stellungnahme katholischer Sozialethiker hat bei vielen Caritasverantwortlichen nur Kopfschütteln und teilweise massive Entrüstung hervorgerufen. Sie fühlen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt, diffamiert, belehrt und beschimpft. Und vor allem haben sie den Eindruck, dass die Debatte völlig am Kern der Auseinandersetzung vorbeilief.
Das Ärgernis zu niedriger Löhne in der Altenhilfe ist nicht neu. Es hat zu tun mit dem alten Thema Gendergerechtigkeit (mehr als 80 Prozent der Beschäftigten sind Frauen). Hinzu kommt das in der Ökonomie als „Baumolsche Kostenkrankheit“ benannte Phänomen, dass Pflegeleistungen nur in geringem Maße durch den Einsatz von Kapitalgütern produktiver gemacht werden können. Wenn in anderen volkswirtschaftlichen Sektoren Produktivitätssteigerungen erreicht werden, steigen dort die Löhne. Solche Produktivitätssteigerungen sind bei vielen Dienstleistungen, etwa auch bei einem Symphonieorchester, nicht erzielbar. Mit dem Symphonieorchester hat die Altenpflege gemeinsam, dass sie durch Beschleunigung oder Wegrationieren von Stellen bei sinkenden Kosten ihre Qualität nicht halten kann. Wer will Beethovens 9. Symphonie in der halben Zeit mit der Hälfte der Musiker hören? Aber so spielt die Musik inzwischen in vielen Pflegeheimen.
Es kommt ein weiterer Faktor hinzu: Seit den 1980er Jahren ist der Politik und der Öffentlichkeit bekannt, dass die demografische Entwicklung zu einem steigenden Bedarf an Pflegeleistungen führt. Die Antwort auf diesen Effekt war im Jahr 1995 die Einführung der Pflegeversicherung. Bewusst wurde die Altenpflege damals marktförmig konstruiert. Denn man erhoffte sich von der Neuordnung auch eine Reduzierung der Kosten bei steigenden Bedarfen.
Was jedoch auf diesem „Markt“ von Anfang an nicht funktionierte, war die Idee einer marktförmigen Lohnfindung. Während die Unternehmen der Wohlfahrtspflege mit Vergütungen und Arbeitsvertragsregelungen, die an die öffentlichen Tarife angelehnt waren, in diesen Markt gingen, setzten die neu in den Markt eintretenden privaten Anbieter auf „Haustarife“. In einer Branche, deren Kosten zu 70 bis 80 Prozent aus Lohnkosten bestehen, lag hier der Schlüssel zum (Rendite-)Erfolg der privaten Anbieter. Nach und nach gingen sie auf Einkaufstour, um kommunale und wohlfahrtsverbandliche Einrichtungen zu übernehmen und errichteten einen Neubau nach dem anderen. Der Politik, der Pflegeversicherung und den Kommunen war diese Entwicklung nur recht. In den Pflegesatzverhandlungen wurde anhand des „externen Vergleichs“ ein regionaler Mittelwert der Kosten errechnet. Die Tariflöhne der wohlfahrtsverbandlichen Anbieter wurden damit zum „Luxus“, der nicht mehr in Gänze refinanzierbar wurde.
Über viele Jahre musste die Caritas prozessieren, bis sie durch ein Urteil des Bundessozialgerichts (Urteil vom 16. Mai 2013, Az.: B 3 P 2/12 R) erreichen konnte, dass tariflich ausgehandelte und vereinbarte Löhne in Pflegesatzverhandlungen als wirtschaftlich anerkannt werden müssen. Bis dahin musste sich die Caritas von manchen Einrichtungen, u.a. in Niedersachsen und Bremen trennen. Die Dienstnehmervertreter waren nicht bereit, ein an den Werten des externen Vergleichs orientiertes Lohnniveau zu akzeptieren. Nach dem Verkauf mussten die Mitarbeitenden die niedrigeren Löhne hinnehmen, und die Öffentlichkeit entrüstete sich über die Caritas, die dies „ermöglichte“.
Dieses durch politische Untätigkeit begleitete „race to the bottom“ führte zum bösen Erwachen, als für die sinkenden Löhne in der Pflege immer weniger Frauen und Männer sich „den Rücken krumm machen“ wollten. Mit dieser Erkenntnis setzte ein bemühtes Hantieren an den Tarifschrauben an. Allerdings verschloss man die Augen davor, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der Altenpflegebranche äußerst niedrig ist. Die meisten Mitarbeitenden waren sich intuitiv darüber im klaren, dass mit Streiks in dieser Branche keine höheren Löhne gegenüber den Arbeitgebern erkämpft werden könnten.
Das einzige, was die Politik der Ausbreitung von Dumpinglöhnen in der Altenpflege entgegensetzen konnte, war die Einführung eines Mindestlohnes. Aber mit diesem letzten Damm gegen den Abwärtstrend lässt sich kein gerechtes Lohnniveau für die gesamte Mitarbeiterschaft in einer Branche herstellen. Die Löhne in der Altenpflege differieren weiterhin zwischen einem Lohnniveau, das sich in die Nähe von Industrieberufen bewegt (Caritas AVR) und dem Durchschnitt anderer Anbieter, die ihren Pflegefachfrauen und -männern im Durchschnitt 300 Euro weniger als die Caritas zahlen. Bei Hilfskräften beträgt die Differenz sogar 500 bis 900 Euro monatlich (Tarif Westdeutschland). Wohlgemerkt im Durchschnitt, bei einzelnen Einrichtungen liegt das tatsächliche Lohnniveau noch darunter.
Mit dem Mindestlohn war dem „Pflegenotstand“ aber nicht abzuhelfen. Er vergrößerte sich weiter aufgrund von (Fach-)Personalmangel und Versuchen, ihm durch Beschleunigung der Pflegetätigkeiten (Minutenpflege) entgegenzutreten - was sich gerade in der Corona-Krise als dramatische Fehlsteuerung erwies. So musste die Politik erneut tätig werden. Das neue Kaninchen, das aus dem Hut gezaubert wurde, war der allgemeinverbindliche Tarif für die Altenpflege.
