sozial-Editorial

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Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

die Diakonie Deutschland feiert ihr 175-jähriges Bestehen. Als Geburtsstunde der Diakonie gilt die Brandrede des Theologen Johann Hinrich Wichern am 22. September 1848 auf dem Evangelischen Kirchentag in Wittenberg. Der Hamburger forderte ein Netzwerk der „rettenden Liebe“ und läutete damit den Beginn der modernen Diakonie ein.

Im 175. Jubiläumsjahr der Diakonie erinnert der Präsident des Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Lilie, im Interview an die Grundüberzeugung der evangelischen Sozialeinrichtungen: „Gott will, dass allen Menschen geholfen wird.“ Er erinnerte auch an die Verstrickungen im Nationalsozialismus. Nicht immer habe sich die Diakonie in ihrer Geschichte an ihren eigenen Maßstäben orientiert.

Die Hoffnungstaler Stiftung Lobetal lebt nach den Worten ihres Geschäftsführers, Martin Wulff, noch heute den diakonischen Auftrag, den einst Mitgründer Friedrich von Bodelschwingh hinterlassen habe: „Dass ihr mir niemanden abweist!“ In Lobetal revolutionierte der Pastor ab 1906 die Obdachlosenfürsorge.

Knapp drei Millionen Menschen sind in Deutschland nach Schätzungen medikamentenabhängig. Gudrun Schmittat war eine von ihnen. Vor sieben Jahren hat sie sich nach der dritten Entgiftung von ihrer Sucht befreit. Das war für sie wie eine Wiedergeburt. Seitdem feiert sie zwei Mal im Jahr ihren Geburtstag.

In Berlin haben Freiwilligendienstleistende gegen die drohende Kürzung von Bundesmitteln demonstriert. Kinder- und Jugendverbände protestierten gegen Einschnitte im Kinder- und Jugendetat der Bundesregierung. Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa spricht im epd-Interview von „existenziellen Gefährdungen“ für Sozialangebote.

Bei einem Streik an einer Klinik ist nach einem Gerichtsurteil ein Notdienst Pflicht. Eine Minimal-Versorgung muss sicherstellen, dass Patientinnen und Patienten nicht gefährdet werden.

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Ihr Markus Jantzer




sozial-Thema

Diakonie

Interview

Präsident Lilie: Nicht alle können mit dem Wandel Schritt halten




Ulrich Lilie
epd-bild/Jens Schulze
Im 175. Jubiläumsjahr der Diakonie erinnert der Präsident des Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Lilie, an die Grundüberzeugung der evangelischen Sozial- und Hilfseinrichtungen: "Gott will, dass allen Menschen geholfen wird."

Berlin (epd). Nach der Überzeugung von Diakoniepräsident Ulrich Lilie kommt es in Zeiten der Klimakrise und wachsender sozialer Ungleichheiten darauf an, den Wandel und die gesellschaftliche Transformation sozial gerecht zu gestalten. „Niemand darf zurückbleiben, das bleibt der Anspruch der Diakonie“, sagte Lilie im Interview. Die Fragen stellte Markus Jantzer.

epd sozial: Vor 175 Jahren im Revolutionsjahr 1848 wurde auf dem Evangelischen Kirchentag in Wittenberg der sogenannte „Central-Ausschuss für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche“ gegründet. Er war eine Organisation einflussreicher Einzelpersonen, der sich der Förderung der Inneren Mission im deutschsprachigen Raum verschrieb. Welche Ziele verfolgten evangelische Theologen und engagierte Protestanten mit ihrer Initiative?

Ulrich Lilie: Aus Liebe und aus Glauben haben Johann Hinrich Wichern und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter ihre Kirche an ihren vornehmsten Auftrag erinnert: zuerst und vor allem für die schwächsten Glieder der Gesellschaft einzutreten. Die Innere Mission, deren Programm Wichern im September 1848 in Wittenberg darlegte, zielte auf Leib und Seele, auf soziale Hilfe und christliche Ansprache. Mit zum Teil bis heute wegweisenden Konzepten haben die Pioniere der Diakonie Angebote für gerechte Teilhabe und bessere Chancen für benachteiligte Menschen geschaffen. Dabei haben sie sich innovativ modernen, gerade im Entstehen begriffenen Organisationsformen wie zum Beispiel Vereinen bedient, um schnell handlungsfähig und wirksam zu sein. Der Central-Ausschuss unterstützte die Gründung von regionalen Initiativen, brachte Pilotprojekte auf den Weg und organisierte wirtschaftliche und politische Unterstützung.

epd: Wie müssen wir uns die Anfänge der Arbeit in diakonischen Einrichtungen vorstellen?

Lilie: Zu den Anfängen der Diakonie gehören Improvisationsfähigkeit, Risikobereitschaft, Pionier- und Gründergeist und enormes Engagement der treibenden Persönlichkeiten. Vor allem aber prägt die Diakonie von ihren Anfängen an die christliche Grundüberzeugung, dass Gott will, dass allen Menschen geholfen wird. Natürlich muss man sich die ersten Einrichtungen eher überschaubar und familiär vorstellen. Zahlenmäßig hatten diese kleinen Anfänge der Größe der sozialen Not nur wenig entgegenzusetzen, aber sie waren von vornherein als Vorbild und Keimzelle einer großen, flächendeckenden Bewegung gedacht, als ein Netzwerk der „rettenden Liebe“. Ende des 19. Jahrhunderts setzte die öffentliche Finanzierung der Diakonie ein. Das führte auch zum Bau großer diakonischer Anstalten mit strikten Ordnungen, die wir nun schon seit vielen Jahren unter den Gesichtspunkten von Partizipation, Sozialraumorientierung und Inklusion kritisch sehen und umbauen.

epd: Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Deutschland haben sich seit dem 19. Jahrhundert grundlegend verändert. Auch gingen die Bedeutung und die Macht der Kirche deutlich zurück. Was hat die Diakonie von damals mit der Diakonie von heute noch gemeinsam?

Lilie: Damals wie heute sind Kirche und Diakonie gefragt, wie sie auf einen Epochenbruch antworten wollen. Unsere Gesellschaft wird sozial ungleicher, älter, kulturell und religiös vielfältiger und digitaler. Der Klimawandel sorgt zusätzlich für gesellschaftliche Spannungen. Damals wie heute kommt es darauf an, den Wandel und die gesellschaftliche Transformation sozial gerecht zu gestalten. Damals wie heute können nicht alle Menschen mit dem Wandel Schritt halten. Niemand soll zurückbleiben, das bleibt der Anspruch der Diakonie. Diakonische Träger und Einrichtungen können auch nach 175 Jahren wichtige professionelle Impulse dafür setzen, dass die unterschiedlichen Menschen mit ihren vielfältigen Lebensentwürfen in den unterschiedlichen Regionen miteinander und füreinander Verantwortung für die Gestaltung einer sozial gerechten Gesellschaft übernehmen.

epd: Wie würden Sie im Zeitraffer den Wandel der Diakonie, ihrer Aufgaben und ihrer Stellung in Staat und Gesellschaft in den vergangenen 175 Jahren beschreiben? Was sind die wichtigsten Wegmarken?

Lilie: Es gelang der Diakonie in den ersten 50 Jahren ihres Bestehens, von einer Initiative einiger Engagierter zu einem unverzichtbaren Teil der stationären sozialen Versorgung in Deutschland zu werden. In der Weimarer Republik wurde sie eine tragende Säule des Sozialstaats. In den Kirchengemeinden, in Städten und Dörfern hatte die Diakonie durch ihre Gemeindeschwestern, Frauenhilfe und viele andere Kreise eine breite Unterstützungsbasis. Die NS-Herrschaft, die anfangs von vielen auch in den eigenen Reihen begrüßt wurde, sich dann aber auch gegen Kirche und Diakonie und vor allem gegen ihre Schutzbefohlenen richtete, bildete einen gravierenden Einschnitt in diese Entwicklung. Gerade in dieser Zeit hat die Diakonie schwere Schuld auf sich geladen, wenn wir an die T4-Euthanasiemorde oder die willfährige Auslieferung jüdischer Bewohnerinnen und Bewohner an die Tötungsmaschinerie der Nazis denken.

Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die Diakonie in Westdeutschland an ihre starke Stellung im Kreis der anderen Wohlfahrtsverbände anknüpfen. Mit dem Ausbau des Sozialsystems haben wir einen enormen Zuwachs an diakonischen Einrichtungen und Mitarbeitenden erlebt; begleitet wurde das von einer umfassenden Professionalisierung unserer Arbeit. In der DDR hatte die Diakonie hingegen mit vielen staatlichen Restriktionen zu kämpfen; dafür gelang es ihr, die Verbindung zur Basis in den Kirchengemeinden zu stärken.

epd: Und heute?

Lilie: Heute steht die Diakonie für Beteiligung und Befähigung von allen Menschen unabhängig von ihrem Vornamen, Geldbeutel oder Geschlecht. Mit ihren 630.000 hauptamtlichen Mitarbeitenden und den rund 700.000 ehrenamtlich Engagierten ist sie nach wie vor ein überaus wirksames Netzwerk für Zusammenhalt, Beteiligung und Inklusion und für eine gerechte und lebenswerte Gesellschaft für alle.

epd: Aus einer Bewegung einzelner engagierter Theologen und protestantischer Laien sind in Deutschland Tausende professionelle Sozialunternehmen entstanden. Mit welchem Blick würden Gründerväter der Diakonie wie etwa der Hamburger Theologe Johann Hinrich Wichern (1808 bis 1881) oder der westfälische Pfarrer Friedrich von Bodelschwingh (1831 bis 1910) auf das schauen, was aus ihrer Initiative geworden ist? Was würde ihnen gefallen, was würden sie vermissen?

Lilie: Beide würden sich sicherlich darüber freuen, dass ihre Saat aufgegangen und die Diakonie gewachsen ist. Sie würden sich über den beharrlichen Einsatz für Menschen am Rande der Gesellschaft freuen, darüber dass die Diakonie nach wie vor den Menschen und der Gesellschaft dient. Auch dass das diakonische Denken und Handeln in der evangelischen Kirche fest verwurzelt ist, würden sie als Erreichen eines ihrer Ziele ansehen. Daneben hatte die Innere Mission allerdings auch klare volksmissionarische Ziele; der starke Rückgang der Verbundenheit vieler Menschen mit der Kirche und dem christlichen Glauben würde Wichern zweifellos schmerzen.

epd: Von Wichern ist folgender Satz überliefert: "Jede Arbeit soll zuerst mit dem Herzen, dann mit den Händen oder mit der Zunge geschehen.” Heute, denke ich, ist die Entscheidung für den Beruf einer Pflegerin oder eines Sozialberaters bei einem diakonischen Träger weniger ein Herzenswunsch leidenschaftlich engagierter Menschen als eine Entscheidung für einen Arbeitsplatz, der den eigenen Talenten und Neigungen entspricht und zur Sicherung des eigenen Lebensunterhaltes dient. Ist diese - doch eher pragmatische - Haltung eine gute Grundlage, um die Existenz der Diakonie für weitere Jahrzehnte zu sichern?

Lilie: Aus meinen vielen Begegnungen mit beeindruckenden Mitarbeitenden vor Ort in diakonischen Diensten und Einrichtungen weiß ich, dass sich heute ein pragmatisch-professionelles Selbstbewusstsein mit Leidenschaft für den eigenen Beruf und für die Verbesserung der Lebensperspektiven von Menschen mit Unterstützungsbedarf verbindet. Diese hoch engagierten Mitarbeitenden sind ein Schatz für unser Gemeinwesen! Ihnen gute Rahmenbedingungen für ihre Arbeit zu bieten, ist Aufgabe der Diakonie und der Politik zugleich.

epd: Die Diakonie hat in ihrer langen Geschichte auch schwere Fehler gemacht. Sie hat sich in der NS-Zeit angepasst bis dienerisch verhalten; sie hat bis in die 1970er Jahre hinein vielen Kindern in Heimen Gewalt und Missbrauch angetan. Auf ihrer Homepage sagt die Diakonie über sich selbst: „Diakonie bedeutet: den Menschen achten und wertschätzen, unabhängig von seinem Alter, seiner Gesundheit, seinem Geschlecht, seiner Herkunft.“ Wie erklären Sie das Versagen und das so gar nicht christliche Verhalten in der Diakonie?

Lilie: Wir sind nicht die besseren Menschen, wir sind evangelisch. Der deutsche Protestantismus ist gerade in der Weimarer Republik und in der NS-Diktatur einer Ideologie der Ungleichwertigkeit, der Staatsnähe, des Nationalismus und des Totalitarismus erlegen. Dieses unheilvolle Gemisch hat den Boden bereitet für die schuldhafte Verstrickung der Diakonie in die menschenverachtende Politik der Nationalsozialisten. Und leider gab es auch eine durch Personen repräsentierte Fortsetzung autoritärer und menschenverachtender Handlungsmuster in der Nachkriegszeit, wenn wir an die eklatanten Verfehlungen in der Heimerziehung denken.

Wir haben in diesem Jubiläumsjahr versucht, im Rahmen einer historischen Fachtagung auszuloten, wie sich die Diakonie in ihrer Geschichte zwischen freiheitlichen Impulsen einerseits und autoritären Strukturen anderseits bewegte. Gefährlich wurde es immer dann, wenn das Wohl der Einzelnen zurückstehen sollte hinter vermeintlich größeren, allgemeinen Werten wie „Volksgesundheit“ oder gesellschaftliche Ordnung. Die Diakonie hat nicht immer die notwendige freiheitliche, menschenrechtliche Orientierung gehabt, um autoritärem Ungeist den nötigen Widerstand mutig entgegenzusetzen.

epd: Was unternimmt die Diakonie, damit sie in Zukunft ihren hohen ethischen Ansprüchen gerecht wird und solche Fehlentwicklungen verhindert werden?

Lilie: In den diakonischen Ausbildungsstätten und bei Trägern und Einrichtungen wird heute an die Gräueltaten der Nazis, an die Verstrickung der Diakonie und an das Versagen angesichts der Verfolgung und der Not von Mitmenschen erinnert. Mir ist wichtig, dass wir die Erinnerung gemeinsam mit von Ausgrenzung bedrohten Menschen wachhalten. Die Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft pflegen wir in einem guten, engen Verhältnis mit der jüdischen Wohlfahrtspflege. Angesichts der Gefährdung unserer Demokratie und erstarkendem Rechtspopulismus und Antisemitismus haben wir mittlerweile den Arbeitsbereich „Engagement, Demokratie und Zivilgesellschaft“ erheblich ausgebaut und übernehmen Verantwortung für unser demokratisches Gemeinwesen. Und ganz grundlegend: Die sozialethische und konstruktiv-kritische Reflexion unserer Arbeit gehört mittlerweile - Gott sei Dank - zu unserem professionellen Selbstverständnis, wie auch eine wertschätzende Fehlerkultur und hohe Transparenz- und Compliancestandards.



Diakonie

Jubiläum "in nachdenklicher Tradition"




"Denkmal der grauen Busse" in Brandenburg an der Havel. Mit diesen Fahrzeugen wurden die behinderten Menschen aus den Einrichtungen geholt.
epd-bild/Gordon Welters
Zum 175-jährigen Bestehen startet die Diakonie eine Kampagne unter dem Motto "#aus Liebe". Dabei sollen auch Versäumnisse und dunkle Kapitel der Geschichte nicht ausgespart werden.

Bielefeld, Berlin (epd). Die Stele mitten auf dem Bielefelder Bethel-Platz steht für Leid und Unrecht. In einem durchsichtigen Kubus erinnern mehr als 1.000 aufgetürmte Papierbögen mit handschriftlich verfassten Texten an Menschen, die während des Nationalsozialismus in Bethel zwangssterilisiert wurden. In den vergangenen Jahren haben diakonische Träger und Einrichtungen die dunklen Phasen ihrer Geschichte erforschen lassen und Gedenkorte geschaffen. Die Jubiläumsfeiern zum 175-jährigen Bestehen der Diakonie sollen auch die Schattenseiten der Diakonie-Geschichte in den Blick nehmen.

Schreckliches Leid

Hilfsbedürftigen Menschen sei mitunter schreckliches Leid zugefügt worden, erklärt Bethel auf seiner Internetseite. „Auch Bethel kann sich davon nicht freisprechen.“ Heute gebe es eine jedoch eine gelebte Erinnerungskultur, gestützt und inspiriert durch die historische Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit.

„Das Versagen während des Faschismus, vor allem angesichts der sogenannten Patientenmorde, ist wohl das finsterste Kapitel“, sagt Diakonie-Präsident Ulrich Lilie mit Blick auf das Jubiläum. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei dann Heimkindern viel Leid geschehen. Dies sei intensiv aufgearbeitet worden. Derzeit würden gemeinsam mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) die Fälle von Missbrauch und sexualisierter Gewalt wissenschaftlich erforscht.

