Bernau (epd). Die mannshohe Christusfigur aus hellem Sandstein ist nicht zu übersehen. Heute wie vor knapp 120 Jahren steht der steinerne Heiland im märkischen Lobetal bei Bernau an jener Stelle, an der die Geschichte dieser diakonischen Einrichtung ihren Anfang nahm. Im faltenreichen Gewand eines Bettelordens und mit nach unten gesenkten offenen Armen grüßt er seit 1907 herab von seinem Sockel. „Das war damals etwas anders“, erläutert Jan Cantow, Leiter der Stabsstelle Geschichte/Erinnerung, die Symbolik des Lobetaler Wahrzeichens. „Die Figur stand einst direkt auf dem Boden. So empfing Christus die neuen Bewohner der Kolonie auf Augenhöhe.“
Wer heute durch die beschauliche Siedlung läuft, die ein Ortsteil von Bernau ist, kann sich kaum mehr vorstellen, wie es hier aussah, bevor die obdachlosen Männer aus Berlin ihre harte Arbeit aufnahmen. Wie sie mühsam den Wald rodeten, um Obst- und Gemüseplantagen anzulegen, noch völlig unmotorisiert Landwirtschaft und Viehzucht betrieben.
Die ersten drei schlichten Wohnbaracken der Arbeiter im Rücken der Christusfigur sind verschwunden. An ihrer Stelle befinden sich heute auf gleichem Grundriss flache Gebäude, in die die Verwaltung eingezogen ist. Ein kleines Museum hält mit Modellen, Schautafeln und Fotos die Erinnerung wach, wie die „Asylisten“ - wie Bodelschwingh „seine“ Obdachlosen nannte - in ihren „Heimstätten“ einst lebten.
Der umtriebige und politisch bestens vernetzte Theologe von Bodelschwingh (1831-1910) hatte im März 1905 den „Verein Hoffnungstal für die Obdachlosen der Stadt Berlin e.V.“ mitgegründet, der die Arbeiterkolonien Hoffnungstal und Lobetal aufbaute und betrieb. Sein Credo lautete: „Dass Ihr mir niemanden abweist.“
Nutzbringende Arbeit statt Almosen und Bettelei, menschenwürdige Unterkünfte statt massenhaftes Kampieren in Massenunterkünften und sinnstiftende Gemeinschaft statt Gottlosigkeit und Verrohung - diesen Ansatz verfolgte der Pastor beharrlich. Seine Vision war es, die Arbeiter dem Sündenpfuhl Berlin, auf dessen Straßen sich um 1905 Tausende ihren Unterhalt erbettelten, mit seinen unmenschlichen Obdachlosenasylen zu entreißen.
Im Dezember 1905 umriss von Bodelschwingh seinen missionarischen Plan im ersten Rundbrief an die Förderer der Kolonie Hoffnungstal: An jedem Morgen gebe es hier „ein fröhliches Aufwachen nicht zum Betteln, sondern zu dauernder gesunder Arbeit in Gottes freier Natur und zu einem selbstverdienten ehrlichen Stück Brot“. Und jeder Mann bekomme „ein sicheres Obdach für die Nacht, geschützt vor schweren sittlichen Gefahren, da jeder Asylist sein eigenes Kämerchen bekommen hat“. Aus heutiger Sicht war das sicher keine hinreichende Privatsphäre, aber damals im Vergleich zu den überlaufenen städtischen Elendsqartieren ein gewaltiger Sprung in der Unterbringung und Versorgung.
Das märkische Dorf, kaum 20 Kilometer nordöstlich von der Hauptstadt entfernt, liegt von Wald umgeben in sonnendurchschienener Ruhe. Eine beschauliche Siedlung mit Kirche, Dorfladen, Begegnungszentrum, Touristentreff, Ärztehaus und auch einem Friseur. Lobetal ist das, was man in der Fachsprache einen Komplexträger nennt, also ein größerer Anbieter von vielen verschiedenen diakonischen Hilfen. Er firmiert unter dem Namen „Hoffnungstaler Stiftung Lobetal“, beschäftigt rund 3.500 Mitarbeitende und gehört als eine von vier Stiftungen zum Verbund der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel.