Bei diesem Konstrukt wird die Fiktion eines tariflichen Lohns dadurch erzeugt, dass man einen kleinen Arbeitgeberverband gründet, um mit den gewerkschaftlich organisierten Mitarbeitenden einiger Einrichtungen, die der politischen Partei der „Erfinder“ dieses Konstrukts zum Teil nahestehen (AWO), einen Tarif abzuschließen. Dieser soll dann durch Rechtsverordnung für die gesamte Branche als verbindlich erklärt werden. Die Rechtskonstruktion setzt jedoch voraus, dass die diakonischen und caritativen Tarifparteien „mitspielen“. Sie sollen sich in ein „Spiel“ hineinziehen lassen, das auf ihre Entlohnung keinen Effekt haben soll, da der Tarif, der durchgesetzt werden soll, nur ein „mittelmäßiger“ ist - zwischen den Tarifen der konfessionellen Anbieter und den Dumping-Haustarifen der privaten Anbieter. Die konfessionellen Tarifparteien werden damit zu „Rettern“ der Pflegebranche stilisiert, welche die Verantwortung für das gesamte Lohnniveau der Branche übernehmen sollen. Und weil sie genau dies verweigert haben, stehen sie jetzt als „Spielverderber“ am Pranger.
Dabei haben sie einfach nur keine „gute Miene zum bösen Spiel“ gemacht. Durch den externen Vergleich „gebrannte Kinder“ wissen sie, welche starken Interessen auf Dauer Druck auf ihre Vergütungsregelungen ausüben würden, die dann die „einsame Spitze“ über dem allgemeinverbindlichen Tarifniveau wären. Sie sind sich auch darüber im Klaren, dass mit einem allgemeinverbindlichen Tarif für die Altenpflege das Spiel noch lange nicht zu Ende gewesen wäre. Die großen privaten Pflegeverbände haben seit langem angekündigt, dass sie sich nicht kampflos dem Diktat einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung unterwerfen würden. Die Rechtsgutachten liegen schon in den Schubladen. Ein Rechtsstreit durch alle Instanzen wäre zu erwarten gewesen.
Denn warum sollten sich internationale Pflegekonzerne ihr Geschäftsmodell durch eine solche Konstruktion beschädigen lassen, die sich mit dem Aushandeln von Tarifen in einer kleinen Nische begnügt, um sie dann der ganzen Branche überzustülpen? Diese Anbieter gehen weiterhin von der Marktlogik und entsprechenden Aushandlungsmechanismen aus. Mit ihrer Sichtweise ist ein solcher „Zwangstarif“ für die gesamte Branche nicht zu vereinbaren. Und die Frage, welcher Logik die Gerichte, spätestens auf europäischer Ebene, folgen würden, wäre durchaus offen.
Und genau hier liegt der zentrale Kern der Auseinandersetzung. Möchte die Politik weiterhin an der Fiktion eines Marktes festhalten, den man zwischen freiem Wettbewerb und staatlicher Regulierung oszillieren lässt, ohne die Rahmenbedingungen klar zu definieren? Eine solche Definition steht weiterhin aus. Ein Vorschlag, wie man diese Rahmensetzung des Pflegemarktes erreichen könnte, liegt mit dem Modell der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) vor. Diese setzt ebenfalls auf die Marktkräfte, will sie aber ethisch einhegen.
Dies geschieht anhand einer Gemeinwohl-Matrix, die die Werte des Gemeinwohls in eine Beziehung zu den Berührungsgruppen des Unternehmens setzt. In dieser Matrix führt der Wert der Gerechtigkeit in Bezug auf die Mitarbeitenden zur Notwendigkeit, einen gerechten Lohn zu definieren, der selbstredend einer tariflichen Aushandlung bedarf. Unternehmen, die einen solchen paritätisch ausgehandelten Lohn zahlen, würden nach der Idee der GWÖ im Wettbewerb bevorteilt. Der Vorschlag der Caritas, dass der Gesetzgeber bestimmt, dass die Pflegeversicherung nur mit Unternehmen, die paritätisch ausgehandelte Flächentarifverträge vorweisen können, Versorgungsverträge schließen darf, liegt auf dieser Linie.
Um sich einer ethischen Steuerung des Pflegemarktes mit dem Instrument der Gemeinwohl-Ökonomie zuwenden zu können, ist aber zunächst die Erkenntnis nötig, dass die klassischen Instrumente der Marktsteuerung in dieser Branche nicht greifen und funktionieren. Hier nur zwei weitere Beispiele für diese These: Nach der klassischen Marktlogik hätten die Caritas-Dienstgeber mit der Zustimmung zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung eine ideale Gelegenheit gehabt, ihre privaten Mitbewerberinnen aus dem Feld zu schlagen. Die Erhöhung der Personalkosten hätte das Geschäftsmodell dieser Gruppe erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Aber die Caritas „tickt anders“. Sie denkt nicht daran, „Profit zu schlagen“, indem sie andere Einrichtungen in den Ruin zu treibt oder in einer Skalierungslogik reihenweise übernimmt.
Und sie ist mit diesem „anderen Denken“ ein sehr begehrter Anbieter von Pflegeleistungen - mit dem Paradox gleichzeitig hoher Preise und hoher Nachfrage. „Geiz ist geil“ ist offenbar nicht das ausschlaggebende Motiv für Menschen, die Pflegeplätze für ihre Angehörigen suchen.
Das zweite Beispiel: Nach der klassischen (Arbeits-)Marktlogik würden Pflegekräfte immer zu dem Anbieter mit höheren Löhnen wechseln. Das tun sie auch zum Teil. Aber ein großer Teil der Mitarbeitenden - und das sind überwiegend Frauen - verbleibt beim Arbeitgeber wegen Ortsgebundenheit, privater Sorgeverpflichtungen für Kinder und Eltern, aus Solidarität mit den gepflegten Personen und anderen Gründen, die nicht monetärer Art sind.
Es hilft deshalb nicht weiter, die Definition des Marktes der Altenpflege weiterhin in der Schwebe zu lassen („Quasimarkt“). Die Politik muss sich dazu durchringen, eine deutlichere ethische Rahmung dieses Marktes zu setzen. Die Werkzeuge liegen bereit. Wer greift zu?
Berlin (epd). Der Neunte Familienbericht der Bundesregierung hat aus Sicht der Diakonie Deutschland noch Lücken. Es fehlten praktikable finanzielle Lösungen für getrennt erziehende Eltern und ihre Kinder in der Grundsicherung, teilte die Diakonie am 24. März in Berlin mit. Sie hätten einen höheren Bedarf als Familien, in denen die Kinder mit beiden Eltern in einem Haushalt leben.