Diakonische Einrichtungen und Träger wie die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld, die Hoffnungstaler Stiftung Lobetal bei Berlin, das evangelische Stephansstift in Hannover oder Eben-Ezer in Lemgo erinnern an die Opfer der sogenannten „Euthanasie“ der Nationalsozialisten. Mit der „T4-Aktion“ begannen 1939 Nationalsozialisten die systematische Tötung von geistig behinderten und psychisch erkrankten Menschen. Auch aus diakonischen Einrichtungen wurden von den Nationalsozialisten Menschen abtransportiert und ermordet.

Vereinzelte Proteste

Gegen die Transporte leisteten einzelne Pfarrer und Einrichtungsleiter Widerstand. Dafür stehen beispielsweise der frühere Leiter der Lobetaler Anstalten, Gerhard Braune, oder der Bethel-Leiter Friedrich v. Bodelschwingh der Jüngere. Die Proteste seien auf evangelischer Seite jedoch vereinzelt und nicht organisiert gewesen, sagt der Bielefelder Historiker und Diakonie-Experte Hans-Walter Schmuhl. Oft habe man sich „für eine Art teilnehmenden Widerstand“ entschieden. Das habe zwar dazu geführt, dass Einzelne bewahrt worden seien. Den Abtransport anderer habe man dadurch aber nicht verhindern können.

Ein weiteres dunkles Kapitel, Misshandlung und Missbrauch in Kinder- und Jugendheimen in der Nachkriegszeit, ist von diakonischen Trägern in den vergangenen Jahren mit Studien, Tagungen und Gedenkveranstaltungen aufgearbeitet worden.

„Selbst-bewusst und selbstkritisch“

Nach einer anfänglichen Lernphase in den 1990er Jahren gehe die Diakonie inzwischen „sehr offen und offensiv“ mit den dunklen Kapiteln ihrer Geschichte um, sagte Schmuhl dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Es wird nicht mehr abgewartet, dass von außen Dinge skandalisiert werden, sondern kritische Themen werden schon prospektiv angegangen.“

Der geänderte Umgang zeigt sich beispielsweise bei der Diakonischen Stiftung Wittekindshof in Bad Oeynhausen: Nach dem Bekanntwerden von möglichen Übergriffen in einem heilpädagogischen Intensivbereich im Jahr 2019 hat der Wittekindshof die betroffene Abteilung aufgelöst und Beschäftigungsverhältnisse beendet. Außerdem hat die Stiftung umfangreiche Strukturreformen zur Prävention auf den Weg gebracht.

Das Jubiläumsjahr werde in „selbst-bewusster, selbstkritischer, nachdenklicher Tradition begangen, sagte Diakoniechef Lilie. “Wir feiern kein Halli-Galli-Jubiläum unter der Überschrift 'Ach, was sind wir doch so toll'", unterstreicht er.

Holger Spierig


Diakonie

Netzwerk "freier Liebestätigkeit"




Büste des Diakonie-Gründers Johann Hinrich Wichern im Rauhen Haus in Hamburg
epd-bild/Stephan Wallocha
Die Diakonie erinnert an ihren Gründer, den Hamburger Pfarrer und Anstaltsleiter des "Rauhen Hauses", Johann Hinrich Wichern. Die Organisation hatte über Jahrhunderte so manche Krise zu bestehen und prägt bis heute die Sozialpolitik des Landes mit - ein kurzer Gang durch die bewegte Geschichte.

Berlin (epd). Die Anfänge protestantischer sozialer Arbeit reichen zurück in die Zeit der Frühindustrialisierung ab 1810. Arbeitslosigkeit, Invalidität und Krankheit führten zu massenhafter Verelendung, die von der althergebrachten Armenpflege der Kirchen nicht mehr zu bewältigen war. In der Folge entstanden die ersten Einrichtungen der Inneren Mission, dem Vorläufer der heutigen Diakonie, die die Armenpflege als „freie Liebestätigkeit“ in Vereinen, Genossenschaften, Stiftungen und selbstständigen Einrichtungen organisierte.

Beim ersten Evangelischen Kirchentag in Wittenberg im September 1848 stellte der Hamburger Pfarrer und Anstaltsleiter des „Rauhen Hauses“, Johann Hinrich Wichern, die Bedeutung der Inneren Mission als neuartiges Netzwerk protestantischer Sozial- und Kulturarbeit heraus. Er regte die Gründung eines Gremiums an, um das Nebeneinander zahlreicher christlicher Initiativen und Vereine zugunsten einer überregionalen protestantischen Hilfsorganisation zu überwinden - die Geburtsstunde des 1849 gegründeten Central-Ausschusses für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche (C.A.) als ausbaufähige Organisationsform der diakonischen Bewegung.

Central-Ausschuss hatte vielfältige Aufgaben

Der C.A. diente der Koordinierung der vielen rechtlich selbstständigen sozialpädagogischen, fürsorgerischen und pflegerischen Heime, Anstalten und Einrichtungen. Und er unterhielt Kontakte zu Regierungen, Magistraten und Parlamenten sowie zu anderen Wohlfahrtsorganisationen. Die Träger waren durch die Mitgliedschaft in dem als Verein angelegten C.A. locker miteinander verbunden. Die diakonische Arbeit vor Ort leisteten Einrichtungen wie Bethel in Westfalen, Stetten in Württemberg, Neuendettelsau in Bayern, Kreuznach im Rheinland, Moritzburg bei Dresden oder Hephata/Treysa in Hessen.

Im Kaiserreich wandte sich der C.A. neuen Arbeitsfeldern wie der Behindertenfürsorge, der Wandererfürsorge sowie der Jugend- und Erziehungsfürsorge zu. Seit den 1870er Jahren entstand die Stadtmission, die am Ende des Kaiserreichs nahezu in jeder deutschen Stadt zu finden war.

Krise durch den Zusammenbruch des Wirtschaftssystems

Das duale System sozialer Sicherung aus öffentlicher und gemeinnütziger Hilfe wurde in der Weimarer Republik zum zentralen Strukturprinzip öffentlicher Fürsorge. In der Weltwirtschaftskrise geriet der Sozialstaat unter Druck. Angebote der Wohlfahrtspflege - und auch die Kosten dafür - wurden zunehmend infrage gestellt. Die Innere Mission folgte, wenn auch oft nur unter Druck, im NS-System den neuen, autoritären Vorstellungen von Fürsorge. Das christliche System der Nächstenliebe versagte: Zehntausende von Patientinnen und Patienten in den Einrichtungen wurden deportiert, zwangssterilisiert oder gar ermordet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1945 das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland gegründet. Es verteilte zunächst Hilfssendungen, die von Partnerkirchen im Ausland ins darbende Deutschland kamen. Kriegsheimkehrer, Vertriebene und Flüchtlinge wurden in Lagern betreut und bei ihrer Integration unterstützt. 1957 schlossen sich der Central-Ausschuss und das Hilfswerk unter dem Namen „Innere Mission und Hilfswerk der EKD“ zusammen. Durch die Gründung des „Diakonischen Werkes der EKD“ im Jahre 1975 wurde das Hilfswerk formal aufgelöst.

DDR: Wirken unter den Augen der Staatsmacht

Trotz erheblicher staatlicher Beschränkungen konnte die Diakonie auch in der DDR wirken. Sie muss ihre Tätigkeit aber auf die Pflege kranker und behinderter Menschen konzentrieren. Seit 1991 sind ost- und westdeutsche Diakonie organisatorisch wieder vereint. 2012 fusionierte das Diakonische Werk mit dem Evangelischen Entwicklungsdienst zum Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung. Internationale Entwicklungsarbeit und die nationale diakonische Arbeit wurden enger miteinander verzahnt.

Rund 600.000 hauptamtlich Mitarbeitende sind in Voll- und in Teilzeit in rund 5.000 diakonischen Unternehmen beschäftigt. Zur Diakonie gehören etwa 33.000 stationäre und ambulante Dienste wie Krankenhäuser, Altenpflegeheime, Sozialstationen, Wohngruppen oder Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Angebote für Suchtkranke und Obdachlose oder Beratungsstellen.

Dirk Baas


Diakonie

Obdachlosenarbeit: Jedem "Asylisten" sein eigenes Kämmerchen




Wo alles begann: der grüßende Jesus am Gründungsort der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal
epd-bild/Hans Scherhaufer
Pastor Friedrich von Bodelschwingh revolutionierte die städtische Obdachlosenfürsorge. Er ließ in Berlin Gestrandete in Arbeiterkolonien beherbergen - ab 1906 auch in Lobetal. Es war die Keimzelle des diakonischen Wirkens in Lobetal, das sich bis heute stetig verändert.

Bernau (epd). Die mannshohe Christusfigur aus hellem Sandstein ist nicht zu übersehen. Heute wie vor knapp 120 Jahren steht der steinerne Heiland im märkischen Lobetal bei Bernau an jener Stelle, an der die Geschichte dieser diakonischen Einrichtung ihren Anfang nahm. Im faltenreichen Gewand eines Bettelordens und mit nach unten gesenkten offenen Armen grüßt er seit 1907 herab von seinem Sockel. „Das war damals etwas anders“, erläutert Jan Cantow, Leiter der Stabsstelle Geschichte/Erinnerung, die Symbolik des Lobetaler Wahrzeichens. „Die Figur stand einst direkt auf dem Boden. So empfing Christus die neuen Bewohner der Kolonie auf Augenhöhe.“

Wer heute durch die beschauliche Siedlung läuft, die ein Ortsteil von Bernau ist, kann sich kaum mehr vorstellen, wie es hier aussah, bevor die obdachlosen Männer aus Berlin ihre harte Arbeit aufnahmen. Wie sie mühsam den Wald rodeten, um Obst- und Gemüseplantagen anzulegen, noch völlig unmotorisiert Landwirtschaft und Viehzucht betrieben.

Kleines Museum gibt Einblick in die Entstehungsgeschichte

Die ersten drei schlichten Wohnbaracken der Arbeiter im Rücken der Christusfigur sind verschwunden. An ihrer Stelle befinden sich heute auf gleichem Grundriss flache Gebäude, in die die Verwaltung eingezogen ist. Ein kleines Museum hält mit Modellen, Schautafeln und Fotos die Erinnerung wach, wie die „Asylisten“ - wie Bodelschwingh „seine“ Obdachlosen nannte - in ihren „Heimstätten“ einst lebten.

Der umtriebige und politisch bestens vernetzte Theologe von Bodelschwingh (1831-1910) hatte im März 1905 den „Verein Hoffnungstal für die Obdachlosen der Stadt Berlin e.V.“ mitgegründet, der die Arbeiterkolonien Hoffnungstal und Lobetal aufbaute und betrieb. Sein Credo lautete: „Dass Ihr mir niemanden abweist.“

Nutzbringende Arbeit statt Betteln

Nutzbringende Arbeit statt Almosen und Bettelei, menschenwürdige Unterkünfte statt massenhaftes Kampieren in Massenunterkünften und sinnstiftende Gemeinschaft statt Gottlosigkeit und Verrohung - diesen Ansatz verfolgte der Pastor beharrlich. Seine Vision war es, die Arbeiter dem Sündenpfuhl Berlin, auf dessen Straßen sich um 1905 Tausende ihren Unterhalt erbettelten, mit seinen unmenschlichen Obdachlosenasylen zu entreißen.

Im Dezember 1905 umriss von Bodelschwingh seinen missionarischen Plan im ersten Rundbrief an die Förderer der Kolonie Hoffnungstal: An jedem Morgen gebe es hier „ein fröhliches Aufwachen nicht zum Betteln, sondern zu dauernder gesunder Arbeit in Gottes freier Natur und zu einem selbstverdienten ehrlichen Stück Brot“. Und jeder Mann bekomme „ein sicheres Obdach für die Nacht, geschützt vor schweren sittlichen Gefahren, da jeder Asylist sein eigenes Kämerchen bekommen hat“. Aus heutiger Sicht war das sicher keine hinreichende Privatsphäre, aber damals im Vergleich zu den überlaufenen städtischen Elendsqartieren ein gewaltiger Sprung in der Unterbringung und Versorgung.

Fürsorgendes Dorf

Das märkische Dorf, kaum 20 Kilometer nordöstlich von der Hauptstadt entfernt, liegt von Wald umgeben in sonnendurchschienener Ruhe. Eine beschauliche Siedlung mit Kirche, Dorfladen, Begegnungszentrum, Touristentreff, Ärztehaus und auch einem Friseur. Lobetal ist das, was man in der Fachsprache einen Komplexträger nennt, also ein größerer Anbieter von vielen verschiedenen diakonischen Hilfen. Er firmiert unter dem Namen „Hoffnungstaler Stiftung Lobetal“, beschäftigt rund 3.500 Mitarbeitende und gehört als eine von vier Stiftungen zum Verbund der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel.

Geschäftsführer Martin Wulff betont, dass das Credo von Bodelschwinghs noch heute gilt: „Für uns heißt das: Wir sind da für Menschen, die auf Hilfe und Begleitung angewiesen sind. Wir reichen ihnen die Hand. Sie sind Teil von uns und Teil unserer Gemeinschaft.“

Kampf gegen Ausgrenzung und Diskriminierung

Er erinnert zudem daran, dass es wie einst in den Gründerzeiten auch heute noch gesellschaftliche Benachteiligung und Ausgrenzung gibt: „Menschen werden diskriminiert, sind nicht willkommen, nur weil sie eine Einschränkung haben, weniger leistungsfähig sind, eine andere Hautfarbe oder eine andere sexuelle Orientierung haben als die Mehrheit unserer Bevölkerung.“ Dagegen müsse man angehen, und zwar vehement: „Wenn wir leise sind, dann schaffen wir Platz und Raum für Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung.“

Die Obdachlosenarbeit spielt kaum noch eine Rolle. Das Profil des Trägers hat über die Zeit stark verändert. Heute ist die Stiftung in fünf Bundesländern aktiv. Zu ihren Schwerpunkten gehören die Altenhilfe, die Arbeit mit behinderten Menschen, die Kinder und Jugendhilfe, die Suchthilfe sowie die Ausbildung in sozialen Berufen sowie die Betreuung von Migranten. Aber die Stiftung unterhält auch viele spezialisierte Angebote wie Hospize, die Klinik Tabor für Epilepsiekranke oder das Haus „Trau dich!“, eine vollstationäre Jugendhilfeeinrichtung mit zwei Wohngruppen für Jugendliche mit hohem Bedarf an traumaspezifischer Arbeit.

Waches Gedenken an die NS-Zeit

Ein Rundweg macht erfahrbar, wie sich das fürsorgende Örtchen mit seiner Vielzahl an Pflege- und Wohneinrichtungen ständig gen Osten ausgedehnt hat. Wer auf der „Bodelschwinghstrasse“ in Richtung des alten Ortskerns geht, wird auch mit den dunkelsten Tagen des Trägers konfrontiert. Ein mächtiger Findling mit Infotafeln erinnert an die am 13. April 1942 aus dem Ort deportierten Menschen jüdischer Herkunft. Und, darauf weist der Historiker des Hauses, Jan Cantow, hin: Vor gut einem Jahr verlegte Stolpersteine im Gehsteig verweisen zusätzlich auf ihren schändlichen Tod in Konzentrationslagern beziehungsweise im Warschauer Ghetto.

Die Architektur ist Spiegel des Zeitenlaufs: Moderne, zweckmäßige Gebäude und sanierte Backsteinbauten aus der Entstehungszeit kommen ebenso in den Blick wie erhaltene Bauten aus der Ära der DDR. Apropos DDR: Cantow zeigt rechts am Weg auf ein etwas zurückgesetztes, weiß getünchtes Gebäude, dessen Grundstück den dahinter legenden „Melchensee“ berührt. „Das ist das Pfarrhaus, das der Anstaltsleiter Paul Gerhard Braune (1887-1954) bauen ließ. Mitten im Ort unter den Bewohnern, auch das war ein Statement.“

Wo Honecker einst Asyl fand

Hier hat einst Pastor Uwe Holmer auf Bitten der Kirchenleitung den gestürzten krebskranken SED- und Staatschef Erich Honecker und dessen Frau Margot ab Januar 1990 rund neun Wochen lang beherbergt - ein spektakulärer Fall von Kirchenasyl. Die Episode wurde eindrucksvoll verfilmt und kam 2022 unter dem Titel „Honecker und der Pastor“ mit Edgar Selge in der Hauptrolle als Honecker auf die Leinwand.

