Gas wird teurer und teurer, die Personalkosten in der Pflege steigen massiv an. Soziale Einrichtungen wie Kliniken, Pflege- und Behindertenheime geraten zunehmend unter Druck. Sozialverbände fordern ein Rettungspaket des Bundes - denn die soziale Infrastruktur dürfe nicht gefährdet werden. Besonders heikel ist die Lage in der Pflege, wo Pflegebedürftige höhere Eigenanteile zu bezahlen haben, warnen die Krankenkassen. DEVAP-Geschäftsführerin Anna Leonhardi erläutert im epd sozial-Interview, was zu tun wäre.
Warum nicht Bewährtes kopieren und einfach vervielfachen? Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) geht so vor. Bundesweit sollen 1.000 Gesundheitskioske nach dem Vorbild in Hamburg die medizinische Versorgung niedrigschwellig verbessern. Doch das Konzept von Minister Lauterbach ist nicht unumstritten - auch wegen der Finanzierung. Doch unabhängig davon steht fest: Die Idee ist gut und hat sich schon bewährt.
Werkstätten für behinderte Menschen stehen schon lange wegen der geringen Bezahlung ihrer Beschäftigten in der Kritik. In den sozialen Medien wurde nun eine Diskussion losgetreten. Unter dem Hashtag #IhrBeutetUnsAus klären Menschen, die in Werkstätten arbeiten, auf und machen ihrem Ärger Luft - vor allem über die schlechte Entlohnung. Hier gilt kein Mindestlohn, der Stundenverdienst liegt bei 1,50 Euro.
Mit dem Pfänden von Einkünften ist das so eine Sache. Da ist Geld eben nicht gleich Geld, wie jetzt eine Insolvenzverwalterin erfahren musste. Sie wollte bei einer überschuldeten Frau eine Corona-Prämie pfänden. Das ist jedoch nicht erlaubt, befand das Bundesarbeitsgericht. Das gilt dann, wenn die Prämie ein Bonus für die erschwerten Arbeitsbedingungen in der Pandemie darstellt und der „Rahmen des Üblichen“ nicht überstiegen wird.
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Dirk Baas
Berlin (epd). Mehrere führende Sozialverbände fordern von der Bundesregierung einen Energiekosten-Rettungsschirm für Pflege- und Behinderteneinrichtungen sowie andere soziale Dienste. Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa appellierte am 29. August an die Koalitionspartner, die Forderung des Patientenbeauftragten, Stefan Schwartze (SPD), nach finanziellen Hilfen für soziale Einrichtungen in das kommende Entlastungspaket aufzunehmen.
„Wir begrüßen die Forderung des Patientenbeauftragten nach einem Rettungsschirm für medizinische Einrichtungen, die wegen der hohen Energiekosten in eine finanzielle Notlage geraten. Auch die Einrichtungen der Arbeiterwohlfahrt im Bildungs- und Sozialwesen sowie in der Pflege sind von der derzeitigen Energiekrise betroffen“, sagte Brigitte Döcker, Vorstand der Arbeiterwohlfahrt (AWO), dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Sie verwies darauf, dass freigemeinnützige Träger keine Rücklagen bilden dürfen, sie haben also keinen Puffer und können die Kostensteigerungen durch steigende Energiepreise allein nicht stemmen. „Ohne Eingreifen der Bundesregierung droht hier eine weitere Erhöhung der Eigenanteile in Pflegeeinrichtungen, weil die Kosten irgendwie gedeckt werden müssen“, so Döcker. Das aber sei für die meisten Pflegebedürftigen in Einrichtungen schlicht nicht zu schultern und müsse unbedingt verhindert werden.
„Es ist aber nicht Aufgabe der Sozialversicherungen, das aufzufangen. Der richtige Weg wäre also, Einrichtungen, denen wegen der gestiegenen Energiepreise finanzielle Zusatzbelastungen entstehen, aus Steuermitteln zu unterstützen“, sagte die Vorständin. Gesundheit und Pflege seien eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe - hier sei Solidarität gefragt: „Dazu sollte es alsbald eine Verständigung geben.“
„Wir müssen verhindern, dass wegen der hohen Energiekosten wichtige medizinische Infrastruktur auf der Strecke bleibt“, hatte Schwartz am 27. August dem „Westfalen-Blatt“ gesagt: „Ganz viele Einrichtungen wenden sich an mich, weil sie die massiv erhöhten Energiepreise nicht mehr bezahlen können, da geht es um Erhöhungen um ein Zehnfaches. Das gefährdet Einrichtungen im Gesundheits- und Sozialbereich massiv.“
Die Caritas begrüßte den Vorschlag. Präsidentin Eva Welskop-Deffaa sagte am 29. August: „Die Krisenresilienz der sozialen Infrastruktur ist eine der wesentlichen Aufgaben, an denen gute Politik heute gemessen wird.“ Zu einem Sozialstaat gehörten funktionstüchtige Hilfseinrichtungen. „Damit sie in der Lage sind, ihre Arbeit zu tun, müssen sie in Krisen abgesichert sein. Es braucht in allen Sozialgesetzbüchern Bestimmungen, um krisenbedingt höhere Kosten geltend machen zu können - einen Schutzschirm ohne Löcher“, so die Präsidentin.
Auch das Deutsche Rote Kreuz (DRK) hofft auf Hilfe des Staates. „Jetzt ist rasches Handeln der Bundesregierung gefragt: Die Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrtspflege sind systemrelevant, denn sie sind unverzichtbar für unsere Gesellschaft. Sie brauchen dringend einen Rettungsschirm in Form eines Sonderfonds“, sagte Präsidentin Gerd Hasselfeldt dem epd. Denn soziale, medizinische sowie pflegerische Dienste hätten kaum eine Chance, sich aus eigener Kraft am Kapitalmarkt finanziell zu versorgen. „Wenn nicht bald politische Schritte eingeleitet werden, ist die Schließung mancher sozialen Einrichtungen nicht zu vermeiden - mit all den Konsequenzen für hilfsbedürftige Menschen“, so die DRK-Chefin.
Auch der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) unterstützte den Vorschlag, einen Schutzschirm über soziale Dienstleister zu spannen. Präsident Bernd Meurer sagte, der Patientenbeauftragte habe erkannt, wie dramatisch die Situation für Pflege- und Eingliederungshilfeeinrichtungen sowie weitere soziale Institutionen ist. „Die Energiepreise erreichen einen Höchststand nach dem nächsten und die Kosten der Einrichtungen schnellen in die Höhe.“ Die dramatische Entwicklung bei den Energiekosten bedroht laut Meurer inzwischen die pflegerische Versorgung, weil die Kosten nicht angemessen erstattet werden: „Die Einrichtungen mit einem Energiekosten-Rettungsschirm zu stützen, ist der einzig sinnvolle und gute Weg.“
Meurer schlug vor, dass die Pflege- und Eingliederungshilfeeinrichtungen während der besonders herausfordernden Phase der Energiekrise vorübergehend höhere Abschläge ihrer Energieversorger direkt bei den Kostenträgern geltend machen können und diese Mehrkosten umgehend erstattet bekommen. "Eine solche Direkterstattung der Energiemehrkosten würde schnell helfen und keine finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen mit sich bringen.
Die Politik sieht sich jedoch offenbar (noch) nicht in der Pflicht, finanziell zu helfen. Das zumindest musste die Diakonie in Bayern jüngst erfahren. Ein Sprecher der Staatsregierung hatte auf Anfrage erklärt, dass aufgrund der „volatilen Entwicklung“, also der andauernden Schwankungen, momentan nicht konkret absehbar sei, wie sich die Situation der Energieversorgung in den nächsten Monaten entwickele. Auch die Bedarfe der sozialen Einrichtungen seien nicht konkret prognostizierbar. Zudem sei der Bund zuständig, hieß es.
Dem widersprach Diakonie-Präsidentin Sabine Weingärtner: „Die Energieversorger haben längst Fakten geschaffen.“ Und: In erster Linie sei nicht der Bund dafür zuständig, soziale Einrichtungen im Freistaat vor der Schließung zu bewahren.
Berlin (epd). Klar ist: Die Pflege braucht mehr Geld, viel mehr Geld. Sagt Anna Leonhardi. Aber sie sagt auch: „Das hilft nicht, wenn die überholten Strukturen einfach beibehalten werden. Wir fordern eine grundlegende Struktur- und Finanzreform.“ Dann, so die Expertin, ließen sich die Kostensteigerungen bewältigen - und die Bewohner der Heime finanziell entlasten. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Mehrere Sozialverbände rufen die Bundesregierung auf, wegen der steigenden Energiekosten einen Rettungsschirm über soziale Einrichtungen zu spannen. Wie bewertet Ihr Verband dieses Anliegen?
Anna Leonhardi: Das kann man nur unterstützen. Wir brauchen diesen Schutzschirm, denn niemand weiß, was der Winter noch für weitere Energiekosten bringt. Und auch die Vorgaben des neuen Infektionsschutzgesetzes erhöhen die Kosten. All das setzt die Pflegeheime unter großen Druck. Da wäre ein Rettungsschirm gut, der hilft, die soziale Infrastruktur abzusichern.
epd: Aber auch die Personalkosten der Heime steigen...
Leonhardi: Ja. Auch die höheren Personalkosten seit dem 1. September können dazu führen, dass die Eigenanteile für Heimbewohnerinnen und -bewohner deutlich steigen. Uns verwundert allerdings, dass erst jetzt die eklatant steigenden Kosten auffallen. Das ist schon lange bekannt, die unerwarteten Folgen der Gasumlage und die Inflation kommen noch oben drauf und verschärfen die Lage. Hier ist die Bundesregierung gefordert, und zwar nicht nur, um die derzeit hohen Energiekosten auszugleichen, sondern um die Pflege grundsätzlich zu reformieren. Das fordern wir als Verband schon seit Jahren, passiert ist jedoch nicht viel.
epd: Sie meinen die Folgen der neuen Tariftreue-Regelungen, wonach nur die Träger von der Pflegekasse refinanziert werden, die nach Tarif bezahlen?
Leonhardi: Ja. Doch diese Vorgaben sind für uns konfessionelle Anbieter nicht so dramatisch wie für die privaten Träger, denn wir bezahlen ja längst gute Tarife. Aber die neuen, so nicht vorhersehbaren Teuerungen treffen uns sehr wohl.
epd: Welche Teuerungen sind da zu erwarten?
Leonhardi: Eines unserer großen Mitglieder berichtet von einer Sachkostensteigerung im Bereich Energie von 300 Prozent, im Bereich Lebensmittel von 15 Prozent und bei den Personalkosten nach dem neuen Tarifabschluss 2022/2023 von neun bis 13 Prozent. Da muss man nicht gut rechnen können um zu sehen, dass es zwingend eine deutlich höhere und vor allem schnelle und verlässliche Refinanzierung braucht. Unsere Mitglieder melden uns jedoch sehr schleppende Verhandlungen mit den Kostenträgern, um das mal milde zu formulieren. Die tatsächlichen Steigerungen der Sachkosten müssen berücksichtigt werden - wenn es denn überhaupt zu schnellen Verhandlungen kommt.
epd: Warum ist das so schwierig? Es gibt doch die rechtlich abgesicherte Möglichkeit, bestehende Versorgungsverträge unter bestimmten Bedingungen zu kündigen?
Leonhardi: Willkommen in der nicht funktionierenden Selbstverwaltung. Aber im Ernst. Der Bundesgesundheitsminister hat einen Brief an die Pflegekassen geschrieben. Er enthält die Bitte, die Verhandlungen mit Blick auf alle Kostensteigerungen zügig zu einem guten Ende für alle Beteiligten zu bringen. Das sagt schon viel über den Föderalismus aus. Der Effekt war gleich null. Hier braucht es eine Bundesgesetzgebung. Die Versorgungsverantwortung liegt nämlich nicht nur bei den Leistungserbringern, sondern auch bei den Leistungsträgern. Wir haben einen gemeinsamen Versorgungsauftrag, und den muss man auch per Gesetz durchsetzen.
epd: Ich meinte das Recht, bei besonderen Vorkommnissen jederzeit laufende Verträge neu zu verhandeln.
Leonhardi: Ja stimmt. Das regelt das Sozialgesetzbuch XI in Paragraf 85. Danach kann unter bestimmten Voraussetzungen über die Pflegesätze nachverhandelt werden.
epd: Aber?
Leonhardi: Ich habe von Mitgliedern, die seit über 30 Jahren im Job sind, gehört, dass es noch nie vorgekommen sei, dass die Pflegekassen auf ein solches Anliegen reagieren. Und ad hoc hilft das womöglich auch nicht, denn die Verträge laufen immer mindestens ein Jahr. Und wenn ich gerade vor wenigen Wochen einen neuen Vertrag verhandelt habe, dann kann ich fast ein Jahr lang nichts mehr machen, um die Kosten aufzufangen.
epd: Es gibt die Forderung nach Einrichtung eines Sondervermögens für die Pflege, also nach dem Vorbild der besseren Ausstattung der Bundeswehr. Würde das helfen?