SPD und Union hatten im Koalitionsvertrag die Einführung eines Umgangsmehrbedarfes vorgesehen - bis heute wurde die entsprechende Vereinbarung nicht umgesetzt. Vor diesem Hintergrund legte die Diakonie ein Konzept für einen Umgangsmehrbedarf in der Grundsicherung vor. In einem Schreiben an die Fraktionen, Familienministerin Franziska Giffey und Sozialminister Hubertus Heil (beide SPD) fordert sie die Regierungskoalition auf, die anstehende parlamentarische Diskussion des Berichtes mit einem Beschluss zum Umgangsmehrbedarf zu verbinden.
Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, sagte: „Getrennt lebende Eltern und ihre Kinder haben in der Grundsicherung mit besonderen Problemen zu kämpfen. Der Kinderregelsatz wird einfach zwischen beiden Haushalten nach Tagen aufgeteilt. Das ist kompliziert und macht ständige Neuberechnungen nötig.“ Das Ergebnis sei: In beiden Haushalten stehe dem Kind weniger zur Verfügung, als es zum Leben braucht. Dabei sei klar: Bett, Schrank und Tisch seien unteilbar. Kleidung und Spielzeug müssten in beiden Haushalten einfach da sein. „Es ist eine Zumutung, von Kindern zu verlangen, mit großen Koffern zwischen den Elternhaushalten hin- und herzufahren. Die Grundsicherung muss Trennungsfamilien endlich angemessen ausstatten“, so Loheide.
Sie erläuterte den Diakonie-Vorschlag, nach dem mindestens ein Drittel des Regelsatzes immer in beiden Haushalten zur Verfügung stehen müsste. Ergänzend sollten weitere Pauschalen je nach regelmäßiger Aufenthaltsdauer vereinbart werden. „Im Ergebnis muss klar sein: Der Bedarf für Kinder, die in zwei Haushalten leben, ist immer höher als bei Kindern, die mit beiden Eltern in einem Haushalt leben“, so die Vorständin.
Die Diakonie schlägt vor, für typische Konstellationen der Erziehungsverantwortung unterschiedliche Pauschalen vorzusehen. Diese setzen sich aus einem Viertel des Regelsatzes (unabweisbarer Bedarf) und einer Pauschale für einen weiteren flexiblen Bedarf zusammen, bei der nicht mehr als drei Viertel des Regelsatzes nach einem Schlüssel verteilt werden. Nach einer entsprechenden Vereinbarung der Eltern sollen diese einfach festgestellt und so lange gewährt werden, wie die Eltern an dieser Verteilung festhalten.
Stuttgart (epd). Lob für die Entscheidung der Caritas, einen flächendeckenden Tarifvertrag in der Pflege abzulehnen, kommt aus der Synode der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Bei einer Aktuellen Stunde dankte am 20. März in Stuttgart der Vorsitzende des synodalen Rechtsausschusses, Christoph Müller, der Caritas für ihren Mut. Die kirchlichen Sozialwerke hätten weitaus bessere Arbeitsrechtlinien, die durch den schlechteren Flächentarifvertrag gefährdet wären, sagte Müller. Er nannte es feige, dass sich die Arbeitsrechtliche Kommission der Diakonie nicht öffentlich auf die Seite der Caritas gestellt habe.
Die Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg, Oberkirchenrätin Annette Noller, äußerte ebenfalls Bedenken gegen den Branchentarif. Die besseren Leistungen für Beschäftigte in der Diakonie könnten möglicherweise nicht mehr finanziert werden, wenn sich der flächendeckende Tarif durchsetzte. Noller kritisierte öffentliche Kampagnen, die der Caritas mangelnde Nächstenliebe vorwerfen. Tatsächlich gehe es den kirchlichen Sozialwerken darum, die Entlohnung ihrer Mitarbeiter nicht auf das Niveau von Privatanbietern absenken zu müssen.
Der Theologieprofessor und Landessynodale Thomas Hörnig zweifelte an, dass Diakonie und Caritas grundsätzlich besser bezahlten. Er erinnerte an Ausgründungen von Gesellschaften, um nicht nach den eigenen kirchlichen Richtlinien entlohnen zu müssen. Der sogenannte Dritte Weg im kirchlichen Arbeitsrecht, bei dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber in paritätisch besetzten Kommissionen verhandeln und an dem keine Gewerkschaften beteiligt sind, wird nach Hörnigs Überzeugung von der Gesellschaft immer weniger verstanden.
Die Arbeitsrechtliche Kommission (ARK) der Caritas hatte am 25. Februar die Zustimmung zum Tarifvertrag von ver.di und der Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche verweigert.
Berlin (epd). Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) unterstützt den gemeinsamen Appell der Patientenbeauftragten, des Behindertenbeauftragten und des Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, eine gesetzliche Regelung für die Übernahme der Assistenzkosten bei Krankenhausaufenthalten von Menschen mit Behinderung zu schaffen. „Der unsägliche Streit zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und den Trägern der Eingliederungshilfe wird auf dem Rücken von Menschen mit Behinderungen ausgetragen“, sagte Brigitte Döcker, Mitglied des AWO Bundesvorstandes, am 19. März.
„Jedes Mal, wenn eine medizinisch notwendige Behandlung mangels individueller Begleitung nicht durchgeführt werden kann, verschoben wird oder vielleicht sogar ganz entfällt, ist das eine nicht hinnehmbare Menschenrechtsverletzung, die unseres Rechtsstaates unwürdig ist“, so Döcker weiter.
Sie verwies auf die seit 2009 in Deutschland geltende UN-Behindertenrechtskonvention. Die AWO fordere seit Jahren, dass diese bekannte, gesundheitsgefährdende Versorgungslücke zu schließen ist, damit Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf Gesundheit im Falle eines Krankenhausbesuches genießen können.
In einem gemeinsamen Appell haben sich die Beauftragten an CDU/CSU und SPD gewandt. Sie fordern die Bundesregierung auf, noch in dieser Legislaturperiode eine gesetzliche Regelung vorzulegen und zu verabschieden, die dafür sorgt, dass die Finanzierung für die Begleitung von Menschen mit Assistenzbedarf im Krankenhaus geregelt wird.