Leiter Braune, der die Einrichtung von 1922 bis 1954 vielleicht am stärksten prägte, erwarb sich viele Verdienste. In der Nazizeit kämpfte er gegen die Krankenmorde im Rahmen der sogenannten Euthanasie. Er protestierte mit einer Denkschrift gegen die „planmäßige Verlegung“ in die Tötungsanstalten. Ihm gelang es, den Abtransport von 25 Personen aus Erkner zu verhindern. Braune nahm Menschen mit jüdischer Herkunft auf, Menschen, die von den Nazis als „asozial“ diffamiert wurden, und Männer mit homosexueller Orientierung. Viele konnte er vor dem sicheren Tod bewahren - aber nicht alle. „Braune konnte nicht verhindern, dass diese vier Menschen, die doch in Lobetal integriert waren, und für die er Verantwortung spürte, abgeholt wurden. Ich vermute, das dürfte ihn sein Leben lang beschäftigt haben“, berichtet Geschäftsführer Wulff.

Und was ist das Verbindende der Lobetaler Arbeit heute? Man stütze sich auf zwei Leitsätze, so Wulff: „Gemeinschaft verwirklichen“ und „Wir sind da für Menschen“. Gemeinschaft zu verwirklichen bedeute, für eine Kultur des Miteinanders, des Respekts und der Teilhabe zu stehen. „Wir sind da für Menschen“ spiegele sich in allen Arbeitsfeldern wider. Wulff: „Diakonie ist immer an der Seite der Menschen, die auf Unterstützung und Begleitung angewiesen sind. Uns ist dabei wichtig, dass der christliche Geist sichtbar ist.“

Dirk Baas


Diakonie

Interview

"Tue das Deine, Gott das Seine"




Martin Wulff
epd-bild/Hoffnungstaler Stiftung Lobetal/Mechtild Rieffel
Die Hoffnungstaler Stiftung Lobetal, einst von Pastor Friedrich von Bodelschwingh mitgegründet, ist aus der Obdachlosenarbeit hervorgegangen. Heute beschäftigt sie in Arbeitsfeldern von der Behindertenhilfe bis zur Jugendarbeit mehr als 3.500 Mitarbeitende. Geschäftsführer Martin Wulff blickt auf eine lange Unternehmensgeschichte zurück - und voraus auf die Herausforderungen der Zukunft.

Bernau (epd). Dass diakonische Arbeit herausfordernd ist, verschweigt Geschäftsführer Martin Wulff im Interview nicht. Aber trotz Fachkräftemangel und schwindender Relevanz der Kirchen sagt er: „Wir blicken zuversichtlich nach vorne.“ Ihm sei nicht bange um die Zukunft: „Die Diakonie besitzt eine hohe Akzeptanz.“ Es gehe um eine Gesellschaft, die von menschlichen Werten geprägt ist. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Friedrich von Bodelschwingh, Mitgründer der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal, gab seinen Mitstreitern die Losung „Dass Ihr mir niemanden abweist“ vor. Lässt sich das heute noch in Lobetal umsetzen?

Martin Wulff: Friedrich von Bodelschwingh schuf Strukturen des Respekts auf Augenhöhe, damit obdachlose Männer Arbeit erhielten, damit sie in Würde leben konnten, damit sie sich in einer Gemeinschaft aufgehoben wussten und ein Leben ohne Almosen gestalten konnten. Das Lobetaler Wahrzeichen ist seit 1907 der einladende Christus am Ort der ersten Wohnbaracken, und der bringt genau das zum Ausdruck. Die Figur empfängt mit einladender Geste die Menschen damals wie heute. Für uns heißt das heute: Wir sind da für Menschen, die auf Hilfe und Begleitung angewiesen sind. Wir reichen ihnen die Hand. Sie sind Teil von uns und Teil unserer Gemeinschaft.

epd: Sicher ein christlicher Ansatz der Obdachlosenhilfe. Aber ums Geld ging es doch damals auch schon?

Wulff: Es hat sich bei Bodelschwingh und all den anderen Charismatikern und Pionieren in erster Linie nicht um das Geld gedreht, wohl wissend, dass es ohne das nicht geht. Die Gründerpersönlichkeiten haben viel unternommen haben, ihre Arbeit finanziell auszustatten. Doch haben sie vermutlich nicht zuerst gefragt: Rechnet sich das? Sicher ist es falsch, einen Mythos zu verbreiten, dass die Mittel der liebe Gott immer zur rechten Zeit gegeben hat, obwohl es manchmal der Fall war. Der erste Aufschlag war die Not, die gewendet werden muss. Das nehmen wir auch heute in der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal in Anspruch.

epd: Womit wir schon im Heute wären ...

Wulff: Ja, und es gibt mehrere Beispiele, an denen ich zeigen kann, wie wir diakonische Arbeit heute verstehen. 2017 haben wir Verantwortung übernommen für Menschen, die zum Teil Jahrzehnte in Heimen der ehemaligen Landesklinik Brandenburg, jetzt Asklepios, in Lübben, Brandenburg an der Havel und Teupitz lebten. Die Asklepios Kliniken boten an, für diesen Heimbereich die Verantwortung zu übernehmen. Nach mehreren Jahren des Verhandelns übernahmen wir den Fachbereich Sozialpsychiatrische Rehabilitation mit dem klaren Auftrag der Enthospitalisierung. Wir begannen, Apartmenthäuser zu errichten. 150 Menschen sollen nicht mehr als Heimbewohner, sondern als Mieterinnen und Mieter leben, gemeinsam mit Menschen, die die Wohnungen frei gemietet haben. So sind inklusive Orte entstanden.

epd: Die neuen Hospize gehören auch dazu ...

Wulff: Ja. Es geht um Linderung des Schmerzes und darum, Orte zu schaffen, an denen Menschen, die keine lange Lebensperspektive haben, gut begleitet werden können. Das sind Hospize als Orte des Lebens. Wir schaffen derzeit zwei dieser Orte. Und schließlich möchte ich noch unsere Arbeit für Jugendliche in Krisensituationen nennen. Sie leben im Wendepunkt in Rüdnitz, im Haus Trau Dich in Lobetal oder in Therapeutischen Wohngruppen in Berlin. Die Jugendlichen mussten in ihrer Kindheit schreckliche Dinge erleben. Dass sich niemand um sie gekümmert hat oder sie nicht wussten, wie sie an Essen kommen sollten, sind noch die harmlosen Dinge. Wir sind für sie da mit Teams, die Erfahrung haben im Umgang mit Traumata. Einfühlsam und professionell arbeiten sie mit ihnen an ihren Erlebnissen. Sie lernen dabei, zu vertrauen und Beziehungen einzugehen.

epd: Kommen wir noch einmal auf den Anspruch des Gründers „Dass Ihr mir niemanden abweist“ zurück. Ließ sich dieses Credo zu allen Zeiten umsetzen, etwa in der NS-Zeit oder auch in der Phase der DDR? Oder ist es nur noch ein abstrakter Begriff aus lange vergangenen Tagen?

Wulff: Das Credo Bodelschwinghs war auch prägend für den Anstaltsleiter Pastor Paul Braune in den Jahren 1922 bis 1954. In der Nazizeit kämpfte er gegen die Krankenmorde im Rahmen der sogenannten Euthanasie. Er protestierte mit einer Denkschrift gegen die „planmäßige Verlegung“ in die Tötungsanstalten. Ihm gelang es, den Abtransport von Frauen in Erkner zu verhindern. Braune nahm Menschen in Lobetal auf, die an anderen Orten nicht mehr sein konnten, weil die Nazis sie verfolgten und sie um ihr Leben bangen mussten. Das waren Menschen mit jüdischer Herkunft, Menschen, die von den Nazis als „asozial“ diffamiert wurden, und es waren Männer mit homosexueller Orientierung. Viele konnte er vor dem sicheren Tod bewahren. Aber 13 Menschen jüdischer Herkunft und vier Männer mit homosexueller Orientierung starben. Sie wurden ermordet in Konzentrationslagern, starben im Warschauer Getto, wurden umgebracht in der Hinrichtungsstätte Berlin Plötzensee. Braune konnte nicht verhindern, dass diese vier Menschen, die doch in Lobetal integriert waren und für die er Verantwortung spürte, abgeholt wurden. Ich vermute, das dürfte ihn sein Leben lang beschäftigt haben.

epd: Wie leben Sie den Wahlspruch heute in Ihren Einrichtungen?

Wulff: Nicht nur damals, auch heute werden Menschen ausgegrenzt, benachteiligt, diskriminiert, sind nicht willkommen, nur weil sie eine Einschränkung haben, weniger leistungsfähig sind, eine andere Hautfarbe oder eine andere sexuelle Orientierung haben als die Mehrheit unserer Bevölkerung. Deshalb gilt heute in der Tradition Lobetals: Wir dürfen nicht leise sein, wenn es um die Belange von Menschen geht, die eine andere sexuelle Orientierung haben. Wenn wir leise sind, dann schaffen wir Platz und Raum für Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung.

epd: Lobetal ist über die Jahrzehnte permanent gewachsen. Hat sich das oft „eher zufällig“ ergeben oder verfolgten die Anstaltsleiter da immer einen systematischen Plan, wenn sie einen speziellen Hilfebedarf sahen?

Wulff: Zu Beginn wurden Angebote und Orte geschaffen für Wanderarbeiter und Wohnungslose sowie für deren Familien. Im Mittelpunkt standen Arbeit, Bildung, Wohnen und Gemeinschaft. Integration war das Ziel. So entstanden nach Rüdnitz die Standorte Lobetal, Blütenberg, Dreibrück und Reichenwalde. Land und nicht mehr bewirtschaftete Gutshöfe wurden dafür günstig erworben. Die weitere Entwicklung ist ein Mix aus verschiedenen Logiken.

epd: Können Sie die etwas näher beschreiben?

Wulff: Zunächst hat die Einführung des Subsidaritätsprinzip in der Weimarer Republik die Grundlage geschaffen, dass soziale Arbeitsfelder auskömmlich finanziert wurden und durch freie Träger ausgebaut werden konnten. Für Hoffnungstaler Anstalten galt das in der Entwicklung der Arbeitsfelder der Altenhilfe und der Behindertenhilfe. Dann gibt es den Ausbau von Bereichen etwa für die Kommunen. Hier sind wir aktiv, indem wir Kitas betreiben oder Unterkünfte für Geflüchtete Menschen. Das sind recht junge Arbeitsfelder. Aber wir übernehmen auch Verantwortung, wenn uns Anfragen erreichen. Etwa die Bitte, ob wir das Management von Vereinen oder gemeinnützigen Gesellschaften übernehmen können? Das war beispielsweise bei der Schrippenkirche mit dem Hotel Grenzfall und dem Diakonischen Werk Niederlausitz der Fall. Hier ist ein entscheidender Aspekt: Passt die Institution zu uns? Stellt es eine sinnvolle Ergänzung dar? Und natürlich sind wirtschaftliche Aspekte im Blick.

epd: Also gab es nie ein Wachstum um jeden Preis?

Wulff: Nein. Im Mittelpunkt stand nie eine Strategie des Wachstums oder einer finanziellen Überlegung im Sinne von Geldmaximierung. Wir entscheiden mit Augenmaß, ob wir uns neuen Arbeitsgebieten zuwenden.

epd: Was ist das Verbindende aller Lobetaler Angebote heute?

Wulff: Zwei Leitsätze schaffen das Verbindende: „Gemeinschaft verwirklichen“ und „Wir sind da für Menschen“. Gemeinschaft verwirklichen bedeutet, dass die Hoffnungstaler Stiftung Lobetal für eine Kultur des Miteinanders, des Respekts und der Teilhabe steht. „Wir sind da für Menschen“ spiegelt sich in den diakonischen Arbeitsfeldern wider. Diakonie ist immer an der Seite der Menschen, die in Not sind, die benachteiligt sind, die auf Unterstützung und Begleitung angewiesen sind. Uns ist dabei wichtig, dass der christliche Geist sichtbar ist. Unsere Veranstaltungen haben immer auch einen christlich spirituellen Akzent. Wir beginnen diese mit einem christlichen Impuls, singen Lieder mit christlichem Inhalt. Gäste in Lobetal werden immer an die Figur des einladenden Christus geführt. Das ist der Ort, an dem die offiziellen Fototermine mit Gästen aus Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kirche stattfinden. Auch in den Häusern sind Worte aus der Bibel oder Sätze, die eindeutig den christlichen Geist atmen, zu lesen auf Bildern oder an der Wand.

epd: Wie blicken Sie in die Zukunft? Was sind die größten Herausforderungen, der sich die Diakonie und damit auch Lobetal stellen muss?

Wulff: Mal ganz grundsätzlich: Wir blicken zuversichtlich nach vorne. Gewiss gibt es immer wieder Herausforderungen, und die Krisen scheinen sich zu überschlagen. Aber war das schon mal anders? Die Hoffnungstaler Stiftung Lobetal hat viele Krisen gemeistert. Und die waren äußerst massiv. Sicher: Finanzierungsfragen begleiten uns ständig, Fachkräftemangel ist unser täglich Brot. Aber da heißt es, hinzuschauen, die Situationen zu gestalten, zu motivieren, mit Fachlichkeit und einer guten Arbeit zu begegnen. Und auch mal die Zähne zusammenbeißen. Das mussten wir beispielsweise während der Corona-Pandemie und zu Beginn des Krieges in der Ukraine mehr als einmal. Doch wir können auf gute Mitarbeitenden zählen, die bereit sind, die Herausforderungen anzugehen und lösungsorientiert zu arbeiten. Es ist bei allem harte Arbeit, und die Erfolge fallen nicht vom Himmel. Ich pflege immer zu sagen: Tue das Deine, Gott das Seine.

epd: Aber die kirchliche Bedeutung in der Gesellschaft schwindet doch merklich ...

Wulff: Ja, dass die kirchliche Relevanz zurückgeht, das sehen wir. Ich sehe aber auch, dass Diakonie eine hohe Akzeptanz besitzt. Die Hoffnungstaler Stiftung Lobetal erreicht gut 3.500 Mitarbeitende, viele Klientinnen und Klienten, Angehörige, Familien, Spenderinnen und Spender. Das summiert sich auf zigtausend Menschen. Ich begreife das als große Chance für die Kirche. Wir sind sehr offen für gemeinsame Konzepte, wie es gelingen kann, den christlichen Glauben einladend und attraktiv zu gestalten. Am Ende des Tages geht es dabei um eine Gesellschaft, die von menschlichen Werten geprägt ist.



Diakonie

Mädchenwohngruppe: "Wir halten dich, und wir halten dich aus"




Eine junge Frau, die bis vor Kurzem in der Wohngruppe gelebt hat, im Gespräch mit Gülüzar Tengic-Müller (links)
epd-bild/medio.tv/schauderna
Ein großer diakonischer Träger mit langer Tradition: die Hephata Diakonie im nordhessischen Schwalmstadt. Mit Kompetenz und Nächstenliebe sorgt sie seit 120 Jahren dafür, dass Menschen Hilfe bekommen - so auch in einer speziellen Mädchenwohngruppe.

Hofgeismar, Schwalmstadt (epd). Ein großes Fachwerkhaus war für mehr als ein Jahr Sarahs Zuhause. Der Zugang ist durch ein Metalltor abgeschirmt, dahinter liegt ein Garten, der von Hecken umgeben ist. Die 18-Jährige hat in ihrem Elternhaus jahrelang extreme psychische und die Androhung körperlicher Gewalt erlebt, war massiver Kontrolle und Zwang ausgesetzt. Das Haus im nordhessischen Hofgeismar war für sie ein Ort der Zuflucht - wie auch für andere Mädchen, die nach Gewalt oder Missbrauch nicht mehr in ihrem bisherigen Umfeld leben können.

Die Mädchenwohngruppe im Ortsteil Hümme gehört zur Hephata Diakonie in Schwalmstadt-Treysa. Sarah nennt das Haus für neun Jugendliche ihren Schutzort, die Gemeinschaft sei ihre Familie. Zu ihren Eltern möchte sie keinen Kontakt mehr: „Ich wusste, dass ich gehen muss. Es war nur sehr schwer, es auszusprechen. Der Prozess hat drei Jahre gedauert.“ In der Wohngruppe habe sie sich behütet gefühlt: „Hier waren Menschen, die mich beschützen.“

Bewohnerinnen teilen Sorgen und Freuden

Die Jugendlichen teilen Sorgen und Freuden, Alltag und Freizeit. Sie können auch Beratungs- und Therapieangebote nutzen. Wohngruppenleiterin Gülüzar Tengic-Müller und ihre Mitarbeiterinnen sind ihre Ratgeberinnen und Unterstützerinnen. Sarah erinnert sich gern an das gemeinsame Kochen und an die Gartenarbeit. Und sie war froh über das eigene Zimmer als Rückzugsort.

„Sarah hat bei uns eine Perspektive gefunden“, resümiert Gülüzar Tengic-Müller gemeinsam mit Anna-Lena Gordienko, die Teamleiterin und Fachberaterin für den Bereich Familienintegrative Hilfen und Mädchenwohngruppen bei Hephata ist. Der erste Schritt in die Selbstständigkeit ist mit dem Umzug in eine Wohngemeinschaft des Betreuten Jugendwohnens bei Hephata getan. „Dort lebt sie freier und eigenverantwortlicher“, erklärt die Wohngruppenleiterin. Für Sarah heißt das, die Schule abzuschließen und eine Ausbildung zu beginnen. Wenn das nicht klappt: „Jede kann in die Wohngruppe zurück“.