Leonhardi: Wir fordern eine Finanz- und Strukturreform. Ein „Weiter so“ ist nicht zielführend. Die Pflege ist jetzt gefordert, Veränderungsprozesse anzustoßen. Eine qualitativ hochwertige und bezahlbare Versorgung in allen Bereichen der Pflege muss erklärtes Ziel sein. Daher fordern wir eine grundständige Finanz- und Strukturreform in unserem Strategiepapier 2021-2025, die dem Armutsrisiko Pflege entschieden entgegentritt, und treten für gleichwertige Lebensverhältnisse ein.
epd: Was ist unmittelbar zu tun?
Leonhardi: Wir brauchen Leistungszuschläge zu den Eigenanteilen, die angehoben werden. Auch die Dynamisierung des Pflegegeldes ab Januar 2023 muss bereits jetzt umgesetzt werden. Das sind übrigens alles von der Bundesregierung angekündigte Maßnahmen, wie auch zum Beispiel die Ausbildungsumlage, die aus den Eigenanteilen der Bewohner rausgenommen werden soll. Das alles würde schon helfen, den Heimen etwas Luft zu verschaffen. Eine Abkehr von der Stückwerk-Politik der vergangenen Legislaturperioden ist entscheidend.
epd: Was ist langfristig an Reformen nötig?
Leonhardi: Es hilft nicht, viel Geld in die Pflege zu stecken und die überholten Strukturen einfach beizubehalten. Wir fordern eine grundlegende Struktur- und Finanzreform. Wir haben ein völlig unübersichtliches System geschaffen, von Mini-Reform zu Mini-Reform. So kann es nicht weitergehen. Da geht es auch um die Frage, wie wir gesamtgesellschaftlich künftig pflegen wollen. Und wie viel Geld das kostet. Wir müssen endlich mal anfangen, diese Fragen zu diskutieren. Das ist eine Aufgabe, die weit über die jetzige Legislatur hinausgeht. Und dabei muss im Kern geklärt werden, wie die Eigenanteile der Heimbewohnerinnen und -bewohner gedeckelt werden können. Und auch auf welcher Höhe, damit Pflege planbar wird.
Berlin (epd). Zum Start der bundesweiten Tariflohnpflicht in der Altenpflege warnen die gesetzlichen Krankenkassen und der Deutsche Pflegerat vor den Folgen für Pflegebedürftige. „Die gesetzlichen Vorgaben sind so, dass die nun entstehenden Mehrkosten am Ende von den Pflegebedürftigen über höhere Eigenanteile bezahlt werden müssen“, sagte der stellvertretende Vorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Gernot Kiefer, dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ am 1. September: „Das sollte der Gesetzgeber dringend ändern.“ Pflegerats-Präsidentin Christine Vogler kritisierte im rbb24 Inforadio, dass die Gegenfinanzierung fehle und bis jetzt nicht klar sei, wo das Geld für die Löhne herkomme.
Das Bundesgesundheitsministerium indes verwies zum Start der Tariflohnpflicht zum 1. September auf die seit Januar geltenden Zuschüsse bei den Eigenanteilen in Pflegeheimen und eine Erhöhung der Leistungsbeiträge in der ambulanten Pflege. Zudem seien die Pflegekassen verpflichtet, die steigenden Lohnaufwendungen bei der Vergütung von Pflegeleistungen zu berücksichtigen.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sagte: „Die Löhne der Pflegekräfte in den Heimen steigen erheblich, und das ist gewollt.“ Das sei ein später Dank für alle aktiven Pflegekräfte und ein gutes Zeichen an alle, die diesen wichtigen und erfüllenden Beruf ergreifen wollten. „Die Gesellschaft muss diese Leistung besser honorieren“, erklärte Lauterbach.
Der Deutsche Pflegerat begrüßte zwar, dass Beschäftigte in der Altenpflege ab sofort Anspruch auf Löhne in Tarifhöhe haben, warnte aber auch vor negativen Folgen. Verbandspräsidentin Vogler sagte im rbb24 Inforadio, die Zusage, alle Lohnerhöhungen würden von den Pflegekassen finanziert, werde derzeit nicht gehalten. In der Folge würden die Heimbewohner finanziell belastet. „Da gibt es eine soziale Ungerechtigkeit“, sagte sie.
Der Arbeitgeberverband der privaten Pflege-Unternehmen warnte gar vor einem „Kosten-Tsunami für die Pflegebedürftigen und ihre Familien“. Verbandspräsident Thomas Greiner forderte, Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) müsse sich bei der Finanzierung der Eigenanteile bewegen.
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, erklärte in Dortmund: „Hier türmt sich eine große Welle auf.“ Die mehr als 20-prozentige Lohnerhöhung in der Altenpflege schlage mit der Inflation und den steigenden Energiepreisen auf die Eigenanteile der Pflegebedürftigen durch.
Die aktuelle Situation zeige, dass das geltende Finanzierungsmodell der Pflege überholt sei. Der Patientenschützer forderte, „die Pflegeversicherung muss zur Teilkasko-Versicherung werden. So wüssten Versicherte und Pflegebedürftige von Anfang an, welcher Eigenanteil zu leisten ist.“
Diakonie-Vorständin Maria Loheide sagte, steigende Löhne und steigende Energie- und Lebensmittelpreise würden weiter zu deutlich höheren Eigenanteilen für Pflegebedürftige in Pflegeheimen führen. „Wenn nicht endlich eine grundlegende Pflegereform kommt, steht das Pflegesystem absehbar vor einem Kollaps. Die Pflegeversicherung braucht eine Kompletterneuerung“, sagte Loheide.
Die Kosten für die Pflegebedürftigen müssten begrenzt werden. „Familien von pflegebedürftigen Menschen benötigen zudem eine spürbare Entlastung. Dazu ist ein sinnvolles Konzept zur Verzahnung von ambulanten und stationären Angeboten notwendig.“ Die Diakonie habe dazu bereits ein Konzept vorgelegt. Loheide appellierte an Bundesgesundheitsminister Lauterbach, ein Konzept für eine grundlegende Pflegereform vorzulegen.
„Bald werden Heimbewohner 4.000 Euro und mehr im Monat selbst bezahlen müssen“, sagte Bernhard Schneider, Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung in Stuttgart. Er fordert deshalb ein sofortiges Entlastungspaket: eine Begrenzung der pflegebedingten Eigenanteile durch den Bund und ein monatliches Pflegewohngeld vom Land für jeden Heimbewohner.
„Familien, Rentner, Studierende, Geringverdiener: für alle soll es Entlastungspakete geben“, sagt Bernhard Schneider, Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung, „doch die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen hat niemand auf dem Schirm, auch nicht der zuständige Minister Lauterbach“. Dabei treffe es die Pflege bei den Kostensteigerungen besonders hart.
Für 2023 rechnet er mit einer Personalkostensteigerung von acht Prozent, bei den Energiekosten von 35 Prozent und bei Lebensmitteln um 15 Prozent. Dadurch erhöhen sich laut Schneider die Eigenanteile im Schnitt um 300 Euro auf durchschnittlich 3.600 Euro im Monat.
Der Bundestag hatte im vergangenen Jahr ein Gesetz verabschiedet, wonach ab September an nur noch solche Einrichtungen mit der Pflegekasse abrechnen können, die Tariflöhne, Vergütungen nach dem kirchlichen Arbeitsrecht oder Löhne mindestens in gleicher Höhe bezahlen. Von den rund 1,2 Millionen Pflegekräften wurden damals nur etwa die Hälfte nach Tarif bezahlt.
Seit 1. September müssen Beschäftigte in der Altenpflege bundesweit nach Tarif bezahlt werden. Damit könnten die Gehälter von Pflegekräften nach Expertenmeinungen um bis zu 30 Prozent steigen.
Hannover (epd). Niedersachsen will gemeinsam mit Schleswig-Holstein und weiteren Bundesländern eine Bundesratsinitiative auf den Weg bringen, die Pflegebedürftige von steigenden Kosten entlasten soll. Gestiegene Energiepreise infolge des Ukraine-Krieges sowie die zum 1. September in Kraft tretende gesetzlich verankerte „Tariftreueregelung“ führten zu massiven Kostenerhöhungen, erläuterte Niedersachsens Gesundheitsministerin Daniela Behrens (SPD) am 26. August in Hannover. Die Tariftreueregelung verpflichtet Anbieter von Pflegeleistungen unter anderem, ihre Beschäftigten künftig nach Tarif zu bezahlen.
Viele Pflegebedürftige erhielten derzeit Bescheide, wonach sie künftig deutlich mehr für ihre in Anspruch genommenen Leistungen zahlen sollen, sagte Behrens: „Wir müssen die Betroffenen vor dieser Kostenexplosion schützen.“ Die erhöhten Aufwendungen würden nur zum Teil durch Mittel der Pflegekassen finanziert, da es sich bei der Pflegeversicherung um eine Teilkaskoversicherung handele. Mit dem Länderantrag wolle Niedersachsen eine bessere Berechenbarkeit und eine Begrenzung der Eigenanteile in der Pflege erreichen.
Im Detail sieht die Initiative vor, den Zuschuss für die Pflegekosten auf bis zu 70 Prozent gegenüber bislang maximal 45 Prozent anzuheben. Zudem sollen das Pflegegeld und der Entlastungsbetrag rückwirkend zum 1. Januar 2022 um mindestens fünf Prozent angehoben werden. Pflegesachleistungen in der ambulanten Pflege und die Leistungsbeträge in der teilstationärer und Kurzzeitpflege sollen zum 1. Januar 2023 an die Kostensprünge des Vorjahres angepasst werden.
Aufgrund der Dringlichkeit solle der Beschluss umgehend im Umlaufverfahren zwischen den Ländern und damit deutlich vor der nächsten Arbeits- und Sozialministerkonferenz im Oktober gefasst werden, hieß es aus dem niedersächsischen Gesundheitsministerium.
Hamburg, Berlin (epd). In Deutschland sollen 1.000 Gesundheitskioske entstehen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) stellte am 31. August beim Besuch des Gesundheitskiosks Hamburg-Billstedt dazu eine Gesetzesinitiative vor. Die niedrigschwelligen Beratungsangebote zu gesundheitlichen Themen und einfache Behandlungsangebote wie etwa das Blutdruckmessen sollen nach Angaben des Ministeriums bundesweit speziell in sozial benachteiligten Regionen aufgebaut werden.
Weder Geldbeutel noch Wohnort dürften über die ärztliche Behandlung von Patientinnen und Patienten entscheiden, sagte Lauterbach in der Hansestadt. Auch in strukturell schwachen Gebieten sollten alle Menschen die Möglichkeit haben, schnell und kompetent in Gesundheitsfragen beraten zu werden und unbürokratisch Hilfe zu erhalten. „Gesundheitskioske können dabei einen entscheidenden Unterschied machen“, sagte der Minister. Sie hätten eine Lotsenfunktion.
Gesundheitskioske sollen medizinische Behandlungen vermitteln, Behandlungen koordinieren und Menschen an die Themen Prävention und Gesundheitsförderung heranführen. Ferner sollen dort einfache medizinische Routineaufgaben wie etwa Blutdruck und Blutzucker gemessen werden, Verbandswechsel und Wundversorgung erledigt werden und subkutane Injektionen gegeben werden, veranlasst von Ärztinnen und Ärzten.
Initiieren sollen die Anlaufstellen den Angaben zufolge die Kommunen. Die Finanzierung ist wie folgt aufgeteilt: Die gesetzliche Krankenversicherung wird 74,5 Prozent der Gesamtkosten, die private Krankenversicherung 5,5 Prozent und die Kommunen 20 Prozent der Gesamtkosten tragen.
Der erste Gesundheitskiosk in Deutschland entstand 2017 für die Hamburger Stadtteile Billstedt und Horn. Er startete laut der AOK Rheinland/Hamburg mit einem durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses geförderten Projekts. Ziel war der Aufbau eines regionalen, integrierten Gesundheitsnetzwerks mit Fokus auf Prävention, Gesundheitsförderung und -erhaltung.
Der Gesundheitskiosk als Herzstück des Netzwerks bildet demnach eine wichtige organisatorische Schnittstelle zwischen der medizinischen Versorgung und dem Sozialraum. Eine Evaluation des Hamburg Center for Health Economics (HCHE) der Universität Hamburg aus dem Jahr 2021 belegt, dass der Gesundheitskiosk einen verbesserten Zugang zur Versorgung schafft und zur Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten sowie zur Entlastung der Ärzteschaft beiträgt.
Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK Bundesverbandes, begrüßte zwar das Konzept. Doch die überwiegende Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen sei nicht machbar: „Für die Kosten, die von der GKV zu übernehmen wären, müsste zumindest eine Refinanzierungsoption aufgezeigt werden.“ Mindestens die Hälfte der benötigten Mittel müssten von der öffentlichen Hand aufgebracht werden. „Eine Beteiligung der Kommunen von 20 Prozent, wie in den Eckpunkten vorgesehen, reicht nicht aus“, so Reimann.
Dass sich andere Sozialleistungsträger beteiligen, sollte zudem ebenfalls verbindlich festgelegt werden. Unklar bleibe ihr auch, warum der Anteil der PKV auf lediglich 5,5 Prozent begrenzt bleibt. „Der Gesundheitskiosk, der medizinische und soziale Versorgungsbedarfe der Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen in den Blick nimmt, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, sagte Reimann.
Grundsätzliche Kritik an dem inhaltlichen Konzept äußerte Reimann auch: Grundsätzlich sei es nicht zielführend, Gesundheitskioske so eng an die Primärversorgung der ambulanten Versorgung anzubinden. „Wenn der Gesundheitskiosk primär als Verlängerung der Arztpraxis angesehen wird und auf deren Veranlassung tätig wird, gefährdet dies den niedrigschwelligen Zugang.“ Im Kiosk sollten medizinische Routineaufgaben wie Blutdruckmessen nicht im Vordergrund stehen.
Berlin (epd). Ein Zusammenschluss zahlreicher Verkehrs- und Umweltverbände sowie von Kirchen dringt auf eine rasche Anschlusslösung für das am 31. August beendete 9-Euro-Ticket. Das Bündnis sprach sich am 30. August für eine bundesweit einheitliche Anschlussregelung, einen umfangreichen Ausbau der Infrastruktur und eine solide Finanzierung aus.
Zu dem zivilgesellschaftlichen Bündnis Sozialverträgliche Mobilitätswende gehören der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die IG Metall, ver.di, die Sozialverbände SoVD, VdK und AWO, die Umwelt- und Verkehrsverbände Nabu, BUND und VCD sowie die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD).
Gerade armen Menschen sei über den Sommer der Zugang zu Mobilität ermöglicht worden, hieß es. Dies zeige, welches Potenzial ein attraktiver Tarif für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) und damit für eine dringend nötige Mobilitätswende habe, argumentieren die Verbände.
Zuvor hatten die Verkehrsminister der Länder und der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) gemeinsam neben einer Anschlusslösung für das 9-Euro-Ticket langfristige Finanzierungszusagen des Bundes für einen zukunftsfähigen ÖPNV gefordert. „Wir brauchen auch Investitionen in die Qualität“, sagte am 29. August bei einer Video-Pressekonferenz Bremens Mobilitätssenatorin Maike Schaefer (Grüne), amtierende Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz der Länder. Am 31. August endete das vom Bund finanzierte 9-Euro-Ticket im Regionalverkehr.
Laut den Zwischenergebnissen einer VDV-Studie mit wöchentlich 6.000 Interviews hat es durch das 9-Euro-Ticket Verlagerungseffekte vom Pkw zum ÖPNV gegeben. Demnach haben zehn Prozent der Fahrten mit dem Ticket eine Fahrt ersetzt, die sonst mit dem Auto unternommen worden wäre. Die Verantwortung für eine Nachfolgeregelung für das Ticket sieht Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) allerdings vorrangig bei den Ländern.
Schaefer sagte, der Bund müsse die Förderung der Regionen künftig kräftig aufstocken, damit der ÖPNV in strukturschwachen Gebieten attraktiver und zuverlässiger werde. Die Senatorin forderte vom Bund konkrete Vorschläge, wie eine Anschlusslösung an das 9-Euro-Ticket ausgestaltet und finanziert werden könne.
VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff hob besonders die Klimawirkung eines attraktiven ÖPNV-Angebotes hervor. Auf Grundlage der vom Pkw auf Busse und Bahnen verlagerten Fahrten habe das 9-Euro-Ticket rund 1,8 Millionen Tonnen CO2 eingespart: „Drei Monate 9-Euro-Ticket haben etwa so viel CO2 eingespart, wie ein Jahr Tempolimit auf Autobahnen bringen würde.“ Es habe also nicht nur die Bürgerinnen und Bürger finanziell entlastet, sondern auch eine eindeutig positive Wirkung für das Klima.
Insgesamt wurden den Angaben zufolge während des Aktionszeitraumes von Juni bis August 52 Millionen 9-Euro-Tickets verkauft. Dazu nutzten rund zehn Millionen reguläre ÖPNV-Abonnenten das Angebot.
In einer repräsentativen Umfrage hatten der VDV, die Deutsche Bahn und das Markt- und Meinungsforschungsinstitut Forsa während des Aktionszeitraumes insgesamt 78.000 Personen befragt. Dabei zeigte sich, dass der günstige Anschaffungspreis für 56 Prozent der Befragten das Hauptargument für den Kauf war. Immerhin 43 Prozent nannten den Verzicht auf Autofahrten als Kaufgrund. Auch die Flexibilität sowie die bundesweite Gültigkeit wurden als Kaufargumente genannt.
Amira Mohamed Ali, Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, sagte: „Wir fordern eine Verlängerung des 9-Euro-Tickets bis mindestens Jahresende.“ Der Bund müsse die Länder hierbei unterstützen. „Bundeskanzler Scholz ist jetzt gefragt, gegenüber Finanzminister Lindner, der die Länder im Regen stehen lassen will, ein Machtwort zu sprechen.“
Aus der SPD-Fraktion wurde am 29. August ein konkreter Vorschlag bekannt. Sie will ein Ticket für 49 Euro monatlich einführen, wie aus einem Beschlussentwurf für die Klausur der Fraktion am Ende der Woche hervorgeht. Das solle jeweils zur Hälfte von Bund und Ländern getragen werden, heißt es darin.
„Schluss mit dem Tarifdschungel. Länder und Bund müssen sich im Rahmen des 3. Entlastungspaketes so schnell wie möglich auf eine Nachfolgeregelung für das 9-Euro-Ticket verständigen“, forderte Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa in Berlin: „Soziale Teilhabepolitik und Klimaschutz - das zeigt der sommerliche Feldversuch - gehen gemeinsam.“
Sie warb für ein Jahresticket für 365 Euro, bzw. Monatsticket für 29 Euro für alle und kostenlos für Menschen mit niedrigen Einkommen. „Innovative Mobilitätspolitik ist soziale Teilhabe- und erfolgreiche Klimapolitik, die nachhaltig von Bund und Ländern gemeinsam abgesichert werden muss“, betonte die Caritas-Präsidentin.
VdK-Präsidentin Verena Bentele erklärte am 30. August in Berlin, eine Nachfolgelösung für das 9-Euro-Ticket müsse schnell gefunden werden. „Günstig, unkompliziert und bundesweit einheitlich - sollte das neue Ticket sein. So bleiben viele Menschen - trotz hoher Inflation - weiterhin klimafreundlich mobil.“ Die Vorschläge zu einem 49-Euro-Ticket seien ein guter Anfang.
„Allerdings reicht der derzeitige Regelsatz in der Grundsicherung und bei Hartz-IV nicht für ein 49-Euro-Ticket aus. Menschen mit wenig Geld müssen weiterhin mobil sein können, das muss auch im neuen Bürgergeld berücksichtigt werden“, so die Präsidentin.
Templin, Berlin (epd). In Berlin aufgewachsen, kaum etwas anderes gesehen als die Hauptstadt. So geht es vielen Kindern aus armen Familien. Auf Twitter berichtet Fabian Schmidt über eine Reise mit seinem Sohn an die Ostsee. Möglich gemacht hat sie das 9-Euro-Ticket. „Er war begeistert von den Wellen“, schreibt er. Auf seinen Tweet erhält der Sozialarbeiter mehr als 14.000 Likes und bringt eine Diskussion darüber ins Rollen, inwieweit das 9-Euro-Ticket einen Beitrag zur sozialen Teilhabe leistet.
Eine weitere Nutzerin schreibt: „Ich konnte mir problemlos eine Zugfahrt zu meiner erkrankten Mutter leisten. Zu dem Zeitpunkt verstarb mein Großvater, die Anreise zur Beerdigung habe ich auch mit dem Ticket machen können.“ Zwei Beispiele von vielen, die zeigen, wie wichtig bezahlbare Angebote in Bussen und Bahnen sind, damit Menschen am Rande der Gesellschaft mobil sind oder es werden können.
In Templin in der Uckermark gibt es seit 25 Jahren einen komplett kostenlosen ÖPNV. Bürgermeister Detlef Tabbert (Die Linke) sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Im Jahr 1997 hatten wir nur 30.000 Nutzer jährlich und überlegten, den ÖPNV komplett abzuschaffen. Da wir aber ein Kurort sind und viele Touristen haben, beschlossen wir stattdessen, ihn kostenlos zu machen.“
Innerhalb von vier Jahren stieg die Zahl der Fahrgäste von 30.000 auf 600.000 an. „Das hatte zwei Nachteile: Es war kaum noch finanzierbar und die Qualität nahm immer weiter ab. Wir mussten gegensteuern“, sagt Tabbert. Die Lösung war ein preiswertes, unkompliziertes Angebot in Kombination mit einem guten Ausbau des ÖPNV. Die Karte beinhaltet außerdem Vergünstigungen für Museen und Freizeiteinrichtungen und ist leicht übertragbar. Seit 15 Jahren gibt es in Templin die „Kurkarte“. Kosten des Jahrestickets: 44 Euro.
„Ein großer Vorteil ist, dass wir kaum noch bürokratischen Aufwand haben“, sagt der Bürgermeister. So kann Geld, das sonst für Kontrolleure und Fahrscheine ausgegeben wird, in den Ausbau der Infrastruktur investiert werden. „Viele Senioren sagen: Wir haben dieses Ticket von unseren Kindern geschenkt bekommen, das nutzen wir jetzt auch.“ Das günstige Ticket trage zur sozialen Teilhabe bei. Für Tabbert ist außerdem entscheidend: „So viele Leute wie möglich sollen den Bus nutzen, so wenige wie möglich das Auto.“
Studien zum aktuellen 9-Euro-Ticket zeigten in den vergangenen drei Monaten allerdings: Die Menschen lassen das Auto nicht sehr viel öfter stehen. Das Angebot hat also seinen ursprünglichen Zweck nur teilweise erfüllt. Doch hat das Ticket, wie Untersuchungen ergeben haben, eine andere positive Wirkung: Besonders für Menschen, die am Existenzminimum leben, wie Azubis, Studierende, Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger, Rentnerinnen und Rentner und Arbeitslose bedeutet es eine deutliche Steigerung der Lebensqualität.
Auch in der Berlin sieht man die Vorteile des günstigen Angebots. Die Berliner Verkehrssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) plant eine Übergangsregelung, möglichst gemeinsam mit Brandenburg. Sozialpolitisch und verkehrspolitisch sei ein Billigticket aber nur nachhaltig, wenn es dauerhaft installiert werde. Deshalb plane Berlin eine Brückenlösung für Oktober, November und Dezember. Vom Bund sei nichts zu erwarten, was vor Januar in Kraft treten werde.
Berlin (epd). Ein Bündnis von Sozial- und Klimaschutzverbänden erwartet vom dritten Entlastungspaket der Bundesregierung zielgenaue Hilfen für ärmere Menschen. Neue Entlastungen müssten zudem eine ökologische Steuerungswirkung haben, forderten der Deutsche Caritasverband und die Klima Allianz Deutschland am 1. September in Berlin.
Sie stellten gemeinsam eine Studie vor, wonach ein höherer Heizkostenzuschuss für Wohngeld-Empfänger, ein bundesweites, günstiges Nahverkehrsticket und ein Mobilitätsgeld anstelle der Pendlerpauschale den Forderungen gerecht würden. Die Bundesregierung will in Kürze ein drittes Maßnahmenpaket vorstellen, das die Auswirkungen von Inflation und Energiekrise abmildern soll.
Der Studie des DIW Econ zufolge ist ein Heizkostenzuschuss für Haushalte mit geringen Einkommen leichter umzusetzen, zielgenauer und nicht mit so hohen Staatsausgaben verbunden wie ein Gaspreisdeckel. Ein solcher Zuschuss setze dort an, wo die Not jetzt am größten sei, erklärte die Präsidentin des Caritasverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa. In diesem Winter müssten außerdem Strom- und Gassperren für überschuldete Haushalte ausgesetzt werden, forderte sie.
Die Regierung plant einen höheren Zuschuss für Heizkosten und eine Ausweitung der unterstützungsberechtigten Haushalte im Rahmen einer Wohngeldreform Anfang 2023. Ein Preisdeckel für einen Grundbedarf an Gas ist in Teilen der Koalition aber ebenfalls im Gespräch.
