Bremen (epd). Begonnen hat alles in einer Turnhalle in der Nachbarschaft von Jule Stegemann-Trede. „Da kamen irgendwann zwei Frauen mit Malutensilien rein“, erinnert sich Mustafa, der Ende 2015 in der Flüchtlings-Notunterkunft im Bremer Osten untergekommen war. „Die haben uns einfach gesagt: 'Malt!' und das haben wir dann gemacht, auch wenn der Umgang mit Farbe für die meisten völlig neu war. Fast 100 Jungs haben sich damals in der Turnhalle gestapelt, und uns war einfach langweilig.“ Heute trifft sich der harte Kern der damaligen Malgruppe unterstützt von der Diakonie noch immer - im Atelier der Künstlerin Jule Stegemann-Trede.
Andere Geflüchtete, vor allem aus Afghanistan und Syrien, sind im Laufe der Jahre dazu gekommen. Bisher sind insgesamt 40 junge Männer und Frauen künstlerisch aktiv gewesen, aus den Jugendlichen sind junge Erwachsene geworden. „Sie wohnen über das ganze Stadtgebiet verteilt und nehmen oft lange Anreisewege in Kauf, um ein- oder zweimal pro Woche zum Malen hierher zu kommen“, erzählt Stegemann-Trede von dem Projekt unter dem Titel „Flug des Stiftes“.
Der Ton im Atelier ist vertraut, über die Jahre ist die Künstlerin zu einer Lebensbegleiterin und Freundin der jungen Leute geworden. „Jule ist immer da gewesen, das ist wichtig, weil du am Anfang mit vielen wechselnden Bezugspersonen zu tun hast. Das Atelier ist so etwas wie Heimat geworden“, sagt Bilal. „Respekt in der Begegnung ist allen hier ganz wichtig.“
Den Namen „Flug des Stiftes“ hätten afghanische Teilnehmer der Gruppe gegeben, erinnert sich Jule Stegemann-Trede. „Der Titel passt, denn es geht darum, Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen künstlerisch in großer Freiheit Ausdruck zu verleihen. Mit den Farben zu hantieren ist entspannend, allein sich auszuprobieren und eine eigene Idee auf die Leinwand zu bringen, tut gut.“ Malen könne jeder, ist sie überzeugt: „Kreativität steckt in jedem von uns, aber sie ist oft durch schlechte oder fehlende Erfahrungen mit dem Malen verschüttet.“ Bei Bedarf gibt die Künstlerin und Kunsttherapeutin auch handwerkliche Tipps und vermittelt Maltechniken.
Mehrfach gab es schon Ausstellungen, einige Werke wurden bereits verkauft. Auch sonst ist „Der Flug des Stiftes“ ein Erfolg: Vom Speditionskaufmann über die Zahntechnikerin bis zur Informatikerin sind die Teilnehmenden erfolgreich im Beruf oder studieren. „Informatik kann man weltweit gebrauchen, falls man noch einmal in ein anderes Land gehen muss“, meint Amal.
Ihre Fluchterfahrung steckt den jungen Teilnehmenden in den Knochen, auch wenn sie mittlerweile eine Bleibeperspektive in Deutschland haben und beruflich durchstarten. „Die Integration hat bei allen hier bestens geklappt“, meint Jule Stegemann-Trede. „Am meisten freut mich, dass viele hier sich selbst für Geflüchtete engagieren, die neu nach Deutschland kommen.“
Auch der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, bekräftigt bei einem Besuch in diesen Tagen das integrative Potenzial des Projektes. „Es zeigt eindrucksvoll, welche Kraft eine starke Bürgergesellschaft in Kooperation mit Diakonie und Kirche entfalten kann. Die jungen Menschen konnten das Trauma der Flucht verarbeiten und sie haben einen Ort der Vernetzung und Begegnung gefunden, der sie direkt in die Mitte der Gesellschaft geführt hat.“
So gibt Amal mittlerweile selber Workshops für Geflüchtete, unterstützt ehrenamtlich Digitalisierungskurse für ältere Menschen, hat schon als Schulbegleiterin und in einem Kochprojekt mit Kindern gearbeitet, das ihnen helfen soll, Deutsch zu lernen. Tatev ergänzt: „Natürlich läuft nicht immer alles glatt bei der Integration, manchmal erleben auch wir Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, zum Beispiel bei der Wohnungssuche. Dann ist die Wohnung plötzlich schon vergeben, wenn man zur Besichtigung kommt.“
Bilal lässt sich davon nicht entmutigen: „Ich habe jetzt eine nette WG gefunden. Nebenbei jobbe ich als Freizeitbegleiter bei der Lebenshilfe, und wenn ich das Fachabi habe, möchte ich Grafikdesign studieren.“