sozial-Thema

Diakonie

Interview

"Tue das Deine, Gott das Seine"




Martin Wulff
epd-bild/Hoffnungstaler Stiftung Lobetal/Mechtild Rieffel
Die Hoffnungstaler Stiftung Lobetal, einst von Pastor Friedrich von Bodelschwingh mitgegründet, ist aus der Obdachlosenarbeit hervorgegangen. Heute beschäftigt sie in Arbeitsfeldern von der Behindertenhilfe bis zur Jugendarbeit mehr als 3.500 Mitarbeitende. Geschäftsführer Martin Wulff blickt auf eine lange Unternehmensgeschichte zurück - und voraus auf die Herausforderungen der Zukunft.

Bernau (epd). Dass diakonische Arbeit herausfordernd ist, verschweigt Geschäftsführer Martin Wulff im Interview nicht. Aber trotz Fachkräftemangel und schwindender Relevanz der Kirchen sagt er: „Wir blicken zuversichtlich nach vorne.“ Ihm sei nicht bange um die Zukunft: „Die Diakonie besitzt eine hohe Akzeptanz.“ Es gehe um eine Gesellschaft, die von menschlichen Werten geprägt ist. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Friedrich von Bodelschwingh, Mitgründer der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal, gab seinen Mitstreitern die Losung „Dass Ihr mir niemanden abweist“ vor. Lässt sich das heute noch in Lobetal umsetzen?

Martin Wulff: Friedrich von Bodelschwingh schuf Strukturen des Respekts auf Augenhöhe, damit obdachlose Männer Arbeit erhielten, damit sie in Würde leben konnten, damit sie sich in einer Gemeinschaft aufgehoben wussten und ein Leben ohne Almosen gestalten konnten. Das Lobetaler Wahrzeichen ist seit 1907 der einladende Christus am Ort der ersten Wohnbaracken, und der bringt genau das zum Ausdruck. Die Figur empfängt mit einladender Geste die Menschen damals wie heute. Für uns heißt das heute: Wir sind da für Menschen, die auf Hilfe und Begleitung angewiesen sind. Wir reichen ihnen die Hand. Sie sind Teil von uns und Teil unserer Gemeinschaft.

epd: Sicher ein christlicher Ansatz der Obdachlosenhilfe. Aber ums Geld ging es doch damals auch schon?

Wulff: Es hat sich bei Bodelschwingh und all den anderen Charismatikern und Pionieren in erster Linie nicht um das Geld gedreht, wohl wissend, dass es ohne das nicht geht. Die Gründerpersönlichkeiten haben viel unternommen haben, ihre Arbeit finanziell auszustatten. Doch haben sie vermutlich nicht zuerst gefragt: Rechnet sich das? Sicher ist es falsch, einen Mythos zu verbreiten, dass die Mittel der liebe Gott immer zur rechten Zeit gegeben hat, obwohl es manchmal der Fall war. Der erste Aufschlag war die Not, die gewendet werden muss. Das nehmen wir auch heute in der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal in Anspruch.

epd: Womit wir schon im Heute wären ...

Wulff: Ja, und es gibt mehrere Beispiele, an denen ich zeigen kann, wie wir diakonische Arbeit heute verstehen. 2017 haben wir Verantwortung übernommen für Menschen, die zum Teil Jahrzehnte in Heimen der ehemaligen Landesklinik Brandenburg, jetzt Asklepios, in Lübben, Brandenburg an der Havel und Teupitz lebten. Die Asklepios Kliniken boten an, für diesen Heimbereich die Verantwortung zu übernehmen. Nach mehreren Jahren des Verhandelns übernahmen wir den Fachbereich Sozialpsychiatrische Rehabilitation mit dem klaren Auftrag der Enthospitalisierung. Wir begannen, Apartmenthäuser zu errichten. 150 Menschen sollen nicht mehr als Heimbewohner, sondern als Mieterinnen und Mieter leben, gemeinsam mit Menschen, die die Wohnungen frei gemietet haben. So sind inklusive Orte entstanden.

epd: Die neuen Hospize gehören auch dazu ...

