sozial-Thema

Kostensteigerungen

DEVAP: Regierung muss System Pflege komplett reformieren




Anna Leonhardi
epd-bild/DEVAP
Die Kosten in der Pflege laufen völlig aus dem Ruder, auch, aber nicht nur wegen der Energiepreise. Auch die Personalausgaben steigen, was politisch gewollt ist. Ohne staatliche Hilfe droht der Kollaps, ist Anna Leonhardi überzeugt. Die Geschäftsführerin des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflege erklärt im Interview mit epd sozial, welche Reformen dringend nötig sind.

Berlin (epd). Klar ist: Die Pflege braucht mehr Geld, viel mehr Geld. Sagt Anna Leonhardi. Aber sie sagt auch: „Das hilft nicht, wenn die überholten Strukturen einfach beibehalten werden. Wir fordern eine grundlegende Struktur- und Finanzreform.“ Dann, so die Expertin, ließen sich die Kostensteigerungen bewältigen - und die Bewohner der Heime finanziell entlasten. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Mehrere Sozialverbände rufen die Bundesregierung auf, wegen der steigenden Energiekosten einen Rettungsschirm über soziale Einrichtungen zu spannen. Wie bewertet Ihr Verband dieses Anliegen?

Anna Leonhardi: Das kann man nur unterstützen. Wir brauchen diesen Schutzschirm, denn niemand weiß, was der Winter noch für weitere Energiekosten bringt. Und auch die Vorgaben des neuen Infektionsschutzgesetzes erhöhen die Kosten. All das setzt die Pflegeheime unter großen Druck. Da wäre ein Rettungsschirm gut, der hilft, die soziale Infrastruktur abzusichern.

epd: Aber auch die Personalkosten der Heime steigen...

Leonhardi: Ja. Auch die höheren Personalkosten seit dem 1. September können dazu führen, dass die Eigenanteile für Heimbewohnerinnen und -bewohner deutlich steigen. Uns verwundert allerdings, dass erst jetzt die eklatant steigenden Kosten auffallen. Das ist schon lange bekannt, die unerwarteten Folgen der Gasumlage und die Inflation kommen noch oben drauf und verschärfen die Lage. Hier ist die Bundesregierung gefordert, und zwar nicht nur, um die derzeit hohen Energiekosten auszugleichen, sondern um die Pflege grundsätzlich zu reformieren. Das fordern wir als Verband schon seit Jahren, passiert ist jedoch nicht viel.

epd: Sie meinen die Folgen der neuen Tariftreue-Regelungen, wonach nur die Träger von der Pflegekasse refinanziert werden, die nach Tarif bezahlen?

Leonhardi: Ja. Doch diese Vorgaben sind für uns konfessionelle Anbieter nicht so dramatisch wie für die privaten Träger, denn wir bezahlen ja längst gute Tarife. Aber die neuen, so nicht vorhersehbaren Teuerungen treffen uns sehr wohl.

epd: Welche Teuerungen sind da zu erwarten?

Leonhardi: Eines unserer großen Mitglieder berichtet von einer Sachkostensteigerung im Bereich Energie von 300 Prozent, im Bereich Lebensmittel von 15 Prozent und bei den Personalkosten nach dem neuen Tarifabschluss 2022/2023 von neun bis 13 Prozent. Da muss man nicht gut rechnen können um zu sehen, dass es zwingend eine deutlich höhere und vor allem schnelle und verlässliche Refinanzierung braucht. Unsere Mitglieder melden uns jedoch sehr schleppende Verhandlungen mit den Kostenträgern, um das mal milde zu formulieren. Die tatsächlichen Steigerungen der Sachkosten müssen berücksichtigt werden - wenn es denn überhaupt zu schnellen Verhandlungen kommt.

epd: Warum ist das so schwierig? Es gibt doch die rechtlich abgesicherte Möglichkeit, bestehende Versorgungsverträge unter bestimmten Bedingungen zu kündigen?