Die Wissenschaftler vom DIW Econ, einem Tochterunternehmen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, haben auf Grundlage der Gaspreise vom Juni errechnet, dass ein Ausgleich der Preissteigerungen für die rund 600.000 Haushalte, denen Wohngeld gezahlt wird, den Bund gut 300 Millionen Euro kosten würde. Verdoppele sich der Gaspreis und würde der Empfängerkreis verdreifacht, wie aus der Koalition zu hören war, beliefen sich die Staatsausgaben auf rund zwei Milliarden Euro.
Demgegenüber stünden aber knapp zehn Milliarden Euro für die Subvention eines Gasgrundverbrauchs von 8.000 Kilowattstunden pro Haushalt bei 7,5 Cent pro Kilowattstunde, der sozial nicht gerecht und ökologisch negativ zu bewerten sei. Steigt der Gaspreis weiter, würde dies auch die Kosten für einen Preisdeckel weiter in die Höhe treiben.
Ein bundesweit gültiges 29-Euro-Ticket würde der Studie zufolge vor allem Menschen mit geringen Einkommen helfen und einen Beitrag zum Klimaschutz leisten, sofern in den öffentlichen Nahverkehr für ein besseres Angebot investiert werde. Bereits bei einem Preis von 49 Euro, wie er von der SPD-Fraktion ins Gespräch gebracht wurde, würden sich Menschen mit niedrigen Einkommen laut DIW-Einschätzung das Ticket nicht mehr leisten können.
Carolin Schenuit, Sprecherin der Klima Allianz, sagte zur Gegenfinanzierung, sie könne durch die Reform klimaschädlicher Subventionen wie des Dienstwagenprivilegs und der Pendlerpauschale erfolgen. An die Stelle der Pauschale soll nach den Vorstellungen der Klima Allianz ein Mobilitätsgeld von zehn Cent pro Kilometer Arbeitsweg treten, das Menschen, die keine Steuern zahlen, direkt ausgezahlt wird. Heute profitieren Vielfahrer und Gutverdiener am stärksten von den Steuervergünstigungen der Pendlerpauschale.
In der Klima Allianz, die die Studie zur Bewertung energiepolitischer Entlastungsmaßnahmen in Auftrag gegeben hat, sind 140 Organisationen aus dem gesamten gesellschaftlichen und dem kirchlichen Spektrum vertreten. Untersucht wurden fünf der derzeitigen Vorschläge: eine Gaspreisbremse, ein erweiterter Heizkostenzuschuss, ein 29-Euro-Ticket als Anschlusslösung für das 9-Euro-Ticket, eine Reform der Pendlerpauschale sowie eine Senkung der Mehrwertsteuer auf pflanzliche Grundnahrungsmittel.
Essen, Bielefeld (epd). Am Klingelschild eine Notiz für den Paketzusteller: „Bitte keine Pakete oder Päckchen wieder mitnehmen. Es ist immer jemand im Haus!“ Der Hinweis am stattlichen ehemaligen Finanzamt Essen-Süd bündelt wie im Brennglas, was das Leben der 28 Frauen hier im Beginenhof ausmacht: Gemeinschaft der Generationen, füreinander da sein, für die Nachbarschaft und darüber hinaus. „Wir sind hier kein 'Schöner Wohnen', sondern wir wollen in die Welt hineinwirken“, sagt die 80-jährige Ute Hüfken, Mitbegründerin des 2008 nach jahrelanger Planungs- und Umbauphase eröffneten Beginenhofes in Essen.
Es ist einer von 18 Beginenhöfen bundesweit von Bremen bis Blaubeuren, mit deutlicher Konzentration im Westen wie in Köln, Schwerte oder Bochum. Hinzu kommen drei kleinere Gemeinschaften und 44 Einzelbeginen. Insgesamt zählt der Dachverband der Beginen mit Geschäftsstelle in Essen 634 aktive Frauen. Die Wohn- und Wirtschaftsprojekte der Beginen sind früher wie heute keine Rückzugsorte frommer Beschaulichkeit, sondern Quelle vielfältiger Aktivitäten.
Die klosterähnlich lebenden Beginen des Mittelalters waren wirtschaftlich unabhängige fromme Frauen, die ihren Lebensunterhalt etwa als Hebammen, Lehrerinnen, Wäscherinnen oder Tuchmacherinnen verdienten und wegen ihrer praktischen Nächstenliebe in der Kranken- und Armenpflege hochgeachtet waren. Die damals schon alternative Frauenkultur erlebt seit Beginn dieses Jahrhunderts eine Renaissance, jedoch ohne verbindliche Lebensphilosophie. „Eine vorgegebene Ausrichtung, wie das Leben als Begine zu sein hat, gibt es nicht und soll es auch nicht geben“, heißt es beim Dachverband. „Das bestimmen die Frauengruppen für sich selbst.“
So ist die moderne Beginenkultur vor allem geprägt vom gemeinsamen Wohnen und dem ehrenamtlichen Engagement nach innen und außen, je nach Fähigkeiten und Vorlieben. Der Psychologin Ulrike Friebel etwa war 1999 schnell klar, dass sie mit der Diagnose Parkinson nicht allein in ihrem Reihenhaus bleiben konnte. „Als ich vom Beginenhof in Essen gehört habe, hat sich sofort mein Autopilot eingeschaltet, hier roch es nach Arbeit und nicht nach Langeweile“, sagt die 70-Jährige.
Finanzen, Büroarbeit oder Kulturangebote wie Musik, Ausstellungen und Lesungen im weitläufigen Foyer oder im Nachbarschaftscafé „MachWatt“ gehören zu ihrem Repertoire. In einer Gemeinschaft, die „auch ohne dicke Freundschaften“ funktioniert, wie Friebel sagt. Ihre Erfahrungen hat sie mit feinem Humor im fiktiven „Tagebuch der Begine Renitenta“ im Selbstverlag veröffentlicht.
Für sein gesellschaftliches Engagement ist der Beginenhof Essen zweimal ausgezeichnet worden. 2017 mit dem Engagementpreis NRW für das offene Haus mit Praxis- und Büroräumen, Vermietungen von Foyer oder Café für Feiern, Sprachunterricht für Flüchtlinge oder Nachbarschaftsfeste im Hof unter den bunten Balkonen. 2021 folgte der Deutsche Nachbarschaftspreis NRW, der auch „neue Formen des kulturellen Miteinanders“ während der Pandemie hervorhob: Balkonsingen oder Hofkonzerte.
Die heutigen Beginen sind überwiegend ältere Frauen in der zweiten Lebenshälfte. „Jüngere haben meist nicht die Zeit für so viel Gemeinschaft, für Berufstätige ist das schwierig“, räumt Ute Hüfken ein und wünscht sich angesichts zunehmender Vereinzelung und Einsamkeit in Deutschland weitergehende Veränderungen: „Wir brauchen andere Lebenskonzepte, allein wohnen ist nicht die Zukunft“, davon ist sie überzeugt.
Neben feministischen und spirituellen Impulsen gehören für sie auch soziale und ökologische dazu. So kommt die Beginengemeinschaft etwa mit wenigen Autos, Waschmaschinen oder Staubsaugern aus, der ökologische Fußabdruck ist im Blick. Hüfken selbst hat nach einer langen Familienphase mit vier Kindern und Pfarrhaus vor gut 30 Jahren in der Beginenkultur ihren Weg gefunden - jetzt aber in einer kirchlich ungebundenen spirituellen Weite. So haben im Andachtsraum etwa auch Sufi-Mediation oder Buddhismus einen Platz.
Mitbewohnerin Erika Posch dagegen meint, „mit der Religion, das könnte hier mehr sein“, auch wenn sie selbst nicht kirchlich sozialisiert sei. Die lebhafte 83-jährige frühere Gesundheitsberaterin ist geprägt durch die Gruppe „Frauenkirche“ im Ruhrgebiet, die sich ab 1986 mit Feministischer Theologie, Matriarchatsforschung, Mythen, Märchen und alternativen Heilweisen beschäftigte. Auch diese Themen sind eine Gemeinsamkeit der Beginenhöfe.
1999 zog Posch aus Schwerte in den bundesweit ersten neuen Beginenhof im thüringischen Tännich. Er wurde 2012 aufgelöst, und sie fand später in Essen ein neues Zuhause. „Ich kann gut alleine sein, aber es ist nicht gut, dass man ganz allein ins Alter geht“, sagt sie.
Düsseldorf (epd). Im Interview mit dem dem Evangelischen Pressedienst (epd) zum Thema assistierter Suizid sagte Nikolaus Schneider: „Für mich gibt es Grenzfälle, in denen Menschen auch zum Sterben geholfen werden sollte, etwa wenn ihr Leben nur noch von Schmerz bestimmt wird“, sagte der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). In solchen Grenzfällen sei „der Suizid eines Menschen durchaus im Einklang mit dem Willen Gottes möglich“.
Zur Würde des einzelnen Menschen gehöre, dass er über sein Leben selbst bestimmen könne, „und das gilt auch für sein Sterben“, sagte Schneider, der am 3. September 75 Jahre alt wird. Selbsttötung und Assistenz zur Selbsttötung dürften aber nicht „als ein Normalfall des Lebens betrachtet werden“, unterstrich er. Das „Anrecht auf einen ärztlich assistierten Suizid“ müsse vielmehr als Ausnahme „unter Not- und Extremsituationen eingeordnet werden“.
Die grundsätzliche Aufgabe von Staat und Gesellschaft sei, Leben zu schützen, betonte der ehemalige Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland. „Ich kann mir deshalb nur schwer lebensdienliche Regelungen vorstellen, bei denen der Suizid von Menschen staatlich organisiert wird.“ Zugleich dürfe es aber auch keinen „Zwang zum Leben“ geben: „Diese Spannung muss ausgehalten werden.“
Grundsätzlich kann sich Schneider einen assistierten Suizid auch in diakonischen Einrichtungen vorstellen. „Für mich gibt es theologisch-ethisch zwar ein normatives Nein zu Suizid und Suizidassistenz, aber kein absolutes Nein“, sagte er. „Auch in diakonischen Häusern müssen wir in theologisch-ethischen Entscheidungen mit Spannungen und Uneindeutigkeiten leben.“
Das Bundesverfassungsgericht hatte 2020 das erst 2015 verabschiedete Verbot der geschäftsmäßigen Suizidassistenz gekippt, mit dem die Aktivitäten von Sterbehilfevereinen unterbunden werden sollten. Der Bundestag ringt aktuell um eine Nachfolgeregelung. Schneider erhofft sich davon „eine möglichst große Klarheit, damit alle Rechtssicherheit haben, die in der Pflege tätig sind und sterbende oder schwerstkranke begleiten“. Diese Klarheit habe der vom Bundesverfassungsgericht kassierte Paragraf 217 des Strafgesetzbuches nicht in ausreichendem Maße geboten.
Schneider war von 2003 bis 2013 leitender Theologe der rheinischen Kirche und von 2010 bis 2014 EKD-Ratsvorsitzender. Seit Jahren diskutiert er mit seiner Frau Anne, die ebenfalls Theologin ist und eine Krebserkrankung überstanden hat, auch öffentlich kontrovers über Sterbehilfe. Anne Schneider tritt dafür ein, dass Menschen, die sterben wollen, ein Recht auf Suizidassistenz haben. In der evangelischen Kirche gibt es zu dem Thema unterschiedliche Meinungen.
Hannover (epd). Angesichts wachsender Herausforderungen in Krisenzeiten hat der Sozialphilosoph Oskar Negt tiefgreifende Sozialreformen angemahnt. „Klimakrise, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Inflation und Energieknappheit: Die Hiobsbotschaften verdichten sich. Im Großen wie im Kleinen, auf nationaler und internationaler Ebene erleben wir schwierigere Verhältnisse als je zuvor - und ich habe nicht das Gefühl, dass das politische und gesellschaftliche Handeln dieser Wahrheit angemessen Rechnung trägt“, sagte der 88-Jährige dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsgebot, das allen Menschen ein Leben in Würde und Selbstbestimmtheit zusichere, sei über Jahrzehnte ausgehöhlt worden. Die gesellschaftliche, aber auch globale Ungleichheit habe „in skandalösem Ausmaß“ zugenommen. „Die vielfältigen humanitären, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine sind nach der Pandemie nur weitere Weckrufe, diese Probleme grundsätzlich und langfristig anzugehen, anstatt immer nur an der Oberfläche herumzudoktern“, mahnte Negt.
Mit Blick auf das steigende Armutsrisiko kritisierte der Sozialphilosoph eine „Symbolpolitik, die sich in kurzsichtigen Maßnahmen nach dem Gießkannenprinzip erschöpft“. Einmalige Entlastungspakete und ein Tankrabatt böten armen und von Armut bedrohten Menschen keinen Ausweg aus ihrer prekären Lage. Andererseits seien höhere Sprit- und Energiepreise für Besserverdienende „zwar nicht angenehm, aber durchaus tragbar“.