Kassel (epd). Bei ihren Angehörigen lebende erwerbsgeminderte und behinderte erwachsene Sozialhilfebezieher können trotz mietfreien Wohnens von der Sozialhilfe pauschale Unterkunftskosten erhalten. Der Sozialhilfeträger darf Betroffene nach dem Willen des Gesetzgebers nicht darauf verweisen, dass sie nur Anspruch auf die tatsächlich angefallenen Unterkunftskosten haben, urteilte am 23. März das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel. Auch dass die Angehörigen ihr Wohneigentum bereits abbezahlt haben, stehe dem Erhalt der Unterkunftskostenpauschale nicht entgegen, befand das Gericht.
Geklagt hat ein erwachsener, autistischer Mann aus Stuttgart, der mietfrei im Haus seiner Eltern lebt und ein 30 Quadratmeter großes Zimmer hat. Ein Mietvertrag mit den Eltern besteht nicht. Weil er in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeitet, verfügt er über keine wesentlichen Einkünfte und ist deshalb auf Sozialhilfeleistungen angewiesen. Von der Stadt Stuttgart verlangte er für den Zeitraum Juli bis Ende September 2017 die Übernahme pauschaler Unterkunftskosten und verwies auf eine gesetzliche Neuregelung.
Die Kommune lehnte das jedoch ab. Er lebe mietfrei bei seinen Eltern. Nach dem Bedarfsdeckungsgrundsatz könne die Sozialhilfe nur den konkreten Bedarf übernehmen. Damit habe er Anspruch auf die tatsächlich angefallenen Unterkunftskosten. Ab Juli 2017 seien das 19,40 Euro. Das Wohneigentum der Eltern sei bereits abbezahlt, so dass auch hier keine weiteren zu berücksichtigenden Unterkunftskosten anfielen, hieß es zur Begründung.
Dass der Sozialhilfeträger nur den tatsächlichen Bedarf und damit die nur wirklich angefallenen Unterkunftskosten übernehmen muss, habe das BSG bereits am 14. April 2011 entschieden, argumentierte die Stadt. Damals ging es um eine Klägerin mit einem Grad der Behinderung von 100, die ebenfalls ohne Mietvertrag bei ihren Eltern in einer Haushaltsgemeinschaft lebte.
Der Landkreis Cuxhaven entschied damals, dass keine tatsächlichen Unterkunftskosten angefallen seien und die Frau daher keine Zahlungen verlangen könne. Das BSG bestätigte diese Entscheidung und urteilte, dass die behinderte Frau nicht die Zahlung anteiliger Aufwendungen für Unterkunft und Heizung beanspruchen könne. Es seien keine tatsächlichen Aufwendungen angefallen, so das Gericht.
Laut Volker Rieger, Anwalt des Klägers im aktuellen Rechtsstreit, war eine Folge des Urteils, dass viele Familienmitglieder nun Mietverträge mit ihren behinderten Angehörigen schlossen, um so entstandene Mietaufwendungen belegen zu können. Gerichte hätten diese aber immer wieder als Scheinverträge gekippt, so der Jurist.
Als Reaktion auf das BSG-Urteil hatte der Gesetzgeber die Übernahme der Unterkunftskosten 2017 neu geregelt. Danach wird nicht mehr vorgeschrieben, dass erwerbsgeminderte oder in Grundsicherung im Alter befindliche Menschen bei einem mietfreien Wohnen bei Angehörigen nur die „tatsächlichen“ Unterkunftskosten von der Sozialhilfe erstattet bekommen. Im aktuellen Fall sprach das Sozialgericht Stuttgart daher dem autistischen Kläger eine Unterkunftskostenpauschale von monatlich 109,93 Euro zu.
Das bestätigte nun auch das BSG. Der Gesetzgeber habe zur Verwaltungsvereinfachung in solchen Fällen die Übernahme pauschaler Unterkunftskosten bestimmt. Das Gesetz gehe nicht mehr von den „tatsächlichen“ Unterkunftskosten aus.
Die nun eingeführte Pauschale richte sich nach den ortsüblichen angemessenen Unterkunftskosten. Um die im Streitfall bestimmen zu können, müsse die Differenz zwischen der Obergrenze der angemessenen Mietkosten für einen Drei-Personen-Haushalt in Stuttgart und der eines Zwei-Personen-Haushalts bestimmt werden. Der Differenzbetrag stelle dann die pauschalen Unterkunftskosten für den behinderten Menschen dar. Die Heiz- und Betriebskosten müssten gesondert berechnet werden, abhängig von der errechneten Unterkunftskostenpauschale und den tatsächlich angefallenen Heizkosten.
Die Stadt Stuttgart sei damit verpflichtet, monatlich pauschal 109,93 Euro zu zahlen. Es komme auch nicht darauf an, dass das Wohneigentum der Eltern bereits abbezahlt wurde. Der Gesetzgeber habe bewusst eine Pauschale zur Verwaltungsvereinfachung vorgesehen. „Dass im Einzelfall eine Bedarfsüberdeckung besteht, liegt im Wesen der Pauschale“, urteilte das BSG.
In einem weiteren Urteil entschied das BSG, dass Sozialhilfeträger bedürftigen Menschen nicht Leistungen versagen dürfen, nur weil sie keinen Wohngeldantrag gestellt haben. Betroffene hätten ein Wahlrecht, ob sie Wohngeld beziehen und damit aus dem ergänzenden Sozialhilfebezug herausfallen oder ob sie nur Sozialhilfe erhalten.
Der alleinige Sozialhilfebezug kann sich lohnen, wenn Sozialhilfebezieher Anspruch auf besondere Vergünstigungen haben, Wohngeldbezieher aber nicht. Im Streitfall wollte ein Altersrentner aus Berlin 2017 auf Wohngeld verzichten, um so ergänzende Sozialhilfe beanspruchen und damit auch den „Berlinpass“ erhalten zu können. Damals sah dieser für Sozialhilfe- aber nicht für Wohngeldbezieher zahlreiche Vergünstigungen vor, wie etwa verbilligte Monatskarten bei Bus und Bahn.
Das BSG urteilte, dass Sozialhilfeträger nicht zwingend erst einen Wohngeldantrag verlangen dürfen. Der im Sozialgesetzbuch festgeschriebene Nachrang der Sozialhilfe sei nur ein „Programmsatz“, der Betroffene nicht verpflichte, Leistungen wie hier das Wohngeld auch zu beantragen.
