sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

die Menschen verbringen in der Corona-Pandemie sehr viel Zeit zu Hause. Oft allein und am PC. Die Folge: Internet-Pornoportale feiern im Lockdown Rekordzugriffe, die Gaming-Branche profitiert. Die Suchtgefahr steigt. "Die Folgen der Pandemie für Mediensucht wird man erst später richtig sehen", sagt der Bochumer Suchtforscher Jan Dieris-Hirche.

Viele Schuldnerberatungsstellen verzeichnen durch die Corona-Krise eine steigende Nachfrage. Daher müssen Ratsuchende mit großen Geldsorgen teilweise mehrere Monate auf einen Termin warten. Dies ergab eine bundesweite Umfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd). Arbeitslosigkeit, Krankheit und Trennung sind die Hauptverursacher der Überschuldung. "Corona wirkt hier wie ein Brandbeschleuniger. Probleme, die vorher da waren, verschärfen sich", erklärt NRW-Caritas-Sprecher Markus Lahrmann.

Eigentlich ist es allen klar: Der Pflegeberuf muss deutlich attraktiver werden, sonst ändert sich am Personalnotstand nichts. Doch in der Praxis hat es die immer wieder angemahnte Wertschätzung der pflegerischen Tätigkeit schwer, beklagen Pflegekräfte. Äußere Bedingungen wie Kostendruck, aber auch innere Einstellungen verhindern die notwendige Emanzipation. "Die Leute sind in ihrer Helferrolle gefangen und kommen da nicht raus", sagt der Betriebsratsvorsitzende einer Klinik über das Pflegepersonal.

Ein neues Urteil des Bundesverfassungsgerichts beeinflusst die Debatte über Sterbehilfe: Die Karlsruher Richter wiesen eine Beschwerde als unzulässig zurück, mit der ein Ehepaar das Recht erstreiten wollte, ein tödliches Arzneimittel kaufen zu dürfen. Außerdem haben sechs Jura-Professoren einen Entwurf vorgelegt, in dem sie für eine Aufweichung der bislang verbotenen Tötung auf Verlangen plädieren.

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Markus Jantzer




sozial-Politik

Corona

Digitale Nebenwirkungen: Gefesselt von Pornos und Konsolen




Eine junge Frau bei einem Computerspiel
epd-bild/Andrea Enderlein
Internet-Pornoportale feiern Rekordzugriffe im Lockdown, auch die Gaming-Branche und Streamingdienste profitieren von den vielen Menschen, die Arbeit, Ausbildung und Freizeit auf ihre Computer verlagert haben. Die Suchtgefahr steigt, warnen Experten.

Die Kollegen sind kleine Kacheln in der Videokonferenz, das Uni-Seminar wird sowieso aufgezeichnet: Wie wäre da - allein im Homeoffice - ein Ausflug in die heiße Sexkategorie im Browser-Fenster nebenan? Oder ins nächste Level des Online-Spiels? Niemand wird es merken, und in Gesellschaft ist man auch – und das so ganz ohne echten Kontakt.

Um rund 25 Prozent stiegen in Corona-Zeiten die Zugriffe auf das Internet-Pornoportal Pornhub, das regelmäßig Statistiken veröffentlicht und im ersten Lockdown auch das Bezahlangebot gratis machte – zur Beschäftigung allein zu Haus. Zur Dimension: Die Webseite wurde 2019 weltweit 42 Milliarden Mal geklickt, die Deutschen sind unter den Top-Nutzern. Konkurrent XHamster liegt im deutschen Webseiten-Ranking derzeit noch weiter vorn, auf Platz 11 – vor Twitter oder Paypal. Im Lockdown werden die meisten Pornos laut Pornhub während der Arbeitszeit geschaut.

Gaming boomt

Auch Gaming boomt. Etwa 40 Prozent mehr Geld investierten Gamer im ersten Halbjahr 2020 in Videospiele, zeigen Marktstudien, der Branchenverband "Games" feierte mit 3,7 Milliarden Euro ein 27-prozentiges Umsatzplus am deutschen Markt. Vor allem investierten Menschen mehr Zeit: Die Bildschirm-Spielzeit von Kindern und Jugendlichen stieg allein im ersten Lockdown, zeigt die Gaming-Studie der Krankenkasse DAK. Die Bundesdrogenbeauftragte Daniela Ludwig (CSU) warnt deshalb vor "verstärkter Mediensucht in der Corona-Krise".

Dass Zuhause-Bleiben im Kampf gegen Corona erwünschtes Verhalten ist, die Arbeitswelt in großen Teilen online und allein stattfindet, macht es für suchtgefährdete Menschen sehr schwer, sagt Jan Dieris-Hirche, Leiter der Mediensuchtambulanz der Uniklinik Bochum. Die Ablenkung durch das jeweilige Suchtmittel lauert dadurch häufiger – und es fehlt die soziale Kontrolle: Der Studierende im Online-Semester wirft morgens den Rechner an und versinkt im Online-Rollenspiel – "zunächst ohne dass es dem Umfeld auffällt". Im Büro ist ein Porno vor der Morgenkonferenz kaum möglich, "jetzt lenkt allein der Gedanke daran schon ab", sagt der Oberarzt.

Lange Nutzungszeit bedeutet dabei nicht automatisch Sucht – aber sie gefährdet. Mediensüchtige schmachten wie Abhängige nach ihrem Mittel, können die Gedanken nicht davon lösen – und konsumieren trotz "realer sozialer Folgen" weiter. Schaffen Arbeit oder Abschluss nicht oder verlieren Partner wegen Pornos, denen sie nicht widerstehen konnten.

Hoher Leidensdruck

"Die Folgen der Pandemie für Mediensucht wird man erst später richtig sehen", sagt Suchtforscher Dieris-Hirche. Die Gruppen der Bochumer Ambulanz, inklusive Wartelisten, sind schon jetzt voll – vor allem mit Gamern und Pornosüchtigen. Covid-19 mache auch die Behandlung schwer: "Man würde den Menschen ja zu sozialem Kontakt raten und zum Beispiel Gamer darin bestärken, ihren Spieltrieb anders auszuleben, etwa Kampfsport auszuprobieren oder Theater", sagt Dieris-Hirche. "Das meiste davon ist gerade nicht möglich."

Er sieht aber auch Chancen in der Pandemie: "Vor Corona war es ein Widerspruch, online Beratung für Mediensucht anzubieten." Sein Forschungsteam arbeitet seit September mit einem Online-Motivationsprogramm (OMPRIS), das Süchtige dort erreicht, wo sie sich aufhalten – online. Laut Dieris-Hirche mit Erfolg.

Auch die Kölner Psychotherapeutin Susanne Behlau, die sich auf die Behandlung von Sexsucht spezialisiert hat, sieht Chancen in der Pandemie. "Es wenden sich gerade mehr Betroffene an mich, weil sie im Homeoffice merken, dass sie ohne den Kick durch Pornos oder Prostituierte nicht können." Gerade Sexsucht sei ein Tabu mit hohem Leidensdruck. "Gefühlt setzen sich gerade mehr Menschen damit auseinander."

Miriam Bunjes


Corona

Freundschaften unter erschwerten Bedingungen




Kerstin Elsässer
epd-bild/Kay Michalak/fotoetage
Ein Studienbeginn bietet eine gute Gelegenheit, neue Freunde kennenzulernen. Doch im Corona-Lockdown ist das Gegenteil der Fall, erzählen drei Frauen. Sie stehen nach Umzügen vor dem Problem, dass es derzeit fast unmöglich ist, Kontakte zu knüpfen.

Nach Feierabend trifft sich Kerstin Elsässer am liebsten mit ihren Freunden. Sie gehen in Bars, machen zusammen Sport oder spielen Theater. "Ich bin eigentlich immer unter Leuten", sagt die 28-Jährige. Doch das hat sich im vergangenen Dezember schlagartig geändert: Nicht nur der Lockdown hindert sie seitdem an den Treffen, sondern auch mehr als 500 Kilometer Entfernung. Elsässer ist für einen neuen Job von Heidelberg nach Bremen gezogen. Seither verbringt sie ihre Freizeit meist allein. "Das frustriert, und ich bin schon oft traurig", sagt sie.

Auch Studentin Paulin Ziegler und Schülerin Greta Stassen geht es ähnlich: Die 20-jährige Ziegler ist im Oktober für ihr Studium nach Leipzig gezogen. Statt in Hörsälen sitzt sie nun allein in ihrem WG-Zimmer. Ihre Ankunft hatte sie sich im Sommer noch anders vorgestellt: "Ich dachte immer, nach dem Umzug geht es richtig los und man lernt ganz viele neue Leute kennen." Vier Monate nach Semesterbeginn hat sie kaum neue Freundschaften aufbauen können. "Ich bin enttäuscht und wage auch nicht mehr zu hoffen, dass es bald besser wird", sagt sie.

Erster Schultag nur digital

Greta Stassen wird ihren ersten Schultag nach dem Umzug von Luxemburg nach Frankfurt am Main digital erleben. Der Gedanke daran stimmt die 16-Jährige mulmig: "Ich bin eigentlich jemand, der ziemlich leicht neue Freunde findet, aber es wird schwieriger, wenn kein Präsenzunterricht stattfindet", sagt sie.

Die drei jungen Frauen stehen alle vor der gleichen Herausforderung: Während es Lebensumbrüche wie Schulwechsel und Studienbeginn sonst erleichtern, neue Menschen kennenzulernen, machen die Corona-Maßnahmen ihnen dies nahezu unmöglich.

Doch nicht nur nach Umzügen fühlt sich die junge Generation aktuell einsam: Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin kommt zu dem Ergebnis, dass sich besonders junge Menschen unter 30 Jahren zu Beginn der Corona-Krise im April 2020 einsam fühlten.

Freundschaften werden unter dem Virus zerbrechen

Janosch Schobin, der an der Universität Kassel zur Soziologie der Freundschaft forscht, erklärt das damit, dass die Corona-Krise auch dazu führt, dass bestehende Freundschaften zerbrechen. Da manche Menschen in einer Stresssituation mehr Unterstützung bräuchten als andere, müsse ausgewählten Freunden mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, sagt er. Zwangsläufig bleibe für die anderen Freunde weniger Zeit übrig. "Sie scheitern an der Kontaktaufnahme und haben das Gefühl, der Freund driftet weg."

Der Soziologe rät jungen Menschen, die ihren Freundeskreis erweitern wollen, neue Kontakte im Internet zu suchen. Es sei zum Beispiel möglich, Fremde in sozialen Netzwerken anzuchatten oder Apps zu nutzen, die sich explizit auf die Freundschaftsvermittlung konzentrierten.

Aufschwung für App "friendsUp"

Insgesamt nimmt Schobin wahr, dass in der Corona-Krise mehr Menschen digital nach neuen Kontakten suchen. So haben sich dem Experten zufolge im vergangenen Jahr zum Beispiel bei der App "friendsUp", die Freundschaften zwischen Frauen vermittelt, rund 58.800 neue Nutzer angemeldet. Das sei ein Anstieg um 90 Prozent, sagt er. "Die Nutzerzahlen sind geradezu explodiert."

Kerstin Elsässer hat versucht, Kontakte über Facebook aufzubauen und ist der Gruppe "Neu in Bremen – Mädels" beigetreten. Sie hat mit zwei Frauen gechattet und sich zum Spazierengehen getroffen. Das sei ein Anfang gewesen, sagt die 28-Jährige, fügt aber hinzu: "Es war kalt, es hat geregnet, und bei den schlechten Voraussetzungen hat es auch nicht unbedingt Spaß gemacht." Sie hat sich deshalb entschieden, keine weiteren Frauen zu treffen, sondern die Suche bis zum Ende des Corona-Lockdowns einzustellen. "Ich glaube, dann lernt man automatisch im öffentlichen Leben wieder Leute kennen."

Patricia Averesch


Corona

Forscherin: Psychisch flexible Menschen kommen besser durch Pandemie



Homeschooling, fehlende soziale Kontakte oder sogar eine bedrohte berufliche Existenz: Die Pandemie führt viele Menschen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Resilienz, also die Fähigkeit, schwere Krisen zu bewältigen, ist in der derzeitigen Situation eine Eigenschaft, die viele gerne hätten. "Resilienz kommt gerade jetzt als Sehnsuchtsthema daher", sagte die Bonner Theologin und Resilienz-Forscherin Cornelia Richter dem Evangelischen Pressedienst (epd). Diese Widerstandskraft könne man sich allerdings nicht in kurzer Zeit aneignen, wie es oft in Ratgebern versprochen werde. "Aber man kann bestimmte Dinge kultivieren und einüben."

Neues ausprobieren

Vor allem psychisch und kognitiv flexible Menschen kämen mit Belastungssituationen wie der Corona-Krise besser zurecht, sagt Richter. Sie untersucht als Mitglied einer interdisziplinären Forschungsgruppe an der Universität Bonn Faktoren und Mechanismen, die Resilienz fördern. Derzeit müssten sich viele Menschen mit Umständen arrangieren, die sie als unnormal empfänden. "Je leichter man bereit ist, Neues auszuprobieren, desto besser kommt man damit klar, dass das ein oder andere derzeit nicht mehr geht." Ein Beispiel sei das Arbeiten im Homeoffice, das oft besser funktioniere als erwartet.

Leichter täten sich in unberechenbaren Situationen Menschen, die keine allzu starren Pläne machten, beobachtet Richter. Wenn etwa die ersehnte Auslandsreise nicht stattfinden könne, helfe es, Alternativen parat zu haben. "Das geht leichter, wenn ich mir überlege, warum mir diese Dinge wichtig sind und worin der Sinn für mich liegt." Freue man sich zum Beispiel vor allem wegen des Badens im Meer auf den Mallorca-Urlaub, so könnte die Alternative in Ferien an einem deutschen Badesee bestehen. "Im vergangenen Sommer hat man ja gesehen, dass Urlaub in Deutschland plötzlich auch ganz cool war."