Erzieherin spricht von „bedingungsloser Zugewandtheit“

Für Tengic-Müller, die Erzieherin, Heilpädagogin und Diakonin in Ausbildung ist, und die Sozialarbeiterin Gordienko gehört es zum Selbstverständnis ihres Berufs, Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Gordienko spricht von „bedingungsloser Zugewandtheit“: „Hier darfst du sein, wir halten dich, und wir halten dich aus.“

Hephata bedeutet „Öffne dich“. In diesem Sinn leben die Mitarbeiterinnen der Jugendhilfe, einem der wichtigsten Geschäftsbereiche von Hephata, ihre Arbeit jeden Tag. Mit Kompetenz und Nächstenliebe wollen sie dafür sorgen, dass die Klientinnen die benötigte Hilfe bekommen.

Die 1901 in Treysa gegründete Hephata Diakonie ist es eines der ältesten diakonischen Unternehmen in Deutschland. An Standorten in Hessen, Bayern und Rheinland-Pfalz arbeiten rund 3.000 Beschäftigte mit Menschen mit Behinderung, Erkrankungen oder in Lebenskrisen. In den 122 Jahren ihres Bestehens hat sich für den Vorstandssprecher, Pfarrer Maik Dietrich-Gibhardt, nichts an den Grundsätzen diakonischer Arbeit verändert: „Die Nöte der Menschen zu sehen und Angebote der Hilfe und Unterstützung zu machen, vor dem Horizont der christlichen Nächstenliebe.“

Moderne und pflegerische Arbeit mit diakonischer Prägung

Hephata stehe für eine evangelisch geprägte, moderne pädagogische und pflegerische Arbeit, „die sich an den Bedarfen der Menschen ausrichtet“. Die Angebote der Eingliederungshilfe, der Krankenpflege, der Jugendhilfe und der Förderschulen hätten ihre Wurzeln ebenso in der langen Geschichte wie die Akademie für soziale Berufe: „Qualifizierung und Ausbildung gehören von Anfang an zu Hephata.“

Allerdings habe sich die staatlich anerkannte, pädagogische und pflegerische Ausbildung geändert, erklärt Diakon Stefan Zeiger, Geschäftsführer der Diakonischen Gemeinschaft Hephata, in der sich Diakoninnen und Diakonie sowie der Kirche verbundene Mitarbeitende organisieren. Die Diakon-Ausbildung sei keine Voraussetzung mehr, für Hephata zu arbeiten - „eine diakonische oder christliche Haltung sind es schon“.

Helga Kristina Kothe


Diakonie

Hephata ist aktiv in drei Bundesländern



Schwalmstadt (epd). Die Hephata Diakonie beschäftigt nach eigenen Angaben rund 3.200 Mitarbeitende an 61 Standorten in Hessen, Bayern und Rheinland-Pfalz. Sie arbeitet in den Bereichen Behindertenhilfe, Jugendhilfe und Suchtrehabilitation. Weitere Schwerpunkte sind die Psychiatrie und Neurologie, die Heilpädagogik sowie die Wohnungslosenhilfe. Außerdem betreibt der Träger Förderschulen in der beruflichen Bildung. Die Tochtergesellschaft Hephata soziale Dienste und Einrichtungen gGmbH macht ambulante und stationäre Angebote der Altenhilfe. Hephata bildet in sozialen und pflegerischen Berufen aus.

Seit ihrer Gründung im Jahr 1901 hat die Hephata Diakonie ihren Sitz in Schwalmstadt-Treysa. Vorstandssprecher Maik Dietrich-Gibhardt betont: „Die Kirche steht im Mittelpunkt und lädt zu Gottesdiensten und Veranstaltungen ein. Unsere Häuser tragen Namen aus der biblischen Tradition, es gibt ein reichhaltiges kirchenmusikalisches Angebot, und wir suchen bewusst den Kontakt zu den Kirchengemeinden.“

Suche nach sinnstiftender Arbeit

Allerdings seien Beschäftigte heute nicht unbedingt aktive Kirchenmitglieder. Auch die Zeiten verpflichtender Andachten oder Tischgebete seien vorbei, erläutert Dietrich-Gibhardt. Vielmehr gehe es vielen darum, eine sinnstiftende Arbeit zu haben. Deshalb müsse Diakonie auch nach innen ins Gespräch gebracht werden, sagt der Theologe.

Dietrich-Gibhardt verschweigt auch die Schattenseite der Geschichte nicht. Ihm ist eine Erinnerungskultur wichtig, „die die Begebenheiten der NS-Zeit oder der ehemaligen Heimkindererziehung in den 1950er Jahren bis 1970er Jahren sichtbar macht.“ Sie hätten auch dazu beigetragen, dass Selbstbestimmungsgremien der Klientinnen und Klienten heute selbstverständlich seien.



Diakonie

Aus dem Hessischen Brüderhaus wurde die Diakonische Gemeinschaft Hephata



Schwalmstadt (epd). Das Gründungsjahr 1901 der Hephata Diakonie in Schwalmstadt war zugleich die Geburtsstunde der Diakonischen Gemeinschaft Hephata. Männer, die sich zur Nächstenliebe berufen fühlten, traten in das Hessische Brüderhaus ein, dem Vorläufer der Diakonischen Gemeinschaft. Sie wollten Diakone werden und im Anschluss in der Jugendhilfe und mit behinderten Menschen zu arbeiten.

Heute gehören der Diakonischen Gemeinschaft Hephata Männer und Frauen aus pädagogischen, sozialen und Pflegeberufen an, die sich der Kirche und ihrer Diakonie verbunden fühlen und sich für eine soziale Gesellschaft einsetzen. Sie arbeiten in sozialen und pflegerischen Berufen sowie im Bildungsbereich der Kirchen, der Diakonie und bei anderen Trägern in Deutschland.

Knapp 440 Mitglieder prägen die Arbeit

Die meisten der 436 Mitglieder haben eine Ausbildung zum Diakon oder zur Diakonin durchlaufen, die Hephata in diakonischer Tradition anbietet und deren Kosten sie trägt. Auch wenn die Rolle der Diakonischen Gemeinschaft sich verändert habe, begleite sie die Arbeit Hephatas intensiv, sagt ihr Geschäftsführer, Diakon Stefan Zeiger. Zudem biete sie sich für das Unternehmen und seine Mitarbeitenden als ein Ort der Spiritualität an.

Mit den Worten „Wir wollen Halt geben, Halt finden und Haltung zeigen“, beschreibt Zeiger, wie Diakonie in der Gemeinschaft heute gelebt wird. An der Haltung sei christliches Wirken ablesbar, am Umgang miteinander sowie an der Zuwendung. Schon der Theologe, Sozialpädagoge und Diakoniegründer Johann Hinrich Wichern (1808-1881) habe deutlich gemacht: „Jede Arbeit soll zuerst mit dem Herzen, dann mit den Händen oder mit der Zunge geschehen.“




sozial-Politik

Sucht

Abhängigkeit auf Rezept




Gudrun Schmittat
epd-bild/Uwe Möller
Zwei Jahrzehnte lang war Gudrun Schmittat abhängig von Beruhigungsmitteln und starken Schmerzmitteln. Es betrifft Millionen Menschen in Deutschland: Sie sind medikamentenabhängig - auch weil Ärzte bei Verordnungen nicht immer den Überblick haben.

Mettmann, Frankfurt a. M. (epd). An einem Samstag vor sieben Jahren will Gudrun Schmittat sterben. Seit Jahren ist sie süchtig. Aus ihrem Leiden sieht sie nur noch einzigen Ausweg: Sie unternimmt einen Suizidversuch. Aber sie hat Glück. Ihr Mann kommt früher von der Arbeit nach Hause und findet sie. Er rettet ihr das Leben.

Wie ein zweiter Geburtstag

Vor diesem Tag war sie schon zwei Mal zur Entgiftung in einer Klinik, aber dieses Mal klappt es: Seit 9. Juli 2016 ist Schmittat, gelernte OP-Schwester aus Mettmann in Nordrhein-Westfalen, abstinent. Sie nennt diesen Tag ihren zweiten Geburtstag - und feiert ihn jedes Jahr. 20 Jahre lang war die heute 59-Jährige abhängig von Medikamenten gewesen, hatte Beruhigungsmittel und starke Schmerzmittel genommen.

Medikamentenabhängigkeit ist in Deutschland weit verbreitet. Das Bundesgesundheitsministerium spricht von 2,7 Millionen Erwachsenen, die Medikamente in schädlichen Mengen einnehmen oder von ihnen abhängig sind. Welchen Einfluss zuletzt die Corona-Pandemie auf Medikamentenmissbrauch hatte, lässt sich noch nicht absehen. Menschen kämen oft erst nach Jahren der Sucht in die Klinik, sagt Psychiater Mathias Luderer, Leiter der Suchtmedizin an der Uniklinik Frankfurt am Main.

Schmittats Sucht hatte mit Alkohol begonnen. Immer wieder sei sie „über die Stränge geschlagen“, wie sie es nennt. Doch lange verdrängt sie, dass sie ein Problem hat.

Die Geburt ihrer Tochter 1992 ist eine Zäsur: Nach einem Kaiserschnitt bekommt die junge Mutter das Schmerzmittel Tramal. „Ich habe gemerkt, dass damit etwas weggedrückt werden kann“, beschreibt sie ein Gefühl, an das sie auch mehrere Jahre später noch denken wird: „Meine Tochter war drei oder vier, als das Suchtgedächtnis wieder hochkam. Ich stand damals sehr unter Druck. In dieser Situation habe ich mich daran erinnert, dass ich leistungsfähiger war, wenn ich etwas genommen habe“, sagt sie. „Da ging die Mühle dann los.“

Die Medikamente lösen bei Schmittat ein Gefühl aus, das sie kaum beschreiben kann. Das ersehnte Gefühl kommt mit den Medikamenten schneller als beim Trinken. Außerdem: „Mit Alkohol fällt man auf“, sagt sie. „Aber bei den Medikamenten hat es keiner gemerkt.“

Mit Panikattacken ins Krankenhaus

2011 folgt der nächste Einschnitt: Gudrun Schmittat kommt mit Panikattacken ins Krankenhaus. Dass sie süchtig ist, sagt sie den Ärzten nicht. Die Patientin bekommt Benzodiazepine gegen ihre Angst. Sie nimmt die „Benzos“, obwohl sie weiß, dass diese schnell abhängig machen können. „Ich kam nicht raus aus der Situation.“

Wann Menschen bemerken, dass sie ein Problem haben, sei unterschiedlich, sagt der Frankfurter Psychiater Luderer. Was von Ärzten verordnet werde, gelte einerseits als etwas, das der Gesundheit hilft. Andererseits sei vielen Menschen bekannt, dass Schlafmittel ein Problem sein können. Bei starken Schlaf- oder Angststörungen wüssten sie aber nicht, wie sie ihr Leben ohne sie bewältigen könnten. „Sinnvoller wäre eine Psychotherapie - und das mit Medikamenten, die nicht abhängig machen“, sagt er. Doch Psychotherapieplätze seien schwer zu finden.

Abhängig werden Menschen vor allem von Schmerzmitteln wie Codein, Oxycodon und Fentanyl oder von Benzodiazepinen, also Beruhigungsmitteln, die schlaffördernd, entspannend und angstlösend wirken, erklärt der Psychiater. Ärzte hätten oft keinen Überblick über den Konsum ihrer Patientinnen und Patienten. Sie bekämen nicht unbedingt mit, wenn sich ein Patient auch bei anderen Ärzten Medikamente hole. Auch Gudrun Schmittat hat sich von verschiedenen Ärzten etwas verschreiben lassen, wie sie zugibt. Und sie habe Medikamente im Krankenhaus gestohlen, über Jahre hinweg unbemerkt.

Sie weiß, dass ihre Sucht sie ein Leben lang begleiten wird. Dennoch habe sie nur noch sehr selten das Gefühl, etwas nehmen zu wollen, sagt sie. Dabei helfe ihr auch ihr Hobby, das Nähen: „Wenn ich etwas in der Hand habe und fühle, egal was, dann spüre ich mich und dann lässt das Verlangen nach.“

Anna Schmid


Sucht

Expertin: "Föten konsumieren das, was die Mutter zu sich nimmt"




Anke Höhne
epd-bild/Heike Günther
Mütter, die in der Schwangerschaft Alkohol trinken, können beim Fötus irreversible Hirnschädigungen verursachen. Wenn sie rauchen, ist das Risiko für einen plötzlichen Kindstod erhöht, sagt die Suchtexpertin Anke Höhne im Interview mit dem epd.

Hamburg (epd). In Deutschland kommt Schätzungen zufolge eins von 100 Babys mit einer angeborenen alkoholbedingten Schädigung auf die Welt. „Da es keine unbedenkliche Schwellendosis gibt für den Alkoholkonsum während der Schwangerschaft, sollte eine schwangere Frau während der gesamten Schwangerschaft auf Alkohol verzichten“, sagt Anke Höhne, Referentin bei der Fachstelle für Suchtfragen „Sucht.Hamburg“, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Fragen stellte Marcel Maack.

epd sozial: Welche Schäden können bei Babys auftreten, wenn Mütter während der Schwangerschaft Alkohol konsumieren?

Anke Höhne: Der mütterliche Alkoholkonsum während der Schwangerschaft kann mit irreversiblen Hirnschädigungen beim Fötus einhergehen, die zu bleibenden körperlichen und/oder geistigen Beeinträchtigungen führen können. Die allgemeine Intelligenz des Kindes kann beeinträchtigt sein. Zudem kommt es vor allem zu Problemen in der Merkfähigkeit, Problemen in den Rechenfertigkeiten, Konzentrationsstörungen und Problemen in der Aufmerksamkeit, Sprachentwicklungsstörungen sowie im Bereich der sogenannten Exekutiven Funktionen, das heißt alles, was unser planvolles Handeln von Tätigkeiten anbelangt. Die Babys sind oft kleiner und weisen ein geringeres Geburtsgewicht als normal entwickelte Babys auf.

epd: Hat sich die Zahl betroffener Babys im Laufe der Jahrzehnte verändert?

Höhne: Es sind keine verlässlichen Zahlen zu Veränderungen im Zeitverlauf bekannt, da alle Zahlen zur Thematik auf Schätzungen beruhen. Ein Anhaltspunkt könnte allenfalls sein, wie sich der Alkoholkonsum von Frauen in den vergangenen Jahren in Deutschland entwickelt hat: Die 30-Tage-Prävalenz ist zwar in den letzten 20 Jahren etwas gesunken, aber der klinisch relevante Konsum und das Rauschtrinken von Frauen haben leicht zugenommen. Das sagt allerdings noch nichts über das Verhalten während einer Schwangerschaft aus.

epd: Wie wirkt sich der mütterliche Konsum von Tabakprodukten oder sonstigen Suchtmitteln während der Schwangerschaft auf Föten aus?

Höhne: Rauchen während der Schwangerschaft kann bei den Babys dazu führen, dass sie ein geringeres Geburtsgewicht aufweisen. Föten konsumieren immer auch das, was die Mutter zu sich nimmt, brauchen für den Abbau schädlicher Substanzen aber wesentlich länger als die Mutter selbst (das gilt für alle von der Mutter konsumierten Substanzen). Das Risiko für einen plötzlichen Kindstod ist erhöht.

Heroinkonsum während der Schwangerschaft kann zu Entzugssymptomen des Kindes nach der Geburt führen. Auch hier steigt das Risiko für eine Frühgeburt und ein geringeres Geburtsgewicht. Chrystal-Meth-Konsum während der Schwangerschaft führt ebenfalls zu einem erhöhten Risiko für Fehl- und Frühgeburten. Auch hier sind die Babys leichter, haben einen geringeren Kopfumfang und leiden unter dem sogenannten Neonatalen Entzugssyndrom. Sie haben ein erhöhtes Risiko für den plötzlichen Säuglings- und Kindstod und ein höheres Risiko, Entwicklungsdefizite wie Bewegungseinschränkungen oder eine verzögerte Sprachentwicklung aufzuweisen.



Gesundheit

Lauterbach: Inzwischen besser auf Corona vorbereitet




Impf-Spritzen in einer Schale
epd-bild/Harald Koch
Bundesgesundheitsminister Lauterbach und das RKI rechnen im Herbst mit einer neuen Infektions-, auch Corona-Welle. Alarm schlagen sie aber nicht. Man sei gut vorbereitet, sagt Lauterbach und ruft zu Impfung und freiwilligem Tragen von Masken auf.