Negt forderte eine „radikale Steuerreform“, die das einkommensstärkste Viertel der Bevölkerung stärker als bisher in die Pflicht nehmen müsse, um eine Verelendung des unteren Bevölkerungsdrittels zu verhindern. Aus den Steuererlösen solle künftig „ein Grundeinkommen für heutige Leistungsempfänger finanziert werden, das ein diskriminierungsfreies Leben ermöglicht“. Zudem solle Care-Arbeit - also meist unentgeltliche und nicht sozialversicherungspflichtige Erziehungs-, Betreuungs- oder Pflegearbeit - durch diese Mehreinnahmen anerkannt und finanziert werden.
Zudem betonte der emeritierte Soziologieprofessor der Leibniz Universität Hannover, dass das Einsparen von Energie und natürlichen Ressourcen „mit Blick auf den Klimawandel und die längst erreichten Grenzen des Wachstums“ über den aktuellen Versorgungsengpass hinaus Bestand haben müsse. Zugleich müsse es eine moralische Pflicht für Staat und Gesellschaft sein, im Winter niemanden frieren zu lassen. „Wenn wir 100 Milliarden Euro für Waffen zur Verfügung stellen können, muss auch die Versorgung mit Wärme für die ganze Bevölkerung gesichert werden“, forderte Negt.
Hannover (epd). Die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen baut ihre Kapazitäten für Geflüchtete kurzfristig um bis zu 1.400 Plätze aus. Anlass sei der anhaltende Zugang von Vertriebenen aus der Ukraine und auch insgesamt erhöhter Zugänge von geflüchteten Menschen nach Niedersachsen, teilte das Innenministerium am 1. September in Hannover mit.
In den kommenden Tagen werde dafür zunächst die ehemalige Bundesgrenzschutz-Kaserne in Bad Bodenteich (Kreis Uelzen) ertüchtigt. Dieser Standort wurde bereits 2015/16 für die Unterbringung von geflüchteten Menschen genutzt und dient der Landesaufnahmebehörde seitdem als Reserve-Liegenschaft. Darüber hinaus laufen dem Ministerium zufolge intensive Planungen, nennenswerte Kapazitäten an weiteren Standorten zu schaffen.
„Wir müssen vor dem Winter darauf vorbereitet sein, dass weiterhin und möglicherweise mehr Menschen zu uns kommen“, sagte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD). Die Aufnahme insbesondere der Vertriebenen aus der Ukraine sei sowohl für das Land, als auch für die Kommunen sehr herausfordernd, auch vor dem Hintergrund des überall angespannten Wohnungsmarktes. Auch für die Kommunen gelte natürlich, dass sie ihre Kapazitäten zur Unterbringung jetzt noch einmal erweitern müssten.
Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 24. Februar hat Niedersachsen den Angaben zufolge mehr als 100.000 Vertriebene aus dem osteuropäischen Land aufgenommen. Niedersachsen sei damit nach dem Königsteiner Schlüssel eines der Bundesländer mit der höchsten Aufnahmequote Schutzsuchender aus der Ukraine.
München (epd). Sozialministerin Ulrike Scharf (CSU) will ab September kurzfristig mehr Kinder in den bayerischen Kitas unterbringen. Möglich mache das die sogenannte „Experimentierklausel“ aus dem Bayerischen Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz (BayKiBiG), die die Politikerin am 30. August in München vorstellte. Mithilfe dieses Instruments erhielten Träger in einem befristeten Modellprojekt die Chance, kurzfristig den akuten Platz- und Erziehermangel abzufedern.
Die Nachfrage nach Kinderbetreuung sei in den vergangenen Jahren enorm gestiegen und werde wohl, auch angesichts der aktuellen Krisen, „sehr stark weiter ansteigen“, sagte Scharf: „Ich bin überzeugt, dass die Menschen wieder mehr arbeiten werden müssen.“ Daher brauche es eine moderne Gesellschaftspolitik, die sich den Bedürfnissen der Familien, aber auch der Wirtschaft annehme.
Konkret sollen Kita-Träger mehr Freiheiten bekommen, um in ihren Einrichtungen zusätzliche Plätze zu schaffen, etwa im Bereich der sogenannten Mini-Kitas. Auch sollen sogenannte „Einstiegsgruppen“ ermöglicht werden, in denen Kinder bis vier Jahre einen Platz bekommen können, bevor sie in einer regulären Gruppe unterkommen; in diesen Gruppen sind laut Scharf Abstriche beim Bildungsauftrag erlaubt und keine Fachkräfte nötig. Außerdem kann die Großtagespflege künftig flexibler gestaltet werden: Hier können fortan 15 Kinder gleichzeitig betreut werden, wenn eine pädagogische Fachkraft anwesend ist.
Die Qualität der Betreuung soll dabei nicht leiden, betonte Scharf: Dafür werde mit entsprechender Qualifizierung gesorgt. Nach Schätzungen des Sozialministeriums fehlten mindestens 19.000 Fachkräfte und 10.000 Ergänzungskräfte in den bayerischen Kitas. Diese Zahlen sind laut Scharf jedoch nicht mehr ganz aktuell und würden derzeit neu erhoben.
Berlin (epd). Sven Papenbrock blüht in seinem neuen Beruf bei der gemeinnützigen Organisation Sozialhelden auf: „Hier kann ich etwas bewirken und meine Fähigkeiten einbringen“, sagt der 32-Jährige. Nach 13 Jahren Arbeit in einer Behindertenwerkstatt hat er ein Praktikum bei den Sozialhelden in Berlin absolviert und ist seit Mai dieses Jahres fest angestellt. „Meine Aufgaben hier sind vielfältig und abwechslungsreich“, sagt Papenbrock.
Er hätte gerne früher aufgehört, in der Werkstatt zu arbeiten, sagt Papenbrock rückblickend. „Ich habe nur 85 Cent in der Stunde erhalten.“ In Deutschland arbeiten rund 320.000 Menschen in Behindertenwerkstätten. Im Durchschnitt verdienen sie dort um die 220 Euro im Monat.
Werkstätten für behinderte Menschen stehen schon lange in der Kritik. In den sozialen Medien wurde nun eine Diskussion losgetreten. Unter dem Hashtag #IhrBeutetUnsAus klären Menschen, die in Behindertenwerkstätten arbeiten, auf und machen ihrem Ärger Luft.
Anne Gersdorff, Referentin für Arbeit bei der Langzeit-Kampagne JOBinklusive, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Das Konzept von Behindertenwerkstätten wird zu wenig hinterfragt. Zudem fehlt es an Transparenz.“ Viele Unternehmen, die mit Behindertenwerkstätten kooperieren, wüssten oft nicht, dass die Beschäftigten lediglich als „arbeitnehmerähnlich“ behandelt werden. Das führe dazu, dass sie weniger Rechte und keinen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn haben.
Die Bedingungen in den Werkstätten seien hart. Von Mobbing über Ausgrenzung bis hin zu Gewalt sei alles dabei: „Es gibt Personal, das Druck auf die Beschäftigten ausübt und ihnen einredet, dass sie es in der richtigen Arbeitswelt nicht schaffen würden“, sagt Gersdorff. Auch Papenbrock erinnert sich an Mobbing: „Mir wurde immer wieder gesagt: Wenn mir etwas nicht passe, könne ich ja gehen und es auf dem richtigen Arbeitsmarkt versuchen.“
Den Hashtag #IhrBeutetUnsAus und die dadurch angestoßene Diskussion finde er gut, sie geht ihm aber nicht weit genug. „Das Problem ist, dass es die richtigen Personen und die Politik erreichen muss“, sagt Papenbrock. Die Debatte bleibe viel zu oft in Kreisen hängen, in denen die Problematik lange bekannt sei.
Auf der Internetseite JOBinklusive.org haben Aktivistinnen und Aktivisten ihre Forderungen niedergeschrieben. Neben dem gesetzlichen Mindestlohn fordern sie finanzielle Anreize für erfolgreiche Vermittlungen von Werkstattbeschäftigten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Vermittlungsquote von Beschäftigten aus den Werkstätten auf den Arbeitsmarkt liegt bei nur einem Prozent. „Wir haben außerdem einen Aufruf gestartet, dass Leute ihre Lieblingsunternehmen anschreiben und auf die Bedingungen in Werkstätten aufmerksam machen sollen“, sagt Gersdorff.
Sie fügt hinzu: „Wer einmal in der Werkstatt ist, kommt nicht mehr heraus.“ Es braucht ihrer Meinung nach unabhängige Beratungsstellen, an die sich die Beschäftigten wenden können, um den Übergang zu meistern.
Firmen sind verpflichtet, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Die gesetzliche Quote liegt bei mindestens fünf Prozent. Wenn Unternehmen sie nicht erfüllen, müssen sie eine Ausgleichsabgabe zahlen. Gersdorff kritisiert: „Firmen können sich regelrecht freikaufen.“ Dadurch entstehe Exklusion statt Inklusion.
Sie hofft, mit der neuen Bundesregierung werde sich die Situation für Menschen mit Behinderung verbessern: „Was im Koalitionsvertrag steht, hört sich nicht schlecht an.“ So solle etwa die Ausrichtung von Werkstätten für behinderte Menschen stärker auf die Integration sowie die Begleitung von Beschäftigungsverhältnissen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt liegen.
Sven Papenbrock weist auf den Twitter-Aufruf #StelltUnsEin hin und appelliert an Firmen: „Stellen Sie Menschen mit Behinderung direkt ein, geben Sie uns eine Chance!“
Bad Neuenahr (epd). Bianka Frisch schüttelt ein Kissen aus und streicht sorgfältig die Bettdecke glatt. „Mir macht die Arbeit super viel Spaß“, sagt die junge Frau, während sie das Zimmer im Bethel Hotel zum Weinberg im rheinland-pfälzischen Bad Neuenahr-Ahrweiler aufräumt. „Ich komme wirklich gerne zur Arbeit.“ Gut gelaunt und lachend bringt die 30-Jährige das in sanften Grün- und Beigetönen gestrichene Hotelzimmer auf Hochglanz - eigentlich eine Arbeitnehmerin, wie sie sich das von Arbeitskräftemangel gebeutelte Gastgewerbe nur wünschen könnte.
Dennoch wollte kein Betrieb die gelernte Hauswirtschaftshelferin auf Dauer einstellen, bevor sie im Hotel zum Weinberg erstmals einen unbefristeten Job fand. Denn die junge Frau hat eine Halbseitenlähmung. Immer wieder sei sie arbeitslos gewesen, weil sie durch ihre Behinderung langsamer arbeitete, als es die Arbeitgeber verlangten, berichtet sie. „Das nagt dann auch an der Psyche.“
So wie Bianka Frisch ergeht es vielen Menschen mit Behinderung. Die Pandemie hat die Arbeitssuche noch erschwert. Während die Arbeitslosigkeit unter gesunden Arbeitnehmern nach Ende des zweiten Lockdown im vergangenen Jahr deutlich zurückging, stieg sie bei Menschen mit Schwerbehinderung an. Im Jahresdurchschnitt waren laut Bundesagentur für Arbeit 172.000 Menschen mit Handicap arbeitslos, 3.000 mehr als im Vorjahr.
Dabei gebe es für Menschen mit Handicap durchaus Jobs in Branchen wie der Hotellerie, in denen händeringend Personal gesucht werde, erklärt Franz-Josef Pelzer, Inklusionsbegleiter im Hotel zum Weinberg. „Bei uns übernehmen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung Aufgaben, die andere auch haben.“ Sechs der Beschäftigten mit psychischen oder körperlichen Einschränkungen arbeiten so wie Bianka Frisch im Housekeeping. Zwei sind an der Rezeption und einer im Service tätig. Damit sind die Hälfte der insgesamt 18 Hotel-Beschäftigten Menschen mit Behinderung.
Inklusionshotels, in denen Menschen mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten, gibt es mittlerweile bundesweit. Rund 40 von ihnen - die meisten in der Trägerschaft von Wohlfahrtsverbänden - sind im Embrace-Verband zusammengeschlossen. Entgegen vieler Vorurteile sei es durchaus möglich, Menschen mit Handicap in einen normalen Arbeitsalltag zu integrieren, sagt Pelzer. Allerdings brauche es die Bereitschaft, Lösungen zu finden.
Ein gehbehinderter Mitarbeiter könne etwa mit Hilfe eines speziellen Rollstuhls und einer Tablett-Vorrichtung im Service arbeiten. Spezielle Hilfsmittel werden bis zu 100 Prozent vom Inklusionsamt bezahlt. Auch gibt es Lohnkostenzuschüsse für Beschäftigte mit Handicap, die je nach Bundesland unterschiedlich hoch ausfallen. In Rheinland-Pfalz sind es 30 Prozent. Im Hotel zum Weinberg würden die Zeitvorgaben den Einschränkungen der Beschäftigten angepasst, erklärt Pelzer. „Dennoch wird hier keiner in Watte gepackt.“ Die Leistung müsse stimmen. Das Haus müsse schließlich auf Dauer kostendeckend arbeiten.