Az.: B 8 SO 14/19 R (BSG Unterkunftskostenpauschale)
Az.: B 8 SO 18/09 R (BSG tatsächliche Unterkunftskosten)
Az.: B 8 SO 2/20 R (BSG Wohngeldantrag)
Kassel (epd). Während der Elternzeit gezahltes Krankengeld mindert den Elterngeldanspruch. Auch wenn beim sogenannten Elterngeld Plus für in Teilzeit arbeitende Eltern der Zuverdienst beim Elterngeld anrechnungsfrei bleibt, gilt das nicht für das Krankengeld, das der in Teilzeit befindliche elterngeldberechtigte Elternteil erhält, urteilte am 18. März das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel. Der Gesetzgeber habe das letztlich im Interesse der Verwaltungsvereinfachung so vorgesehen, befand das Gericht.
In Elternzeit befindliche Eltern können ein monatliches Basiselterngeld von 300 Euro bis höchstens 1.800 Euro erhalten, abhängig vom laufenden Erwerbseinkommen der letzten zwölf Monate vor Beginn des Mutterschutzes gerechnet. Der Anspruch besteht grundsätzlich für zwölf Monate plus zwei weiterer Monate, in denen der Partner sich um das Kind kümmert.
2015 hatte der Gesetzgeber das Elterngeld Plus eingeführt. Es soll Eltern ermöglichen, leichter Kind und Beruf unter einen Hut zu bringen. Der Anspruch besteht bis zu 24 Monate. Allerdings verringert sich das Elterngeld auf die Hälfte des Basiselterngeldes. Während des Elterngeld Plus-Bezugs dürfen Eltern dafür ihr in Teilzeit erzieltes Erwerbseinkommen in voller Höhe behalten. Ein Wechsel zwischen Basiselterngeld und Elterngeld Plus ist jederzeit möglich.
Im Streitfall hatte eine Anwältin aus dem Landkreis Harburg ab dem fünften Lebensmonat ihres Kindes das Elterngeld Plus-Modell gewählt. Sie arbeitete im Umfang von 60 Prozent in Teilzeit. Ihr Erwerbseinkommen wurde nicht auf das Elterngeld Plus angerechnet. Als sie jedoch arbeitsunfähig erkrankte und zwischen dem neunten und zwölften Lebensmonat Krankengeld erhielt, wurde diese Zahlung mindernd auf ihr Elterngeld Plus angerechnet. Sie erhielt rund 600 Euro weniger Elterngeld. Es sei unrechtmäßig, wenn das Erwerbseinkommen nicht berücksichtigt werde, das später wegen Arbeitsunfähigkeit gezahlte Krankengeld aber schon, argumentierte sie.
Doch der Gesetzgeber hat nicht vorgesehen, dass Einkommensersatzleistungen wie das Krankengeld nach der Geburt des Kindes anrechnungsfrei bleiben sollen, urteilte das BSG. Das diene letztlich der Verwaltungsvereinfachung. Das Risiko der Arbeitsunfähigkeit während des Elterngeld-Plus-Bezugs verbleibe daher beim Elterngeldberechtigten, so das Gericht.
Az.: B 10 EG 3/20 R
Erfurt (epd). Öffentliche Arbeitgeber sind bei Stellenausschreibungen generell zur Einladung geeigneter schwerbehinderter Bewerber zum Vorstellungsgespräch verpflichtet. Dies gilt selbst dann, wenn eine Stellenbewerberin eine Einladung zum Vorstellungsgespräch nur dann für sinnvoll erachtet, wenn sie in die engere Auswahl kommt, wie das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einem am 23. März veröffentlichten Urteil entschied. Die Erfurter Richter sprachen damit einer schwerbehinderten Frau wegen einer unterbliebenen Einladung eine Diskriminierungsentschädigung in Höhe von 3.581 Euro zu.
Die Frau hatte sich im November 2017 auf eine Sachbearbeiterinnenstelle in einem Jugendamt beworben und in ihrem Schreiben erklärt, dass sie sich auf ein persönliches Gespräch freue. Sie wies auf ihre Schwerbehinderung hin, ohne allerdings den Grad der Behinderung zu nennen. Außerdem schrieb sie: „Bitte laden Sie mich nur dann zu einem Vorstellungsgespräch ein, wenn Sie mich in die engere Wahl nehmen, alles andere macht meines Erachtens wenig Sinn.“
Als die Frau ohne Einladung eine Absage erhielt, fühlte sie sich wegen ihrer Behinderung diskriminiert. Sie habe in dem Bewerbungsschreiben keinen Verzicht zur Einladung zum Bewerbungsgespräch erklärt.
Das BAG urteilte, dass die unterbliebene Einladung zum Vorstellungsgespräch ein Indiz für eine Diskriminierung wegen der Behinderung darstelle. Öffentliche Arbeitgeber seien verpflichtet, fachlich geeignete schwerbehinderte Bewerber zum Bewerbungsgespräch einzuladen. Ein Verzicht auf die Einladungspflicht - auch gegebenenfalls von einem Stellenbewerber vorgebracht - sei nicht möglich. Hier habe die Stellenbewerberin in ihrem Bewerbungsschreiben zum Ausdruck gebracht, sehr gerne zum persönlichen Gespräch eingeladen zu werden, auch wenn sie dies später nur im Fall einer engeren Auswahl wünschte. Ein Verzicht auf das Gespräch sei dies aber nicht.
Schließlich habe die Klägerin in ihrem Bewerbungsschreiben auch nicht ihren Grad der Behinderung dem Arbeitgeber mitteilen oder ihm eine Kopie ihres Schwerbehindertenausweises übersenden müssen. Es reiche allein die Mitteilung über das Bestehen einer Schwerbehinderung aus.
Az.: 8 AZR 59/20
Mannheim (epd). Der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof hat der Betreiberin eines Seniorenzentrums im Landkreis Lörrach verboten, die Gastronomie in ihrer Einrichtung wieder zu öffnen. Die Betreiberin scheiterte mit ihrer Beschwerde gegen einen entsprechenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg, wie der Gerichtshof am 18. März in Mannheim mitteilte. Das Seniorenzentrum wollte Geimpfte und Genesene wieder bedienen.
