Mettmann, Frankfurt a. M. (epd). An einem Samstag vor sieben Jahren will Gudrun Schmittat sterben. Seit Jahren ist sie süchtig. Aus ihrem Leiden sieht sie nur noch einzigen Ausweg: Sie unternimmt einen Suizidversuch. Aber sie hat Glück. Ihr Mann kommt früher von der Arbeit nach Hause und findet sie. Er rettet ihr das Leben.
Vor diesem Tag war sie schon zwei Mal zur Entgiftung in einer Klinik, aber dieses Mal klappt es: Seit 9. Juli 2016 ist Schmittat, gelernte OP-Schwester aus Mettmann in Nordrhein-Westfalen, abstinent. Sie nennt diesen Tag ihren zweiten Geburtstag - und feiert ihn jedes Jahr. 20 Jahre lang war die heute 59-Jährige abhängig von Medikamenten gewesen, hatte Beruhigungsmittel und starke Schmerzmittel genommen.
Medikamentenabhängigkeit ist in Deutschland weit verbreitet. Das Bundesgesundheitsministerium spricht von 2,7 Millionen Erwachsenen, die Medikamente in schädlichen Mengen einnehmen oder von ihnen abhängig sind. Welchen Einfluss zuletzt die Corona-Pandemie auf Medikamentenmissbrauch hatte, lässt sich noch nicht absehen. Menschen kämen oft erst nach Jahren der Sucht in die Klinik, sagt Psychiater Mathias Luderer, Leiter der Suchtmedizin an der Uniklinik Frankfurt am Main.
Schmittats Sucht hatte mit Alkohol begonnen. Immer wieder sei sie „über die Stränge geschlagen“, wie sie es nennt. Doch lange verdrängt sie, dass sie ein Problem hat.
Die Geburt ihrer Tochter 1992 ist eine Zäsur: Nach einem Kaiserschnitt bekommt die junge Mutter das Schmerzmittel Tramal. „Ich habe gemerkt, dass damit etwas weggedrückt werden kann“, beschreibt sie ein Gefühl, an das sie auch mehrere Jahre später noch denken wird: „Meine Tochter war drei oder vier, als das Suchtgedächtnis wieder hochkam. Ich stand damals sehr unter Druck. In dieser Situation habe ich mich daran erinnert, dass ich leistungsfähiger war, wenn ich etwas genommen habe“, sagt sie. „Da ging die Mühle dann los.“
Die Medikamente lösen bei Schmittat ein Gefühl aus, das sie kaum beschreiben kann. Das ersehnte Gefühl kommt mit den Medikamenten schneller als beim Trinken. Außerdem: „Mit Alkohol fällt man auf“, sagt sie. „Aber bei den Medikamenten hat es keiner gemerkt.“
2011 folgt der nächste Einschnitt: Gudrun Schmittat kommt mit Panikattacken ins Krankenhaus. Dass sie süchtig ist, sagt sie den Ärzten nicht. Die Patientin bekommt Benzodiazepine gegen ihre Angst. Sie nimmt die „Benzos“, obwohl sie weiß, dass diese schnell abhängig machen können. „Ich kam nicht raus aus der Situation.“
Wann Menschen bemerken, dass sie ein Problem haben, sei unterschiedlich, sagt der Frankfurter Psychiater Luderer. Was von Ärzten verordnet werde, gelte einerseits als etwas, das der Gesundheit hilft. Andererseits sei vielen Menschen bekannt, dass Schlafmittel ein Problem sein können. Bei starken Schlaf- oder Angststörungen wüssten sie aber nicht, wie sie ihr Leben ohne sie bewältigen könnten. „Sinnvoller wäre eine Psychotherapie - und das mit Medikamenten, die nicht abhängig machen“, sagt er. Doch Psychotherapieplätze seien schwer zu finden.
Abhängig werden Menschen vor allem von Schmerzmitteln wie Codein, Oxycodon und Fentanyl oder von Benzodiazepinen, also Beruhigungsmitteln, die schlaffördernd, entspannend und angstlösend wirken, erklärt der Psychiater. Ärzte hätten oft keinen Überblick über den Konsum ihrer Patientinnen und Patienten. Sie bekämen nicht unbedingt mit, wenn sich ein Patient auch bei anderen Ärzten Medikamente hole. Auch Gudrun Schmittat hat sich von verschiedenen Ärzten etwas verschreiben lassen, wie sie zugibt. Und sie habe Medikamente im Krankenhaus gestohlen, über Jahre hinweg unbemerkt.
Sie weiß, dass ihre Sucht sie ein Leben lang begleiten wird. Dennoch habe sie nur noch sehr selten das Gefühl, etwas nehmen zu wollen, sagt sie. Dabei helfe ihr auch ihr Hobby, das Nähen: „Wenn ich etwas in der Hand habe und fühle, egal was, dann spüre ich mich und dann lässt das Verlangen nach.“