Geschäftsführer Martin Wulff betont, dass das Credo von Bodelschwinghs noch heute gilt: „Für uns heißt das: Wir sind da für Menschen, die auf Hilfe und Begleitung angewiesen sind. Wir reichen ihnen die Hand. Sie sind Teil von uns und Teil unserer Gemeinschaft.“
Er erinnert zudem daran, dass es wie einst in den Gründerzeiten auch heute noch gesellschaftliche Benachteiligung und Ausgrenzung gibt: „Menschen werden diskriminiert, sind nicht willkommen, nur weil sie eine Einschränkung haben, weniger leistungsfähig sind, eine andere Hautfarbe oder eine andere sexuelle Orientierung haben als die Mehrheit unserer Bevölkerung.“ Dagegen müsse man angehen, und zwar vehement: „Wenn wir leise sind, dann schaffen wir Platz und Raum für Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung.“
Die Obdachlosenarbeit spielt kaum noch eine Rolle. Das Profil des Trägers hat über die Zeit stark verändert. Heute ist die Stiftung in fünf Bundesländern aktiv. Zu ihren Schwerpunkten gehören die Altenhilfe, die Arbeit mit behinderten Menschen, die Kinder und Jugendhilfe, die Suchthilfe sowie die Ausbildung in sozialen Berufen sowie die Betreuung von Migranten. Aber die Stiftung unterhält auch viele spezialisierte Angebote wie Hospize, die Klinik Tabor für Epilepsiekranke oder das Haus „Trau dich!“, eine vollstationäre Jugendhilfeeinrichtung mit zwei Wohngruppen für Jugendliche mit hohem Bedarf an traumaspezifischer Arbeit.
Ein Rundweg macht erfahrbar, wie sich das fürsorgende Örtchen mit seiner Vielzahl an Pflege- und Wohneinrichtungen ständig gen Osten ausgedehnt hat. Wer auf der „Bodelschwinghstrasse“ in Richtung des alten Ortskerns geht, wird auch mit den dunkelsten Tagen des Trägers konfrontiert. Ein mächtiger Findling mit Infotafeln erinnert an die am 13. April 1942 aus dem Ort deportierten Menschen jüdischer Herkunft. Und, darauf weist der Historiker des Hauses, Jan Cantow, hin: Vor gut einem Jahr verlegte Stolpersteine im Gehsteig verweisen zusätzlich auf ihren schändlichen Tod in Konzentrationslagern beziehungsweise im Warschauer Ghetto.
Die Architektur ist Spiegel des Zeitenlaufs: Moderne, zweckmäßige Gebäude und sanierte Backsteinbauten aus der Entstehungszeit kommen ebenso in den Blick wie erhaltene Bauten aus der Ära der DDR. Apropos DDR: Cantow zeigt rechts am Weg auf ein etwas zurückgesetztes, weiß getünchtes Gebäude, dessen Grundstück den dahinter legenden „Melchensee“ berührt. „Das ist das Pfarrhaus, das der Anstaltsleiter Paul Gerhard Braune (1887-1954) bauen ließ. Mitten im Ort unter den Bewohnern, auch das war ein Statement.“
Hier hat einst Pastor Uwe Holmer auf Bitten der Kirchenleitung den gestürzten krebskranken SED- und Staatschef Erich Honecker und dessen Frau Margot ab Januar 1990 rund neun Wochen lang beherbergt - ein spektakulärer Fall von Kirchenasyl. Die Episode wurde eindrucksvoll verfilmt und kam 2022 unter dem Titel „Honecker und der Pastor“ mit Edgar Selge in der Hauptrolle als Honecker auf die Leinwand.
Leiter Braune, der die Einrichtung von 1922 bis 1954 vielleicht am stärksten prägte, erwarb sich viele Verdienste. In der Nazizeit kämpfte er gegen die Krankenmorde im Rahmen der sogenannten Euthanasie. Er protestierte mit einer Denkschrift gegen die „planmäßige Verlegung“ in die Tötungsanstalten. Ihm gelang es, den Abtransport von 25 Personen aus Erkner zu verhindern. Braune nahm Menschen mit jüdischer Herkunft auf, Menschen, die von den Nazis als „asozial“ diffamiert wurden, und Männer mit homosexueller Orientierung. Viele konnte er vor dem sicheren Tod bewahren - aber nicht alle. „Braune konnte nicht verhindern, dass diese vier Menschen, die doch in Lobetal integriert waren, und für die er Verantwortung spürte, abgeholt wurden. Ich vermute, das dürfte ihn sein Leben lang beschäftigt haben“, berichtet Geschäftsführer Wulff.
Und was ist das Verbindende der Lobetaler Arbeit heute? Man stütze sich auf zwei Leitsätze, so Wulff: „Gemeinschaft verwirklichen“ und „Wir sind da für Menschen“. Gemeinschaft zu verwirklichen bedeute, für eine Kultur des Miteinanders, des Respekts und der Teilhabe zu stehen. „Wir sind da für Menschen“ spiegele sich in allen Arbeitsfeldern wider. Wulff: „Diakonie ist immer an der Seite der Menschen, die auf Unterstützung und Begleitung angewiesen sind. Uns ist dabei wichtig, dass der christliche Geist sichtbar ist.“