Die Heimbetreiberin hält die Öffnung der Gastronomie für sicher, weil als Gäste nur Menschen mit Impfung oder nach Genesung infrage kämen. Das Freiburger Verwaltungsgericht lehnte das mit der Begründung ab, es sei bislang nicht wissenschaftlich erwiesen, dass dieser Personenkreis das Virus nicht mehr übertragen könne.
Da die Bewohner in Kontakt mit Ungeimpften stünden, könnten sie das Virus möglicherweise dennoch weiter verbreiten. Deshalb müsse der Infektionsschutz eingehalten werden, argumentierten die Freiburger Richter. Dem schloss sich der Verwaltungsgerichtshof nun an, der Beschluss ist unanfechtbar.
Az.: 1 S 774/21
Celle (epd). Das Oberlandesgericht Celle hält es für verfassungswidrig, dass in Deutschland bei lesbischen Elternpaaren nicht automatisch beide Mütter in die Geburtsurkunde ihres Kindes eingetragen werden können. Der Familiensenat habe deshalb das Verfahren im Fall von Gesa Teichert-Akkermann und Verena Akkermann ausgesetzt und an das Bundesverfassungsgericht weitergeleitet, sagte ein Sprecher am 24. März dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Das Ehepaar Akkermann äußerte sich glücklich. „Ich bin Paulas Mama, seit sie auf der Welt ist.“ Nun habe endlich auch ein Gericht bestätigt, dass es ihre Grundrechte verletze, wenn „ich nicht in ihrer Geburtsurkunde stehe“, sagte Verena Akkermann. Ihre Ehefrau ergänzte: „Die Richter sagen mit dem Urteil: Ja, wir finden auch, Paula hat zwei Mamas. Das ist wirklich mutig und großartig.“
Gesa Teichert-Akkermann hatte Paula vor gut einem Jahr in der Medizinischen Hochschule Hannover zur Welt gebracht. Das Standesamt und das Familiengericht Hannover hatten es bisher abgelehnt, auch Verena Akkermann als Mutter in die Geburtsurkunde einzutragen. Bei lesbischen Elternpaaren muss bislang die zweite Mutter vor einem Familiengericht beantragen, das Kind als Stiefkind zu adoptieren.
Bei einem erneuten juristischen Scheitern wären die Akkermanns selbst vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. „Jetzt gehen wir gemeinsam mit dem Oberlandesgericht nach Karlsruhe. Das ist ein wichtiger Zwischensieg“, sagte Teichert-Akkermann. Zwar hätten sie sich als Familie schneller eine rechtliche Absicherung gewünscht. Aber jetzt hoffen sie auf ein Grundsatzurteil, „das nicht nur uns drei, sondern alle betroffenen Familien endlich rechtlich absichert“. Das Gericht habe mit seinem Beschluss auch der Politik ein schlechtes Zeugnis ausgestellt, weil sie nach der Öffnung der „Ehe für alle“ nicht auch das Abstammungsrecht entsprechend angepasst habe.
Aus Sicht des Senats fehlt im derzeitigen Bürgerlichen Gesetzbuch in den Paragrafen 1591 (Mutterschaft) und 1592 (Vaterschaft) eine Regelung für gleichgeschlechtliche Paare. Deshalb könnten die Richter das Gesetz nicht so auslegen, dass sie die „Co-Mutter“ als Mutter feststellen könnten, erläuterte der Sprecher. Der Gesetzgeber hätte mit der Einführung der „Ehe für alle“ auch die abstammungsrechtlichen Fragen neu regeln können. Das habe die Politik aber nicht getan. Deshalb dürfe das Gericht diese gesetzgeberische Entscheidung jetzt nicht durch „eigene Gerechtigkeitsvorstellungen“ ersetzen.
Weil der Senat das Gesetz für verfassungswidrig halte, könne er den Antrag der Familie Akkermann nach den Worten des Sprechers aber auch nicht ablehnen. Die Richter sehen durch die fehlende Regelung das im Grundgesetz Artikel 6 verankerte Elternrecht von Verena Akkermann verletzt. Die daraus sich ergebenden Rechte und Pflichten gälten nicht nur für die leibliche Mutter, sondern auch für deren Partnerin. „Wie für leibliche Eltern gilt auch für Wunscheltern, dass gerade ihnen das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person“, heißt es in dem Gerichtsbeschluss. Der Bundesgerichtshof hatte im Oktober 2018 eine ähnliche Klage eines lesbischen Paares abgewiesen.
Az.: 21 UF 146/20
Münster (epd). Ein syrischer Asylbewerber, der sich in seiner Heimat dem Reserve-Wehrdienst entzogen hatte, erhält laut einem Urteil des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts (OVG) nicht den Status eines politischen Flüchtlings. Einfache Wehrdienstentzieher würden - anders als politische Gegner des Regimes - in Syrien nicht mehr flächendeckend und systematisch strafrechtlich verfolgt, erklärte das OVG am 22. März in Münster.
Der Kläger aus Frechen behält allerdings den subsidiären Schutz, den ihm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) gewährt hatte. Er müsse Deutschland nicht verlassen, teilte eine Gerichtssprecherin dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit.
Der Syrer war den Angaben zufolge 2015 aus seinem Land geflohen. Seinen Wehrdienst hatte er dort zwar bereits geleistet, fürchtete aber, zum Reservedienst eingezogen zu werden. Den subsidiären Schutz durch das Bamf habe er durch eine Klage vor dem Verwaltungsgericht (VG) Köln verbessern wollen, erklärte die Sprecherin. Das VG billigte ihm den Flüchtlingsstatus auch zu. (AZ: 20 K 7784/17.A) Dagegen habe das Bundesamt jedoch Rechtsmittel eingelegt. Das OVG änderte das Kölner Urteil und wies die Klage des Asylbewerbers ab.
Das Gericht habe die Erkenntnisse zur Verfolgungslage für Wehrdienstentzieher in Syrien einer neuen Prüfung unterzogen, hieß es. Nachdem sich die militärische Situation zugunsten des syrischen Staates konsolidiert habe, beobachte man eine veränderte Praxis: Einfache Wehrdienstentzieher würden nicht mehr bestraft, sondern sofort eingezogen und militärisch eingesetzt. Anders läge der Fall möglicherweise bei Deserteuren aus militärischen Einheiten oder wenn Soldaten aus Sicht des Regimes zum Feind überliefen, erläuterte das Gericht.