Allerdings muss das von der Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel für knapp acht Millionen Euro erbaute Hotel keinen Gewinn erwirtschaften. Ein Unterschied zu herkömmlichen Hotels sind auch die komplette Barrierefreiheit sowie spezielle Zimmer für Gäste mit Handicaps wie etwa Hörgeschädigte oder Sehbehinderte.
In dem im Februar eröffneten Hotel zum Weinberg wird überdurchschnittlich viel Wert auf ein gutes Betriebsklima gelegt. „Das ist uns heilig“, sagt Pelzer. Die psychosoziale Begleitung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sei wichtiger Teil seines Jobs. Davon profitierten aber nicht nur die Beschäftigten mit Handicap, sondern die gesamte Belegschaft, betont Pelzer. „Hier gibt es bei Schwierigkeiten immer ein offenes Ohr“, bestätigt Bürokaufmann Daniel Ibs, der im Rollstuhl an der extra niedrigen Rezeption arbeitet. „Deshalb haben wir ein rundum super Klima. Dieser Job hier ist für mich ein Traum.“
Auch bei den Gästen kommt das Inklusionshotel offenbar gut an. Es gebe bereits jetzt schon Stammgäste, und Firmen hätten längerfristig Zimmerkontingente für ihre Monteure gebucht, sagt Geschäftsführerin Heike Pelzer. Dabei waren die Umstände, unter denen das in Bahnhofsnähe gelegene Hotel an den Start ging, nicht ideal. In die Bauzeit des Hauses mit 72 Zimmern fiel sowohl die Pandemie als auch die Hochwasser-Katastrophe an der Ahr. Jetzt läuft der Betrieb schon so gut, dass die Hotelchefin noch mehr Personal einstellen möchte.
Für Bianka Frisch ist mit ihrer ersten unbefristeten Anstellung ein großer Wunsch in Erfüllung gegangen. „Jetzt kann ich endlich das in die Wege leiten, was ich schon immer geplant habe“, freut sie sich. „Ich suche mir meine erste eigene Wohnung.“
Bremen (epd). Begonnen hat alles in einer Turnhalle in der Nachbarschaft von Jule Stegemann-Trede. „Da kamen irgendwann zwei Frauen mit Malutensilien rein“, erinnert sich Mustafa, der Ende 2015 in der Flüchtlings-Notunterkunft im Bremer Osten untergekommen war. „Die haben uns einfach gesagt: 'Malt!' und das haben wir dann gemacht, auch wenn der Umgang mit Farbe für die meisten völlig neu war. Fast 100 Jungs haben sich damals in der Turnhalle gestapelt, und uns war einfach langweilig.“ Heute trifft sich der harte Kern der damaligen Malgruppe unterstützt von der Diakonie noch immer - im Atelier der Künstlerin Jule Stegemann-Trede.
Andere Geflüchtete, vor allem aus Afghanistan und Syrien, sind im Laufe der Jahre dazu gekommen. Bisher sind insgesamt 40 junge Männer und Frauen künstlerisch aktiv gewesen, aus den Jugendlichen sind junge Erwachsene geworden. „Sie wohnen über das ganze Stadtgebiet verteilt und nehmen oft lange Anreisewege in Kauf, um ein- oder zweimal pro Woche zum Malen hierher zu kommen“, erzählt Stegemann-Trede von dem Projekt unter dem Titel „Flug des Stiftes“.
Der Ton im Atelier ist vertraut, über die Jahre ist die Künstlerin zu einer Lebensbegleiterin und Freundin der jungen Leute geworden. „Jule ist immer da gewesen, das ist wichtig, weil du am Anfang mit vielen wechselnden Bezugspersonen zu tun hast. Das Atelier ist so etwas wie Heimat geworden“, sagt Bilal. „Respekt in der Begegnung ist allen hier ganz wichtig.“
Den Namen „Flug des Stiftes“ hätten afghanische Teilnehmer der Gruppe gegeben, erinnert sich Jule Stegemann-Trede. „Der Titel passt, denn es geht darum, Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen künstlerisch in großer Freiheit Ausdruck zu verleihen. Mit den Farben zu hantieren ist entspannend, allein sich auszuprobieren und eine eigene Idee auf die Leinwand zu bringen, tut gut.“ Malen könne jeder, ist sie überzeugt: „Kreativität steckt in jedem von uns, aber sie ist oft durch schlechte oder fehlende Erfahrungen mit dem Malen verschüttet.“ Bei Bedarf gibt die Künstlerin und Kunsttherapeutin auch handwerkliche Tipps und vermittelt Maltechniken.
Mehrfach gab es schon Ausstellungen, einige Werke wurden bereits verkauft. Auch sonst ist „Der Flug des Stiftes“ ein Erfolg: Vom Speditionskaufmann über die Zahntechnikerin bis zur Informatikerin sind die Teilnehmenden erfolgreich im Beruf oder studieren. „Informatik kann man weltweit gebrauchen, falls man noch einmal in ein anderes Land gehen muss“, meint Amal.
Ihre Fluchterfahrung steckt den jungen Teilnehmenden in den Knochen, auch wenn sie mittlerweile eine Bleibeperspektive in Deutschland haben und beruflich durchstarten. „Die Integration hat bei allen hier bestens geklappt“, meint Jule Stegemann-Trede. „Am meisten freut mich, dass viele hier sich selbst für Geflüchtete engagieren, die neu nach Deutschland kommen.“
Auch der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, bekräftigt bei einem Besuch in diesen Tagen das integrative Potenzial des Projektes. „Es zeigt eindrucksvoll, welche Kraft eine starke Bürgergesellschaft in Kooperation mit Diakonie und Kirche entfalten kann. Die jungen Menschen konnten das Trauma der Flucht verarbeiten und sie haben einen Ort der Vernetzung und Begegnung gefunden, der sie direkt in die Mitte der Gesellschaft geführt hat.“
So gibt Amal mittlerweile selber Workshops für Geflüchtete, unterstützt ehrenamtlich Digitalisierungskurse für ältere Menschen, hat schon als Schulbegleiterin und in einem Kochprojekt mit Kindern gearbeitet, das ihnen helfen soll, Deutsch zu lernen. Tatev ergänzt: „Natürlich läuft nicht immer alles glatt bei der Integration, manchmal erleben auch wir Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, zum Beispiel bei der Wohnungssuche. Dann ist die Wohnung plötzlich schon vergeben, wenn man zur Besichtigung kommt.“
Bilal lässt sich davon nicht entmutigen: „Ich habe jetzt eine nette WG gefunden. Nebenbei jobbe ich als Freizeitbegleiter bei der Lebenshilfe, und wenn ich das Fachabi habe, möchte ich Grafikdesign studieren.“
Münster (epd). Die Alexianer Gruppe in Münster hat sich laut ihrem Geschäftsbericht in dem von der Corona-Pandemie geprägten Jahr 2021 gut behauptet. Der Gesundheits- und Sozialwirtschafts-Konzern habe einen Umsatzerlös von 1,7 Milliarden Euro erwirtschaftet, heißt es in einer Mitteilung vom 29. August. Das seien 27,5 Prozent mehr als im Vorjahr.
Grund für die außergewöhnliche Steigerung ist den Angaben nach in erster Linie die Integration der Katharina Kasper Gruppe aus Dernbach, die zum 1. Oktober 2020 erfolgte und sich im Geschäftsjahr 2021 erstmals voll in den Geschäftszahlen niederschlug.
Daneben gab es weitere Übernahmen im Jahr 2021. So wurden die mehrheitlichen Geschäftsanteile am Bethlehem Gesundheitszentrum Stolberg sowie am Johannisstift Münster erworben. Zur Alexianer Gruppe gehören 29 Krankenhäuser (Somatik und Psychiatrie), medizinische Versorgungszentren sowie Einrichtungen der Alten-, Eingliederungs- und Jugendhilfe. Insgesamt gibt es 16.092 Betten und Plätze. ,
Auch die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stieg 2021. Waren es im Jahr 2020 26.272 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, so arbeiteten zum Stichtag 31. Dezember 2021 insgesamt 27.684 Frauen und Männer bei den Alexianern.
„Wir sind zufrieden, dass wir in dem schwierigen Umfeld dennoch ein positives Ergebnis vorlegen konnten“, sagte Andreas Barthold, Sprecher der Hauptgeschäftsführung der Alexianer Gruppe. Mit 33 Millionen Euro fiel das Ergebnis zwar niedriger aus als im Vorjahr, die Gesamterlöse waren trotz Unwägbarkeiten besser als erwartet.
Zu schaffen machte der Alexianer Gruppe im abgelaufenen Geschäftsjahr die andauernde Corona-Pandemie, die zu starken Schwankungen bei der Zahl von Patientinnen und Patienten insbesondere in den somatischen Krankenhäusern führte. Diese wurden durch Ausgleichszahlungen teilweise kompensiert. Der Fachkräftemangel, der sich insbesondere im Bereich der Pflege niederschlage, bleibe eine Herausforderung.
Gesellschafter der Alexianer GmbH ist die Stiftung der Alexianerbrüder, die das materielle und immaterielle Erbe des 800 Jahre alten Ordens der Alexianerbrüder verwaltet.
Kassel (epd). Für die erfolgreiche Vermittlung von Förderkrediten ist die Evangelische Bank (EB) von der DZ Bank als „Top-Partner“ im Bereich der Fördermittelberatung 2021 ausgezeichnet worden. Mit diesem jährlich verliehenen Preis würdige das Zentralinstitut der deutschen Kreditgenossenschaften den Einsatz der EB für ihre Kundinnen und Kunden im Bereich der „öffentlichen Finanzierungshilfen“, mit denen der Staat Projekte und Vorhaben in Kirche, Diakonie, Caritas sowie bei Privatkunden fördert, teilte die Bank am 1. September in Kassel mit.
Insgesamt über 64 Millionen Euro an neuen öffentlich geförderten Darlehen hat EB den Angaben nach im vergangenen Jahr zur Verfügung gestellt. Zahlreiche Vorhaben des privaten Wohnungsbaus, aber auch insbesondere im Bereich der institutionellen Kunden konnten dank passender Förderprogramme zinssubventioniert oder mit einem Zuschuss finanziert und überhaupt möglich gemacht werden, hieß es.
Damit leistete die Bank einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Gesundheits- und Sozialwirtschaft sowie zum aktiven Klima- und Umweltschutz. „Es ist bei uns langjährig gelebte Praxis, für unseren Kunden in den komplexen Strukturen und sich schnell ändernden Rahmenbedingungen Lösungen zu finden und diese in Finanzierungskonzeptionen einzubauen“, sagte Christian Schwarzrock, Leiter Finanzmanagement bei der Evangelischen Bank. Die DZ Bank würdige mit der Auszeichnung die Beratungsqualität und Kompetenz unserer Beraterinnen und Berater", so Schwarzrock.
Mit einer Bilanzsumme von 8,38 Mrd. Euro gehört die Evangelische Bank zu den größten Kirchenbanken und Genossenschaftsinstituten in Deutschland.
Erfurt (epd). Eine vom Arbeitgeber freiwillig gezahlte Corona-Prämie darf überschuldeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht weggepfändet werden. Das gilt zumindest dann, wenn die Prämie ein Bonus für die erschwerten Arbeitsbedingungen in der Pandemie darstellt und der „Rahmen des Üblichen“ nicht überstiegen wird, urteilte am 25. August das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt.
Im Streitfall wollte der Betreiber einer Gaststätte in Niedersachsen einer angestellten Küchenhilfe, die auch als Thekenkraft eingesetzt wurde, wegen der erschwerten Arbeitsbelastungen in der Pandemie etwas Gutes tun. Er zahlte der Frau im September 2020 freiwillig eine Prämie in Höhe von 400 Euro. Hinzu kamen noch der reguläre Bruttolohn von 1.350 Euro sowie 66,80 Euro für Sonntagszuschläge.
Doch die Frau war überschuldet und befand sich in einem laufenden Insolvenzverfahren. Als der Arbeitgeber ihr die Prämie zahlte, griff die Insolvenzverwalterin auf das Geld zu. Denn die Prämie führte dazu, dass der Verdienst der Frau nun über dem Pfändungsfreibetrag lag. Mit Erhalt der Corona-Prämie ergebe sich ein pfändbarer Betrag in Höhe von 182,99 Euro netto, meinte die Insolvenzverwalterin.
Sie verwies darauf, dass die Corona-Prämie freiwillig gezahlt worden und damit pfändbar sei. Anderes gelte nur für den Pflegebereich, bei dem der Gesetzgeber ausdrücklich die Unpfändbarkeit der verbindlich gezahlten Prämie bestimmt habe.
Doch die Corona-Prämie gehört „nicht zum pfändbaren Einkommen der Schuldnerin“, urteilte nun das BAG. Der Arbeitgeber habe mit der Prämie „eine bei der Arbeitsleistung der Schuldnerin tatsächlich gegebene Erschwernis kompensieren“ wollen. Erschwerniszulagen seien nach dem Gesetz aber unpfändbar. Die Prämie habe auch nicht den Rahmen des Üblichen überschritten, so das Gericht.
