Kassel (epd). Bei ihren Angehörigen lebende erwerbsgeminderte und behinderte erwachsene Sozialhilfebezieher können trotz mietfreien Wohnens von der Sozialhilfe pauschale Unterkunftskosten erhalten. Der Sozialhilfeträger darf Betroffene nach dem Willen des Gesetzgebers nicht darauf verweisen, dass sie nur Anspruch auf die tatsächlich angefallenen Unterkunftskosten haben, urteilte am 23. März das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel. Auch dass die Angehörigen ihr Wohneigentum bereits abbezahlt haben, stehe dem Erhalt der Unterkunftskostenpauschale nicht entgegen, befand das Gericht.
Geklagt hat ein erwachsener, autistischer Mann aus Stuttgart, der mietfrei im Haus seiner Eltern lebt und ein 30 Quadratmeter großes Zimmer hat. Ein Mietvertrag mit den Eltern besteht nicht. Weil er in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeitet, verfügt er über keine wesentlichen Einkünfte und ist deshalb auf Sozialhilfeleistungen angewiesen. Von der Stadt Stuttgart verlangte er für den Zeitraum Juli bis Ende September 2017 die Übernahme pauschaler Unterkunftskosten und verwies auf eine gesetzliche Neuregelung.
Die Kommune lehnte das jedoch ab. Er lebe mietfrei bei seinen Eltern. Nach dem Bedarfsdeckungsgrundsatz könne die Sozialhilfe nur den konkreten Bedarf übernehmen. Damit habe er Anspruch auf die tatsächlich angefallenen Unterkunftskosten. Ab Juli 2017 seien das 19,40 Euro. Das Wohneigentum der Eltern sei bereits abbezahlt, so dass auch hier keine weiteren zu berücksichtigenden Unterkunftskosten anfielen, hieß es zur Begründung.
Dass der Sozialhilfeträger nur den tatsächlichen Bedarf und damit die nur wirklich angefallenen Unterkunftskosten übernehmen muss, habe das BSG bereits am 14. April 2011 entschieden, argumentierte die Stadt. Damals ging es um eine Klägerin mit einem Grad der Behinderung von 100, die ebenfalls ohne Mietvertrag bei ihren Eltern in einer Haushaltsgemeinschaft lebte.
Der Landkreis Cuxhaven entschied damals, dass keine tatsächlichen Unterkunftskosten angefallen seien und die Frau daher keine Zahlungen verlangen könne. Das BSG bestätigte diese Entscheidung und urteilte, dass die behinderte Frau nicht die Zahlung anteiliger Aufwendungen für Unterkunft und Heizung beanspruchen könne. Es seien keine tatsächlichen Aufwendungen angefallen, so das Gericht.
Laut Volker Rieger, Anwalt des Klägers im aktuellen Rechtsstreit, war eine Folge des Urteils, dass viele Familienmitglieder nun Mietverträge mit ihren behinderten Angehörigen schlossen, um so entstandene Mietaufwendungen belegen zu können. Gerichte hätten diese aber immer wieder als Scheinverträge gekippt, so der Jurist.
Als Reaktion auf das BSG-Urteil hatte der Gesetzgeber die Übernahme der Unterkunftskosten 2017 neu geregelt. Danach wird nicht mehr vorgeschrieben, dass erwerbsgeminderte oder in Grundsicherung im Alter befindliche Menschen bei einem mietfreien Wohnen bei Angehörigen nur die „tatsächlichen“ Unterkunftskosten von der Sozialhilfe erstattet bekommen. Im aktuellen Fall sprach das Sozialgericht Stuttgart daher dem autistischen Kläger eine Unterkunftskostenpauschale von monatlich 109,93 Euro zu.
Das bestätigte nun auch das BSG. Der Gesetzgeber habe zur Verwaltungsvereinfachung in solchen Fällen die Übernahme pauschaler Unterkunftskosten bestimmt. Das Gesetz gehe nicht mehr von den „tatsächlichen“ Unterkunftskosten aus.
Die nun eingeführte Pauschale richte sich nach den ortsüblichen angemessenen Unterkunftskosten. Um die im Streitfall bestimmen zu können, müsse die Differenz zwischen der Obergrenze der angemessenen Mietkosten für einen Drei-Personen-Haushalt in Stuttgart und der eines Zwei-Personen-Haushalts bestimmt werden. Der Differenzbetrag stelle dann die pauschalen Unterkunftskosten für den behinderten Menschen dar. Die Heiz- und Betriebskosten müssten gesondert berechnet werden, abhängig von der errechneten Unterkunftskostenpauschale und den tatsächlich angefallenen Heizkosten.
Die Stadt Stuttgart sei damit verpflichtet, monatlich pauschal 109,93 Euro zu zahlen. Es komme auch nicht darauf an, dass das Wohneigentum der Eltern bereits abbezahlt wurde. Der Gesetzgeber habe bewusst eine Pauschale zur Verwaltungsvereinfachung vorgesehen. „Dass im Einzelfall eine Bedarfsüberdeckung besteht, liegt im Wesen der Pauschale“, urteilte das BSG.
In einem weiteren Urteil entschied das BSG, dass Sozialhilfeträger bedürftigen Menschen nicht Leistungen versagen dürfen, nur weil sie keinen Wohngeldantrag gestellt haben. Betroffene hätten ein Wahlrecht, ob sie Wohngeld beziehen und damit aus dem ergänzenden Sozialhilfebezug herausfallen oder ob sie nur Sozialhilfe erhalten.
Der alleinige Sozialhilfebezug kann sich lohnen, wenn Sozialhilfebezieher Anspruch auf besondere Vergünstigungen haben, Wohngeldbezieher aber nicht. Im Streitfall wollte ein Altersrentner aus Berlin 2017 auf Wohngeld verzichten, um so ergänzende Sozialhilfe beanspruchen und damit auch den „Berlinpass“ erhalten zu können. Damals sah dieser für Sozialhilfe- aber nicht für Wohngeldbezieher zahlreiche Vergünstigungen vor, wie etwa verbilligte Monatskarten bei Bus und Bahn.
Das BSG urteilte, dass Sozialhilfeträger nicht zwingend erst einen Wohngeldantrag verlangen dürfen. Der im Sozialgesetzbuch festgeschriebene Nachrang der Sozialhilfe sei nur ein „Programmsatz“, der Betroffene nicht verpflichte, Leistungen wie hier das Wohngeld auch zu beantragen.
Az.: B 8 SO 14/19 R (BSG Unterkunftskostenpauschale)
Az.: B 8 SO 18/09 R (BSG tatsächliche Unterkunftskosten)
Az.: B 8 SO 2/20 R (BSG Wohngeldantrag)