Berlin (epd). Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sieht Deutschland gut vorbereitet auf eine mögliche weitere Corona-Infektionswelle in der kalten Jahreszeit. Er glaube, dass es im Herbst wieder sehr viele Fälle geben werde, sagte Lauterbach am 18. September in Berlin. Man sei aber diesmal besser vorbereitet: Es gebe ein Monitoring und eine breite Immunität in der Bevölkerung, erläuterte er. Deshalb brauche man beim jetzigen Stand keine Maßnahmen wie etwa Kontakteinschränkungen. Trotzdem sollte sich jeder selbst schützen, appellierte Lauterbach.

Aufruf zur Impfung

Seit 18. September wird in Deutschland ein an neue Varianten des Virus angepasstes Vakzin angeboten. Die Impfung sei der beste Schutz gegen schwere Krankheitsverläufe, sagte Lauterbach und rief insbesondere gefährdete Gruppen dazu auf, sich ebenfalls impfen zu lassen. Zur Gruppe derjenigen, für die eine erneute Impfung empfohlen wird, gehören über 60-Jährige, Menschen mit Risikofaktoren oder Begleiterkrankungen, wie Lauterbach erläuterte.

Er und der kommissarische Präsident des Robert Koch-Instituts, Lars Schaade, empfahlen auch weitere freiwillige Schutzmaßnahmen wie das Tragen von Masken in vollen Räumen und Corona-Selbsttests, wenn Symptome auftreten. Menschen, die eine Atemwegserkrankung haben, sollten drei bis fünf Tage zu Hause bleiben und eine Maske tragen, wenn sich der Kontakt zu Menschen mit Risikofaktoren nicht vermeiden lasse, sagte Schaade. In der Pandemie habe man gelernt, was es bedeute, aufeinander Rücksicht zu nehmen, erklärte Lauterbach.

Seit einigen Woche steige die Zahl der Atemwegserkrankungen und auch Corona-Infektionen in Deutschland an, sagte Schaade. Zu diesem Zeitpunkt im Jahr sei das aber nicht ungewöhnlich, betonte er. Prognosen für Herbst und Winter wollten Lauterbach und Schaade nicht abgeben. Man könne nicht abschätzen, wie viele Arbeitskräfte wegen Erkrankung ausfallen werden, sagte Lauterbach. Es könnten viele sein, weil es nach den Jahren der Pandemie nun der erste Herbst sei, in den man ohne Kontakteinschränkungen, vorgegebene Tests und Maskenregelungen gehe, ergänzte er.

Corinna Buschow


Gesundheit

Corona-Impfstoffe: Ärzte und Forscher äußern Bedenken




Impfung gegen Covid-19
epd-bild/Thomas Lohnes
Die Corona-Fallzahlen steigen wieder. Die Ständige Impfkommission empfiehlt über 60-Jährigen, sich mindestens einmal im Jahr gegen Corona impfen zu lassen. Forscher warnen, in wenigen Fällen könnten Impfstoffe gefährliche Nebenwirkungen haben.

Frankfurt a. M. (epd). Es ist eine Diagnose zum Fürchten: Krebs. Tausende Bundesbürger erhalten sie jedes Jahr. Laut dem Zentrum für Krebsregisterdaten erlagen 2021 mehr als 229.000 Menschen in Deutschland einem Krebsleiden. „Das sind geringfügig weniger als in den beiden Vorjahren, aber mehr als in allen Jahren vor 2019“, heißt es auf der gemeinsamen Homepage des Zentrums für Krebsregisterdaten und des Robert Koch-Instituts.

Aktuellere Zahlen als aus dem Jahr 2021 zu bekommen, ist schwierig. Das Deutsche Krebsforschungszentrum hat noch keine Daten für 2022 veröffentlicht.

„Der Krebs wächst unglaublich schnell“

Der Münchner Immunologe Peter Schleicher betreut in seiner Arztpraxis derzeit 1.000 Patienten. Etwa 30 von ihnen haben laut dem Mediziner aktuell „Turbokrebs“. Das bedeutet: „Der Krebs wächst unglaublich schnell“, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). So viele „Turbokrebspatienten“ gleichzeitig habe er noch nie gehabt.

Laut Schleicher wurde der Krebs bei allen 30 Patienten im ersten Vierteljahr nach ihrer letzten Corona-Impfung diagnostiziert. Er vermutet seit langem, dass mRNA-Impfstoffe das Immunsystem beeinträchtigen können, sodass krankhafte Zellen im Körper nicht mehr effektiv bekämpft werden können: „Das erklärt nach meiner Ansicht, warum die Tumore in Windeseile wachsen.“

Diese These erstaunt Caroline Mohr, Pressereferentin des Bundesverbands „Frauenselbsthilfe Krebs“ in Bonn. „Mir erscheint nicht plausibel, dass die Zahlen ab 2021 womöglich aufgrund der Corona-Impfung sprunghaft gestiegen sein sollen, denn Krebs ist eine Krankheit, die sich langsam entwickelt“, sagt sie. Eine Impfung, die nach wenigen Monaten zu Krebs führt, halte sie „für sehr unwahrscheinlich“. Hätte die Impfung tatsächlich nach dieser kurzen Zeitspanne Krebs ausgelöst, müssten außerdem sehr viel größere Teile der geimpften Bevölkerung betroffen sein.

Das Paul-Ehrlich-Institut in Darmstadt überwacht die Sicherheit von Impfstoffen. Die staatliche Behörde teilte dem epd mit, sie habe keine Hinweise, dass die in Deutschland zugelassenen Covid-19-Impfstoffe das menschliche Erbgut veränderten.

Äußerst merkwürdige Verläufe

„Bereits im Herbst 2021 hatte ich den Verdacht, dass die Corona-Impfstoffe Turbokrebs hervorrufen können“, sagte Ute Krüger dem epd. Die Krebsepidemiologin, die sich 2004 am Brustkrebszentrum Oskar-Ziethen-Krankenhaus in Berlin zur Brustkrebspathologin spezialisierte, forscht aktuell an der schwedischen Lund-Universität.

Sie habe seit einiger Zeit mit Krebspatienten zu tun, die äußerst merkwürdige Verläufe gezeigt hätten. Die Krebsspezialistin verweist etwa auf eine 70-jährige Frau, die mehrere Jahre mit metastasierendem Brustkrebs lebte: „Kurz nach der Impfung gegen Covid-19 explodierte das Tumorwachstum in ihrer Leber.“ Innerhalb eines Monats sei die Patientin gestorben.

Chemie-Professor Andreas Schnepf von der Uni Tübingen hält die Corona-Impfungen „für viel gefährlicher als offiziell dargestellt“, sagte er dem epd. Diesen Verdacht nähre auch eine im August 2022 veröffentlichte wissenschaftliche Analyse von Peter Doshi, Pharmakologie-Professor an der US-Universität Maryland und Mitherausgeber des renommierten British Medical Journal.

Inhaltsstoffe der Corona-Impfmittel

Laut Martin Winkler, Chemie-Professor an der Zürcher Hochschule der angewandten Wissenschaften, gibt es inzwischen einige wissenschaftliche Artikel über möglichen Gefahren und Nebenwirkungen der Corona-Impfstoffe. „Leider finden diese Artikel nicht den Widerhall, den Berichte über die angebliche Wirksamkeit dieser Stoffe in der öffentlichen Wahrnehmung finden“, sagte er dem epd.

Schnepf und Winkler wollen eine eigene Studie zu den Inhaltsstoffen der Corona-Impfmittel veröffentlichen. Dazu bräuchten sie, wie sie sagen, Daten von Herstellern. Bisher hätten sie mit ihren Anfragen noch keinen Erfolg gehabt. „Ohne die angefragten Daten können wir keine Analyse durchführen“, sagt Schnepf.

Pat Christ


Ruhestand

Bericht: Steigende Zahl von Rentnern arbeitet




Wo geht es zur Rente?
epd-bild/Heike Lyding
Meist sind es Minijobs, gelegentlich auch sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen: Eine steigende Zahl von Rentnerinnen und Rentnern bessert notgedrungen mit Erwerbsarbeit ihr Haushaltseinkommen auf. Es gibt aber auch andere Gründe.

Hannover, Berlin (epd). In Deutschland geht einem Medienbericht zufolge eine steigende Zahl von Rentnerinnen und Rentner einer Beschäftigung nach. Wie das „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ am 17. September unter Berufung auf Erhebungen des Bundesarbeitsministeriums berichtet, sind derzeit 1.123.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über 67 Jahre alt und haben somit das reguläre Renteneintrittsalter überschritten. Die Angaben gehen auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion im Bundestag zurück, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt.

„Eine traurige Entwicklung“

Damit seien aktuell 56.105 Seniorinnen und Senioren mehr in Beschäftigung als noch Ende des vergangenen Jahres, hieß es. Von den über eine Million arbeitenden Rentnerinnen und Rentnern seien 251.000 sozialversicherungspflichtig und 872.000 geringfügig beschäftigt.

Allein im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen sind es 54.328 beziehungsweise 185.847, gefolgt von Bayern (41.085/152.215) und Baden-Württemberg (37.252/132.992). Unter den Stadtstaaten liegt Berlin an der Spitze (12.452/22.886).

Dass die große Mehrheit ausschließlich geringfügig über sogenannte 520-Euro-Mini-Jobs beschäftigt ist, sieht die Linke als klares Indiz dafür, dass immer mehr Rentner arbeiten müssen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. „Das ist eine traurige Entwicklung und ein Symptom eines kaputten Rentensystems“, sagte der Ostbeauftragte der Linksfraktion, Sören Pellmann. Schlechte Renten und hohe Preise würden faktisch immer mehr Rentner dazu zwingen weiterzuarbeiten: „Für viele ist das keine freiwillige Entscheidung, sondern notwendig, um über den Monat zu kommen.“

Sinnvolle Aufgabe und soziale Kontakte

Das Ministerium erklärte in seiner Antwort, Erwerbsarbeit im Ruhestand habe vielfältige und nicht nur finanzielle Gründe. Es verwies in diesem Zusammenhang auf eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg aus dem August des vergangenen Jahres.

Dort heißt es unter anderem, die meisten Rentenbeziehenden hätten keine finanziellen Gründe für ihre Erwerbsarbeit angegeben, sondern beispielsweise Spaß an der Arbeit oder das Bedürfnis nach einer sinnvollen Aufgabe und sozialen Kontakten. Die Wahrscheinlichkeit, im Ruhestand einer Erwerbsarbeit nachzugehen, sei bei hohem Bildungsniveau am größten. Zugleich sei sie bei Personen, die ohne ihr Erwerbseinkommen über ein relativ geringes Haushaltseinkommen verfügten, höher als bei denjenigen mit besseren finanziellen Ressourcen.

Dieter Sell



sozial-Branche

Bundeshaushalt

Jugendliche und Verbände protestieren gegen Sozial-Kürzungen




Proteste gegen Kürzungen im Sozialbereich
epd-bild/Christian Ditsch
Die drohenden Kürzungen bei den Freiwilligendiensten und in der Kinder- und Jugendpolitik treiben die jungen Menschen auf die Straße. Sie werfen der Politik vor, in Krisenzeiten ausgerechnet beim Engagement für die Allgemeinheit zu sparen.

Berlin (epd). Mit einer Demonstration im Regierungsviertel haben vorwiegend junge Freiwilligendienstleistende am 20. September in Berlin gegen die drohenden Kürzungen protestiert. Unter dem Motto: „Kürzt uns nicht weg“ forderten sie die Regierung auf, die Freiwilligendienste auszubauen, statt ein Drittel der Plätze zu gefährden. Kinder- und Jugendverbände protestierten gegen Einschnitte im Kinder- und Jugendetat der Bundesregierung.

100.000 Unterschriften gesammelt

Marie Beimen von der Kampagne „Freiwilligendienste stärken“ nannte es bei der Abschlusskundgebung am Brandenburger Tor „komplett unverständlich“, dass die Regierung 35.000 Freiwilligenplätze einfach wegkürzen wolle. Die Einsparungen stünden in keinem Verhältnis zu dem Schaden, den sie anrichteten: „Wir entlasten die völlig überarbeiteten Fachkräfte“, sagte Beimen. Freiwillige engagierten sich für andere Menschen und den sozialen Zusammenhalt.

Die 19-Jährige hatte für eine Petition in kurzer Zeit 100.000 Unterschriften gesammelt und war am 18. September im Petitionsausschuss im Bundestag angehört worden. Die Kampagne für Freiwilligendienste fordert eine Verdoppelung des Taschengeldes auf gut 900 Euro im Monat, damit sich auch Jugendliche mit wenig Geld den Freiwilligendienst leisten können, sowie die Finanzierung von mehr Plätzen.

In den kommenden beiden Jahren will die Koalition aus SPD, Grünen und FDP demgegenüber die Mittel um insgesamt 113 Millionen Euro kürzen, um die Sparvorgaben für den Bundeshaushalt zu erfüllen. Das entspricht jeweils einem Drittel der Ausgaben für das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr für junge Menschen und den Bundesfreiwilligendienst für alle Altersstufen. Pro Jahrgang leisten insgesamt rund 100.000 Menschen einen Freiwilligendienst. Nach Angaben der Diakonie droht jede dritte bis vierte Freiwilligenstelle wegzufallen.

„Weg mit den Kürzungen!“

Die Vorständin der evangelischen Stephanus-Stiftung, Ellen Ueberschär, kritisierte, die Kürzungen machten den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP zur Makulatur. Die Ampel-Parteien hatten vereinbart, die Freiwilligendienste nachfragegerecht auszubauen. „Weg mit den Kürzungen!“, verlangte Ueberschär. Zu der Kundgebung für die Freiwilligendienste hatten unter anderem die Diakonie Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und der Berliner Landesverband der AWO sowie die Kampagne „Freiwilligendienste stärken“ aufgerufen. Die Berliner Polizei schätzte die Teilnehmerzahl auf 1.200 Menschen.

Im Familien- und Jugendausschuss des Bundestags versicherten ebenfalls am Mittwoch alle Fraktionen, sie wollten bis zu den abschließenden Haushaltsberatungen im November noch Änderungen erreichen. Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) erklärte, die laufenden Freiwilligen-Programme seien bis zum Sommer 2024 finanziell abgesichert.

Schwächung der Jugendbildungsarbeit

Die Vorsitzenden des Bundesjugendrings, Daniela Broda und Wendelin Haag, verurteilten bei der Kundgebung die geplanten Kürzungen in der Kinder- und Jugendpolitik. Rund ein Fünftel der Bundesmittel solle gestrichen werden. Dies schwäche die Jugendbildungsarbeit und die internationale Jugendarbeit. Freizeitangebote für Kinder aus ärmeren Familien würden gefährdet.

Der Bundesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt, Michael Groß, erklärte anlässlich der Proteste, versäumte Investitionen in Bildung und Begleitung junger Menschen führten zukünftig zu weit höheren Kosten. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) erklärte: „Bildungsgerechtigkeit geht anders.“ ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp nannte die Kürzungen bei Kindern und Jugendlichen „beispiellos“.

Bettina Markmeyer


Bundeshaushalt

Interview

Caritas-Chefin: Kürzungen erhöhen bei den Menschen die Unsicherheit




Eva Maria Welskop-Deffaa
epd-bild/Heike Lyding
Die Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa, befürchtet Einschnitte im Sozialwesen durch die vorgesehenen Kürzungen im Bundeshaushalt. Sie nannte die Pläne für de Branche existenzgefährdend.

Berlin (epd). Caritas-Chefin Welskop-Deffaa erklärt im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd), was die Kürzungsvorhaben der Ampel-Regierung bedeuten und wen sie treffen würden. „An wichtigen Knotenpunkten der sozialen Infrastruktur soll um bis zu 30 Prozent gespart werden“, sagte Welskop-Deffaa im Interview. Mit ihr sprachen Dirk Baas und Bettina Markmeyer.

epd sozial: Frau Welskop-Deffaa, Kürzungen in den Sozial- und Familien-Etats hat es immer wieder gegeben. Warum ist der Protest gegen die Pläne der Ampel-Regierung so massiv?

Eva Maria Welskop-Deffaa: Die Kürzungen folgen keinem Plan. An wichtigen Knotenpunkten der sozialen Infrastruktur soll um bis zu 30 Prozent gespart werden. Das sind dann keine Einsparungen mehr, sondern existenzielle Gefährdungen. Bislang wird das öffentlich nur ungenügend wahrgenommen: Wenn man die Knoten zerschneidet, hat man hinterher kein Netz mehr, sondern nur noch lose Fäden. Kluges Sparen geht anders.

epd: Von den Einschnitten in Millionenhöhe wären Angebote wie die Migrationsberatung, psychosoziale Hilfen und die Freiwilligendienste betroffen. Welche Folgen hätten die Kürzungen?