Rituale helfen

Ein wichtiger Faktor zur Bewältigung krisenhafter Zeiten sei auch ein gut strukturierter Tagesablauf, erklärt Richter. Dabei könnten Rituale helfen, etwa die Kaffeepause oder der Spaziergang zur immer gleichen Tageszeit. Hilfreich seien auch konkrete Ziele, die die Motivation stärkten. Das könne sein, ein bestimmtes Buch zu lesen, die Wohnung schöner zu gestalten oder zu handarbeiten. "Wichtig ist, dass die Ziele realistisch sind und zeitnahe Erfolge möglich sind", sagt Richter.

Als entscheidendes Kriterium für die Bewältigung von Krisen habe sich aus Sicht der Theologie aber vor allem die Fähigkeit erwiesen, negative Erfahrungen in die eigene Biografie zu integrieren. Es gehe darum, Krisen zu durchleben und sie als Teil des eigenen Lebens zu akzeptieren, ohne davon in den Abgrund gerissen zu werden.

Claudia Rometsch


Corona

Klinikbeschäftigte sollen nochmals Prämie bekommen



Mit einer weiteren Prämie von bis zu 1.500 Euro will die Bundesregierung die Arbeit von Klinikbeschäftigten in der zweiten Corona-Welle würdigen. Außer den Pflegekräften sollen auch andere Krankenhausmitarbeiter das Extra-Geld bekommen.

Nach der zweiten Welle mit vielen Covid-19-Patienten in deutschen Krankenhäusern stellt die Bundesregierung nochmals Geld für eine Corona-Prämie bereit. Wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am 8. Februar in Berlin mitteilte, werden 450 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Das sei mehr als doppelt so viel wie beim ersten Corona-Bonus im vergangenen Jahr. Die Krankenhäuser begrüßten die Prämie, die Opposition forderte weitergehende Verbesserungen.

Spahn sagte, die zweite Corona-Welle habe die Beschäftigten in allen Bereichen teilweise stärker belastet als im vergangenen Frühjahr: "Das waren schwere Wochen mit sehr, sehr schweren Belastungen." Klinikbeschäftigte setzten sich Tag und Nacht für die Patienten ein. Die Arbeit sei psychisch belastend und durch die notwendige Schutzausrüstung auch körperlich hart, sagte Spahn.

Bis zu 1.500 Euro steuerfrei

Die Beschäftigten können bis zu 1.500 Euro erhalten. Die Prämie ist steuerfrei, wenn sie bis zur Jahresmitte ausgezahlt wird, wie Spahn erläuterte. Der Bonus steht nicht nur für Pflegekräfte zur Verfügung, sondern auch für andere Beschäftigte, etwa Reinigungskräfte. Über die Verteilung sollen die Krankenhäuser selbst entscheiden, Spahn zufolge gemeinsam mit den Beschäftigtenvertretungen.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft begrüßte die Ankündigung. Die Prämie müsse aber so gestaltet werden, dass alle Pflegekräfte in einem Krankenhaus davon profitierten, sagte Hauptgeschäftsführer Georg Baum. Die Grünen forderten, statt Einmalzahlungen anzukündigen, müsse die Regierung den Arbeitsalltag der Pflegekräfte verbessern. Die Linke forderte, die Prämie allen Berufsgruppen in der pflegerischen Versorgung zu zahlen und auch die Altenpflegekräfte einzubeziehen.



Corona

Hintergrund

Neue Regeln im verlängerten Lockdown



Bund und Länder haben sich am 10. Februar darauf verständigt, den Lockdown zur Eindämmung der Corona-Pandemie bis 7. März zu verlängern. Die Zahl der Neuinfektionen ist nach ihrer Bewertung noch zu hoch für Öffnungen - vor allem angesichts der auch in Deutschland kursierenden höchst ansteckenden Virusmutationen. Ein paar Lockerungen kann es aber schon früher geben. Die Beschlüsse im Überblick:

WAS WEITER GILT

Bei den Kontaktbeschränkungen und der Maskenpflicht bleibt es bei den derzeitigen Regeln: Angehörige eines Haushalts dürfen nur eine Person aus einem anderen Haushalt treffen. Die Personen sollen dabei möglichst konstant bleiben. In Geschäften und öffentlichen Verkehrsmitteln muss eine medizinische Maske getragen werden. Arbeitgeber müssen weiter Homeoffice ermöglichen. Die entsprechende Rechtsverordnung gilt ohnehin noch bis zum 15. März. Einzelhandel, Sport-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen bleiben geschlossen. Gottesdienste dürfen nur unter strengen Auflagen und mit Anmeldung stattfinden.

PERSPEKTIVE FÜR SCHULEN UND KITAS

Schulen und Einrichtungen zur Kinderbetreuung sollen als erstes wieder öffnen, wobei die einzelnen Bundesländer über den genauen Zeitpunkt entscheiden. Einige wollen schon am 22. Februar wieder mit dem Präsenzunterricht starten. Wo immer möglich, sollten medizinische Masken verwendet werden, heißt es im Beschluss. Zudem sollen vermehrt Schnelltests in Schulen zum Einsatz kommen. Geprüft werden soll, ob Grundschullehrer und Erzieher früher als bisher geplant geimpft werden können - und in die Impf-Kategorie 2 (hohe Priorität) genommen werden. Sie wären damit in einer Gruppe mit den über 70-Jährigen.

FRISEURE

Schon am 1. März können Friseure wieder öffnen, auch weil für diesen Zeitpunkt erwartet wird, dass die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen unter 50 liegt. Für Friseure gelten dann aber strengere Auflagen: Termine müssen reserviert und medizinische Masken getragen werden.

WEITERE ÖFFNUNGEN ERST BEI INZIDENZ VON 35

Erst wenn die Zahl der Ansteckungen pro 100.000 Einwohner in einer Woche unter 35 liegt, soll es weitere Öffnungen geben, und zwar für Einzelhandel, Museen und Galerien sowie für andere körpernahe Dienstleistungen neben den Friseuren. Im Einzelhandel soll sich nicht mehr als ein Kunde pro 20 Quadratmeter aufhalten. Über die Öffnung der Bereiche entscheiden die Länder.

SPORT, KULTUR UND FREIZEIT

Für weitere seit langem geschlossene Bereiche im Freizeitbereich sowie von Sport- und Kultureinrichtungen haben Bund und Länder noch keine konkrete Perspektive gegeben. Bund und Länder arbeiteten weiter an der Entwicklung nächster Schritte, heißt es im Beschluss. Dazu sei eine Arbeitsgruppe eingerichtet worden.



Pflege

Personalnotstand wegen Sparzwang und kaum Freiheiten im Beruf




Pflegekräfte im Evangelisches Pflegezentrum im bayerischen Eichenau
epd-bild/Klaus Honigschnabel
Sie ist eine der Schlüsselfragen in einer alternden Gesellschaft: Wie kann der Pflegeberuf attraktiver werden? Denn nur wenn mehr ausgebildete Fachkräfte länger als bisher ihrem Beruf auch treu bleiben, kann der Personalnotstand in Deutschland überwunden werden.

Silke Doppelfeld kritisiert das System der Krankenhausfinanzierung. Es stehe einer fürsorglichen Pflege der Patienten im Weg, ist die examinierte Krankenpflegerin aus Bad Neuenahr überzeugt. Seit über 15 Jahren fließt Geld nach dem sogenannten Fallpauschalen-System an die Kliniken und trimme sie auf Effizienz und auf eine falsch verstandene Wirtschaftlichkeit.

Das wirke sich fatal auf die Pflege aus, ist Doppelfeld überzeugt. Pflegekräfte könnten wegen des Spardrucks nicht so intensiv und mit persönlicher Zuwendung pflegen, wie sie das für gut und richtig halten. Der Arbeitsalltag kollidiere mit ihrer beruflichen Identität. Es würden Patienten aus der Klinik entlassen, die aus pflegerischer Sicht noch nicht nach Hause gehören. Doch Pflegekräfte haben in den hierarchisch strukturierten Kliniken wenig zu melden, lautet ihre Kritik: "Das ist ein Grund, warum viele Leute aus der Pflege aussteigen."

Streik würde Chaos anrichten

Pflegekräfte könnten ihre Lage verbessern, indem sie gemeinsam für ihre Anliegen kämpften, sagt Julia Inthorn. Sie ist überzeugt: Nur eine einzige Stunde Pflegestreik zur gleichen Zeit in ganz Deutschland - und das Chaos wäre perfekt. Doch es werde kaum gekämpft. Im Gegenteil, sagt Inthorn: "Pflegende gehen bisweilen genauso grob miteinander um, wie mit ihnen umgegangen wird." Dabei bräuchte es positive Veränderungen "aus der Pflege selbst", sagt die Leiterin des Zentrums für Gesundheitsethik der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover.

Die klare Hierarchie im deutschen Gesundheitswesen ist für Burkhard Halbig, Leiter einer Caritas-Sozialstation in Würzburg, ein Grund für den wachsenden Frust in der Pflege. Gehe eine Pflegekraft zu einem alten Menschen, sehe sie aufgrund ihres Fachwissens genau, was dieser Mensch brauche, damit er sich besser fühlt, erklärt er: "Doch verordnen darf sie nichts." Das sei "seit Jahrzehnten" so: "Pflegebetten, Toilettenstühle, Rollstühle, Rollatoren, Inkontinenzartikel - alles darf nur der Arzt verordnen." Nicht einmal für Verbandmaterial darf eine Sozialstation selbst sorgen: "Obwohl wir eine ausgebildete Wundmanagerin haben."

Halbig beklagt, dass Bürokratie und Sparzwänge von Jahr zu Jahr zunehmen. "Mein Empfinden ist, dass die persönliche Lebenslage eines hilfesuchenden Menschen dadurch immer mehr in den Hintergrund gedrängt wird." Sein Team bekomme immer öfter mit, dass andere Pflegedienste "unattraktive Versorgungen" ablehnen. Natürlich könne das am Personalmangel liegen: "Doch es geschieht sicher zum Teil auch aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus." Pflegekräfte, die das aufgrund ihrer Berufsauffassung nicht mittragen könnten, bleibe nichts übrig, als zu kündigen - innerlich oder tatsächlich.

Fachkräfte erdulden oft zu viel

Dabei erdulden Pflegekräfte oft viel zu viel, sagt Michael Bauch, Betriebsratsvorsitzender des Klinikums Würzburg Mitte. Zu wenige nutzten zum Beispiel das Instrument der Überlastungsanzeige, obwohl sie mit ihren Kräften am Limit seien: "Die Leute sind in ihrer Helferrolle gefangen und kommen da nicht raus." Pflegende versuchten stets, "aus der Mangelwirtschaft das Maximum herauszuholen". Wer physisch und psychisch am Ende ist, geht. Und das seien inzwischen "Scharen": "Wir steuern im Gesundheitswesen sehenden Auges auf einen Kollaps zu", beobachtet Bauch.

Thomas Möller gehört zu jenen, die irgendwann nicht mehr kompromissbereit waren. Der 31-Jährige war acht Jahre als Krankenpfleger tätig. Inzwischen engagiert er sich in Berlin beim Bundesverband Gesundheits-IT. "Es ist nicht in erster Linie die Bezahlung, die den Pflegeberuf so unattraktiv macht", sagt Möller, der sich 2015 in der Protestbewegung "Pflege am Boden" einbrachte.

Auch für ihn waren betriebswirtschaftliche Zwänge und der geringe Einfluss auf die Gestaltung der eigenen Arbeit die Hauptgründe, warum er den Pflegeberuf an den Nagel gehängt hat. "Pflege hat in Deutschland einfach kein gutes Standing", sagt er. Es sei ein "dienender Assistenzberuf". "Doch wir sind so gut ausgebildet, dass wir mehr Verantwortung bekommen sollten."

"Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis"

Patienten brauchen nicht bloß gute Medizin, sondern auch gute Pflege. Wie die ausschaut, lernt eine Pflegeschülerin von der Pike auf, sagt Clara Goll aus Wiesbaden, die vor einem Jahr ihre Ausbildung abgeschlossen hat und seitdem auf einer Intensivstation tätigt ist. "Nun gibt es aber leider eine sehr große Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis", beklagt die 24-Jährige, die sich in der Gruppe "Junge Pflege" des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe DBfK engagiert. Statt so zu pflegen, wie sie es gelernt haben, müssten Pflegekräfte "aneinandergereihte Vorgaben abarbeiten: Wir haben viel zu wenig Entscheidungsspielraum".

Patienten zu waschen und Fieber zu messen, sei in der Pflege längst nicht alles. Zwischen Aufnahme und Entlassung sollte sich ein komplexer Pflegeprozess abspielen - dem aber in der Praxis kaum Freiraum zugestanden wird. "Eine gute Pflege beginnt damit, dass ich den Patienten frage, was ihm Angst macht, was ihm Sorgen bereitet und wie er sich die nächsten Tage vorstellt", erklärt Goll. Dies sei deshalb so wichtig, weil ein angstfreier Patient bessere Heilungschancen hat. Weil sie oft nicht tun kann, was sie tun möchte, fragt sich Clara Goll nach nur einem Jahr in der Pflege, wie lange sie ihren Job wohl aushält. Aktuell plant sie, ins Pflegemanagement zu wechseln.

Pat Christ


Pflege

Hürdenlauf zur Kur: Wie pflegende Angehörige alleingelassen werden




Ein pflegebedürftiger Mann wird eingecremt.
epd-bild/Werner Krüper
Die Versorgung von Millionen pflegebedürftiger Menschen hängt hierzulande allein von ihren Angehörigen ab - in der Pandemie noch mehr als sonst. Umso erstaunlicher ist, wie es diesen Alltagshelden erschwert wird, für die eigene Gesundheit zu sorgen.