Doch nicht nur eine Corona-Prämie, sondern auch der Aufbau einer betrieblichen Altersversorgung ist vor einer Pfändung geschützt. Es handelt sich bei den im Wege der Entgeltumwandlung und vom Arbeitgeber gezahlten Versicherungsprämien der betrieblichen Altersversorgung nicht um pfändbares Einkommen, urteilte das BAG bereits am 14. Oktober 2021.
Im entschiedenen Fall wollte ein geschiedener Ehemann wegen aufgelaufener Schulden im Zusammenhang mit einem Immobilienbau von seiner Ex-Frau möglichst viel von ihrem Arbeitseinkommen pfänden lassen. So sollten die Schulden abgestottert werden. Als die Frau mit ihrem Arbeitgeber jedoch eine betriebliche Altersversorgung vereinbarte, indem ein Teil ihres Einkommens dafür verwendet wird, stand weniger Geld zur Schuldentilgung zur Verfügung.
Die Prämien zum Aufbau einer betrieblichen Altersversorgung sind vom Gesetzgeber vor der Pfändung geschützt, urteilte das BAG. Dieser Schutzzweck werde nicht erfüllt, wenn der für die betriebliche Altersversorgung vorgesehene Teil des Arbeitseinkommens gepfändet werden könne. Nach dem Betriebsrentengesetz könne jeder Arbeitnehmer vom Arbeitgeber verlangen, dass von seinen künftigen Gehaltsansprüchen bis zu vier Prozent der jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung durch Entgeltumwandlung für seine betriebliche Altersversorgung verwendet werden.
Schuldner müssen sich aber bemühen, ihre Schulden zu begleichen. So entschied der Bundesgerichtshof (BGH) mit Beschluss vom 1. März 2018, dass überschuldeten Teilzeitbeschäftigten es regelmäßig zuzumuten ist, sich einen Vollzeitjob zu suchen. Im konkreten Fall ging es um einen überschuldeten Vater von zwei Kindern, der Privatinsolvenz angemeldet hatte. Der Mann ging lediglich einem Teilzeitjob nach.
Eine Gläubigerin hatte daher beantragt, dem Mann die Restschuldbefreiung zu verweigern. Die sieht der Gesetzgeber für Schuldner vor, die sich um die Schuldentilgung auch bemühen. Haben sich Schuldner üblicherweise sechs Jahre lang (seit Oktober 2020 drei Jahre lang) „wohlverhalten“, konnten sie von dem Rest ihrer Schulden befreit werden.
Von Teilzeit-Beschäftigten könne dabei verlangt werden, dass sie sich um eine angemessene Vollzeitstelle bemühen, so der BGH. So dürften arbeitslose Schuldner eine zumutbare Arbeit nicht ablehnen und müssten eine berufsfremde, eine auswärtige und notfalls auch eine Aushilfs- oder Gelegenheitstätigkeit annehmen und sich bei der Bundesagentur für Arbeit arbeitssuchend melden. Auch ausreichende Bewerbungsbemühungen, etwa zwei bis drei Bewerbungen pro Woche, seien zumutbar.
Dagegen zeigte der BGH in einem am 3. März 2016 veröffentlichten Beschluss auch auf, dass Gläubiger nicht auf alle Geldzuflüsse Zugriffe haben. So darf bei überschuldeten Hartz-IV-Beziehern eine vom Vermieter erhaltene Nebenkostenerstattung nicht gepfändet werden. Gläubiger hätten zudem keinen Anspruch darauf, dass überschuldete Arbeitslose ihnen bei einer abzugebenden Vermögensauskunft Namen und Anschrift des Vermieters nennen.
Denn die Heiz- und Nebenkosten seien zur Sicherung des Existenzminimums vom Jobcenter gezahlt worden. Komme es zu einer Erstattung, werde das Geld im darauffolgenden Monat als Einkommen auf das Arbeitslosengeld II mindernd angerechnet.
Könne die Erstattung dagegen gepfändet werden, würde dies zulasten öffentlicher Mittel gehen. „Dem Schuldner würden Mittel entzogen, die ihm der Staat aus sozialen Gründen mit Leistungen der Sozialhilfe wieder zur Verfügung stellen müsste.“
Az.: 8 AZR 14/22 (BAG, Corona-Prämie)
Az.: 8 AZR 96/20 (BAG, betriebliche Altersversorgung)
Az.: IX ZB 32/17 (BGH, Teilzeitstelle)
Az.: I ZB 74/15 (BGH, Nebenkostenerstattung)
Celle (epd). Die gesetzliche Krankenversicherung muss nicht die Kosten für Brustvergrößerungen aus psychischen Gründen übernehmen. Das geht aus einem am 29. August veröffentlichten Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen hervor.
Geklagt hatte eine 52-jährige Frau aus dem Landkreis Hildesheim, die nach einer Brustkrebs-Operation bei ihrer Krankenkasse aus psychischen Gründen eine Brustvergrößerung beantragt hatte. Die Kasse hatte den Antrag mit dem Verweis abgelehnt, dass es sich bei dem beantragten Eingriff um keine krebsbedingte Rekonstruktion handle. Das Landessozialgericht folgte dieser Rechtsauffassung und bestätigte damit ein erstinstanzliches Urteil des Sozialgerichts Hildesheim. Eine Revision schloss das Landessozialgericht aus.
Schon als 26-Jährige habe die Frau auf Kosten ihrer Krankenkasse eine ästhetische Brustvergrößerung mit Kochsalzimplantaten vornehmen lassen, die später aufgrund einer Brustkrebserkrankung entfernt werden mussten, hieß es. Zwei Jahre nach der Operation habe sie eine erneute Brustvergrößerung beantragt mit der Begründung psychischer Belastungen. Es könne von ihr nicht verlangt werden, sich mit einer Situation zufriedenzugeben, die nicht der Ästhetik des weiblichen Körpers entspreche. Die Krankenkasse argumentierte, es liege auch keine äußerliche Entstellung vor, die Brüste passten noch zum Körperbild. Stattdessen habe die Kasse ein Lifting angeboten, das die Frau aber abgelehnt habe.
Das Landessozialgericht begründete seinen Beschluss damit, dass bei der Klägerin weder eine krankheitswertige Beeinträchtigung einer Körperfunktion vorliege, noch eine entstellende anatomische Abweichung. Zudem könnten subjektive Belastungen durch das Erscheinungsbild keinen Eingriff rechtfertigen, da sich individuelle psychische Reaktionen auf körperliche Veränderungen kaum vorhersehen ließen, entsprechende Eingriffe daher eine unsichere Erfolgsprognose hätten.
Az.: L 16 KR 344/21
Frankfurt a.M. (epd). In der Mobilität eingeschränkte Flugreisende müssen beim Ein- und Ausstieg vorrangig behandelt werden. Verpasst ein Rollstuhlfahrer einen Anschlussflug, weil er zusammen mit seiner Begleitperson erst als letzter das Flugzeug verlassen durfte, muss die verantwortliche Fluggesellschaft die Kosten für das Ticket zum Weiterflug bezahlen, entschied das Landgericht Frankfurt am Main in einem am 23. August bekanntgegebenen Urteil.
Der klagende Rollstuhlfahrer hatte einen Flug von Frankfurt nach St. Petersburg gebucht. In Budapest sollte das Paar umsteigen. Die Umsteigezeit betrug 45 Minuten. Einen extra Rollstuhlbegleitservice hatte der Kläger nicht gebucht.
Als das Flugzeug in Budapest landete, bat der Kläger darum, dass er zusammen mit seiner Ehefrau vorrangig aussteigen kann. Er wollte so sichergehen, dass er den Anschlussflug auch erreicht. Tatsächlich durften die Eheleute erst den Flieger verlassen, nachdem alle anderen Passagiere ausgestiegen waren. Sie verpassten daraufhin den Weiterflug. Das Ehepaar musste ein neues Ticket zum Preis von 227,27 Euro pro Person kaufen. Das Geld wollten sie sich von der Fluggesellschaft, die den verspäteten Ausstieg verursacht hatte, zurückholen.
Das Landgericht urteilte, dass das Ehepaar Anspruch auf Kostenerstattung hat. Nach der Fluggastrechteverordnung müsse ein Luftfahrtunternehmen einer Person mit eingeschränkter Mobilität und deren Begleitpersonen - wie etwa Kindern - Vorrang bei der Beförderung einräumen. Das betreffe auch den Ausstieg aus dem Flugzeug.
Die Eheleute treffe auch kein Mitverschulden, weil sie ihre Umsteigezeit zu knapp bemessen hätten. Auch wenn sie langsamer seien als andere Passagiere, hätten sie nicht vorhersehen müssen, dass eine Umsteigezeit von 45 Minuten nicht ausreicht, so das Gericht.
Az.: 2-24 S 173/21
Koblenz (epd). Wer an einer Blutgerinnungsstörung mit Thromboserisiko leidet, ist laut einem Gerichtsurteil für die Einstellung in den Polizeidienst nicht geeignet. Dies entschied das Verwaltungsgericht Koblenz in einem am 30. August bekanntgegebenen Beschluss und lehnte damit einen Eilantrag einer jungen Frau ab, die Polizistin werden wollte. Polizistinnen und Polizisten müssten im Einsatz „uneingeschränkt einsetzbar seien“. Dies sei im Falle der Antragstellerin aufgrund ihrer Erkrankung nicht gewährleistet, erklärten die Richter.
Die Frau hatte sich für den Bildungsgang „Polizeidienst und Verwaltung“ an der Höheren Berufsfachschule für Polizeidienst beworben. Sie leidet unter einer Blutgerinnungsstörung mit einem um das fünf- bis zehnfach erhöhten Thromboserisiko. Der Schule lehnte die Aufnahme mit der Begründung ab, die Frau sei aufgrund ihrer Erkrankung untauglich für den Polizeidienst. Daraufhin klagte die Frau am Verwaltungsgericht Koblenz.
Das Gericht erklärte, die Berufsfachschule habe „in rechtlich nicht zu beanstandender Weise“ die spezifischen körperlichen Anforderungen für den Polizeivollzugsdienst vorgegeben und festgelegt, dass unter anderem Krankheiten des Blutes beziehungsweise der blutbildenden Organe sowie Gerinnungsstörungen mit Blutungs- oder Thromboserisiko die Polizeidiensttauglichkeit „grundsätzlich ausschlössen“.
Gegen die Entscheidung kann Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz eingelegt werden.
Az.: 5 L 797/22.KO
Frankfurt a.M. (epd). Mieter dürfen nicht Wohnungseigentümer von der Warmwasserversorgung abgeschnitten werden. Denn die Versorgung mit Warmwasser gehört zu den Mindeststandards für ein menschenwürdiges Wohnen, die ein Eigentümer „nach den gesetzlichen Wertungen des Wohnungsaufsichtsgesetzes“ einhalten muss, stellte das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main in einem am 26. August bekanntgegebenen Beschluss klar.
Hintergrund des Rechtsstreits war die Beschwerde einer älteren und pflegebedürftigen Bewohnerin eines Mietshauses in Frankfurt. Die Frau hatte bei der Stadt vorgebracht, dass ihr Vermieter sie willkürlich von der Warmwasserversorgung ausgeschlossen hat. Sie benötige das Warmwasser aber zur Körperhygiene. Das sei eine Grundvoraussetzung für gesundes Wohnen.
Der Vermieter hatte ihr zuvor mitgeteilt, dass er zum „Schutz“ der Mieter vor steigenden Gaskosten zum 30. Juni 2022 die Gasversorgung einstellen werde. Er begründete das mit Preissteigerungen und Versorgungsengpässen bei der Gasbelieferung im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg.
Das tägliche Warmwasser könne die Mieterin ja in der Küche selbst zubereiten. Die Beheizung könne mit Elektrolüftern erfolgen. Eine Versorgung mit Warmwasser werde von ihm mietvertraglich nicht geschuldet, so seine Begründung. Die Stadt Frankfurt am Main wies den Vermieter an, innerhalb einer Woche die Gasversorgung wie-derherzustellen.
Per Eilantrag wollte der Eigentümer aufsichtsrechtliche Verfügung der Stadt wieder kippen. Das Verwaltungsgericht wies ihn jedoch ab. Die Versorgung mit Warmwasser gehöre zu den Mindeststandards für ein menschenwürdiges Wohnen. Hier habe der Vermieter willkürlich den „absolut üblichen Wohnstandard“ abgesenkt. Ein Hauseigentümer und Vermieter sei verpflichtet, die Versorgung mit Warmwasser sicherzustellen.
Die Mieter würden mit ihren Vorauszahlungen und letztlich auf Basis einer Jahresendabrechnung die Kosten der Warmwasserversorgung und Heizung ja auch selbst tragen, so das Gericht.