Wulff: Ja. Es geht um Linderung des Schmerzes und darum, Orte zu schaffen, an denen Menschen, die keine lange Lebensperspektive haben, gut begleitet werden können. Das sind Hospize als Orte des Lebens. Wir schaffen derzeit zwei dieser Orte. Und schließlich möchte ich noch unsere Arbeit für Jugendliche in Krisensituationen nennen. Sie leben im Wendepunkt in Rüdnitz, im Haus Trau Dich in Lobetal oder in Therapeutischen Wohngruppen in Berlin. Die Jugendlichen mussten in ihrer Kindheit schreckliche Dinge erleben. Dass sich niemand um sie gekümmert hat oder sie nicht wussten, wie sie an Essen kommen sollten, sind noch die harmlosen Dinge. Wir sind für sie da mit Teams, die Erfahrung haben im Umgang mit Traumata. Einfühlsam und professionell arbeiten sie mit ihnen an ihren Erlebnissen. Sie lernen dabei, zu vertrauen und Beziehungen einzugehen.

epd: Kommen wir noch einmal auf den Anspruch des Gründers „Dass Ihr mir niemanden abweist“ zurück. Ließ sich dieses Credo zu allen Zeiten umsetzen, etwa in der NS-Zeit oder auch in der Phase der DDR? Oder ist es nur noch ein abstrakter Begriff aus lange vergangenen Tagen?

Wulff: Das Credo Bodelschwinghs war auch prägend für den Anstaltsleiter Pastor Paul Braune in den Jahren 1922 bis 1954. In der Nazizeit kämpfte er gegen die Krankenmorde im Rahmen der sogenannten Euthanasie. Er protestierte mit einer Denkschrift gegen die „planmäßige Verlegung“ in die Tötungsanstalten. Ihm gelang es, den Abtransport von Frauen in Erkner zu verhindern. Braune nahm Menschen in Lobetal auf, die an anderen Orten nicht mehr sein konnten, weil die Nazis sie verfolgten und sie um ihr Leben bangen mussten. Das waren Menschen mit jüdischer Herkunft, Menschen, die von den Nazis als „asozial“ diffamiert wurden, und es waren Männer mit homosexueller Orientierung. Viele konnte er vor dem sicheren Tod bewahren. Aber 13 Menschen jüdischer Herkunft und vier Männer mit homosexueller Orientierung starben. Sie wurden ermordet in Konzentrationslagern, starben im Warschauer Getto, wurden umgebracht in der Hinrichtungsstätte Berlin Plötzensee. Braune konnte nicht verhindern, dass diese vier Menschen, die doch in Lobetal integriert waren und für die er Verantwortung spürte, abgeholt wurden. Ich vermute, das dürfte ihn sein Leben lang beschäftigt haben.

epd: Wie leben Sie den Wahlspruch heute in Ihren Einrichtungen?

Wulff: Nicht nur damals, auch heute werden Menschen ausgegrenzt, benachteiligt, diskriminiert, sind nicht willkommen, nur weil sie eine Einschränkung haben, weniger leistungsfähig sind, eine andere Hautfarbe oder eine andere sexuelle Orientierung haben als die Mehrheit unserer Bevölkerung. Deshalb gilt heute in der Tradition Lobetals: Wir dürfen nicht leise sein, wenn es um die Belange von Menschen geht, die eine andere sexuelle Orientierung haben. Wenn wir leise sind, dann schaffen wir Platz und Raum für Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung.

epd: Lobetal ist über die Jahrzehnte permanent gewachsen. Hat sich das oft „eher zufällig“ ergeben oder verfolgten die Anstaltsleiter da immer einen systematischen Plan, wenn sie einen speziellen Hilfebedarf sahen?

Wulff: Zu Beginn wurden Angebote und Orte geschaffen für Wanderarbeiter und Wohnungslose sowie für deren Familien. Im Mittelpunkt standen Arbeit, Bildung, Wohnen und Gemeinschaft. Integration war das Ziel. So entstanden nach Rüdnitz die Standorte Lobetal, Blütenberg, Dreibrück und Reichenwalde. Land und nicht mehr bewirtschaftete Gutshöfe wurden dafür günstig erworben. Die weitere Entwicklung ist ein Mix aus verschiedenen Logiken.

epd: Können Sie die etwas näher beschreiben?

