Hannover (epd). Angesichts wachsender Herausforderungen in Krisenzeiten hat der Sozialphilosoph Oskar Negt tiefgreifende Sozialreformen angemahnt. „Klimakrise, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Inflation und Energieknappheit: Die Hiobsbotschaften verdichten sich. Im Großen wie im Kleinen, auf nationaler und internationaler Ebene erleben wir schwierigere Verhältnisse als je zuvor - und ich habe nicht das Gefühl, dass das politische und gesellschaftliche Handeln dieser Wahrheit angemessen Rechnung trägt“, sagte der 88-Jährige dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsgebot, das allen Menschen ein Leben in Würde und Selbstbestimmtheit zusichere, sei über Jahrzehnte ausgehöhlt worden. Die gesellschaftliche, aber auch globale Ungleichheit habe „in skandalösem Ausmaß“ zugenommen. „Die vielfältigen humanitären, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine sind nach der Pandemie nur weitere Weckrufe, diese Probleme grundsätzlich und langfristig anzugehen, anstatt immer nur an der Oberfläche herumzudoktern“, mahnte Negt.
Mit Blick auf das steigende Armutsrisiko kritisierte der Sozialphilosoph eine „Symbolpolitik, die sich in kurzsichtigen Maßnahmen nach dem Gießkannenprinzip erschöpft“. Einmalige Entlastungspakete und ein Tankrabatt böten armen und von Armut bedrohten Menschen keinen Ausweg aus ihrer prekären Lage. Andererseits seien höhere Sprit- und Energiepreise für Besserverdienende „zwar nicht angenehm, aber durchaus tragbar“.
Negt forderte eine „radikale Steuerreform“, die das einkommensstärkste Viertel der Bevölkerung stärker als bisher in die Pflicht nehmen müsse, um eine Verelendung des unteren Bevölkerungsdrittels zu verhindern. Aus den Steuererlösen solle künftig „ein Grundeinkommen für heutige Leistungsempfänger finanziert werden, das ein diskriminierungsfreies Leben ermöglicht“. Zudem solle Care-Arbeit - also meist unentgeltliche und nicht sozialversicherungspflichtige Erziehungs-, Betreuungs- oder Pflegearbeit - durch diese Mehreinnahmen anerkannt und finanziert werden.
Zudem betonte der emeritierte Soziologieprofessor der Leibniz Universität Hannover, dass das Einsparen von Energie und natürlichen Ressourcen „mit Blick auf den Klimawandel und die längst erreichten Grenzen des Wachstums“ über den aktuellen Versorgungsengpass hinaus Bestand haben müsse. Zugleich müsse es eine moralische Pflicht für Staat und Gesellschaft sein, im Winter niemanden frieren zu lassen. „Wenn wir 100 Milliarden Euro für Waffen zur Verfügung stellen können, muss auch die Versorgung mit Wärme für die ganze Bevölkerung gesichert werden“, forderte Negt.