Az.: 8 L 1907/22.F
Düsseldorf (epd). Ohne die eigenhändige Unterschrift eines Arztes ist ein ärztliches Attest nicht gültig. Dass ein Attest mit den darin enthaltenen Feststellungen vom Personal einer Arztpraxis „im Auftrag“ unterschrieben wird, ist bei einer ärztlichen „höchstpersönlichen Wissenserklärung“ nicht zulässig, entschied das Verwaltungsgericht Düsseldorf in einem kürzlich veröffentlichten Urteil vom 16. Mai 2022.
Geklagt hatte ein Student der Wirtschaftswissenschaften, der im Rahmen seiner Bachelor-Prüfung durch einen Teil der eigentlichen Abschlussprüfung im Februar 2014 und durch die Wiederholungsprüfung ein Jahr später gefallen war. Nach der Prüfungsordnung hatte er noch eine letzte Chance, den strittigen Prüfungsteil zu wiederholen.
Doch dann trat er wiederholt nicht zur Prüfung an und legte stets ein ärztliches Attest vor. Als er auch im Wintersemester 2019/2020 nicht erschien, wertete der Prüfungsausschuss das als endgültige nicht bestanden, so dass der Student sein Studium nicht beenden konnte.
Gerichtlich wollte er sich den Anspruch auf eine Wiederholungsprüfung sichern. Er verwies darauf, dass er ein ärztliches Attest ja vorgelegt habe. Danach konnte er „wegen Magen-Darm“ nicht an der Prüfung teilnehmen. Das Attest war „im Auftrag.“ von einer Praxismitarbeiterin unterschrieben. Das Attest hatte die Universität jedoch nicht anerkannt.
Zu Recht, befand jetzt auch das Verwaltungsgericht. Das vorgelegte Attest sei nicht „rechtsgültig“. Das Attest stelle eine „höchstpersönliche Wissenserklärung“ des Arztes dar und müsse von ihm eigenhändig unterschrieben werden. Ein „im Auftrag“ unterschriebenes Attest reiche nicht. Es liege auch in der Verantwortung des Patienten, auf das Vorhandensein der eigenhändigen Unterschrift zu achten.
Zudem beschreibe das Attest weder nachvollziehbar die gesundheitliche Einschränkungen noch die Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit des Klägers. Das sei aber erforderlich, damit der Prüfungsausschuss sich ein Bild von der Prüfungstauglichkeit machen kann. Die Bezeichnung „Magen-Darm“ könne alles Mögliche bedeuten, die nichts über die Leistungsfähigkeit des Prüflings aussagt.
Az.: 15 K 7677/20
Gelsenkirchen (epd). Bei einer rechtskräftigen Verurteilung eines psychologischen Psychotherapeuten wegen sexuellen Missbrauchs und der Misshandlung von Patientinnen muss „zwingend“ die Approbation widerrufen werden. Denn der Therapeut erweist sich mit der Verurteilung als unwürdig zur Ausübung seines Berufs, entschied das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen in einem aktuell veröffentlichten Urteil vom 30. Juni.
Dem Kläger wurde vorgeworfen, von Anfang 2014 bis April 2016 während der Therapiestunden zwei Patientinnen sexuell missbraucht und teils geschlagen zu haben. Eine Patientin war wegen einer Angststörung, die andere wegen einer nicht verarbeiteten Bulimie in Behandlung.
Doch dann berichteten die Frauen, dass der Mann während vermeintlicher „Entspannungsübungen“ auf einer Liege ihre Hand nahm und diese „wellenartig“ über sein erigiertes Glied bewegte. Teilweise massierte er auch die Brust einer Patientin. Eine der Frauen wurde zudem mehrfach geohrfeigt, weil sie „verbohrt“ sei und nicht alle Entscheidungen in ihrem Leben - hier eine Bewerbung auf eine Stelle - mit ihm abgesprochen hatte.
Das Landgericht verurteilte den Mann wegen 35-fachen sexuellen Missbrauch von Patientinnen „unter Ausnutzung eines psychotherapeutischen Behandlungsverhältnisses“ sowie wegen vorsätzlicher Körperverletzung in vier Fällen rechtskräftig zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten. Auch ein zweijähriges Berufsverbot wurde verhängt. Die Bezirksregierung nahm das zum Anlass, die Approbation des psychologischen Psychotherapeuten zu widerrufen.
Das Verwaltungsgericht hält das für rechtmäßig. Ein psychologischer Psychotherapeut, der zwei Patientinnen während der Therapiestunden sexuell missbraucht und schlägt, sei „unwürdig und unzuverlässig zur Ausübung seines Berufs“. Die strafrechtliche Verurteilung führe nach den gesetzlichen Bestimmungen „zwingend“ zum Widerruf der Approbation.
Der Kläger habe über einen langen Zeitraum das Vertrauen der Patientinnen in der Therapie zur „Stimulierung des eigenen Geschlechts- und Machttriebs“ missbraucht und das Ansehen seines Berufsstandes verletzt.
Az.: 18 K 4251/20
Stuttgart (epd). Matthias Fenger komplettiert seit Ende August den dreiköpfigen Vorstand des Verbandes. Er tritt dort die Nachfolge von Rainer Brockhoff an, der nach 33 Jahren im Verband in den Ruhestand geht.
Fenger ist Sozialpädagoge und Sozialwirt. Nach ersten beruflichen Stationen in der kommunalen Familien- und Jugendhilfe übernahm der in Annahütte in der Lausitz geborene Fenger 2008 die Leitung des Caritasverbands für die Stadt und den Landkreis Würzburg. Ab 2012 war er Vorstandsvorsitzender des Caritasverbandes im Tauberkreis und verantwortete neben den inhaltlichen Bereichen Beraten, Teilhabe und Senioren das Finanz- und Personalwesen. Er war zudem Vorsitzender der Diözesan-Arbeitsgemeinschaft Behindertenhilfe und Gemeindepsychiatrie im Caritasverband für die Erzdiözese Freiburg.
Fenger betonte zum Amtsantritt, er wolle weiter für die 36.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter dem Dach der Caritas Rottenburg-Stuttgart attraktive und gute Arbeitsplätze sichern. „Damit arme, ältere und benachteiligte Menschen auch in Zukunft gute Lebensbedingungen haben, ist die Caritas mehr denn je gefragt“, sagte der neue Vorstand. Es gelte, die Sozialpartnerschaften mit anderen Akteuren weiterhin zu pflegen und auszubauen, um die gute Versorgung der Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg nachhaltig sicherzustellen. An erster Stelle steht dabei die Herausforderung, Personal für die Beratung, Pflege und Betreuung von Menschen zu gewinnen, so Fenger.
Michaela Rueß (49) und Michael Beekes (58) haben als neues Leitungsduo die Führung der Caritas im Bistum Essen übernommen. Sie sind Nachfolger des Interimsdirektors Hans-Georg Liegener. Beekes hat die kaufmännische Seite im Diözesancaritasverband im Blick, Rueß die fachliche. Die gebürtige Oberschwäbin Michaela Rueß war von 2014 bis 2021 Diözesanreferentin der Hauptabteilung Caritas im Bischöflichen Ordinariat der Diözese Rottenburg-Stuttgart, wo sie unter anderem die Flüchtlingshilfe aufgebaut hat. Rueß hat Theologie und Sozialwissenschaften studiert. Der Mülheimer Michael Beekes war bis zuletzt in leitenden Positionen verschiedener Banken tätig.
Birgit Lunde, Pastorin, hat das Amt der Diakoniepastorin im Kreis Schleswig-Flensburg übernommen. Sie tritt die Nachfolge von Thomas Nolte an, der die Leitung 15 Jahre lang innehatte. Er geht in den Ruhestand. Es gehe immer darum, „bestmöglich den Menschen zu dienen, die das Diakonische Werk brauchen“, sagte Lunde. „Und um das zu erreichen, braucht es ein gutes und motiviertes Team, das zusammenhält und gute Arbeitsbedingungen hat.“ Lunde wechselt von der Kirchengemeinde St. Petri in das Büro des Diakonisches Werkes im Flensburger Johannishof. Zum Team gehören 120 Hauptamtliche und 50 Ehrenamtler an vier Standorten.
Gaby Letzing (61) gibt die Leitung im Kinder- und Jugendhospiz „Löwenherz“ in Syke bei Bremen ab. Die Mitbegründerin und langjährige Leiterin wird am 19. September in den Ruhestand verabschiedet. Nachfolgerin Juliane Schulze (38) übernimmt vom 1. September an die Verantwortung. Die Krankenschwester und Gesundheitsökonomin fungiert seit einigen Wochen als Letzings Stellvertreterin. Die Geschäfte des Vereins „Kinderhospiz Löwenherz“, den ebenfalls Letzing leitet, werden dann allein von Kirsten Höfer (38) geführt. Die Kinderkrankenschwester und studierte Pflegewissenschaftlerin ist bereits seit März an Letzings Seite.
Marta Gorczynska, Anwältin, und ihre polnische „Helsinki Foundation for Human Rights“ bekommen den Menschenrechtspreis der Stiftung Pro Asyl 2022. Unter schwierigen politischen Rahmenbedingungen kämpften Gorczynska und ihre Stiftung „mit Leidenschaft, Hartnäckigkeit und großem juristischen Sachverstand gegen illegale Zurückweisungen, Gewalt an der Grenze und willkürliche Inhaftierungen von Schutzsuchenden“, teilte Stiftungsvorstand Karl Kopp am 30. August in Frankfurt am Main zur Begründung mit. Die Auszeichnung ist mit einem Preisgeld von 5.000 Euro und der von dem Darmstädter Kunstprofessor Ariel Auslender gestalteten Plastik „Pro Asyl-Hand“ verbunden. Sie wird am 3. September im Frankfurter Haus am Dom verliehen. Die Akteure unterstützten Geflüchtete an der polnisch-belarussischen Grenze ebenso wie jene aus der Ukraine, dokumentierten Menschenrechtsverletzungen und verträten Betroffene vor Gericht. Zudem machten sie unermüdlich auf rechtswidrige Zurückweisungen an der Grenze zu Belarus aufmerksam.
Elke Grothe-Kühn (64) ist neue Bundesvorsitzende der Evangelischen Kranken- und Altenhilfe. Sie folgt auf Käte Roos und verantwortet damit den Besuchsdienst der ehrenamtlichen „Grünen Damen und Herren“. Grothe-Kühn leitet derzeit bei der Diakonie RWL das Geschäftsfeld Krankenhaus und Gesundheit, wozu auch die ehrenamtlichen Besuchsdienste, die ambulante Hospizarbeit und Bahnhofsmissionen gehören. Mit Beginn der Freistellungsphase ihrer Altersteilzeit im Herbst 2022 wolle sie sich auch selbst als „Grüne Dame“ engagieren.
Inga Teuber aus Hannover ist neue Vorstandsvorsitzende des Vereins Schwarzes Kreuz - Christliche Straffälligenhilfe mit Sitz in Celle. Die Diakonin und Heilpädagogin tritt die Nachfolge von Helge Bonacker an.
Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, das zu beachten.
6.-7.9. Frankfurt a.M.:
Fortbildung „Datenschutz in sozialen Einrichtungen - Einführung in das KDG: rechtliche Anforderungen und Umsetzungen im operativen Tagesgeschäft“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/20011700
7.-23.9.:
Online-Kurs „Grundlagen des Zuwendungsrechtes“
Tel.: 030/263 09-142
8.-22.9.:
Online-Seminar „Digitale Öffentlichkeitsarbeit und Social Media für soziale Einrichtungen“
der Paritätischen Akademie Süd
Tel.: 0711/286976-10
9.9.:
Online-Fortbildung „Mit EU-Geldern das eigene Profil stärken - Einführung in EU-Förderprogramme 2021-2027“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761200-1700
12.-13.9. Berlin:
Tagung „LebensWert-Treff“
Tel.: 0561/7887-1318
12.-15.9. Freiburg:
Seminar „Konfliktmanagement als Führungsaufgabe“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761200-1700
21.-23.9.:
Online-Fortbildung „Agile Führungsansätze - Soziale Organisationen für die Zukunft ausrichten“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/2001700
22.-23.9. Magdeburg:
12. Kongress der Sozialwirtschaft
der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege
Tel.: 08821/7810525
26.9.:
Online-Fortbildung „Flucht und Behinderung - Rechtliche Möglichkeiten in der Flüchtlings- und Behindertenhilfe“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 030/48837-495
26.-27.9. Essen:
Fortbildung „'So kann man doch nicht leben!?`' Vermüllt und verwahrlost - Was tun?“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0172/3012819
26.-30.9. Freiburg:
Seminar „Selbstbewusst und wirksam führen - Authentisch leiten mit TZI“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/2001700
29.9.:
Online-Seminar „Schwangerschaftskonfliktberatung mit unentschiedenen KlientInnen“
Tel.: 030/26309-139