Gerlinde Süderbrink (Name geändert) hatte sich fünf Jahre lang um ihre demenzkranke Mutter gekümmert. Kurz vor Weihnachten stellte die 57-Jährige aus dem Landkreis Osnabrück einen Antrag auf eine Kur für pflegende Angehörige. Sie war erschöpft. Die Ablehnung kam gleich nach den Feiertagen. Eine "Mutter-Kind-Vorsorgemaßnahme" stehe ihr nicht zu. Dabei hatte Süderbrink die Pflegesituation in ihrem Antrag ausführlich beschrieben, den sie mit Hilfe einer Beratungsstelle des Müttergenesungswerks gestellt hatte. Sie zweifelte, ob ihre Krankenkasse ihn überhaupt gelesen hatte.

Bürokratisch und undurchsichtig

"Es kann nicht sein, dass eine Krankenkasse einer Versicherten so eine Auskunft gibt", sagt die Geschäftsführerin des Müttergenesungswerks, Anne Schilling. Ihrer Erfahrung nach müssen pflegende Angehörige aber immer wieder mit besonderen Hürden rechnen, wenn sie eine Kur beantragen. Die Kassen haben dafür nicht einmal ein Formular.

Das wirft ein Schlaglicht auf den Umgang mit "dem größten Pflegedienst der Nation". Die physischen und psychischen Belastungen durch häusliche Pflege sind hundertfach belegt. Dennoch wird es pflegenden Angehörigen besonders schwergemacht, etwas für die eigene Gesundheit zu tun, etwa durch eine Kur.

Das Müttergenesungswerk bietet die Kuren in seinen Kliniken an und bemüht sich Schilling zufolge schon seit Jahren darum, den Zugang zu verbessern. Bisher mit geringem Erfolg, obwohl der Politik die Probleme bekannt sind. Bereits 2014 hatten Gutachter im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums festgestellt, dass Kuren für pflegende Angehörige "nicht in einem signifikanten Ausmaß in Anspruch genommen werden, hauptsächlich deshalb, weil die Prozesse im Vorfeld noch zu bürokratisch, undurchsichtig, uneinheitlich und zu aufwendig sind".

Wenige Anträge

Angehörige versorgen zwei Drittel der mehr als vier Millionen offiziell pflegebedürftigen Menschen zu Hause, die meisten ohne Hilfe von Pflegediensten. Schon nach dem ersten Lockdown im Juni 2020 erklärte ein Drittel der Pflegenden, ihre Situation habe sich in der Pandemie verschlechtert. Ein Viertel fürchtete, die häusliche Pflege nicht mehr zu schaffen. Von den Angehörigen Demenzkranker dachten 35 Prozent ans Aufgeben. Bei allen hatten Verzweiflung, Wut und Ärger zugenommen, wie die Berliner Charité und das Zentrum für Qualität in der Pflege in einer bundesweiten Befragung ermittelten.

Überdies fehlen seit Monaten viele Erholungsmöglichkeiten: Saunen und Cafés sind zu, Sport fällt aus, Selbsthilfegruppen kommen wenn, nur online zusammen. Das alles sind Gründe für eine Vorsorgekur. Doch von dieser Möglichkeit wissen die meisten der rund 4,7 Millionen pflegenden Angehörigen nichts. Das Müttergenesungswerk verzeichnet gerade mal 850 Anträge pro Jahr. Amtliche Statistiken gebe es nicht, teilt der GKV-Spitzenverband auf Anfrage mit und nennt auch einen Grund: Es gebe "keine spezifische Vorsorge für pflegende Angehörige". Dabei steht der Anspruch auf Vorsorge- und Reha-Kuren für pflegende Angehörige seit nunmehr acht Jahren im Gesetz.

An der Belastungsgrenze

"Es hilft nichts, wenn das nur im Gesetz steht", fasst Verena Ising-Volmer die Sachlage trocken zusammen. Seit anderthalb Jahren setzt sich die Leiterin des Referats für Kur- und Erholungshilfen im Diözesan-Caritasverband Paderborn im Rahmen eines Modellprojekts der nordrhein-westfälischen Landesregierung dafür ein, Beratungsstellen zu schulen und die Kuren bekanntzumachen. Sie seien "immer noch nicht etabliert", sagt sie: "Wir sind dafür da, das zu ändern."

Der Düsseldorfer Sozialminister und frühere Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann (CDU), der das Projekt mit zwei Millionen Euro fördert, sagt, gerade jetzt sei es wichtig, dass erschöpfte pflegende Angehörige "in einer Kur zu neuer Kraft und Stärke finden". Sie übernähmen "tagein, tagaus bedingungslos die Verantwortung für ihre Angehörigen" und die Corona-Pandemie habe "viele an ihre Belastungsgrenze gebracht".

Gerlinde Süderbrink hat inzwischen die Ablehnung vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen erhalten, der ihren Kurantrag geprüft hat. Die Begründung deckt sich mit dem abschlägigen Bescheid ihrer Kasse: Ihr stehe keine Mütterkur zu. Sie wird nun Widerspruch einlegen und abermals erklären, dass sie eine Kur für pflegende Angehörige beantragt hat. Wie das ausgeht, ist offen. Nur eines ist sicher: Sie wird noch Nerven brauchen.

Bettina Markmeyer


Familie

"Wir wissen nicht, wie lange wir Emily noch haben"




Sandra und Henning Thiele mit ihrer Tochter Emily
epd-bild/Nancy Heusel
Wenn Eltern erfahren: Das Kind, das wir erwarten, wird tot zur Welt kommen oder sehr früh sterben, dann ist das für viele wie ein Tornado, der alles wegreißt. Unterstützung gibt es wenig. Das haben auch die Eltern der kleinen Emily erfahren.

Emily liegt auf dem Schoß ihrer Mutter, unruhig geht der Kopf hin und her. Sandra Thiele (39) stützt die Zweieinhalbjährige mit dem Arm, schaukelt sie sanft. Emily ist geistig behindert, kann nicht laufen, sitzen, krabbeln oder sprechen. "Emily ist unser Wunder", sagt die Mutter. "Wir tun alles, damit es unserer Püppi gutgeht. Wir wissen ja nicht, wohin die Reise geht und wie lange wir sie noch haben", sagt Vater Henning (41), lächelt Emily ins Gesicht und streichelt ihren Fuß. Emily lacht.

Dass die Thieles aus Schöningen bei Braunschweig die Dreisamkeit auf dem Sofa genießen können, ist nicht selbstverständlich. Schon vor Emilys Geburt hatten die Ärzte bei ihr eine Holoprosencephalie diagnostiziert, eine der häufigsten angeborenen Gehirnfehlbildungen. Die meisten Kinder sterben daran schon im Mutterleib. Die Ärzte gaben auch Emily nur geringe Überlebenschancen.

Tagelang nur geweint

Als Sandra Thiele von Emilys Krankheit erfuhr, habe sie tagelang nur geweint, erzählt die gelernte Bürokauffrau. "Ich war verzweifelt und wollte es einfach nicht wahrhaben." Ärzte hätten dem Paar einen Schwangerschaftsabbruch nahegelegt. Eine Geburt würde ihre Tochter, wenn überhaupt, nur kurz überleben. Emily abtreiben zu lassen, kam für die Thieles nicht infrage: "Ich habe doch gespürt, wie sie getreten hat", sagt Sandra Thiele. Aber sie planten bereits Emilys Beerdigung. Wie es sein würde, wenn ihre Tochter doch überlebte, habe ihnen vorher niemand gesagt, erzählen die Eltern.

Die Thieles hätten sich damals gewünscht, dass ihnen jemand zur Seite steht, sagen sie. Jemand wie die Hebamme und Trauma-Fachberaterin Uli Michel oder wie die Kinderhospiz-Expertinnen Isa Groth und Claudia Langanki. Sie begleiten Paare und Frauen, die ein Kind mit lebensverkürzender Erkrankung erwarten. "Mit der Diagnose werden die Frauen und Familien meistens alleingelassen", sagt Langanki.

Sie hat bis 2018 elf Jahre lang das Kinderhospiz "Bärenherz" in Wiesbaden geleitet. Damals habe sie viele Anfragen von Menschen erhalten, die in einer ähnlichen Lage wie die Thieles waren. Nach ihrer Pensionierung eröffnete sie unter dem Dach des Kinderhospizes im Oktober 2018 die bundesweit erste Begleitung für werdende Eltern mit lebensverkürzend erkrankten Ungeborenen sowie für Eltern bei stiller Geburt.

Begleitung über den Tod hinaus

Zwar bieten Kliniken eine psychosoziale Beratung und Vereine wie Donum Vitae oder Pro Familia eine Schwangerschaftsberatung an. Doch die Unterstützung dort umfasse längst nicht alle Herausforderungen, vor denen die Familien stünden, sagt Langanki. Kaum jemand begleite die Familien durch die gesamte Zeit von der Diagnose bis über die Geburt und den Tod hinaus.

Die werdenden Mütter und Väter hätten gerade zu Beginn viele Fragen, sagt Uli Michel, Leiterin der Bethanien Sternenkinder Beratungsstelle im westfälischen Lengerich. Sie wollten wissen, wie die Krankheit sich entwickle, ob ihr Kind leide, wie lange es überlebe und wie es nach der Geburt weitergehen könne. "Ich führe mit ihnen so viele Gespräche wie sie benötigen, auch mit Geschwistern und Großeltern. Und ich gehe alle Wege mit."

Isa Groth betont, es gehe nicht darum, den Eltern Entscheidungen etwa für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch abzunehmen oder sie in eine Richtung zu beeinflussen. "Wir überlegen mit ihnen gemeinsam, wie das Leben für sie mit der einen oder anderen Entscheidung aussehen könnte." Groth ist Koordinatorin beim Kinderhospizstützpunkt Löwenherz in Braunschweig und bietet seit September 2020 zusätzlich eine vorgeburtliche Begleitung an. Sie sagt: "Die Diagnose, ein sterbenskrankes Kind zu erwarten, ist für die Familien wie ein Tornado, der ihnen alles wegreißt und nichts heile lässt."

"Emily hat gekämpft"

Die Tochter von Sandra und Hennig Thiele kam mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zur Welt. Emily habe stundenlang geschrien, kaum trinken können, erzählt Sandra Thiele. Ärzte und Schwestern hätten ihnen gesagt, sie sollten sie sterben lassen. "Aber Emily hat gekämpft", sagt die Mutter. Nach vier Tagen haben sie und ihr Mann sie mit nach Hause genommen, obwohl sie nicht wussten, wie sie Emily versorgen sollten. "Wir waren verzweifelt und hilflos."

Durch Zufall hatten die Thieles kurz zuvor vom Kinderhospizstützpunkt "Löwenherz" in Braunschweig erfahren. Sie riefen dort an und Koordinatorin Isa Groth kam sofort. Sie brachte Emily mit ihren Eltern als Notfall ins stationäre Kinderhospiz nach Syke. Damals plante Groth bereits das Angebot einer vorgeburtlichen Begleitung. "Isa hat uns Mut gemacht und wir waren nicht mehr allein", sagt Sandra Thiele.

Das Personal im Kinderhospiz, in dem Eltern mit unheilbar kranken Kindern für ein paar Wochen im Jahr eine Auszeit genießen können, nahm ihnen die Pflege ab. Die Fachkräfte erklärten den Umgang mit einem speziellen Sauger, damit Emily endlich trinken konnte, zeigten, wie sie Emily beruhigen konnten. Und sie vermittelten ihnen den Kontakt zu einer anderen betroffenen Familie. Isa Groth unterstützte sie danach noch ein paar Wochen lang.

Trotzdem glücklich

Auch wenn Emilys Lebensweg irgendwann zu Ende geht, wird die ausgebildete Trauerbegleiterin da sein - falls Sandra und Henning Thiele sich das wünschen. Groth, Langanki und Michel stehen den Frauen und Familien im Sterbeprozess der Kinder, beim Abschiednehmen, bei der Vorbereitung der Trauerfeier und in den Monaten oder Jahren der Trauer beiseite.

Für die Thieles ist der Alltag mit Emily immer noch herausfordernd. Ihre Lippen-Kiefer-Gaumenspalte wurde operiert. Aber ihre Nierenfunktion ist eingeschränkt. Sie isst sehr langsam. Wenn sie krank ist, nimmt sie stark ab. Emily schläft nur wenig, weil ihr Körper zu wenig Melatonin bildet. "Sie hält alle auf Trab", sagt der Vater lachend.

Aber die Thieles sind glücklich mit ihrer Tochter. "Wir genießen jeden Tag", sagt Henning Thiele, der bald wieder in seinen Beruf in der Autoproduktion einsteigen will. Seine Frau ergänzt: "Im Moment ist alles super und ich habe das Gefühl, unsere Reise geht noch weiter." Emily hat sogar schon einen Krippenplatz.

Martina Schwager


Sterbehilfe

Interview

Jura-Professor: Nicht "schmalspurig" fahren




Henning Rosenau
epd-bild/Peter Junkermann
In der Debatte um eine mögliche Regulierung der Sterbehilfe plädiert der Rechtswissenschaftler Henning Rosenau von der Uni Halle mit weiteren Juraprofessoren für eine gesetzliche Regelung, die über die Frage der Suizidassistenz hinausgeht. Er ist einer von acht Autoren, die einen eigenen Vorschlag in Form eines Gesetzentwurfs veröffentlicht haben.