Leonhardi: Willkommen in der nicht funktionierenden Selbstverwaltung. Aber im Ernst. Der Bundesgesundheitsminister hat einen Brief an die Pflegekassen geschrieben. Er enthält die Bitte, die Verhandlungen mit Blick auf alle Kostensteigerungen zügig zu einem guten Ende für alle Beteiligten zu bringen. Das sagt schon viel über den Föderalismus aus. Der Effekt war gleich null. Hier braucht es eine Bundesgesetzgebung. Die Versorgungsverantwortung liegt nämlich nicht nur bei den Leistungserbringern, sondern auch bei den Leistungsträgern. Wir haben einen gemeinsamen Versorgungsauftrag, und den muss man auch per Gesetz durchsetzen.

epd: Ich meinte das Recht, bei besonderen Vorkommnissen jederzeit laufende Verträge neu zu verhandeln.

Leonhardi: Ja stimmt. Das regelt das Sozialgesetzbuch XI in Paragraf 85. Danach kann unter bestimmten Voraussetzungen über die Pflegesätze nachverhandelt werden.

epd: Aber?

Leonhardi: Ich habe von Mitgliedern, die seit über 30 Jahren im Job sind, gehört, dass es noch nie vorgekommen sei, dass die Pflegekassen auf ein solches Anliegen reagieren. Und ad hoc hilft das womöglich auch nicht, denn die Verträge laufen immer mindestens ein Jahr. Und wenn ich gerade vor wenigen Wochen einen neuen Vertrag verhandelt habe, dann kann ich fast ein Jahr lang nichts mehr machen, um die Kosten aufzufangen.

epd: Es gibt die Forderung nach Einrichtung eines Sondervermögens für die Pflege, also nach dem Vorbild der besseren Ausstattung der Bundeswehr. Würde das helfen?

Leonhardi: Wir fordern eine Finanz- und Strukturreform. Ein „Weiter so“ ist nicht zielführend. Die Pflege ist jetzt gefordert, Veränderungsprozesse anzustoßen. Eine qualitativ hochwertige und bezahlbare Versorgung in allen Bereichen der Pflege muss erklärtes Ziel sein. Daher fordern wir eine grundständige Finanz- und Strukturreform in unserem Strategiepapier 2021-2025, die dem Armutsrisiko Pflege entschieden entgegentritt, und treten für gleichwertige Lebensverhältnisse ein.

epd: Was ist unmittelbar zu tun?

Leonhardi: Wir brauchen Leistungszuschläge zu den Eigenanteilen, die angehoben werden. Auch die Dynamisierung des Pflegegeldes ab Januar 2023 muss bereits jetzt umgesetzt werden. Das sind übrigens alles von der Bundesregierung angekündigte Maßnahmen, wie auch zum Beispiel die Ausbildungsumlage, die aus den Eigenanteilen der Bewohner rausgenommen werden soll. Das alles würde schon helfen, den Heimen etwas Luft zu verschaffen. Eine Abkehr von der Stückwerk-Politik der vergangenen Legislaturperioden ist entscheidend.

epd: Was ist langfristig an Reformen nötig?

Leonhardi: Es hilft nicht, viel Geld in die Pflege zu stecken und die überholten Strukturen einfach beizubehalten. Wir fordern eine grundlegende Struktur- und Finanzreform. Wir haben ein völlig unübersichtliches System geschaffen, von Mini-Reform zu Mini-Reform. So kann es nicht weitergehen. Da geht es auch um die Frage, wie wir gesamtgesellschaftlich künftig pflegen wollen. Und wie viel Geld das kostet. Wir müssen endlich mal anfangen, diese Fragen zu diskutieren. Das ist eine Aufgabe, die weit über die jetzige Legislatur hinausgeht. Und dabei muss im Kern geklärt werden, wie die Eigenanteile der Heimbewohnerinnen und -bewohner gedeckelt werden können. Und auch auf welcher Höhe, damit Pflege planbar wird.