Mit seiner Neubewertung sieht das OVG zugleich die Auffassung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in einem Urteil vom November 2020 (AZ: C-238/19) als widerlegt an: Der EuGH hatte in einem anderen Fall aus Deutschland die „starke Vermutung“ einer Strafverfolgung von Militärdienstverweigerern aus politischen Gründen geäußert. Einer „gegenteiligen Bewertung der Tatsachenlage“ durch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg vom Januar 2021 (AZ: 3 B 109/18) schlossen sich die nordrhein-westfälischen Richter ausdrücklich nicht an.
Die Revision gegen das Urteil vom Montag ließ das OVG Münster nicht zu. Dagegen kann Beschwerde erhoben werden, über die das Bundesverwaltungsgericht entscheidet.
Az.: 14 A 3439/18.A
Frankfurt a.M. (epd). Wenn Eltern sich über die Impfung eines Kindes uneinig sind, sind die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (Stiko) entscheidend. Die Entscheidungsbefugnis über Impfungen liege dann bei dem Elternteil, das sich an den Empfehlungen der Stiko orientiert, teilte das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main am 18. März mit. Das Gericht wies damit die Beschwerde eines Vaters zurück, der forderte, erst müsse die Impffähigkeit des Kindes gerichtlich geprüft werden. Die Beschluss ist nicht anfechtbar.
In dem Streitfall üben die Eltern eines Kleinkindes gemeinsam die Sorge aus. Die Mutter möchte das Kind gemäß den Empfehlungen der Stiko impfen lassen, der Vater ist dagegen und verlangt zunächst eine gerichtliche Prüfung der Impffähigkeit des Kindes.
Vor dem Amtsgericht beantragte die Mutter deshalb, ihr die Entscheidungsbefugnis über Standardimpfungen zu übertragen. Das Amtsgericht folgte dem Antrag, die dagegen gerichtete Beschwerde des Vaters wies das OLG zurück. Die Entscheidungskompetenz sei dem Elternteil zu übertragen, „dessen Lösungsvorschlag dem Wohl des Kindes besser gerecht wird“, entschieden die Richter.
Das OLG begründete, dass eine an den Empfehlungen der Stiko orientierte Impf-Entscheidung der Kindesmutter „das für das Kindeswohl bessere Konzept darstellt“. Zur Einholung eines Sachverständigengutachtens bestehe kein Bedarf, denn die Stiko-Empfehlungen hätten schon eine solche Funktion. Nach diesen Empfehlungen müssten die Ärzte die Impffähigkeit in der konkreten Impfsituation prüfen. Der Sorge des Vaters um die körperliche Unversehrtheit des Kindes trügen die Empfehlungen der Stiko ebenfalls Rechnung.
Az.: 6 UF 3/21
Frankfurt a.M. (epd). Hartz-IV-Bezieher in Hessen können keine kostenlosen FFP2-Masken vom Jobcenter fordern. Das Sozialgericht Frankfurt am Main lehnte eine entsprechende Forderung ab, wie das Gericht am 22. März mitteilte. Bei FFP2-Masken liege kein besonderer Bedarf vor, der eine Erstattung rechtfertige, begründeten die Richter ihre Entscheidung. Denn in Hessen gelte keine generelle Pflicht zum Tragen einer FFP2-Maske, sondern „lediglich in einigen Bereichen die Pflicht zum Tragen einer medizinischen Maske“. Der Beschluss ist noch nicht rechtskräftig.
Der Antragsteller hatte in einem Eilverfahren verlangt, das Jobcenter müsse 20 FFP2-Masken wöchentlich oder den Gegenwert zur Verfügung stellen. Dabei berief er sich auf einen Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 11. Februar (AZ: S 12 AS 213/21 ER).
Das Sozialgericht Frankfurt am Main widersprach jedoch den Richterkollegen in Karlsruhe. Der Benutzer einer OP-Maske verstoße nicht gegen Strafgesetze wie gegen Körperverletzung, weil er eine Maske mit geringerer Schutzwirkung als die FFP2-Maske trage. Es liege auch kein besonderer Bedarf im Einzelfall vor, weil die Verpflichtung zum Tragen medizinischer Masken alle Personen gleichermaßen betreffe.
Für Bezieher von Grundsicherungsleistungen besteht dem Gericht zufolge nach der Corona-Schutzmaskenverordnung ein Anspruch auf einmalig zehn FFP2-Masken, die jeweils dreimalig wiederverwendet werden könnten. Viele Bedarfsanlässe wie Freizeit, Unterhaltung und Kultur, Verkehr, Dienstleistungen, Beherbergungen und Gaststätten fielen aufgrund der Corona-Schutzbestimmungen zumindest teilweise weg, so dass FFP2-Masken bei einem Preis von unter ein Euro pro Stück selbst beschafft werden könnten.
Az.: S 9 AS 157/21 ER
Berlin (epd). Die Theologin Ursula Schoen übernimmt das Direktorenamt am 1. September. Sie folgt in dieser Funktion Barbara Eschen, die die Diakonie noch bis Juni 2021 zusammen mit Vorständin Andrea Asch leiten wird.
Schoen studierte Theologie in Bethel, Heidelberg und Bonn. Im Jahre 1998 promovierte sie in Heidelberg. Von 2001 bis 2003 arbeitete Schoen im Auftrag der evangelischen Kirche in Abidjan (Elfenbeinküste). Anschließend war sie Pfarrerin in Frankfurt/Main und Beauftragte für Flüchtlingsaufnahme in der Diakonie Hessen, ehe sie Dekanin im früheren Dekanat Mitte-Ost und schließlich Prodekanin des Evangelischen Stadtdekanats Frankfurt und Offenbach wurde.
Die Theologin wurde am 19. März vom Diakonischen Rat gewählt worden. Die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz stimmte ihrer Wahl zu. Barbara Eschen vollendet im Mai ihr 65. Lebensjahr. Sie steht seit Januar 2014 als Direktorin an der Spitze des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
„Mit Ursula Schoen haben wir eine Kennerin der diakonischen Arbeit und eine starke Persönlichkeit für unseren Verband gewinnen können“, sagte DWBO-Vorständin Andrea Asch.