In der Debatte um eine Neuregelung der Sterbehilfe haben acht Rechtswissenschaftler aus Augsburg, München und Halle einen eigenen Gesetzentwurf veröffentlicht. Sie plädieren für eine umfassende Regelung, die über den Aspekt der Suizidassistenz hinausgeht. So fordern sie auch eine Aufweichung der bislang verbotenen Tötung auf Verlangen. Einer der Autoren des Vorschlags ist der Jura-Professor Henning Rosenau von der Universität Halle. Corinna Buschow hat ihn gefragt, was die Wissenschaftler dazu bewogen hat, einen Entwurf zu schreiben, und warum auch die aktive Sterbehilfe für ihn kein Tabu ist.

epd sozial: Professor Rosenau, Sie haben gemeinsam mit anderen Rechtswissenschaftlern einen Gesetzentwurf in der Debatte um Regeln für den assistierten Suizid vorgelegt. Was hat Sie dazu bewogen?

Henning Rosenau: Die Idee liegt schon zwei Jahre zurück. Schon damals gab es die Debatte darum, ob der Paragraf 217, das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidassistenz, rechtmäßig ist. Dabei wurde deutlich, dass es für Beteiligte nicht die Rechtssicherheit gibt, die man eigentlich haben wollte. Das galt bei Ärzten nicht nur für den assistierten Suizid, sondern teilweise auch für die sogenannte passive Sterbehilfe, also den Behandlungsabbruch. Deswegen war es unser Anliegen, eine umfassende Regelung vorzulegen. Wir sind zugleich der Überzeugung, dass durch eine konsistente Regelung dem Suizid besser präventiv begegnet werden kann. Nur wenn Menschen auch auf Ärzte zugehen mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen, können Mediziner reagieren, ihre Patienten beraten, vielleicht davon abbringen.

epd: Ihr Entwurf trägt den Titel "Gesetz zur Gewährleistung selbstbestimmten Sterbens und zur Suizidprävention". Es ist eine sehr liberale Regelung der Sterbehilfe, oder?

Rosenau: Ja, so ist es.

epd: Sie gehen sogar so weit, das Verbot der aktiven Sterbehilfe, der Tötung auf Verlangen, aufzuweichen. Warum?

Rosenau: Aus rechtswissenschaftlicher Sicht gehört für eine in sich stimmige Regelung die aktive Sterbehilfe dazu. Die Frage ist, ob mit den Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts zum selbstbestimmten Sterben das Verbot der aktiven Sterbehilfe noch zu rechtfertigen ist. Wir meinen nein, zumindest nicht für bestimmte, ganz extreme Ausnahmen.

epd: Welche?

Rosenau: Das Bundesverfassungsgericht sagt, dass man das Sterben nach eigenen Wünschen gestalten können muss und sich dabei auch helfen lassen kann. Eine Beihilfe zum Suizid kommt dabei nicht für jeden infrage, etwa Patienten mit vollständigen Lähmungen wie beim Locked-in-Syndrom.

epd: Gilt die Ausnahme auch, wenn jemand sterben will, aber ausdrücklich nicht den Suizid, sondern die Tötung auf Verlangen will?

Rosenau: Nein, da sind wir vorsichtig. Wenn die Suizidassistenz zumutbar ist, sollte dieser Weg gegangen werden. So ist es in unserem Entwurf vorgesehen.

epd: Dennoch ist es doch ein wesentlicher Unterschied, ob jemand sich selbst oder einen anderen Menschen tötet. Muss da nicht auch das Recht unterscheiden?

Rosenau: Tatsächlich war die Bewertung bislang so, dass nur durch den eigenen Akt - den Suizid - bewiesen ist, dass es jemand ernst meint. Das Verbot der aktiven Tötung ist sozusagen eine Absicherung dafür, dass es selbstbestimmtes Sterben ist. Wir haben aber ein Konzept entwickelt mit Kommissionen, Beratung und Dokumentation, so dass die Selbstbestimmung gewährleistet wäre. Dann lässt sich nach unserer Auffassung das Verbot der Tötung auf Verlangen nicht mehr rechtfertigen.

epd: Kritiker einer liberalen Regelung der Suizidassistenz befürchten ja, dass damit die Tür zur aktiven Sterbehilfe aufgestoßen wird. Sie haben also recht mit ihrer Befürchtung?

Rosenau: In gewisser Weise ja.

epd: Als Wissenschaftler können Sie keinen Gesetzentwurf in den Bundestag einbringen. Sind sie mit Parlamentariern im Gespräch, die sich Ihre Pläne zueigen machen könnten?

Rosenau: Es gibt erste Kontakte. Inhaltliche Gespräche sind verabredet.

epd: Zur Regelung der Suizidassistenz wurden kürzlich bereits zwei Gesetzentwürfe von Bundestagsabgeordneten vorgestellt. Wie bewerten Sie diese?

Rosenau: Beide sind ja auch in eine liberale Richtung gedacht, daher gehen sie in meinen Augen in die richtige Richtung. Wie in unserem Vorschlag wird auch die praktische Seite bedacht, also der Zugang zu Natrium-Pentobarbital durch eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes. Ich hielte es dennoch für zu kurz gesprungen, wenn wir nur den Aspekt der Suizidbeihilfe regeln. Wir sollten uns die Zeit nehmen, das ganze Feld der Sterbehilfe regulatorisch abzustecken, anstatt schmalspurig zu fahren, um noch vor der Bundestagswahl eine Regelung hinzubekommen.

epd: Das heißt, die auch von Ihnen als Argument ins Feld geführte, derzeitige Rechtsunsicherheit lässt diese Zeit noch?

Rosenau: Das sehe ich nicht so kritisch. Bei Bestehen des Paragrafen 217 war die Unsicherheit größer als jetzt. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das diese Regelung gekippt hat, haben wir den Rechtszustand von 2015 wieder, den wir über hundert Jahre so hatten. Mit diesem Zustand kann man noch eine Weile leben.

epd: Welche Rolle haben Ärzte nach den Vorstellungen Ihres Entwurfs bei der Sterbehilfe?

Rosenau: Sie haben eine wichtige Rolle. Die Ärzte sind diejenigen, die behandeln, Ängste nehmen können und Auswege aufzeigen können in Richtung Palliativversorgung oder Hospiz. Für uns sind sie aber nicht die ausschließliche Stelle. Wir würden auch Sterbehilfeorganisationen nicht per se verteufeln. Sie bräuchten nach unserem Vorschlag aber eine Erlaubnis, müssten eine Zuverlässigkeitsprüfung durchlaufen, Beratung anbieten und dürften keine reißerische Werbung machen. Solche Organisationen könnten Lücken füllen, wenn Ärzte sich nicht zur Suizidassistenz bereiterklären. Denn klar ist auch bei uns, dass kein Arzt dazu gezwungen werden darf.

epd: In der evangelischen Kirche ist eine Debatte über die Frage entbrannt, ob Suizidassistenz auch in diakonischen Einrichtungen möglich sein könnte. Andersherum gefragt: Könnten kirchliche Häuser es überhaupt verbieten?

Rosenau: Eine Einrichtung kann es ausschließen, nachdem das Bundesverfassungsgericht es so formuliert hat, dass niemand zur Suizidbeihilfe verpflichtet werden kann. Die Konsequenz wäre dann, dass die Einrichtung dem Betroffenen die Möglichkeit geben muss, irgendwo anders hinzugehen. Denn festhalten kann sie ihn ja nicht. Die Debatte in der evangelischen Kirche erinnert mich etwas an die Diskussion um den Behandlungsabbruch. Damals haben die Kirchen genauso argumentiert. Sie wollten für ihre Einrichtungen ausschließen, dass Maschinen abgeschaltet werden. Auch das Argument, das dürfe nicht zur normalen Option werden, fiel damals. Das sieht man heute ganz anders. Als evangelischer Christ finde ich es jedenfalls gut, dass die Kirche die Fragen noch einmal aufgreift.




sozial-Branche

Corona

Lange Wartelisten bei Schuldnerberatungen in der Pandemie




Erstellen eines Haushaltsplans bei der Schuldnerberatung
epd-bild/Werner Krüper
Der wirtschaftliche Einbruch durch die Corona-Krise stürzt viele Menschen in Geldnot. Die Schuldnerberatungen erleben in der Folge einen erhöhten Andrang. Und es kommen Menschen aus sozialen Schichten, die bisher nie Hilfe brauchten.

Bei den Schuldnerberatungsstellen in Deutschland müssen Ratsuchende angesichts der Corona-Pandemie mit langen Wartezeiten rechnen. Im Ruhrgebiet warteten Menschen mit großen Geldsorgen teilweise mehrere Monate auf einen Beratungstermin, teilte die Verbraucherzentrale NRW in einer bundesweiten Umfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) unter großen Städten mit. "In Hamburg ist die Wartezeit auf einen Termin von 81 Tagen auf 145 Tage gestiegen", sagte der Sprecher der Verbraucherzentrale, Martin Oetzmann.

"Eine ganz neue Klientel"

Unter den Ratsuchenden ist nach Auskunft der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Schuldner- und Insolvenzberatung "auch eine ganz neue Klientel: Viele Verbraucherinnen und Verbraucher, die bislang keine finanziellen Probleme hatten, geraten nun infolge der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie plötzlich in finanzielle Schieflage, weil sie seit Monaten in Kurzarbeit sind oder arbeitslos werden", sagte Marco Rauter vom Vorstand der LAG. Auffallend ist nach Angaben der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe und des Evangelischen Hilfswerks in München die überdurchschnittlich hohe Zahl an Soloselbstständigen.

Laut Caritas NRW sind Arbeitslosigkeit, Krankheit und Trennung weiterhin die Hauptverursacher der Überschuldung. "Corona wirkt hier wie ein Brandbeschleuniger", sagte Caritas-Sprecher Markus Lahrmann. "Probleme die vorher da waren, verschärfen sich." Neben der Corona-Krise führe auch die verkürzte Laufzeit der Insolvenzverfahren zu mehr Nachfragen, erklärte die Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe (RWL). Auch die Stadt Hannover rechnet aufgrund der Reform des Insolvenzrechts im Dezember 2020 mit einem erhöhten Beratungsbedarf.

Einen Anstieg des "Nachfragedrucks" in den Schuldnerberatungsstellen beobachtet der Caritasverband Frankfurt am Main. Zwar sei die Zahl der neuen Klienten im Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahr um knapp 120 auf 727 zurückgegangen, sagte die Leiterin der Einrichtung, Martina Boll-Arufe, dem epd. Diese Zahlen seien aber nicht vergleichbar. Denn seit März vergangenen Jahres berieten sie und ihre Kolleginnen und Kollegen nur noch per Telefon und E-Mail.

Wartezeit von mehr als zehn Wochen

Das Evangelische Hilfswerk in München beobachtet seit Beginn der Corona-Krise eine steigende Anzahl von Anfragen für telefonische Auskünfte und persönliche Beratungsgespräche. Die Schuldner- und Insolvenzberatung zählte 1.080 Ratsuchende im Jahr 2019 und 1.412 Anfragen im Jahr 2020 - eine Erhöhung um 30 Prozent. Die Wartezeit sei mit mehr als zehn Wochen länger als die früher üblichen acht Wochen, erklärte das Werk.

Die Sozialberatung für Schuldner beim Caritasverband Karlsruhe hat nach eigenen Angaben Wartezeiten von zwei bis drei Monaten. Bei der größten Schuldnerberatungsstelle im Südwesten, der ökumenischen Zentralen Schuldnerberatungsstelle ZBS in Stuttgart, wächst die Nachfrage ebenfalls, wie es hieß.

Auch im Norden der Republik verzeichnen Schuldnerberatungen durch die Corona-Krise eine steigende Nachfrage. Die Verbraucherzentrale Hamburg registrierte 2020 mit 1.739 telefonischen Beratungen fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor (928). Zu Kurzarbeitern, Arbeitslosen, Studierenden und Selbstständigen sei der klassische Mittelstand als neue Klientel hinzugekommen, sagte Sprecher Oetzmann: "Das sind die Normal- bis Gutverdiener, die jetzt durch Kurzarbeit massive Einkommenseinbrüche haben und ihre laufenden Verbindlichkeiten nicht mehr begleichen können." Die Beratungsstelle des Deutschen Roten Kreuzes in Kiel meldete ebenfalls eine steigende Nachfrage seit Herbst 2019.

In Ostdeutschland rechnen die Schuldner- und Insolvenzberatungen der Caritas und der AWO in Dresden für 2021 mit einem Anstieg von Anfragen. Die Sozialverbände erwarten Langzeitwirkungen der Corona-Pandemie. Schon im Januar habe es deutlich mehr Anrufe gegeben. "Das Telefon klingelt jetzt ständig", sagte der Leiter der AWO-Schuldnerberatung in Dresden, Jens Heinrich. In Brandenburg betreffe die seit Jahresbeginn erhöhte Nachfrage nach Schuldnerberatung alle Themenbereiche und reiche von Unterhalts- bis hin zu Insolvenzfragen, teilte die Liga der Wohlfahrtsverbände in Potsdam mit.

In Deutschland gibt es laut Statistischem Bundesamt insgesamt rund 1.450 Schuldnerberatungsstellen. Im Jahr 2019 nahmen mehr als 580.000 Personen aufgrund von finanziellen Problemen ihre Hilfe in Anspruch.

Markus Jantzer


Corona

Wenn psychisch auffällige Kinder durch das Raster fallen




Ein Mädchen verbirgt das Gesicht in seinen Händen (gestelltes Foto).
epd-bild/Steffen Schellhorn
Der Hamburger Verein "Achtung! Kinderseele" versucht mit Präventionsprogrammen, psychische Erkrankungen bei Kindern zu verhindern. Die Corona-Krise erschwert die Arbeit deutlich, dabei wäre sie gerade jetzt erforderlich.