Wulff: Zunächst hat die Einführung des Subsidaritätsprinzip in der Weimarer Republik die Grundlage geschaffen, dass soziale Arbeitsfelder auskömmlich finanziert wurden und durch freie Träger ausgebaut werden konnten. Für Hoffnungstaler Anstalten galt das in der Entwicklung der Arbeitsfelder der Altenhilfe und der Behindertenhilfe. Dann gibt es den Ausbau von Bereichen etwa für die Kommunen. Hier sind wir aktiv, indem wir Kitas betreiben oder Unterkünfte für Geflüchtete Menschen. Das sind recht junge Arbeitsfelder. Aber wir übernehmen auch Verantwortung, wenn uns Anfragen erreichen. Etwa die Bitte, ob wir das Management von Vereinen oder gemeinnützigen Gesellschaften übernehmen können? Das war beispielsweise bei der Schrippenkirche mit dem Hotel Grenzfall und dem Diakonischen Werk Niederlausitz der Fall. Hier ist ein entscheidender Aspekt: Passt die Institution zu uns? Stellt es eine sinnvolle Ergänzung dar? Und natürlich sind wirtschaftliche Aspekte im Blick.

epd: Also gab es nie ein Wachstum um jeden Preis?

Wulff: Nein. Im Mittelpunkt stand nie eine Strategie des Wachstums oder einer finanziellen Überlegung im Sinne von Geldmaximierung. Wir entscheiden mit Augenmaß, ob wir uns neuen Arbeitsgebieten zuwenden.

epd: Was ist das Verbindende aller Lobetaler Angebote heute?

Wulff: Zwei Leitsätze schaffen das Verbindende: „Gemeinschaft verwirklichen“ und „Wir sind da für Menschen“. Gemeinschaft verwirklichen bedeutet, dass die Hoffnungstaler Stiftung Lobetal für eine Kultur des Miteinanders, des Respekts und der Teilhabe steht. „Wir sind da für Menschen“ spiegelt sich in den diakonischen Arbeitsfeldern wider. Diakonie ist immer an der Seite der Menschen, die in Not sind, die benachteiligt sind, die auf Unterstützung und Begleitung angewiesen sind. Uns ist dabei wichtig, dass der christliche Geist sichtbar ist. Unsere Veranstaltungen haben immer auch einen christlich spirituellen Akzent. Wir beginnen diese mit einem christlichen Impuls, singen Lieder mit christlichem Inhalt. Gäste in Lobetal werden immer an die Figur des einladenden Christus geführt. Das ist der Ort, an dem die offiziellen Fototermine mit Gästen aus Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kirche stattfinden. Auch in den Häusern sind Worte aus der Bibel oder Sätze, die eindeutig den christlichen Geist atmen, zu lesen auf Bildern oder an der Wand.

epd: Wie blicken Sie in die Zukunft? Was sind die größten Herausforderungen, der sich die Diakonie und damit auch Lobetal stellen muss?

Wulff: Mal ganz grundsätzlich: Wir blicken zuversichtlich nach vorne. Gewiss gibt es immer wieder Herausforderungen, und die Krisen scheinen sich zu überschlagen. Aber war das schon mal anders? Die Hoffnungstaler Stiftung Lobetal hat viele Krisen gemeistert. Und die waren äußerst massiv. Sicher: Finanzierungsfragen begleiten uns ständig, Fachkräftemangel ist unser täglich Brot. Aber da heißt es, hinzuschauen, die Situationen zu gestalten, zu motivieren, mit Fachlichkeit und einer guten Arbeit zu begegnen. Und auch mal die Zähne zusammenbeißen. Das mussten wir beispielsweise während der Corona-Pandemie und zu Beginn des Krieges in der Ukraine mehr als einmal. Doch wir können auf gute Mitarbeitenden zählen, die bereit sind, die Herausforderungen anzugehen und lösungsorientiert zu arbeiten. Es ist bei allem harte Arbeit, und die Erfolge fallen nicht vom Himmel. Ich pflege immer zu sagen: Tue das Deine, Gott das Seine.

epd: Aber die kirchliche Bedeutung in der Gesellschaft schwindet doch merklich ...

Wulff: Ja, dass die kirchliche Relevanz zurückgeht, das sehen wir. Ich sehe aber auch, dass Diakonie eine hohe Akzeptanz besitzt. Die Hoffnungstaler Stiftung Lobetal erreicht gut 3.500 Mitarbeitende, viele Klientinnen und Klienten, Angehörige, Familien, Spenderinnen und Spender. Das summiert sich auf zigtausend Menschen. Ich begreife das als große Chance für die Kirche. Wir sind sehr offen für gemeinsame Konzepte, wie es gelingen kann, den christlichen Glauben einladend und attraktiv zu gestalten. Am Ende des Tages geht es dabei um eine Gesellschaft, die von menschlichen Werten geprägt ist.



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