Welskop-Deffaa: Viele soziale Einrichtungen stützen sich auf eine gemischte Finanzierung aus öffentlichen Geldern von Bund, Ländern und Kommunen, flankiert bei uns durch kirchliche Eigenmittel. Wenn der Bund aussteigt, bricht das ganze Konstrukt zusammen, und die Anlaufstellen vor Ort verschwinden. Wir sehen die große Gefahr, dass die koordinierenden Stellen, also die Knoten im sozialen Sicherungsnetz, kaputtgespart werden. Vereine, die als Träger die Umsetzung von Bundesprogrammen vor Ort übernehmen, brauchen Verlässlichkeit. Als Feuerwehr des Sozialen in Krisenzeiten können wir nur funktionieren, wenn dieses Miteinander nicht plötzlich zur Disposition gestellt wird.

epd: Können Sie einen Grund für dieses Vorgehen erkennen?

Welskop-Deffaa: Wir nehmen einen neuen Grundton wahr, der uns große Sorge macht: Das Soziale wird von der Politik recht pauschal als Kostenfaktor gesehen. Das haben wir lange nicht mehr gehört. Hat uns die Pandemie nicht bewiesen, dass gerade in schwierigen Zeiten ein starkes soziales Netz unverzichtbar ist? In einer Situation großer gesellschaftlicher Grundunsicherheit muss die politische Antwort „Sicherheit“ lauten.

Sicherheit heißt erstens: das Soziale stärken, und es heißt zweitens: folgerichtig handeln. Man kann also nicht Programme, die man über drei oder mehr Jahre aufgebaut und im Koalitionsvertrag noch einmal bestätigt hat, plötzlich radikal einkürzen. Das schafft Unsicherheit. Und es verletzt Vertrauen. Dass solche Folgen in Kauf genommen werden, ist nach meiner Beobachtung einer der wesentlichen Unterschiede zu früheren Sparrunden.

epd: Nennen Sie uns Beispiele - welche Art von Kürzungen meinen Sie?

Welskop-Deffaa: Das sind zum Beispiel die Frühen Hilfen, durch die stark belastete Familien mit Säuglingen und Kleinkindern unterstützt werden. Diese Strukturen wurden in den vergangenen 15 Jahren mühsam aufgebaut, und nun will man das radikal zurückfahren. Das Gleiche gilt für das Schulprogramm der Respekt Coaches, das ebenfalls wegen der womöglich wegfallenden Unterstützung von zehn Millionen Euro bei den Jugendmigrationsdiensten vor dem Aus steht. Über die Kürzungen beim Freiwilligen Sozialen Jahr gar nicht zu sprechen. Hier erntet die Politik ja auch von allen Seiten Unverständnis.

epd: Würden Sie den drei Koalitionspartnern gleichermaßen vorwerfen, den sozialen Kompass verloren zu haben?

Welskop-Deffaa: Es fällt mir schwer, SPD, Grünen und FDP Noten zu geben. Im Koalitionsvertrag haben die Ampel-Parteien signalisiert, sie sähen die große Chance ihrer Zusammenarbeit darin, die Heterogenität einer postmodernen Gesellschaft abzubilden. Sie versprachen, hinter verschlossenen Türen die Spannungen auszugleichen, sodass tragfähige Antworten gefunden werden. Da machen alle drei Parteien leider Gottes keine gute Figur.

Wenn die FDP gegen neue Schulden und für Subventionsabbau ist, ist das ja nicht per se völlig falsch. Die Ampel muss dann aber auch klären, welche Subventionen zur Disposition stehen. Wenn das Dienstwagenprivileg fallen würde, hätte ich nichts dagegen.

epd: Glauben Sie, dass ein Teil der Kürzungen im Rahmen der Haushaltsberatungen zurückgenommen wird? Es gibt ja auch im Parlament Widerstand gegen den Kurs im Sozialen.

Welskop-Deffaa: Ich kann nur hoffen, dass das passiert. Sowohl Abgeordnete aus der Opposition als auch aus der Ampel-Koalition haben bei der ersten Lesung des Haushalts im Bundestag deutlich gemacht, dass sie mit den Einsparvorschlägen nicht einverstanden sind. Es wird also Änderungsanträge geben.

epd: Diese Hoffnung hegen Sie wohl auch mit Blick auf Gelder, die der organisierten Wohlfahrtspflege entzogen werden sollen, wie etwa die Kürzungen im Sonderprogramm für die Digitalisierung?

Welskop-Deffaa: Tatsächlich bin ich fassungslos, wie man mit der drängenden Zukunftsaufgabe der digitalen Erreichbarkeit sozialer Dienste umgeht. Drei Bundesfamilienministerinnen war es wichtig, uns dabei zu unterstützen, die Angebote der Einrichtungen und Dienste schrittweise zu digitalisieren. Es ist unerlässlich, dass wir für unsere Klientinnen und Klienten in diesem Prozess nicht hinter der öffentlichen Verwaltung hinterherhinken.

Jetzt ist die Förderung der digitalen Transformation der Wohlfahrtsverbände und damit auch die der Online-Beratungen im Umfang von bisher knapp vier Millionen Euro auf null gesetzt. Solche Kürzungen entbehren jeder Logik. Wir brauchen die Nähe zu Ratsuchenden auch im digitalen Raum.

epd: Sie sitzen als Caritas-Chefin in Berlin nah bei der Regierung. Was hören Sie aus der Caritas in Stadt und Land?

Welskop-Deffaa: Unsere lokalen Einrichtungen sind alarmiert. Die Leitungen gehen auf ihre Abgeordneten im Wahlkreis zu und werben um Unterstützung für den Erhalt der sozialen Angebote. So erfahren die Abgeordneten hautnah, welche drastischen Folgen die Beschlüsse im fernen Berlin an der Basis haben werden. Es gibt eine breite Mobilisierung, die ich in dieser Form noch nie erlebt habe. Unsere Kolleginnen und Kollegen wissen, wie viele Menschen - Alte, Kranke, Familien mit kleinen Kindern - darauf angewiesen sind, dass das soziale Netz trägt.



Pflege

Report: Qualität in Heimen regional sehr unterschiedlich




Medikamente werden gerichtet.
epd-bild/Detlef Heese
Der AOK-Pflegereport bestätigt anhand der Daten der Pflege- und Krankenkassen, dass die Versorgung in Pflegeheimen so unterschiedlich ist wie die Regionen in Deutschland. Zu den Qualitätsmängeln zählen zu häufige Gaben von Beruhigungsmitteln.

Berlin (epd). Zehn Prozent der Pflegeheimbewohner werden in einigen Regionen Deutschlands dauerhaft mit Schlaf- und Beruhigungsmitteln behandelt. Das geht aus dem Pflege-Report 2023 hervor, den der AOK-Bundesverband am 19. September in Berlin vorgestellt hat. In anderen Regionen sind es im Durchschnitt weniger als fünf Prozent. Besonders häufig ist die starke Verwendung von Beruhigungsmitteln den Daten zufolge in Nordrhein-Westfalen und im Saarland, wo 45 der 53 kreisfreien Städte und Landkreise auffällige Ergebnisse haben. Vorsichtiger werden die Mittel in fast ganz Ostdeutschland eingesetzt.

Pflege-Daten aus allen Kommunen

Jenseits der Durchschnittswerte sind die Unterschiede noch größer. Dem Report zufolge reicht die Spanne bei der dauerhaften Gabe von Schlaf- und Beruhigungsmitteln von 0,75 Prozent in einem Landkreis bis zu 25,2 Prozent in einem anderen. Schlaf- und Beruhigungsmittel können bei langer Einnahme abhängig machen und erhöhen bei alten Menschen die Sturzgefahr. Sie beeinträchtigen zudem das Lebensgefühl durch Angstzustände, Depressionen und Aggressionen. Der Qualitätsatlas Pflege, der parallel zum aktuellen Pflege-Report veröffentlicht wurde, liefert Pflege-Daten aus allen 400 kreisfreien Städte und Landkreisen in Deutschland im regionalen Vergleich.

Bei den Krankenhauseinweisungen sind die Unterschiede ebenfalls erheblich. Auffällig häufig, nämlich bis zu 12,5 Prozent der dementen Heimbewohner werden in Landkreisen in Bayern, Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen wegen Flüssigkeitsmangel in ein Krankenhaus eingeliefert, während das in Landkreisen bzw. den kreisfreien Städten in Brandenburg, Berlin oder Bremen relativ selten vorkommt (0,4 bis 2,5 Prozent). Gründe für die starken Unterschiede konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nennen.

Für einen Rechtsanspruch auf einen Heimplatz

Über einen längeren Zeitraum betrachtet gibt es aber auch Verbesserungen: So ist der Anteil der Pflegebedürftigen, die im letzten Monat vor ihrem Tod noch einmal aus dem Heim ins Krankenhaus gebracht wurden, seit 2017 von 47 Prozent auf 42 Prozent gesunken. Es sei gut, dass diese häufig unnötigen Krankenhausaufenthalte zurückgingen, erklärte die Leiterin der WIdO-Forschungsabteilung Antje Schwinger. Man müsse aber noch prüfen, ob dies nur ein vorübergehender Trend während der Corona-Pandemie sei.

Die vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) verwendeten Abrechnungsdaten der Pflege- und Krankenkassen der AOK stammen aus dem Jahr 2021. Die AOKn versichern nach eigenen Angaben rund ein Drittel der Bevölkerung. In die aktuellen Untersuchungen sind dem WIdO zufolge die Daten von 350.000 Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern ab 60 Jahren eingeflossen. Das entspricht rund der Hälfte der stationär versorgten Pflegebedürftigen in Deutschland.

Trotz der immer wieder festgestellten Qualitätsmängel und -unterschiede, die durch den AOK-Report erneut bestätigt werden, befürworten nach Angaben des Arbeitgeberverbandes Pflege zwei Drittel der Bevölkerung einen Rechtsanspruch auf einen Heimplatz. Laut einer repräsentativen forsa-Umfrage im Auftrag des Verbandes von Heimbetreibern müssen inzwischen ein Viertel der Menschen, die einen Heimplatz suchen, vier bis neun Einrichtungen abklappern, bis sie einen Platz zugesagt bekommen. Wenn es aus gesundheitlichen Gründen nicht anders möglich sei, bleibe aber nur die Versorgung im Heim, erklärte der Verband.

Bettina Markmeyer


Gesundheit

Verbände loben Rettungsdienst-Konzept der Regierungskommission




Rettungswagen mit Besatzung
epd-bild/Peter Jülich
Eine Regierungskommission hat Vorschläge unterbreitet, wie der Rettungsdienst zu reformieren sei. Diese Vorschläge können Fachgesellschaften, Berufsverbände und Krankenkassen überzeugen.

Berlin (epd). Die Vorschläge zur Reform des Rettungsdiensts treffen bei Fach-, Berufs- und Kassenverbänden auf Zustimmung. Die Ansätze der Regierungskommission seien richtungsweisend, lobte das Bündnis Pro Rettungsdienst in Berlin. Ein wichtiger Punkt sei die Stärkung von Kompetenzen der Notfallsanitäter. Zum Bündnis Pro Rettungsdienst zählen beispielsweise die Björn Steiger Stiftung, die Deutsche Feuerwehr-Gewerkschaft, die Deutsche Gesellschaft für Rettungswissenschaften und der Deutsche Berufsverband Rettungsdienst.

Drängende Probleme im Rettungsdienst

Bereits zuvor hatten Fachgesellschaften ihre Zustimmung zu weiten Teilen der Pläne bekundet. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) sicherte den Vorschlägen am 15. September „die größtmögliche Unterstützung“ zu. Besonders die Aufnahme der Notfallversorgung als eigenes Leistungssegment im SGB V fand deren Zustimmung. „Das fordern viele Expertinnen und Experten seit fast zwei Jahrzehnten“, sagte der stellvertretende Sprecher der Sektion Notfall- und Katastrophenmedizin der Gesellschaft, Bernhard Gliwitzky.

Notärzte seien jedoch weiterhin unverzichtbar. Aus Sicht der Gesellschaft sei die Einführung eines Advanced Care Paramedic, also eines akademisierten Notfallsanitäters, diskussionswürdig, doch müsse genau betrachtet werden, welche zusätzliche Aufgaben dieser neue Beruf übernehmen kann.

Die Deutsche Gesellschaft Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) teilte mit, die Vorschläge seien „geeignet, die drängenden Probleme im Rettungsdienst zu lösen, wenn sie Teil einer Gesamtreform des Gesundheitswesens darstellen“. Eine Akademisierung von Notfallsanitätern ersetze jedoch nicht die Umsetzung des Notfallsanitätergesetzes. Bereits heute sei eine eigenverantwortliche notfallmedizinische Versorgung ohne Notarztbeteiligung möglich, dies werde aber nicht flächendeckend umgesetzt.

Mehr Kompetenzen für Notfallsanitäter

Auch bei Krankenkassen fand der Reformvorschlag Unterstützung. Der GKV-Spitzenverband hob besonders die angedachte Schaffung einer bundesweit einheitlichen Struktur und einheitlicher Qualitätsstandards hervor. Insbesondere sei zu begrüßen, dass die Krankenkassen zukünftig an der Verhandlung der Entgelte beteiligt werden sollen. Das sei bislang nicht überall der Fall.

Den Vorschlägen der Regierungskommission zufolge sollen die Bundesländer einheitlich vorgeben, welche Qualifikation das Personal in Leitstellen und in der Notfallrettung haben muss. Notfallsanitäterinnen und -sanitäter sollen mehr Medikamente verabreichen und mehr invasivmedizinische Maßnahmen vornehmen dürfen, Notärzte hingegen nur noch bei besonders komplexen Fällen zum Einsatz kommen. Die Luftrettung soll ausgebaut werden. Die Vergütung für Rettungsdienste soll sich künftig aus einem Leistungs- und einem Vorhaltungsanteil bestehen. An Schulen und in Betrieben soll es verpflichtende Erste-Hilfe-Kurse geben.

Nils Sandrisser


Kinder

Pädiater fordern Bundes-Kinderbeauftragten



Verbände und Hilfsorganisationen dringen auf mehr Anstrengungen, um die Lebenssituation von Kindern zu verbessern. Es geht um mehr Investitionen in Betreuung, Bildung und soziale Arbeit.

Frankfurt a. M. (epd). Kinderärzte, Gewerkschafter und Hilfsorganisationen haben zum Weltkindertag am 20. September bessere Strukturen für Kinder gefordert. Die Diakonie Deutschland und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) mahnten mehr Investitionen in Betreuung, Bildung und soziale Arbeit an. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte verlangte erneut die Ernennung eines Kinderbeauftragten der Bundesregierung.

Interessen von Kindern

Der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte, Thomas Fischbach, begründete die Forderung seines Verbands nach einem Bundes-Kinderbeauftragten damit, dass Kinder 13 Prozent der Bevölkerung stellten. „Derzeit gibt es 48 Beauftragte und Koordinatoren der Bundesregierung mit den verschiedensten Zuständigkeiten“, sagte Fischbach in Köln. „Da muss ich mich wirklich wundern, dass kein Kinderbeauftragter darunter ist.“

Heute fielen Entscheidungen, wie viel in das Bildungssystem und in die Gesundheitschancen von Kindern investiert werde, in welcher Höhe man Schulden hinterlasse und wie man mit dem Planeten umgehe. Es brauche jemanden, der die vielen die Kinder betreffenden Aufgaben koordiniere, die Interessen von Kindern wahre und für sie als Ansprechpartner zur Verfügung stehe, sagte Fischbach.

„Zukunft schon im Kindergarten verspielt“

Die Diakonie Deutschland forderte, den Rechtsanspruch von Kindern auf einen Betreuungsplatz umzusetzen. Trotz des Anspruchs gebe es immer noch viel zu wenige Plätze, kritisierte in Berlin die Vorständin Sozialpolitik der Diakonie, Maria Loheide: „Der dramatische Fachkräftemangel und oftmals unzureichende Finanzierung der Kindertagesstätten haben die Situation zusätzlich verschärft.“ Ohne frühkindliche Bildung hätten besonders Kinder aus bildungsfernen Familien deutlich schlechtere Lebenschancen. „Wir verspielen die Zukunft unserer Kinder schon im Kindergarten“, sagte Loheide.

Die GEW mahnte mehr verbindliche Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen an, um die Lage von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Doreen Siebernik, GEW-Vorstandsmitglied für Jugendhilfe und Sozialarbeit, sagte in Frankfurt am Main, es werde oft nicht sichtbar, wie sehr die Gesellschaft von den Berufsgruppen in der sozialen Arbeit abhänge. Für viele Maßnahmen fehlten aber Geld und qualifiziertes Personal.

Nils Sandrisser


Einsamkeit

Initiativen gegen das Alleinsein



40 Prozent der Menschen fühlen sich einsam und wissen nicht, was sie dagegen tun sollen. Die Selbsthilfe-Kontaktstellen in Bayern machen ein Angebot. Auch die Caritas will Brücken aus der sozialen Isolation bauen.