Zwei bis drei Mal im Jahr besucht Christa Schaff ihren Kindergarten. Wenn sie da ist, nimmt sich die Psychotherapeutin Zeit, redet mit möglichst vielen Erzieherinnen über die Kinder, die ihnen in letzter Zeit aufgefallen sind. Bei einem ihrer Besuche hatte das Team große Sorge um ein Kind, das aggressiv war und nicht in die Gruppe integriert werden konnte. "Es geht darum, das Team in seiner Haltung und Wahrnehmungsfähigkeit zu stärken. Dann kann es Lösungen für die Entwicklung eines Kindes finden", sagt sie. In diesem Fall: die Beantragung einer zusätzlichen Integrationskraft für den Kindergarten.

Christa Schaff ist Psychotherapeutin für Kinder im badischen Weil der Stadt und Vorstandsmitglied von "Achtung! Kinderseele". Die Hamburger Stiftung versucht, psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen zu verhindern. Ihre ehrenamtlichen Mitarbeiter sind, wie Schaff, deutschlandweit Paten von Kindergärten. "Psychische Auffälligkeiten bei Kindern werden oft nicht ernst genommen. Dabei kann man mit rechtzeitiger Intervention schweren Krankheitsverläufen vorbeugen", sagt Schaff.

Depressive Störungen ein Tabu

Psychische Erkrankungen bei Erwachsenen - dieses Thema hat es in den vergangenen Jahren immer mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geschafft. Bei Kindern sind solche Störungsbilder jedoch ein Tabuthema. Dabei weisen nach Angaben der Stiftung 20 Prozent der unter 18-Jährigen psychische Auffälligkeiten auf, zehn Prozent sogar ausgeprägte Störungen - das sind zwei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland. "Bei Jungen im Alter von acht bis zwölf handelt es sich häufig um Störungen des Sozialverhaltens, etwa ADHS, häufig geht es außerdem um Angststörungen", sagt Christa Schaff.

Auch Depressionen bei Kindern gebe es, diese würden aber oft nicht bemerkt: "Ein stilles Kind sieht man nicht." Je länger man mit der Therapie warte, desto eher bestehe die Gefahr, dass weitere Symptome hinzukommen. Im Jugendalter könne es dann um schwere Störungen des Sozialverhaltens gehen - mit Gewalttätigkeit, Suchtproblematik, auch Suizidalität. "Unser Stiftungszweck ist es, langwierigen und schweren Erkrankungen vorzubeugen."

Corona kappt viele wichtige Kontakte

Ob die beantragte Integrationskraft dem Jungen aus ihrem Kindergarten im badischen Weil der Stadt helfen konnte, kann Christa Schaff nicht sagen. Es kam Corona - wie alle anderen Kinder war der Junge in den vergangenen zwölf Monaten nur wenig im Kindergarten. "Ich weiß schlicht nicht, wie es sich entwickelt hat", sagt sie. Sie mache sich Sorgen, dass gerade Kinder in prekären Situationen derzeit den Anschluss verlieren.

Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), teilt die Sorge. "Studien zeigen, dass psychische Auffälligkeiten bei Kindern in der Pandemie zugenommen haben, insbesondere im Bereich von Angststörungen, Depressionen und einer Minderung der Lebensqualität", sagt der Solinger Kinderarzt. Er verweist etwa auf die sogenannte Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, für die rund 1.000 Kinder und Jugendliche befragt wurden und derzufolge das Risiko für psychische Auffälligkeiten von 18 auf 30 Prozent stieg.

Kinder gehören zu der Verliereren der Krise

In einer gut funktionierenden Familienstruktur könnten Eltern vieles ausgleichen, sagt Fischbach. Aber Kinder, die ohnehin schon Probleme in ihren Strukturen haben, seien gefährdet. "Auch wenn wir naturgemäß noch nicht über Langzeitdaten verfügen können, die Verlierer der Krise kann man jetzt schon absehen", meint der niedergelassene Kinderarzt.

Auch für Christa Schaff ist es deutlich schwerer geworden, den Kontakt zum Kindergarten zu halten. Besuche sind zurzeit nicht möglich, aber auch Videokonferenzen fänden kaum statt. Zwischen Kita-Schließungen und -Öffnungen und den Versuchen, überhaupt selbst Kontakt zu den Kindern zu halten, fehle den Erziehenden die Zeit und die Energie dafür. "Im Kampf hat man keine Zeit für die Psyche", sagt Schaff.

Sebastian Stoll


Corona

Interview

Kinderärztepräsident warnt vor Zunahme psychischer Erkrankungen




Thomas Fischbach
epd-bild/Frank Schöpgens FOTOGRAFIE
Nach der Beobachtung des Präsidenten des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, ist in der Corona-Krise besonders auffällig, dass viele Kinder in eine übermäßige Mediennutzung hereinrutschen. "Gaming Disorder wird ein Thema werden", sagt der Solinger Kinderarzt im Interview.

Durch den Corona-Lockdown sind zahlreiche Schülerinnen und Schüler dazu gezwungen, zu Hause zu bleiben. Der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, fürchtet deshalb eine Zunahme psychischer Erkrankungen bei Kindern und bei vielen Betroffenen langanhaltende Entwicklungsdefizite. Der in Solingen niedergelassene Kinder- und Jugendarzt nennt dabei vor allem Depressionen und Angststörungen. Die Fragen stellte Sebastian Stoll.

epd sozial: Psychische Erkrankungen bei Kindern werden wenig thematisiert, aber sie kommen vor. Wie oft werden Sie und Ihre Kollegen als Kinder- und Jugendärzte damit konfrontiert?

Thomas Fischbach: Das Robert Koch-Institut gibt derzeit eine Prävalenz von 17 Prozent an. Die Häufigkeit dieser Erkrankung hat sich in den vergangenen Jahren wenig verändert – wir haben also ein Situation, die stabil auf hohem Niveau ist. Ganz vorneweg haben wir dabei Angststörungen, depressive Störungen und dann hyperkinetische Störungen – also das, was man als ADHS kennt. Meine Kollegen und ich werden in unserer Arbeit täglich mehrfach konfrontiert mit Kindern mit psychischen Störungen.

epd: Kinder mit psychischen Problemen sind also ein alltägliches Bild in Kinder- und Jugendarztpraxen?

Fischbach: Es ist Alltagsgeschäft. Auch wenn die Gesamtzahl nicht steigt, beobachten wir doch, dass die Vorstellungsanlässe häufiger werden. Es gibt einen besseren Blick auf die Dinge – von Elternseite, Kindergarten, Schule –, aber sicher auch von ärztlicher Seite durch den Ausbau der Sozialpädiatrie in unserer Fachgruppe.

epd: Wie hat Corona die aktuelle Situation verändert?

Fischbach: Studien zeigen, dass psychische Auffälligkeiten bei Kindern in der Pandemie zugenommen haben - insbesondere im Bereich von Angststörungen, Depressionen und einer Minderung der Lebensqualität. Ich kann das auch aus meiner Praxis berichten: Beim ersten Lockdown war das nicht so auffällig. Aber jetzt vereinsamen die Kinder. Sie sagen mir: "Ich will endlich wieder mit meinen Freunden spielen, ich will endlich wieder in die Schule." Das sind viele Erst- und Zweitklässler. Eltern berichten zudem, dass viele Kinder in Computerspiele hineinrutschen. Das übermäßige Spielen führt zu Konzentrationsdefiziten, Schulleistungs- und Schlafstörungen und auch zu Depressionen.

epd: Wie kommt das?

Fischbach: Die Kinder können sich nur sehr eingeschränkt mit Freunden treffen, nicht mehr in den Sportverein, nicht mehr in die Musikschule. Das ganze Leben ist ihnen unter den Füßen weggezogen. Weil sich Kinder in der Entwicklung befinden, ist das ein besonders beeinträchtigendes Momentum. Wir setzen uns für die Öffnung insbesondere der Kindertageseinrichtungen und der Grundschulen ein. Die Schule ist nicht nur eine bildungsvermittelnde Einrichtung, sie hat auch einen Erziehungsauftrag. Sie unterstützt die Entwicklung der Kinder in Zusammenarbeit mit den Eltern. Das ist weg, das können Sie auch nicht durch digitale Formate ausgleichen.

epd: Die Schule gibt Struktur?

Fischbach: Genau. Wenn die Schule länger nicht stattfindet, dann hat das unmittelbar negative Auswirkungen für die Kinder. Es gibt Leute, die sagen: "Die haben halt länger Ferien." Das ist aber Unsinn. Es wird leider nicht wirklich wahrgenommen, welche enormen Auswirkungen dieser Lockdown auf ein sich entwickelndes Kind hat. Die Entscheider sehen das nicht. Aber wenn Sie als Beraterstab vorwiegend Virologen und Physiker haben, dann können Sie sich nicht wundern, dass das nicht aufgenommen wird.

epd: Können Sie die Situation von Kindern und Jugendlichen an einem Beispiel illustrieren?

Fischbach: Vor ein paar Wochen brach eine 13-Jährige bei mir in Tränen aus. Die Mutter hatte sie zu mir gebracht, weil das Kind ausgeprägte depressive Symptome hatte. Das Mädchen hat das selber an der Corona-Situation festgemacht, ich hatte gar nicht danach gefragt. Sie sagte, auch vor Corona, sei sie ein bisschen angefasst gewesen. "Aber seit das dazugekommen ist, weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich mit meinem Leben anfangen soll." Es war so schlimm, ich musste sie in die Kinder- und Jugendpsychiatrie überweisen.

epd: Was werden die langfristigen Folgen des Lockdowns sein?

Fischbach: Bei sensiblen Gruppen werden Entwicklungsschritte nicht ausreichend vollzogen werden. Wenn Sie eine gut funktionierende Familienstruktur haben, mit Eltern, die sich kümmern - dann lässt sich vieles ausgleichen. Auch wenn das natürlich nicht optimal gelingen kann, wenn man Homeoffice und Homeschooling verbinden muss. Aber Kinder, die ohnehin schon Probleme in ihren Strukturen haben ... Auch wenn wir naturgemäß noch nicht über Langzeitdaten verfügen können, die Verlierer kann man jetzt schon absehen.

epd: Der Lockdown wird ja immer wieder verlängert. Würde es Ihre Arbeit leichter machen, wenn Sie den Kindern ein Ende ankündigen können?

Fischbach: Das wäre schön, aber die Glaskugel haben wir alle nicht. Ich wage mal die Prognose, dass es etwas besser wird, wenn der Winter zu Ende geht – das kennen wir eigentlich von allen Viralinfekten der Luftwege. Es ist anzunehmen, nur mit letzter Sicherheit weiß man das alles nicht. Es wäre total wichtig, eine Perspektive herzustellen. Zumindest die Schulen muss man zum Teil öffnen. Es gibt auch keine belastbaren Daten, wie diese zum Infektionsgeschehen beitragen.

epd: Belastbare Daten gibt es in vielen Bereichen nicht. Wenn wir auf die warten, ist die Pandemie vielleicht schon vorbei.

Fischbach: Das ist gar nicht so unrealistisch. Wir haben im vergangenen Jahr Tausende von Abstrichen gemacht, meist bei Kontaktpersonen an Schulen. Die Zahl der infizierten Kinder war sehr gering im Vergleich zu Erwachsenen. Die Kinder haben sich zudem fast alle in ihren Familien angesteckt. Mir sagen Kollegen, dass das bei ihnen ähnlich ist.



Corona

Verbände fordern nach Impfung Lockerungen in Pflegeheimen



Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) hat die Position des Deutschen Ethikrats in seiner Ad-hoc-Empfehlung "Besondere Regeln für Geimpfte?" begrüßt. Auch die BAGSO halte es im Grundsatz für richtig, Menschen, die bereits geimpft wurden, und solche, die diese Möglichkeit noch nicht hatten, bis auf weiteres gleich zu behandeln, heißt es in einer Mitteilung vom 5. Februar. Zugleich unterstützt der Senioren-Dachverband auch die Empfehlung, die Beschränkungen für Bewohnerinnen und Bewohner in Pflege-, Senioren-, Behinderten- und Hospizeinrichtungen für Geimpfte aufzuheben. Ähnlich äußerte sich der BIVA-Pflegeschutzbund.

Der Deutsche Ethikrat weise zu Recht darauf hin, dass die Belastungen für Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen "erheblich über das hinausgehen, was andere Bürgerinnen und Bürger erdulden müssen", betonte die BAGSO. Das betreffe Ausgangs- und Besuchsbeschränkungen sowie Kontaktbeschränkungen innerhalb der Einrichtung wie etwa den Verzicht auf gemeinsame Mahlzeiten und Gruppenangebote. Diese Sonderbelastung sei, so der Ethikrat, nur zu rechtfertigen, solange diese Menschen noch nicht geimpft sind.

Rücknahme von Nachteilen gefordert

Die BAGSO begrüßte die Klarstellung, dass es an dieser Stelle nicht um Vorteile, sondern um die Rücknahme besonderer Nachteile für eine in der Corona-Pandemie besonders schwer belastete Personengruppe geht. Der BIVA-Pflegeschutzbund verwies darauf, dass auch bei bereits zweifach geimpften Heimbewohnern noch die derzeit geltenden Verordnungen zu Kontaktbeschränkungen angewendet würden. Zugang gebe es nur unter starken Auflagen und Beschränkungen. "Eine Verlängerung dieses Zustandes trotz zweifacher Impfung ist weder verhältnismäßig noch akzeptabel", sagte Manfred Stegger, Vorsitzender des Verbraucherschutzvereins.

Länder müssen schnell handeln

Entscheidend sei nun, dass die Länder schnellstmöglich neue Regeln für Pflegeheime in den Corona-Schutzverordnungen erlassen, die den Schutz durch Impfungen berücksichtigten und verhältnismäßige Mittel für Menschen festschreiben, die nicht geimpft werden konnten. Die Einrichtungen benötigten Rechtssicherheit und die Betroffenen verbindliche Rechte, erklärte der BIVA-Pflegeschutzbund.