Matthias Langer und Matthias Sandrock bleiben für eine zweite Amtszeit Vorsitzende des Bundesverbandes Hausnotruf, der vor zwei Jahren gegründeten Interessenvertretung der Hausnotrufanbieter in Deutschland. Der sechsköpfige Vorstand berief die beiden erneut ins Amt. Langer ist Leiter des Geschäftsbereichs Ambulante Angebote bei der Johanniter-Unfall-Hilfe. Sandrock ist Geschäftsführer des privaten Hausnotrufanbieters BeWo-Begleitet Wohnen GmbH. Weitere Mitglieder des Vorstandes sind Frank Becker (Malteser Hilfsdienst gGmbH), Waltraud Grusemann (Caritasverband Region Mönchengladbach), Bettina Leonhard (Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland) und Till Nagelschmidt (DRK Rettungs- und Einsatzdienste Düsseldorf gGmbH).
Marion Kiechle, Direktorin der Frauenklinik an der Technischen Universität München, übernimmt den Vorsitz im neu gegründeten Kuratorium des „Hospizhauses des Lebens“ des Vereins Hospizdienst DaSein in München. „Das Hospizhaus bündelt sämtliche Themen rund ums Sterben unter einem Dach“, sagt die Medizinerin. Sie sei von dem deutschlandweit einzigartigen Konzept „komplett überzeugt“. Weitere Mitglieder des Kuratoriums sind der evangelische Regionalbischof Christian Kopp, Münchens 3. Bürgermeisterin, Verena Dietl, und Adina Rath von der Stadtschülervertretung. Seit 2019 plant der ambulante Hospizverein DaSein den Bau eines Hospizzentrums in München. Derzeit stünden lediglich 28 Hospizbetten in der Landeshauptstadt zur Verfügung, die Wartelisten seien lang.
Noemi Staszewski wird für ihr außerordentliches Engagement in der Corona-Pandemie mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland geehrt. Die Leiterin und Mitbegründerin des „Treffpunkts“ der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Frankfurt am Main erhält die Auszeichnung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue in Berlin. Die Sozialpädagogin und Psychotherapeutin habe entscheidend dazu beigetragen, dass die Arbeit mit hochbetagten und häufig schwer traumatisierten Überlebenden der Schoah auch in der Pandemie weitergehen könne. Sie habe etwa einen Telefondienst ins Leben gerufen, der die Betroffenen aus ihrer Isolation heraushole und über den Hilfe im Alltag organisiert werden könne. In dem von ihr mitinitiierten Projekt „So schmeckt Shabbes“ bereiteten Ehrenamtliche Drei-Gänge-Menüs zu, die am Sabbat kostenlos an die Bedürftigen ausgeliefert werden.
Ilona Schuhmacher von der Evangelischen Jugend in Bayern (EJB) ist für weitere zwei Jahre im Amt der ehrenamtlichen Vizepräsidentin bestätigt worden. Sie ist bei der EJB als Referentin für Grundsatzfragen und Jugendpolitik, ist seit 2019 Vizepräsidentin des BJR. Neu in den Vorstand gewählt wurden Eva Schubert vom Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) in Bayern und Bezirksjugendsekretärin Svenja Thelen von der DGB-Jugend Bayern. Im Amt bestätigt wurden Maria Klimovskikh von JunOst Bayern, Christian Kuhnle von der Bayerischen Sportjugend (BSJ), Christian Löbel, Vorsitzender des Bezirksjugendrings Mittelfranken, Thomas Schwarz vom Landesjugendwerk der AWO Bayern und Sven Stumpf, bayerischer Geschäftsführer des Pfadfinderbunds Weltenbummler.
Johanna Schoener und Jeannette Otto erhalten für den Beitrag „Die Unsichtbaren“, der in der „Zeit“ erschien, den Medienpreis des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte. Zudem bekommt die Zeitung einen undotierten Sonderpreis für „engagierte Berichterstattung über Kinder im sozialen Abseits“. Die Auszeichnungen sind mit jeweils 5.000 Euro dotiert. In der Sparte Hörfunk erhält Niklas Schenk die Ehrung für seinen Beitrag „Du bist was wert“ (Bayerischer Rundfunk), in der Kategorie TV siegten Leonie Ahmadi und Simona Dürnberg (Norddeutscher Rundfunk) für ihr Stück „Generation Hartz IV - Kinder kämpfen für ihre Zukunft“.
Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, dies zu beachten.
12.-14.4.
Online-Kurs: „Grundlagen des Arbeitsrechts“
Tel.: 030/26309-139
13.4.:
Online-Seminar „Neue Impulse für Ihre Personalgewinnung - frische Ideen für Personalmarketing und Recruiting“
der Paritätischen Akademie Berlin
Tel.: 030/275828217
14.4.: Köln:
Seminar „Treasury in der Sozialwirtschaft - Finanzmittel bedarfsgerecht bereitstellen“
der BFS Service GmbH
Tel.: 0221/97356.159
15.4.:
Online-Seminar: „Gewinnung von Stiftenden und Hochvermögenden für Vorhaben in der Sozialwirtschaft“
der BFS Service GmbH
Tel.: 0221/97356-159
15.-16.4. Korntal:
Seminar „Selbstbestimmtes Wohnen im BTHG - Grundlagen, Anforderungen und Umsetzungsstrategien“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0172/3012819
15.-16.4.:
Online-Fortbildung: „Das operative Geschäft: Steuerung und Controlling in der Eingliederungshilfe“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0172/3012819
15.-16.4.:
Online-Seminar: „Selbstbestimmtes Wohnen im BTHG - Grundlagen, Anforderungen und Umsetzungsstrategien“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0172/3012819
19.-20.4. Hamburg:
Seminar „Implementierung von Peerarbeit in Organisationen und Teams der Sozialpsychiatrie“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0172/3012819
19.-20.4.:
Online-Seminar „Grundlagen mobiler Arbeit“
Tel.: 030/26309-139
21.4.:
Online-Seminar „Leistung zur Sozialen Teilhabe: Leistungskatalog und Entwicklung neuer Angebote“
des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge
Tel.: 030/62980-136
23.4.:
Online-Seminar „Die Leistungen der neuen Eingliederungshilfe“
der Paritätischen Akademie Berlin
Tel.: 030/275828224
26.-30.4. Frankfurt a.M.:
Online-Seminar „Moderations- und Leitungskompetenz für Konferenzen, Arbeitsteams und Projektgruppen“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/2001700
28.4.:
Online-Seminar: „Verständigungsbarrieren in niedrigschwelligen Settings überwinden“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0174/3473485