München, Weiden (epd). Neu in der Stadt und wenig soziale Kontakte? Interesse an Gesprächen, die über Smalltalk hinausgehen? Lust, neue Leute kennenzulernen? Die bayerischen Selbsthilfekontaktstellen (Seko) werben für einen „Walk and Talk“-Treff ab der dritten Septemberwoche. Dabei soll „etwa eineinhalb Stunden spazieren gegangen und sich in einer ungezwungenen Atmosphäre ausgetauscht werden“, sagt Brigitte Lindner von der Seko Nordoberpfalz. Bereits Anfang September hat die Caritas München eine Kampagne gegen Einsamkeit gestartet.

Teilhabe am sozialen Leben

In München lebt in jedem zweiten Haushalt ein Single, in jedem fünften ein Single über 60 Jahre. Diese Zahlen der Statistikbehörden zeigten „dramatisch, wie sich Lebenswelten verändern, vor allem im Alter“, sagt die Münchner Caritas-Vorständin Gabriele Stark-Angermeier. Die Gründe für das Alleinsein seien vielfältig: Kräfte und Mobilität ließen nach, die Kinder seien aus dem Haus, „manche haben bereits einen nahen Menschen verloren“. In der Folge sei für viele die Teilhabe am sozialen Leben schwer, sagt die Vorständin.

In München haben die Alten- und Servicezentren der Caritas deshalb zusammen mit den Fachstellen für pflegende Angehörige und den Beratungsstellen für ältere Menschen eine Kampagne gegen Einsamkeit im Alter ins Leben gerufen. Bis Ende des Jahres wollen sie mehr als 60 Veranstaltungen auf die Beine stellen. Ob offener Café-Treff oder Plauderstunde, Gesprächskreise für pflegende Angehörige, Bunte Runde, Frauenfrühstück, Wunschkonzert, Tanzcafé oder die Ü60-Disco-Party: Für jeden Geschmack sei etwas dabei, sagt Initiatorin und Sozialberaterin Sabine Müller.

Eine Brücke aus der sozialen Isolation hat auch die Selbsthilfekontaktstelle (Seko) der Diakonie in Weiden geschlagen. Seit Frühjahr gibt es dort einen „Walk-and-Talk“-Treff. Die anderen Sekos in Bayern fanden die Idee so gut, dass sich nun 17 der 38 Sekos in Bayern beteiligen.

„Ein verborgenes Leiden“

Bei den Treffen sollen sich die Teilnehmer gezielt über bestimmte Themen unterhalten, sagt Brigitte Linder. Ein Kartenset mit Fragen soll den Zugang erleichtern. „Was erwarte ich von der Gruppe, was kann ich einbringen, welche Aufgaben gibt es, kann ich etwas ändern?“, erläutert sie. Offen sei der Treff für jeden und jede, jung oder alt. Die ersten vier Termine würden von den örtlichen Selbsthilfekontaktstellen begleitet. Danach gehe es selbst organisiert weiter.

Einsamkeit sei leider „ein verborgenes Leiden“ und werde zu wenig thematisiert, betont sie. Menschen geben nicht gerne zu, dass sie einsam sind, Einsamkeit gelte als Stigma. Indem Menschen zusammentreffen und über ihre Probleme oder auch über ihr Handicap sprechen, stärkten sie sich gegenseitig. „Besser gemeinsam gehen statt allein.“

Wie eine Frau, Mitte 30, mit ihrer Einsamkeit umgegangen ist, zeigt ein Beispiel aus Frankfurt am Main, über das die Fachzeitschrift „Psychotherapie im Dialog“ berichtet: Sie gründete eine Selbsthilfegruppe mit dem Titel „In Betweens - Lonesome 30+“. Ihr Anliegen beschrieb sie so: „Du bist zwischen 30 und 40, unter Gleichaltrigen fühlst du dich aber häufig wie ein Alien? Hast du bisher deine Gruppe noch nicht gefunden, bist es aber leid, allein ins Kino zu gehen? Dann geht es dir wie mir. Und sicher sind da noch viele andere versteckte Einsame.“ Sie traf einen Nerv: Innerhalb von vier Monaten meldeten sich zwei Dutzend Interessierte.

Gabriele Ingenthron


Gesundheit

Christliche Kliniken schließen sich zusammen



Nürnberg (epd). Die beiden christlichen Nürnberger Kliniken, das St. Theresien-Krankenhaus und das Martha-Maria-Krankenhaus, schließen sich zusammen. Die ökumenische Fusion hätten die Aufsichtsgremien beider Träger nach intensiver Prüfung beschlossen, teilten die beiden Häuser am 19. September mit. Beratungen in gemeinsamen Arbeitsgruppen hätten gezeigt, dass der Zusammenschluss für alle deutlich mehr Chancen als Risiken biete, sagte Hans-Martin Niethammer, der Vorstandsvorsitzende des Diakoniewerks Martha-Maria. Der rechtliche Zusammenschluss sei für 2024 geplant, hieß es.

Gemeinsame Werte und Überzeugungen

„Beide Häuser werden schnell zusammenwachsen - vor allem aufgrund der vielen Werte und Überzeugungen, die wir teilen“, sagte Niethammer. Mit dem Zusammenschluss eines evangelisch-methodistischen und eines katholischen Krankenhauses entstehe ein ökumenisches Modell, „das uns von anderen Kliniken deutlich abhebt“. Man sei davon überzeugt, den Versorgungsauftrag im Geiste christlicher Nächstenliebe gemeinsam besser erfüllen zu können als allein, betonte Rainer Beyer, Hauptgeschäftsführer der Trägergesellschaft für die Einrichtungen der Schwestern vom Göttlichen Erlöser (TGE).

Durch den Zusammenschluss entstehe das größte christliche Krankenhaus in der Region, heißt es in der Mitteilung. Konkrete Veränderungen für Patientinnen und Patienten gebe es zunächst nicht. Im gemeinsamen Krankenhaus könnten rund 1.700 Mitarbeitende jährlich mehr als 26.000 stationäre sowie 27.000 ambulante Patientinnen und Patienten an zwei Standorten versorgen. Zum Angebot gehörten auch mehrere Medizinische Versorgungszentren, eine Berufsfachschule für Pflege und eine Berufsfachschule für Krankenpflegehilfe.

Das St. Theresien-Krankenhaus Nürnberg ist eine Gründung der Ordensgemeinschaft der Schwestern vom Göttlichen Erlöser. Das Krankenhaus Martha-Maria Nürnberg gehört zum Diakoniewerk Martha-Maria der Evangelisch-methodistischen Kirche.




sozial-Recht

Landesarbeitsgericht

Notdienst bei Klinikstreik umfasst nur "Minimal-Versorgung"




Eine Krankenschwester verabreicht Medilkamente.
epd-bild/Werner Krüper
Bei einem Streik an einer Klinik dürfen Patientinnen und Patienten nicht gefährdet werden. Daher ist ein Notdienst während des Streiks Pflicht, der aber nur eine Minimalversorgung sicherstellen muss, urteilte das Landesarbeitsgericht Stuttgart.

Stuttgart, Berlin (epd). Bei einem Streik in einem Krankenhaus muss die Notversorgung der Bevölkerung gewährleistet sein. Allerdings muss die Gewerkschaft nur eine Minimalversorgung sicherstellen, stellte das Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg in einem am 9. September veröffentlichten Urteil klar. „Der Notdienst dient nicht dazu, den Betrieb so weit wie möglich aufrechtzuerhalten“, entschieden die Stuttgarter Richter.

Notdienstvereinbarung geschlossen

Konkret ging es um mehrere, von der Gewerkschaft ver.di aufgerufene Warnstreiks zwischen einem und vier Tagen im Juli 2023 bei der Klinik-Technik-GmbH (KTG). Dabei handelt es sich um eine 100-prozentige Tochtergesellschaft des Uniklinikums Heidelberg, die für die Erbringung technischer Dienstleistungen für das Klinikum verantwortlich ist.

So ist das Unternehmen auch für die Behebung von Störungen der „Automatischen Warentransport-Anlage“ (AWT-Anlage) zuständig. Bei der Anlage handelt es sich um ein sieben Kilometer langes unterirdisches Schienennetz mit 22 vollautomatischen Aufzügen. Dort werden Waren wie Sterilgut, Medikamente, medizinische Verbrauchs- und Hygienematerialien, Wäsche sowie Patienten- und Personalverpflegung zwischen den Kliniken und den Waschanlagen transportiert. Die für den Transport verwendeten Container werden vollautomatisch gereinigt, desinfiziert und getrocknet. 1.200 Betten des Universitätsklinikums sind an das System angeschlossen.

Im Streit um einen neuen Tarifvertrag hatte ver.di mehrere Warnstreiks bei KTG durchgeführt. Eine zunächst einvernehmlich geschlossene Notdienstvereinbarung, die auch die AWT-Anlage umfasste, wurde von KTG aufgekündigt. Ver.di gab daraufhin zwar eine einseitige Notdiensterklärung ab, die jedoch nicht mehr die AWT-Anlage einschloss.

Nur in der Kernzeit besetzt

Die Kliniktochter verlangte, dass ein Notdienst auch für den „Automatischen Warentransport“ eingerichtet werden müsse - und zwar durchgehend zwischen 5.30 und 21.30 Uhr. Es müssten zwei fachlich geeignete Personen während der Warnstreiks bereitstehen, um Störungen der AWT-Anlage beheben zu können. Andernfalls könnten bei Störungen etwa wichtige Medikamente, Sterilgut oder Wäsche nicht mehr transportiert werden. Patientinnen und Patienten wären gefährdet.

Das LAG urteilte, dass ver.di auch für die AWT-Anlage einen Notdienst gewährleisten muss. „Auch im Arbeitskampf darf akut Erkrankten ärztliche Hilfe nicht verweigert werden.“ Das gelte auch hier, obwohl die KTG selbst keine medizinischen Leistungen erbringt. Der KTG oder dem Universitätsklinikum sei es nicht zumutbar, in wenigen Tagen andere Transportkonzepte zu entwickeln, um einen Ausfall der AWT-Anlage kompensieren zu können.

Allerdings dürfe die Kliniktochter die Gewährleistung eines Notdienstes nicht dazu missbrauchen, den Betrieb so weit wie möglich aufrechtzuerhalten. Dies würde gegen die im Grundgesetz verankerte Koalitionsfreiheit verstoßen. Sicherzustellen sei daher nur eine „Minimal-Versorgung“.

Daher müsse ver.di zwar einem Notdienst für die AWT-Anlage zustimmen, aber nur in eingeschränktem Umfang. Danach reiche die Besetzung mit einer Fachkraft und „einer weiteren nicht notwendigerweise fachkundigen Person“ aus. Zeitlich müsse der Notdienst nur in der Kernzeit der Nutzung von 7 bis 17 Uhr besetzt sein. Die wenigen Transporte davor und danach könnten auch auf andere Weise erfolgen, urteilte das LAG.

Erhebliche Gesundheitsgefahren

Das LAG Berlin entschied in einem Streit zwischen ver.di und den Asklepios-Fachkliniken Brandenburg, dass wegen einer fehlenden schriftlichen Notdienstvereinbarung ein Streik nicht untersagt werden muss. Es reiche aus, dass die Gewerkschaft den zum Patientenschutz erforderlichen Notdienst tatsächlich sicherstellt und damit erhebliche Gesundheitsgefahren der Bevölkerung vermeidet, stellten die Berliner Richter in ihrem Beschluss vom 20. Oktober 2021 fest.

Ver.di hatte im Oktober 2021 zu einem sechstägigen Warnstreik an drei Asklepios-Fachkliniken in Brandenburg aufgerufen. Ziel war, dass die nichtärztlichen Beschäftigten dort genauso vergütet werden sollten wie in den Hamburger Asklepios-Kliniken. Asklepios hielt den Streik für unrechtmäßig, da mit ver.di keine schriftliche Notdienstvereinbarung abgeschlossen werden konnte.

Das LAG entschied, dass eine allein schriftliche Notdienstvereinbarung für die Rechtmäßigkeit des Streiks nicht nötig sei. Es reiche aus, dass ver.di auch ohne Vereinbarung den erforderlichen Notdienst beim Streik des nichtärztlichen Personals tatsächlich sicherstellt. Hier müsse die Gewerkschaft bei einem Teil der Stationen den Notdienst aber noch nachbessern.

Az.: 4 SaGa 3/23 (LAG Stuttgart)

Az.: 12 Ta 1310/21 (LAG Berlin)

Frank Leth


Bundessozialgericht

Für Bürgergeld keine ununterbrochene Behördenmeldung nötig



Kassel (epd). Wohnsitzlose EU-Bürger müssen sich für einen Anspruch auf Bürgergeld nicht ununterbrochen bei den Meldebehörden melden. Es reiche aus, dass sie sich einmal in Deutschland angemeldet haben und sie dann mindestens fünf Jahre ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben, urteilte am 20. September das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel.

Nach den gesetzlichen Bestimmungen können EU-Bürger zunächst kein Bürgergeld beanspruchen, wenn sie sich allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten. Anders sieht es aus, wenn sie in Deutschland erwerbstätig oder selbstständig tätig waren oder sie mindestens fünf Jahre ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatten.

Umzüge nicht mitgeteilt

Im konkreten Fall lebt der polnische Kläger seit 2009 in Deutschland. Der zuletzt wohnsitzlose Mann hatte sich zwar behördlich gemeldet, Umzüge oder Aufenthalte bei Freunden hatte er den Behörden aber nicht immer mitgeteilt.

Als er beim Jobcenter Hagen das frühere Arbeitslosengeld II, das heutige Bürgergeld, beantragte, lehnte die Behörde dies ab. Der Mann halte sich nur zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland auf. Die Hilfeleistung sei damit ausgeschlossen. Auf einen fünfjährigen ununterbrochenen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland könne er auch nicht verweisen, da er nicht permanent bei den Behörden gemeldet war.

Doch das sei nicht erforderlich, entschied das höchste deutsche Sozialgericht. Entscheidend sei die erste behördliche Anmeldung des gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland. Dann fange die Fünfjahresfrist an zu laufen. Nach den Feststellungen des Sozialgerichts Dortmund habe der Kläger stets seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt, auch wenn er bei Änderungen nicht jedes Mal die Behörden darüber informiert hat. Wegen der bestehenden mindestens fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthaltsdauer bestehe Anspruch auf Jobcenter-Leistungen, urteilte das Gericht.

Az.: B 4 AS 8/22 R



Bundessozialgericht

Bürgergeld auch für Wohnsitzlose ohne Adresse



Kassel (epd). Wohnsitzlose müssen für den Erhalt von Bürgergeld nicht zwingend eine Postanschrift haben. Wie das Bundessozialgericht (BSG) in einem am 20. September getroffenen gerichtlichen Vergleich erläuterte, sehen sowohl die alten als auch die seit 7. August 2023 geltenden Vorschriften nur vor, dass der Wohnsitzlose für den Anspruch auf Bürgergeld „erreichbar“ sein muss. Es reicht nach Auffassung der Kasseler Richter aus, wenn der Bürgergeldbezieher einmal pro Monat seine Jobcenter-Post bei der Behörde abholt und er nach Möglichkeit telefonisch erreichbar ist.

Nachzahlung von 13.000 Euro

Im konkreten Fall hatte der wohnsitzlose Kläger sein Arbeitslosengeld II jeden Monat bei der Kasse des Jobcenters Stuttgart abgeholt und dabei auch seine Behördenpost mitgenommen. Über eine Postanschrift verfügt der Mann nicht. Er schläft meist an Bushaltestellen oder in Abbruchhäusern.

Als das Jobcenter ihm mitteilte, dass er seine Post nicht mehr an der Jobcenter-Kasse abholen könne, lehnte der Wohnsitzlose es ab, sich eine Postadresse anzuschaffen. Einen eigenen Briefkasten bei einem christlichen Sozialdienst wollte er auch nicht nutzen. Daraufhin wurde sein Arbeitslosengeld II nicht mehr bewilligt.

Das BSG hatte gegen diese Auffassung Bedenken. Nach der bis zum 31. Juli 2023 geltenden und erst recht nach der aktuellen Neuregelung sei eine postalische Anschrift für den Anspruch auf das frühere Arbeitslosengeld II und das heutige Bürgergeld nicht erforderlich, erklärte das Gericht in einem rechtlichen Hinweis. Es reiche vielmehr aus, dass der Hilfebedürftige „erreichbar“ ist. Daraufhin schlossen Jobcenter und der wohnsitzlose Kläger einen Vergleich, nach der der Wohnsitzlose eine Jobcenter-Nachzahlung in Höhe von 13.000 Euro erhält.