Corona

Altenhilfe-Expertin: Schutzmaßnahmen in Pflegeheimen noch lange nötig



Die Vorsitzende der evangelischen Altenhilfe in Niedersachsen, Sabine Weber, warnt angesichts eines Corona-Ausbruchs unter bereits geimpften Altenheimbewohnern in Belm bei Osnabrück vor zu frühen Lockerungen. "Wir müssen uns daran gewöhnen, dass die Schutzmaßnahmen noch eine lange Zeit über Bestand haben werden", sagte Weber dem Evangelischen Pressedienst (epd). Dazu werde auch weiterhin die Testungen aller Personen gehören, die von außen in die Einrichtungen kommen.

In dem Altenheim waren 14 bereits zum zweiten Mal geimpfte Bewohner positiv auf das Coronavirus, und zwar auf die Mutation B.1.1.7. getestet worden. Sie hatten allerdings bislang keine oder nur leichte Symptome. Die Firma Biontech, deren Impfstoff die Senioren erhalten hatten, wies darauf hin, das Ziel der Impfung sei, vor schweren Krankheitsverläufen zu schützen. Ersten Analysen zufolge schütze es auch vor der in Großbritannien erstmals nachgewiesenen Mutation.

Tests auch nach Impfungen

In den diakonischen Altenheimen in Niedersachsen werde nach wie vor täglich das Personal und jede Woche mehrfach unter Bewohnern und Angehörigen getestet, betonte die Vorsitzende des Niedersächsischen Evangelischen Verbands für Altenhilfe und Pflege (NEVAP), Weber: "Das wird sich auch trotz der durchgeführten Impfungen leider nicht verändern."

Mit Blick auf neu entwickelte Tests, die deutlich einfacher in der Handhabung sind als die derzeitigen Antigen-Schnelltests, sagte Weber: "Je einfacher solch ein Test wird, desto besser. Ein sogenannter Spucktest beispielsweise würde für Besucher sehr viel angenehmer und für das Pflegepersonal schneller durchzuführen sein. Dieses Szenario kann ich mit sehr gut vorstellen."

Lockerungen sollten der Expertin zufolge zunächst nur innerhalb der Einrichtungen vorgenommen werden, "um den Bewohnerinnen und Bewohnern wohnbereichsübergreifend gemeinschaftliches Leben zu ermöglichen", sagte Weber, die auch die diakonische Altenhilfe in Stadt und Landkreis Osnabrück leitet.

Martina Schwager


Obdachlosigkeit

Kältebusse bringen heiße Nudeln und menschliche Wärme




Kältebusse versorgen wie hier in Hannover Menschen auf der Straße.
epd-bild/Nancy Heusel
Für manche ist es die einzige Mahlzeit am Tag. Dreimal in der Woche ist in Hannover der Kältebus unterwegs. Ehrenamtliche versorgen Wohnungslose und andere Bedürftige mit warmen Mahlzeiten. Bei Minusgraden sind auch Kleidung und Decken gefragt.

Die klirrende Kälte macht Hannovers Innenstadt in den frühen Abendstunden noch einsamer als ohnehin im Corona-Lockdown. Feinschnee fällt dicht vom Himmel und legt sich über die zum Teil bereits hohen Verwehungen um die Nikolaikapelle nahe dem Steintor. Die Busunternehmen haben den Verkehr eingestellt. Doch vor Hauseingängen, um sich wenigstens etwas vor dem Wind zu schützen, warten einzelne Menschen auf einen Bus, der trotzdem noch fährt: Der "Kältebus" der Johanniter-Unfall-Hilfe versorgt im Winter Obdachlose und Bedürftige mit warmen Essen, Decken, Schlafsäcken und Kleidung.

17 Menschen erfroren

Rund 700.000 Menschen in Deutschland hatten nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe 2018 keine eigene Wohnung. Rund 40.000 von ihnen leben ohne jegliche Unterkunft auf der Straße. Allein in diesem Winter sind Auswertungen der BAG zufolge bundesweit 17 Menschen erfroren. Um dem vorzubeugen, betreiben die Johanniter in Hannover, Oldenburg, Bremen, Aachen und dem Bonn/Rhein-Sieg-Kreis Kältebusse.

In Hannover ist die mobile Wärmestube seit fast 20 Jahren unterwegs. Rund 35 Ehrenamtliche kochen an drei Tagen in der Woche für die Bedürftigen und geben die Mahlzeiten an zwei zentralen Treffpunkten in der Stadt aus. An diesem Abend gibt es Nudeln mit Bolognese, dazu heiße Schokolade. Die Gäste tragen in eine Liste ein, was sie in den kommenden Tagen gerne hätten, sagt Koordinator Michael Jakobson und lächelt dabei stolz: "Wir erfüllen Wünsche." Chili con Carne mit Bohnen sei zwar durchaus beliebt, stehe derzeit aber nicht auf dem Plan. Für Menschen ohne Dach über dem Kopf eigne es sich schlecht, weiß Jakobson inzwischen: "Man schreckt nachts auf und muss schnell ein Klo suchen."

Das Team verteilt im Schnitt mehr als 100 Portionen am Tag. Bei den aktuellen Minusgraden im zweistelligen Bereich kommen jedoch weniger Menschen vorbei. Jens (48) ist einer von ihnen. Er hat sich in mehrere Schichten Kleidung eingemummelt. "Ein T-Shirt, drei Kapuzenjacken, zwei Pullis, zwei Jacken, drei Hosen und drei paar Socken", zählt er auf. Er komme aus dem Stadtteil Stöcken extra zum Essen in die City - zur Not auch zu Fuß, wie am Vortag, als die Straßenbahn nicht fuhr: "Das ist meine einzige Mahlzeit am Tag."

Mützen, Socken, Schuhe verteilt

Der Mann mit dem dunklen Schnurrbart hat zwar eine Wohnung, doch derzeit weder Strom noch Heizung, wie er berichtet. Beim Sozialamt könne er wegen der Pandemie nicht persönlich vorsprechen. "Und ich habe weder Internet noch Telefon." Die Miete habe er "ewig nicht bezahlt", gesteht er, doch sein Vermieter, ein Freund, drücke ein Auge zu. Er stockt einen Augenblick, dann fährt er fort, ungefragt: Mit der Trennung von seiner Frau vor gut drei Jahren fing es an. "Dann war der Alkohol da." Danach habe er seinen Job verloren. "So bin ich abgerutscht."

Eine der sechs Frauen, die mit dem Kältebus unterwegs sind, ist Kirsten Heinrich. An diesem Tag hat die 69-Jährige bereits Mützen, Socken, Schuhe, Einwegrasierer und Pflaster verteilt. "Um diese Menschen wird sich zu wenig gekümmert", sagt Heinrich. Doch nicht nur Essen und warme Kleidung zählten. Obdachlose und andere Menschen am sozialen Rand sehnten sich oft nach einer "normalen Ansprache". Sie plaudere deshalb gerne mal über Fußball. In ihrem Hauptberuf arbeitet Heinrich als freiberufliche Gesundheitstrainerin. Im Ehrenamt stößt sie manchmal an Grenzen, etwa wenn ein Mensch in Not sich nicht helfen lassen will.

"Neulich war es eine obdachlose Frau", erzählt Heinrich. "Sie hatte sich eine Wagenburg gebaut und uns immer wieder weggeschickt." Das müsse man dann hinnehmen, sagt sie. Aber leicht falle es ihr nicht. "Die Frauen gehen mir noch mehr ans Herz, weil sie es auf der Straße noch mal schwerer haben." In Hannover gibt es Schätzungen zufolge etwa 300 Obdachlose, in Bremen bis zu 600, darunter viele aus Rumänien und Bulgarien.

Eine ältere Frau nimmt zwei Portionen Essen mit. Ihr Mann passe in der U-Bahn-Station Kröpcke auf das "ganze Gepäck" der beiden auf. Sie würden dort unten übernachten - das sei zurzeit wegen der Minustemperaturen erlaubt. "So was hätte man auch nicht so erwartet." Für die Arbeit des Kältebusses ist sie dankbar: "Ohne diese Menschen, die sich so für uns engagieren, wäre es schon noch beschissener." Die Ehrenamtlichen freuen sich über die Rückmeldung. Die meisten Reaktionen seien positiv, berichtet Heinrich. "Es ist für uns auch schön, gefragt zu werden, wann wir wiederkommen."

Cristina Marina


Obdachlosigkeit

Der Hoffnungsort




Das fertiggestellte "Zentrum am Zoo" der Stadtmission Berlin
epd-bild/Rolf Zöllner
In den Katakomben des Bahnhofs Zoo in Berlin hat die Stadtmission ihr "Zentrum am Zoo" eröffnet. Die Räume sollen eine Anlaufstelle für Obdach- und Wohnungslose sein und Beratung, Bildung und Kultur bieten.

Helga gefällt es. "Schön hier", sagt die kleine Frau mit dem Rollator und lässt den Blick durch die sauberen, freundlichen Räume schweifen. Helga ist häufig in den Straßen um den Berliner Bahnhof Zoo anzutreffen. Hier holt sie sich in der Bahnhofsmission ihr Essen ab oder kleidet sich in der Kleiderkammer ein. Früher lebte Helga auf der Straße, "acht Jahre unter der Brücke, eine schreckliche Zeit". Mit Unterstützung von Helfern gelang ihr der Ausstieg aus der Obdachlosigkeit. Jetzt hat sie ein festes Dach über dem Kopf, aber bitterarm ist sie immer noch.

Begegnung, Bildung und Beratung

Helga ist einer der ersten Gäste im neuen "Zentrum am Zoo", das nach anderthalb Jahren Bauzeit am 10. Februar von der Berliner Stadtmission und der Deutschen Bahn an der Rückseite der Bahnhofsmission offiziell eröffnet worden ist. Das Zentrum soll auf 500 Quadratmetern ein Ort für Begegnung, Bildung und Beratung für obdachlose und von Armut betroffene Menschen wie Helga sein. "Ein Hoffnungsort", wie der Koordinator des Zentrums, Wolfgang Nebel, sagt: "Hier sollen sich Wohnungs- und Obdachlose auf Augenhöhe mit anderen Berlinerinnen und Berlinern treffen und austauschen. Für Armutsrassismus ist hier kein Platz."

Am Bahnhof Zoo war und ist in Berlin die Kluft zwischen Arm und Reich schon immer besonders spürbar. Hier koexistiert auf engstem Raum Luxus mit den Marginalisierten einer Stadtgesellschaft: hier das Fünf-Sterne-Hotel und das Fotografie-Museum, dort die Suppenküche und das verramschte Obdachlosenlager.

Die Räume des "Zentrums" in den Katakomben des Bahnhofs waren früher die Polizeistation 24. Hier war unter anderem häufig Christiane F. arrestiert, die Protagonistin des Buches "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" von 1978, die auf dem benachbarten Drogenstrich anschaffen ging. Zwei der rotgeklinkerten Haftzellen blieben beim Umbau erhalten und dienen jetzt als Besprechungs- oder Rückzugsraum, wie Nebel sagt. Einige der Zellentüren mit eingeritzten Inschriften von ehemaligen Insassen hängen als Installation unter der Decke.

Mobiler Altar für Andachten

Das "Zentrum" umfasst Beratungs-, Seminar- und Mehrzweckräume, in denen die drei "Bs" des Konzepts umgesetzt werden können, wie Nebel sagt: "Beratung, Bildung, Begegnung." So bietet der größte Saal Platz für bis zu 60 Menschen. Es gibt eine kleine Bühne, eine Leinwand und einen mobilen Altar für Andachten und Gottesdienste. Hier sollen sich bei Konzerten, Lesungen und Filmvorführungen Menschen aus den unterschiedlichen Milieus treffen und austauschen. Man sei unter anderem mit der "Berlinale" im Gespräch, sagt Nebel: "Unser Haus steht allen offen."

Für das zweite "B", den Bildungsbereich, hat Deutschlands First Lady, Elke Büdenbender, die Schirmherrschaft übernommen. Hier wird es Informations- und Bildungsangebote geben, etwa für Schulklassen, Vereine und Firmen zum Thema Obdach- und Wohnungslosigkeit. Auch die Sicherheitsdienste von S-Bahn und Deutscher Bahn werden hier im Umgang mit Obdachlosen geschult. Eine Einstimmung auf das Thema geben bereits im Foyer einfühlsame Schwarz-Weiß-Porträts Berliner Obdachloser der Fotografin Debora Ruppert.

Deutsche Bahn als Sponsor

Das dritte "B", die Beratung, ist Nebel offenkundig eine Herzensangelegenheit. Sein zehnköpfiges Team umfasst neben Pädagoginnen und Pädagogen, einem Haustechniker und einer Diakonin auch Sozialarbeiter und Psychologinnen. "Unser Ziel ist, die Menschen so zu beraten und zu begleiten, dass sie mit unserer Hilfe ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen können", sagt er. Dass das geht, zeigt das Beispiel Helga.

Die Deutsche Bahn stellt nach Angaben der Stadtmission die Räumlichkeiten für 25 Jahre kostenlos zur Verfügung und übernimmt auch die laufenden Betriebskosten. Die Baukosten von rund 2,4 Millionen Euro wurden unter anderem vom Berliner Senat und der Deutschen Klassenlotterie gefördert.

Das bundesweit einmalige Projekt sieht sich als Ergänzung zur benachbarten Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo. Dort werden täglich zwischen 500 und 700 Obdachlose mit Kleidung und Lebensmitteln versorgt.

Markus Geiler


Corona

Warnung vor zunehmender Wohnungsnot




Mietwohnungen einer Genossenschaft in München
epd-bild/McK
Die Forderung nach dem Bau von mehr Sozialwohnungen begleitet die Bundesregierung schon lange. Jetzt sehen Verbände eine dramatische Zuspitzung der Wohnungsnot. Ein Vorschlag lautet, leerstehende Büroflächen zu Wohnungen umzubauen.

Ein Verbändebündnis für sozialen und bezahlbaren Wohnraum hat vor einer zunehmenden Wohnungsnot in Folge der Corona-Pandemie gewarnt. Die Not der Menschen auf dem Wohnungsmarkt werde sich mit anhaltender Pandemie in den kommenden Monaten weiter verschärfen, erklärten Vertreter des Bündnisses "Soziales Wohnen" am 5. Februar in einer Online-Pressekonferenz.

Die Corona-Krise führe zu einer neuen "Sozial-Wohnungsnot". Bund und Länder hätten beim Bau von bezahlbaren Wohnungen und Sozialmietwohnungen in den vergangenen Jahren versagt. Dadurch sei im unteren Preissegment ein gewaltiges Wohnungsdefizit entstanden, heißt es unter Verweis auf zwei neue Wohnungsbaustudien. Die eine stammt vom Pestel-Institut (Hannover), die andere vom Bauforschungsinstitut Arge für zeitgemäßes Bauen in Kiel.

670.000 günstige Wohnungen fehlen

Es fehlten bundesweit 670.000 Wohneinheiten mit bezahlbarer Miete, sagte der Leiter des Pestel-Instituts, Matthias Günther. In einem "Akutplan" fordern die Verbände bis 2030 mindestens zwei Millionen zusätzliche Sozialwohnungen, zum einen durch Neubau von 80.000 Sozialwohnungen pro Jahr, zum anderen durch Modernisierungsförderungen und den Ankauf von Belegungsrechten, um dadurch preisgebundenen Wohnraum zu sichern. Für den Neubau sollten Bund und Länder mindestens 4,8 Milliarden Euro Fördermittel bereitstellen, weitere 1,5 Milliarden Euro für Modernisierungen und Belegungsrechte. Zudem müsse bei Neubauten jede zehnte Sozialwohnung barrierefrei gestaltet werden.

Zum Bündnis "Soziales Wohnen" gehören neben dem Deutschen Mieterbund, der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie und der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt auch zwei Akteure der Bauwirtschaft, die Deutsche Gesellschaft für Mauerwerks- und Wohnungsbau und der Deutsche Baustoff-Fachhandel.

Viele Gruppen werden abgehängt

Steigende Mieten und Kaufpreise hätten zu einem Wohnungsmarkt geführt, von dem Haushalte mit unteren und auch mittleren Einkommen mehr und mehr abgehängt würden. Gerade ältere Menschen, Behinderte, Arbeitslose und Alleinerziehende hätten kaum noch Chancen, auf dem Wohnungsmarkt Fuß zu fassen. Lukas Siebenkotten, Präsident des Deutschen Mieterbundes, verwies darauf, dass laut Wohngeld- und Mietenbericht der Bundesregierung die individuelle Wohnkostenbelastung bei fast 30 Prozent im bundesweiten Durchschnitt liege, bei einkommensarmen Haushalten sogar bei fast 50 Prozent.

Günther warf der Bundesregierung vor, ihr selbst gestecktes Ziel von 1,5 Millionen bezugsfertigen Neubauwohnungen bis zum Herbst 2021 um rund 300.000 zu verfehlen: "Das ist mehr als die Bauleistung eines kompletten Jahres." Bundesbauminister Horst Seehofer (CSU) will voraussichtlich in rund zwei Wochen seine Wohnungsbaubilanz vorstellen, hieß es.

Die Corona-Pandemie bietet nach Überzeugung der Verbände die Chance, Büroflächen in Wohnraum umzuwandeln. Mit der wachsenden Akzeptanz vom Homeoffice sehen die Wissenschaftler bis 2025 ein Potenzial von 235.000 "Ex-Büro-Wohnungen". Für diese müsse es allerdings eine strikte Sozialquote geben.

Demnach kostet aktuell der Büroumbau zur Wohnung im Schnitt 1.108 Euro pro Quadratmeter. Zum Vergleich: Bei der Vollmodernisierung eines Altbaus fallen den Angaben zufolge durchschnittlich Kosten von 2.214 Euro pro Quadratmeter an, beim Neubau 2.978 Euro.

Lukas Philippi


Behinderung

"Der Wohnungsmarkt reguliert die Nachfrage nicht"



Menschen mit Behinderung suchen oft jahrelang nach einer geeigneten Wohnung. Die Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt wird immer größer. Die Caritas verweist auf eine aktuelle Studie und sieht vor allem die Politik in der Pflicht.

Die Suche nach bezahlbarem Wohnraum wird für Menschen mit Behinderung immer schwieriger. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Pestel Instituts für Systemforschung Hannover zur "Wohnsituation von Menschen mit Behinderung in Baden-Württemberg", die am 4. Februar vom Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart vorgestellt wurde.

Das steht der Inklusion im Weg: "Je knapper Wohnungen werden, umso stärker ist die Ausgrenzung von Menschen, die es schon immer schwer am Wohnungsmarkt hatten," sagte der Leiter des Kompetenzzentrums Sozialpolitik beim Diözesan-Caritasverband Rottenburg-Stuttgart Heiner Heizmann. Menschen mit Behinderungen suchten teilweise jahrelang nach einer bezahlbaren Wohnung.

Viele Hindernisse bei der Wohnungssuche

Bei der Wohnungssuche konkurrierten sie zunehmend mit anderen Personengruppen: Familien mit kleinen Kindern, Senioren, Hartz IV-Empfängern, Zugewanderten oder Asylsuchenden. Barrierefreiheit und die Notwendigkeit fachlicher Betreuung stellen neben dem Mietpreis für Menschen mit Behinderung ein zusätzliches Hindernis bei der Wohnungssuche dar, sagte Heizmann.

Laut der Studie fehlen aktuell in Baden-Württemberg 125.000 Sozialwohnungen, Tendenz steigend, sagte der Vorstand des Eduard Pestel Instituts für Systemforschung Hannover, Matthias Günther. In der Studie wurde der Wohnungsmarkt in baden-württembergischen Städten und Kreisen 2011 mit dem Wohnungsangebot Ende 2019 verglichen. Während es 2011 noch zahlreiche Regionen mit Wohnungsüberhang gab, galt dies acht Jahre später nur noch für den Kreis Freudenstadt.

Viele Erwartungen sind nicht zu erfüllen

Vor allem rund um Stuttgart, Freiburg, Heidelberg und Karlsruhe sind bezahlbare Wohnungen demnach Mangelware. Die Erwartungen von Menschen mit Behinderungen nach selbstbestimmtem Wohnen seien somit nur schwer zu erfüllen, stellte Thorsten Hinz fest, der Vorstand der Stiftung St. Franziskus in Schramberg-Heiligenbronn ist.

Gemäß Artikel 19 der UN-Menschenrechtskonvention, die seit 2009 in Deutschland in Kraft ist, müssen Menschen mit Behinderung gleichberechtigt entscheiden können, wo, wie und mit wem sie wohnen möchten. Eine automatische Festlegung etwa auf eine stationäre Unterbringung soll so vermieden werden. So sieht es auch das Bundesteilhabegesetzes vor. Es räumt, so der Gesetzestext, "Leistungsberechtigen … viel Raum zur eigenverantwortlichen Gestaltung ihrer Lebensumstände" ein.

Bei den stationären Angeboten zeichne sich bereits jetzt ein Strukturwandel ab, sagte Hinz. Während in den 1970er Jahren viele Menschen mit Behinderung in Wohnheimen lebten, gebe es heute Wohngruppen, Wohngemeinschaften oder Mehr-Generationen-Häuser. Dank ambulanter Hilfen könnten viele Betroffene auch bei ihrer Familie oder ihrem Partner leben. Für Schwerst-Mehrfachbehinderte müsse es jedoch trotz des Wandels der Wohnformen weiterhin betreute 24-Stunden-Einrichtungen geben.

Tausende Menschen warten auf passende Angebote

Die "Ambulantisierung stationären Wohnens ist eine Kraftanstrengung für alle Beteiligten", sagte Hinz. Bis 2025 müsse der Staat im Südwesten etwa 5.000 Menschen, die derzeit in einem Heim leben, ein Angebot zum ambulanten Wohnen machen. Dazu zähle auch ein behindertengerechtes Umfeld, etwa der Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs auf dem Land. Besonders junge Menschen ziehe es in Wohngruppen oder Mehrgenerationen Häuser.

Ursache der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt sei "die verfehlte Wohnungspolitik der letzten 25 Jahre," sagte Heiner Heizmann. Der Staat habe sich immer mehr aus dem Wohnungsbau zurückgezogen, es würden zu wenige und nur für Wohlhabende bezahlbare Wohnungen gebaut. Bestehende Sozialwohnungen verlören ihren Status nach einigen Jahren und würden danach teurer weitervermietet.

Um den steigenden Bedarf nach rund 680.000 zusätzlichen Wohnungen bis zum Jahr 2035 zu decken, müsse der "Hebel für den Wohnungsbau zurück in die öffentliche Hand", betonte Heizmann. Der Markt reguliere die Nachfrage nicht. "Wenn Menschen mit Behinderung mit alten Menschen und armutsbedrohten Haushalten konkurrieren, dann hat der Markt versagt", so der Sozialexperte. Von der künftigen Landesregierung erwarte er eine sozial verantwortungsvolle Wohnungspolitik.

Susanne Lohse


Diakonie

Augustinum: Strafverfahren beendet, Schadenersatzklage dauert an



Nach der rechtskräftigen Verurteilung ihres ehemaligen kaufmännischen Geschäftsführers ist die Augustinum-Gruppe weiter bemüht, elf ihrer verkauften Seniorenresidenzen zurückzubekommen. Auch nach Abschluss des Strafprozesses treibe man "in einer ganzen Reihe von Zivilverfahren die Rückabwicklung der Verkäufe von noch elf betroffenen Immobilien weiter", teilte der diakonische Sozialkonzern am 8. Februar auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) mit. Angesichts zahlreicher Beschlüsse und Urteile zugunsten des Augustinum sei man "zuversichtlich, alle Immobilien zurückzuerlangen", hieß es weiter.

Am 5. Februar hatte das Landgericht München I den früheren Augustinum-Geschäftsführer wegen Untreue und unerlaubtem Waffenbesitz zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Der Angeklagte sei nicht die treibende Kraft hinter den Immobiliengeschäften gewesen, entschied das Gericht. Bei diesen Geschäften hatte das Augustinum zwischen 2011 und 2013 an die Immobilienfirma Nordic Kontor 14 seiner 23 Wohnstifte verkauft und anschließend zurückgemietet. Drahtzieher der dubiosen Geschäfte soll der 2014 verstorbene Ex-Aufsichtsratschef des Augustinums gewesen sein.

Die Staatsanwaltschaft München I hatte 2017 vier Beschuldigte angeklagt. Das Verfahren gegen drei davon sei laut Augustinum bereits im Vorfeld der Verhandlungen eingestellt worden – "teilweise mit der Auflage erheblicher Geldzahlungen in sechststelliger Höhe", teilte ein Sprecher mit. Der Sozialkonzern selbst hatte 2019 Schadenersatzklage in Höhe von 86 Millionen Euro gegen mehrere Beteiligte erhoben.

Das Augustinum war 1954 in München von dem evangelischen Pfarrer Georg Rückert gegründet worden. Es umfasst mehr als 20 Senioren-Wohnstifte und weitere Einrichtungen im Sozial- und Bildungsbereich. Der Konzern beschäftigt mehr als 4.000 Mitarbeiter.




sozial-Recht

Bundesverfassungsgericht

Sterbewillige dürfen nicht einfach tödliche Arzneimittel erwerben




Utensilien am Patientenbett in einem Hospiz
epd-bild/Werner Krüper
Bürger haben ein Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben. Eine tödliche Arzneimittel-Dosis können sie damit aber noch nicht erwerben, entschied das Bundesverfassungsgericht. Zunächst müssen sie sich selbst um Helfer oder eine ärztliche Verschreibung bemühen.

Sterbewillige Menschen müssen für einen beabsichtigten Suizid mit tödlichen Arzneimitteln Durchhaltevermögen aufbringen. Auch wenn sie ein Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben haben, ist es ihnen zuzumuten, dass sie hierfür aktiv nach helfenden Menschen suchen, sich um eine ärztliche Verschreibung bemühen oder auf anderem Weg ihr Recht konkret verfolgen, entschied das Bundesverfassungsgericht in einem am 4. Februar veröffentlichten Beschluss. Ist die Durchsetzung ihres Rechts aussichtslos, müssen sie zunächst Rechtsschutz bei den zuständigen Fachgerichten suchen, so die Karlsruher Richter. Ohne konkrete Vorgaben der Verfassungsrichter liegt die Verantwortung zur Regelung eines selbstbestimmten Sterbens nun beim Gesetzgeber.

Schmerzlose Selbsttötung

Im Streitfall ging es um ein Rentnerehepaar, das beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erfolglos die Genehmigung für den Erwerb des tödlichen Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital beantragt hatte. Das Arzneimittel solle dem Paar ein schmerzfreies Sterben ermöglichen. Die 1937 und 1944 geborenen Eheleute sind zwar nicht schwer krank, nach ihren Angaben verspürten sie aber das Nachlassen ihrer geistigen und körperlichen Kräfte. Um sich und ihren Angehörigeneinen jahrelangen Verfall und qualvollen Tod zu ersparen, wollten sie mithilfe der tödlichen Arzneimitteldosis selbst über den Zeitpunkt ihres Todes bestimmen.

Das BfArM lehnte den Antrag der Eheleute ab. Auch das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig urteilte am 28. Mai 2019, dass allenfalls bei schweren unheilbaren Erkrankungen Medikamente für eine schmerzlose Selbsttötung abgegeben werden könnten.