Az.: B 4 AS 12/22 R



Bundesarbeitsgericht

Behinderte Bewerber können Entschädigung leichter durchsetzen



Erfurt (epd). Abgelehnte schwerbehinderte Stellenbewerberinnen und -bewerber können nach einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) leichter eine Diskriminierungsentschädigung geltend machen. Steht der unwidersprochene Vorwurf im Raum, dass der Arbeitgeber nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben, unverzüglich den Betriebsrat über die Bewerbung des schwerbehinderten Bewerbers informiert hat, spricht dies für eine verbotene Benachteiligung behinderter Menschen, entschieden die Erfurter Richter in einem am 20. September veröffentlichten Urteil.

Keine Information an den Betriebsrat

Damit steht dem schwerbehinderten Kläger aus Hamburg eine Entschädigung für eine erlittene Benachteiligung aufgrund seiner Behinderung in Höhe von 7.500 Euro zu. Der Mann hatte sich auf eine ausgeschriebene Stelle als „Scrum Master Energy (m/w/d)“ beworben, also als Coach oder Teamberater in einem Unternehmen.

Als der Stellenbewerber eine Absage erhielt, führte er diese auf seine Behinderung zurück. Der Arbeitgeber müsse nach dem Gesetz unverzüglich den Betriebsrat über Bewerbungen von schwerbehinderten Bewerbern informieren. Dieser Pflicht sei der Arbeitgeber wohl nicht nachgekommen, vermutete der Mann. Da der Arbeitgeber dies nicht widerlegt habe, deute dies auf eine Diskriminierung hin.

Dem folgte das BAG. Der Kläger habe Anspruch auf eine Diskriminierungsentschädigung. Gehe der schwerbehinderte Stellenbewerber von einer fehlenden ordnungsgemäßen Unterrichtung des Betriebsrates aus, müsse der Arbeitgeber dies widerlegen. Komme der Arbeitgeber dem nicht nach, bestehe die Vermutung einer Diskriminierung.

Az: 8 AZR 136/22



Landessozialgericht

Högel-Opfer: Ansprüche von Hinterbliebenen verjähren nach vier Jahren



Celle, Delmenhorst (epd). Entschädigungszahlungen für Hinterbliebene von Opfern des Patientenmörders Niels Högel verjähren einem Gerichtsurteil zufolge grundsätzlich nach vier Jahren. Berufsgenossenschaften müssen über diese Frist hinaus keine Leistungen wie etwa eine Rente an die Hinterbliebenen zahlen, teilte das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen am 18. September in Celle mit. Mit diesem Urteil wies das Gericht die Klage der Tochter eines Högel-Opfers ab, ließ aber die Revision zu. Eine Klärung des Bundessozialgerichts sei sinnvoll, weil aufgrund der Vielzahl von Opfern weitere Verfahren zu erwarten seien.

Vorsätzlich Notsituation herbeigeführt

Der Vater der Klägerin war den Angaben zufolge im August 2003 wegen eines Herzinfarktes im Krankenhaus in Delmenhorst behandelt worden. Dort habe er von dem Krankenhauspfleger Niels Högel ein Medikament erhalten, das zu einer reanimationspflichtigen Notsituation geführt habe, in deren Folge der Mann gestorben sei. Dieser Zusammenhang wurde allerdings erst Ende 2014 im Zuge eines Prozesses gegen Högel bekannt.

Die Berufsgenossenschaft gewährte die Hinterbliebenenrente für die mittlerweile gestorbene Ehefrau des Opfers von diesem Zeitpunkt an rückwirkend bis zum 1. Januar 2010. Laut Sozialgesetzbuch verjähren Ansprüche auf Sozialleistungen vier Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind.

Die Tochter verlangte jedoch eine Rentenzahlung für ihre Mutter rückwirkend bis zum Tod ihres Vaters im August 2003. Sie argumentierte, es dürfe nicht zulasten des Einzelnen gehen, wenn Schadensgroßereignisse nicht zeitnah aufgeklärt werden könnten.

Keine Fehler gemacht

Das Gericht urteilte, der Berufsgenossenschaft seien keine Fehler unterlaufen. Sie habe erst im November 2014 durch Medienberichte von den mehr als zehn Jahre zurückliegenden Vorgängen erfahren. Zum selben Zeitpunkt habe auch die Tochter die Staatsanwaltschaft darüber informiert, dass der Tod ihres Vaters für sie damals sehr überraschend war. Die Genossenschaft hatte entschieden, zur Ermittlung potenzieller Opfer zunächst die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft abzuwarten.

Högel war 2019 wegen 85-fachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Er hatte Patienten mit Medikamenten vergiftet, um sie anschließend reanimieren zu können. Högel war zunächst in Oldenburg, später am Delmenhorster Krankenhaus beschäftigt.

Az.: L 14 U 117/22



Sozialgericht

Volljährig gewordene Kinder können weiter "hilflos" sein



München (epd). Allein wegen des Erreichens der Volljährigkeit kann eine schwerbehinderte Person nicht das Merkzeichen H für Hilflosigkeit verlieren. Vielmehr muss im konkreten Einzelfall immer geprüft werden, ob die Voraussetzungen für das Merkzeichen H weiter bestehen, entschied das Sozialgericht München in einem am 11. September veröffentlichten Urteil. Dabei könne Hilflosigkeit auch ohne körperliche Einschränkungen vorliegen, wie etwa im Streitfall bei dem autistischen Kläger.

Frühkindlicher Autismus

Bei dem 1994 geborenen Kläger wurde ein frühkindlicher Autismus diagnostiziert. Es bestanden zudem eine Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung sowie eine motorische Entwicklungsstörung. 2007 wurde bei ihm ein Grad der Behinderung von 80 festgestellt. Ihm wurden zudem die Merkzeichen B (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson), G (Beeinträchtigung beim Gehen) und H (Hilflosigkeit) zuerkannt. Mit dem Merkzeichen H konnte der Kläger kostenfrei den öffentlichen Nahverkehr nutzen. Ein gesonderter Steuerfreibetrag konnte ebenfalls beansprucht werden.

Das Versorgungsamt bestätigte 2020 die Merkzeichen, mit Ausnahme des Merkzeichens H. Dieses werde bei frühkindlichem Autismus ohnehin nur bis zur Volljährigkeit vergeben, weil in der Regel bis dahin der Reifeprozess zu einer ausreichenden Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit führe.

Ohne Erfolg verwies der junge Mann auf seinen weiterhin bestehenden zeitintensiven Hilfe- und Betreuungsbedarf. Seine Klage hatte vor dem Sozialgericht nun Erfolg. Die sogenannten Nachteilsausgleiche wie hier das Merkzeichen H dürften nur nach einer Einzelfallprüfung entzogen werden, urteilte das Gericht. Ein Stichtag wie die Volljährigkeit dürfe nicht zu einem automatischen Entzug des Merkzeichens führen. Er könne nur Anlass für eine Prüfung sein, ob die Voraussetzungen weiter erfüllt sind.

Hier lägen die Voraussetzungen für das Merkzeichen H auch weiter vor. So zeige der Kläger nach den jüngsten Pflegegutachten unter anderem kaum Eigenantrieb. Er habe Probleme bei der Impulskontrolle. Bei vielen Alltagsverrichtungen benötige er eine Ermahnung, Anleitung und Kontrolle.

Az.: S 48 SB 1230/20



Sozialgericht

Für Persönliches Budget kein Pflegevertrag erforderlich



München (epd). Krankenkassen oder andere Sozialversicherungs- und Eingliederungshilfeträger dürfen für die Gewährung eines Persönlichen Budgets für behinderte Menschen nicht zu hohe Anforderungen stellen. So kann eine Krankenkasse nicht verlangen, dass der behinderte Mensch vorab jene Pflege- und Betreuungskräfte benennt, die aus dem Persönlichen Budget finanziert werden sollen, entschied das Sozialgericht München in einem am 11. September veröffentlichten Eilbeschluss.

„Geld statt Sachleistung“

Der Kerngedanke des Persönlichen Budgets ist „Geld statt Sachleistung“. Behinderte Menschen sollen Leistungen zur medizinischen Rehabilitation wie Hilfe zur Pflege oder Teilhabeleistungen in Form des Persönlichen Budgets erhalten. So soll es ihnen ermöglicht werden, dass sie die nötige Pflege und Betreuung selbst „einkaufen“ und als Arbeitgeber Pflegekräfte anstellen.

Im Streitfall hatte der schwerstbehinderte Antragsteller ein Persönliches Budget beantragt. Damit sollten Pflege- und Betreuungskräfte mitfinanziert werden, die an 13 Stunden täglich seine Beatmung überwachen.

Die Krankenkasse lehnte den Antrag ab. Vor einer sogenannten „Zielvereinbarung“ müsse der Versicherte zunächst nachweisen, wer konkret in seinem Auftrag die Beatmungsüberwachung übernehmen soll. Hierfür sollte er Arbeitsverträge und auch Nachweise über die Qualifikation der betreffenden Personen vorlegen.

Vereinbarung für Beatmungsüberwachung

Der behinderte Mann hielt dieses Vorgehen für überzogen. Erst wenn er die Zusage für das notwendige Geld habe, könne er Vereinbarungen für die Beatmungsüberwachung treffen und nicht umgekehrt.

Das Sozialgericht gab ihm im Eilverfahren recht. „Es erscheint schwer verständlich, wie vom Antragsteller der Abschluss von Arbeitsverträgen verlangt werden kann, bevor ihm überhaupt Mittel bezüglich des Persönlichen Budgets bewilligt worden sind“, erklärten die Richter.

In vielen Fällen werde sich die Anstellungsbereitschaft des Personals erst dann klären, wenn Rechtssicherheit über das zur Verfügung stehende Persönliche Budget besteht. Zudem komme es in solchen Fällen auch zu einer Fluktuation beim Personal. Der Anspruch auf das Persönliche Budget könne daher nicht von vorab benannten, konkreten Betreuungskräften abhängig gemacht werden.

Az.: S 29 KR 1606/22 ER




sozial-Köpfe

Auszeichnungen

Bundesverdienstkreuz für frühere Leiterin der Aufarbeitungskommission




Sabine Andresen
epd-bild/Aufarbeitungskommission
Die ehemalige Vorsitzende der Missbrauchs-Aufarbeitungskommission, Sabine Andresen, ist für ihr Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden.

Berlin (epd). Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) überreichte der Frankfurter Erziehungswissenschaftlerin und Präsidentin des Kinderschutzbundes, Sabine Andresen, am 20. September in Berlin das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Andresen hatte die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs von 2016 bis 2021 geleitet.

Paus würdigte Andresen als Pionierin bei der Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder in der früheren Bundesrepublik und in der DDR. Andresen habe sich persönlich für die Einrichtung der Kommission eingesetzt und zusammen mit den Betroffenen Pionierarbeit geleistet, sagte die Ministerin bei der Ordensverleihung.

Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, erklärte, Andresen habe mit ihrem großen persönlichen und fachlichen Einsatz die Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch in Deutschland entscheidend geprägt. Dabei hätten die Betroffenen stets im Zentrum gestanden. Ohne Andresen und die Arbeit der Kommission wäre der politische und gesellschaftliche Diskurs der letzten Jahre so nicht möglich gewesen, bilanzierte Claus.

Sabine Andresen setzt sich seit vielen Jahren für die Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs ein. Schon 2012 beriet sie den Missbrauchs-Beauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig. Die 57-Jährige engagiert sich in zahlreichen Beiräten und Gremien zu Kinderschutz und Familienfragen. Sie ist Mitglied im Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen und seit Mai 2023 Präsidentin des Kinderschutzbundes. Den Vorsitz der Aufarbeitungskommission legte sie 2021 nieder, als sie Dekanin ihres Fachbereichs an der Goethe-Universität in Frankfurt wurde.

Seit 13. Mai dieses Jahres ist Andresen Präsidentin des Deutschen Kinderschutzbundes. Sie löste Hinz Hilgers ab, der nach 30 Jahren Präsidentschaft nicht mehr für den Vorsitz kandidierte.



Weitere Personalien



Gisela Schneeberger unterstützt die Forschung von Demenz-Früherkennung der Ludwig-Maximilians-Universität und der Johanniter. Spätestens seit sie sich für den Film „Für Dich dreh ich die Zeit zurück“ auf die Rolle als Demenzkranke vorbereitet habe, „ist das Thema für mich spannend geworden“, sagte die 74-jährige bayerische Kabarettistin. Deshalb nehme sie an dem Forschungsprojekt teil. Das Projekt „CogScreen“ solle mithilfe eines Fragebogens und eines Tests Hausärzten ermöglichen, das Demenzrisiko von Patientinnen und Patienten ab 60 Jahren zu erkennen. Derzeit würden Medikamente entwickelt, die in einer sehr frühen Phase von Demenz helfen könnten, „das Voranschreiten der Erkrankung erheblich zu verlangsamen“, hieß es weiter. Eine Früherkennung sei deshalb besonders wichtig.

Olaf Tyllack bleibt Bundesvorsitzender von donum vitae. Die Mitglieder und Delegierten der Bundesmitgliederversammlung bestätigten ihn bei der Wahl des Bundesvorstandes in dem Spitzenamt. Tyllack bildet gemeinsam mit seinen Stellvertreterinnen Irmgard Klaff-Isselmann und Angelika Knoll den geschäftsführenden Vorstand. Donum vitae bietet bundesweit an 200 Orten Schwangerschafts- und Schwangerschaftskonfliktberatung an. Auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes setzt sich der Verein für den Schutz des ungeborenen Lebens ein.

Frank Werneke bleibt Bundesvorsitzender der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Der Bundeskongress der Gewerkschaft bestätigte den 56-Jährigen mit 92,5 Prozent im Amt. Der gelernte Verpackungsmittelmechaniker gehört bereits seit 2001 dem ver.di-Bundesvorstand an. Von 2002 bis 2019 war er stellvertretender Vorsitzender der Dienstleistungsgewerkschaft, seit 2019 ist er als Nachfolger von Frank Bsirske Bundesvorsitzender der Gewerkschaft, die nach eigenen Angaben rund zwei Millionen Mitglieder hat. Auch Wernekes Stellvertreterinnen, Andrea Kocsis und Christine Behle, wurden wiedergewählt.

Roman G. Weber ist neuer Vorsitzender des Verwaltungsrates der DAK-Gesundheit. Der Jurist aus Detmold gehört der DAK Mitgliedergemeinschaft an, die bei der Sozialwahl am 31. Mai 2023 stärkste Fraktion wurde. Stellvertretender Vorsitzer ist Johannes Knollmeyer, pensionierter Mediziner aus Frankfurt am Main, der die Arbeitgeber im Verwaltungsrat vertritt. Der Verwaltungsrat ist das höchste Selbstverwaltungsgremium der drittgrößten bundesweiten Krankenkasse.

Reinhold Würth (88) hat den mit 50.000 Euro dotierten Willy-Pitzer-Preis 2023 erhalten. Der Unternehmer wird für sein Lebenswerk als Stifter sozialer und kultureller Projekte geehrt. Das gesellschaftliche Engagement von Würth habe die Zukunft von Unternehmertum, von Eigenständigkeit und Kreativität im Blick, sagte der Direktor des Städel Museums und der Liebighaus Skulpturensammlung, Philipp Demandt, in seiner Laudatio in der Alten Oper in Frankfurt am Main. Würth hat zusammen mit seiner Frau Carmen eine Schule in Künzelsau (Hohenlohekreis) und Berlin aufgebaut und finanziert mehrere Professuren. Außerdem betreibt seine Stiftung fünf Museen und Kunstkabinette. Auch im Sportsponsoring ist der Schwabe aktiv.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Oktober



September

28.-29.9. Berlin:

„Deutscher Pflegetag 2023“

des Deutschen Pflegerates

Tel.: 030/300669-0

Oktober

5.10. Berlin:

Seminar „Psychische Gesundheit in der Sozialwirtschaft“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828-224

10.-11.10.:

Online-Seminar „Die Schnittstelle Eingliederungshilfe - Pflege gestalten“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-495

11.10.:

Online-Seminar „Sozialdatenschutz in der Online-Beratung - kompakt“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

18.-20.10. Freiburg:

Fortbildung „Kinderschutz in der Familienpflege - Auftrag und Handlungsoptionen im Einsatz“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

20.-21.10.:

Online-Tagung „Sterben wollen - Leben müssen - Sterben dürfen? - Von der Kontroverse in die Praxis: Umgang mit den assistierten Suizid“

des Hauses Villigst

Tel.: 02304/755-325

23.-24.10. Erkner:

Seminar „Die Umsetzung des KJSG in der Kindertagesbetreuung - Aktuelle Entwicklungen und Perspektiven“

des Deutschen Vereins

Tel.: 030/62980-219

23.-25.10. Hannover:

Fortbildung „Hilfe für wohnungslose Männer und Frauen in besonderen sozialen Schwierigkeiten“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-495

25.10. Köln:

Seminar „Pflegesatzverhandlungen in der stationären Altenhilfe: Vorbereitung, Strategie und Verhandlungsführung“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 0221/20930