Am 26. Februar 2020 entschied das Bundesverfassungsgericht allerdings in einem anderen Verfahren, dass Menschen ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben haben. Das seit 2015 im Strafgesetzbuch enthaltene Verbot der "geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" sei verfassungswidrig und damit nichtig. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schließe "die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen", so die Verfassungsrichter.

Beschwerde unzulässig

Mit der Karlsruher Entscheidung im Rücken hoffte das Rentner-Ehepaar im aktuellen Streitfall, dass sie per Verfassungsbeschwerde nun die gewünschte tödliche Arzneimitteldosis kaufen können. Faktisch sei es in Deutschland ausgeschlossen, dass sie einen verschreibungswilligen Arzt oder Suizidhelfer finden.

Das Bundesverfassungsgericht wies die Beschwerde als unzulässig zurück. Unter strafrechtlichem Blickwinkel könnten solche Suizidbeihilfe-Leistungen zwar angeboten werden. Es sei den Klägern aber zuzumuten, zunächst aktiv nach suizidhilfebereiten Personen im Inland zu suchen, sich um eine ärztliche Verschreibung des gewünschten Wirkstoffs zu bemühen oder "auf anderem geeigneten Weg ihr anerkanntes Recht konkret" zu verfolgen. Wenn sich dies als aussichtslos erweise, könnten sie Rechtsschutz bei Fachgerichten suchen.

Denn nur so könne geklärt werden, "welche konkreten Gestaltungsmöglichkeiten und tatsächlichen Räume die nunmehr geltende Rechtslage bietet". Eine verfassungsrechtliche Entscheidung zum jetzigen Zeitpunkt würde den "politischen Gestaltungsspielraum bei der Erarbeitung eines übergreifenden legislativen Schutzkonzepts weitgehend einschränken und die Gestaltungsentscheidung faktisch erschweren", befanden die Karlsruher Richter. Seit einigen Tagen liegen zwei Gesetzentwürfe verschiedener Gruppen von Bundestagsabgeordneten zur Neuregelung der Sterbehilfe vor.

Begleitung in den Tod

Der Bundesgerichtshof hatte bereits am 3. Juli 2019 zu einem Hamburger und einem Berliner Arzt entschieden, dass diese sich nicht strafbar machen, wenn sie Suizidwillige in den Tod begleiten. Sie müssten keine Rettungsmaßnahmen einleiten, wenn die Betreffenden bewusstlos geworden sind. Voraussetzung sei danach, dass die Suizidwilligen sich frei und eigenverantwortlich für ihren Tod entschieden haben.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) urteilte am 16. Juli 2015, dass es nach der Europäischen Menschenrechtskonvention kein Grundrecht auf assistierten Suizid gebe. Die Straßburger Richter wiesen damit die Frau eines inzwischen verstorbenen Mannes ab, der nach einem Schlaganfall unter dem Locked-in-Syndrom litt und völlig gelähmt war. Wegen seiner Lähmungen konnte er nicht selbst Suizid begehen. Es gebe unter den Europarats-Mitgliedern keinen Konsens, ob und unter welchen Voraussetzungen ein assistierter Suizid möglich sein solle, so der EGMR.

Az.: 1 BvR 1837/19 (Bundesverfassungsgericht, unzulässige Beschwerde)

Az.: 3 C 6.17 (Bundesverwaltungsgericht)

Az.: 2 BvR 2347/15 und weitere (Bundesverfassungsgericht, selbstbestimmtes Sterben)

Az.: 5 StR 132/18 und 5 StR 393/18 (Bundesgerichtshof)

Az.: 2478/15 (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte)

Frank Leth


Bundesverfassungsgericht

Kommune kann wegen Kindeswohl nicht Verfassungsgericht anrufen



Die für die Jugendämter zuständigen Kommunen können keine Familiengerichtsentscheidung per Verfassungsbeschwerde kippen, um das Wohl eines Kindes zu verbessern. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am 9. Februar veröffentlichten Beschluss im Fall einer alleinerziehenden Mutter entschieden, die mit einem verurteilten Sexualstraftäter eine neue Partnerschaft eingegangen war.

Die Frau war im Mai 2016 zusammen mit ihrer 13-jährigen Tochter in den Haushalt ihres neuen Partners gezogen. Von ihm wusste sie, dass er wegen Kindesmissbrauchs zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden war. Er hatte mehrere Mädchen im Alter zwischen zehn und 13 Jahren überredet, sich im Internet vor einer Kamera auszuziehen und ihm Nacktbilder zu schicken. Gerichtlich wurde ihm deshalb jede Kontaktaufnahme zu Kindern und Jugendlichen über Internet-Plattformen untersagt.

Gefährdung des Mädchens

Als das Jugendamt von der Beziehung erfuhr, befürchtete die Behörde eine Gefährdung des Mädchens. Der Mann zog nach eineinhalb Jahren zwar aus der gemeinsamen Wohnung aus, um die Wogen des Streits zu glätten. Dennoch entzog das Jugendamt der Mutter teilweise das Sorgerecht und ordnete an, das Kind in einem Heim unterzubringen.

Der Bundesgerichtshof hob diese Entscheidung auf, weil die Maßnahme unverhältnismäßig sei. Der neue Lebensgefährte zeige sich kooperativ und habe eine Therapie begonnen. Die Tochter habe sich während des gemeinsamen Zusammenlebens des Paares gut entwickelt und empfinde die eigene Heimunterbringung als Strafe. Dem folgte auch das Oberlandesgericht. Gegen diese Entscheidung legte der Landkreis als Jugendhilfeträger Verfassungsbeschwerde ein.

Staatliches Wächteramt

Doch der Landkreis war trotz seines staatlichen Wächteramtes über das Kindeswohl nicht berechtigt, selbst die Rechte des Kindes per Verfassungsbeschwerde geltend zu machen, entschied das Bundesverfassungsgericht. Auf die Verletzung eigener Rechte könne er sich nicht stützen. Rechte gegenüber dem Staat habe allein das Kind, nicht aber die mit dem Wächteramt befassten Behörden, lautete die Begründung des Gerichts.

Um die Kindesrechte wahren zu können, sei die hier die gerichtliche Bestellung eines Ergänzungspflegers erforderlich und möglich. Dieser hätte dann bei einer Kindeswohlgefährdung ein Verfassungsbeschwerdeverfahren anregen können. Im familienrechtlichen Verfahren hätte zudem ein Verfahrenspfleger bestellt werden können, der ebenfalls die Rechte des Kindes vertritt, erklärten die Karlsruher Richterinnen und Richter.

Az.: 1 BvR 1395/19



Bundesverfassungsgericht

Elektronische Fußfessel für Straftäter verletzt nicht Menschenwürde



Die "elektronische Fußfessel" für aus der Haft oder dem Maßregelvollzug entlassene gefährliche Straftäter verletzt nicht das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Zum Schutz der Allgemeinheit ist die elektronische Überwachung von entlassenen, aber weiterhin als gefährlich geltenden Straftätern verhältnismäßig, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am 4. Februar veröffentlichten Beschluss.

Der Gesetzgeber hatte 2011 die GPS-gestützte elektronische Fußfessel eingeführt. So sollten aus der Haft oder dem Maßregelvollzug entlassene Straftäter, die für die Allgemeinheit weiterhin eine große Gefahr darstellen, überwacht werden können. Bei der elektronischen Aufenthaltsüberwachung wird ein Sender am Fußgelenk angebracht, der den Standort des betreffenden Menschen ständig überwacht.

Besondere Auflagen für Überwachung

Nach dem Gesetz ist die Überwachungsmaßnahme nur unter strengen Auflagen erlaubt. So müssen die in die Freiheit entlassenen Straftäter weiter als besonders gefährlich gelten und sich mindestens drei Jahre in der Haft oder im Maßregelvollzug befunden haben. Außerdem müssen sie nach ihrer Entlassung unter einer sogenannten Führungsaufsicht stehen.

Die zwei Beschwerdeführer, die wegen Mordes beziehungsweise Vergewaltigung ihre Strafe verbüßt hatten, hielten die Anordnung zum Tragen ihrer elektronischen Fußfessel für verfassungswidrig. Die ständige Überwachung verletze ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung und ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht.

Einsatz ist verhältnismäßig

Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die elektronische Fußfessel verhältnismäßig sei und nicht die Menschenwürde verletze. Die Maßnahme sei zum Schutz der Allgemeinheit erlaubt. Die Einschränkungen im informationellen Selbstbestimmungsrecht seien hinzunehmen.

Träger der elektronischen Fußfessel könnten diese auch verdecken, um eine mögliche Stigmatisierung durch andere Menschen zu verhindern und seien nicht "sichtbar gebrandmarkt", erklärten die Verfassungsrichter. Die Fußfessel erschwere auch nicht wesentlich eine eigenständige Lebensführung. Auch sei damit eine Resozialisierung der Straftäter weiter möglich.

Az.: 2 BvR 916/11 und 2 BvR 636/12



Landessozialgericht

Jobcenter müssen sich an Kosten für Jugendweihe beteiligen



Jobcenter müssen für die Kosten einer Jugendweihefeier Geld aus dem Teilhabepaket zur Verfügung stellen. Denn bei der Jugenweihefeier handele es sich um eine förderfähige "kulturelle Aktivität", entschied das Thüringer Landessozialgericht (LSG) in Erfurt in einem am 3. Februar bekanntgegebenen Urteil.

Der Gesetzgeber hatte 2011 das sogenannte Teilhabepaket eingeführt, um Kinder und Jugendliche aus Hartz-IV-Familien "für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft" zu unterstützen. Hierfür können derzeit bis zu 15 Euro monatlich für Freizeiten, Musikunterricht oder auch andere "Aktivitäten in den Bereichen Sport, Spiel, Kultur und Geselligkeit" gezahlt werden.

Im vorliegenden Fall hatte der Jugendliche, im Grundsicherungsbezug stehende Kläger 2017 an einer Jugendweihefeier teilgenommen. Die Feier stellt für viele nicht-christliche Jugendliche - insbesondere in den neuen Bundesländern - eine Alternative zur Kommunion oder Konfirmation dar. Der Veranstalter berechnte für die Feier 100 Euro. Das Jobcenter des Landkreises Saalfeld-Rudolstadt lehnte eine Kostenübernahme ab.

Wie schon das Sozialgericht Meiningen sprach nun auch das LSG Erfurt dem Jugendlichen Geld aus dem Teilhabepaket zu. Die Jugendweihefeier sei eine den gesetzlichen Beispielen "vergleichbare kulturelle Aktivität".

Hier habe der Jugendliche Anspruch auf 60 Euro. Damals habe der Teilhabesatz bei nur zehn Euro pro Monat gelegen, also insgesamt 120 Euro pro Jahr. Im Streitjahr 2017 habe er aber bereits schon einmal 60 Euro für eine andere Aktivität ausgegeben. Das Erfurter Urteil ist rechtskräftig.

Az.: L 9 AS 322/19



Landesarbeitsgericht

Kinder-Zuschlag im Sozialplan nur ohne Geschlechter-Diskriminierung



Die Zahlung eines Kinder-Zuschlags zu einer im Sozialplan vereinbarten Abfindung eines Unternehmens darf nicht allein vom steuerlichen Kinderfreibetrag abhängen. Da der Kinderfreibetrag bei der - überwiegend von Frauen gewählten - ungünstigen Lohnsteuerklasse V nicht berücksichtigt werden kann, stellt solch eine Sozialplanregelung eine unzulässige mittelbare Diskriminierung von Frauen dar, entschied das Hessische Landesarbeitsgericht (LAG) in einem am 1. Februar in Frankfurt am Main bekanntgegebenen Urteil.

Hintergrund des Rechtsstreits waren finanzielle Probleme eines Arbeitgebers aus dem Raum Darmstadt. Dieser einigte sich mit dem Betriebsrat 2018 auf einen Sozialplan. Danach war für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer pro Kind eine um 5.000 Euro höhere Abfindung vorgesehen als bei kinderlosen Beschäftigten. Voraussetzung war, dass das Kind "auf der Lohnsteuerkarte eingetragen" war. So sollte sichergestellt werden, dass tatsächlich nur Beschäftigte mit unterhaltsberechtigten Kindern den Kinder-Zuschlag erhalten. Die klagende Arbeitnehmerin, eine Mutter von zwei kleinen Kindern ging wegen ihrer Lohnsteuerklasse V damit leer aus.

Für Frauen keine höhere Abfindung

Das LAG sprach ihr nun ebenfalls die erhöhte Abfindung in Form des Kinderzuschlags für ihre zwei Kinder zu. Da seit 2014 keine Lohnsteuerkarten mehr verwendet werden, hatten die Frankfurter Richter die Bestimmung des Sozialplans so ausgelegt, dass für Erhalt der höheren Abfindungszahlung bei Eltern ein Kinderfreibetrag als Lohnsteuerabzugsmerkmal gespeichert sein müsse.

Doch solch eine Voraussetzung führe zu einer unzulässigen mittelbaren Diskriminierung von Frauen. Denn die Lohnsteuerklasse werde überwiegend von Frauen gewählt, wenn ihr Ehepartner einen höheren Arbeitsverdienst erzielt. Bei dieser Lohnsteuerklasse könne ein Kinderfreibetrag aber nicht berücksichtigt werden. Folge sei, dass nach der Regelung im Sozialplan diese Frauen keine höhere Abfindungszahlung erhalten, obwohl sie unterhaltsberechtigte Kinder haben. Wegen dieser Benachteiligung durch den Sozialplan habe die Klägerin daher denselben Anspruch wie die übrigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit unterhaltsberechtigten Kindern, urteilte das LAG.

Az.: 18 Sa 22/20



Verwaltungsgerichtshof

Abschiebeverbot nach Afghanistan gilt auch für junge Männer



Der baden-württembergische Verwaltungsgerichthof (VGH) Mannheim hat seine bisherige Rechtssprechung zu Abschiebungen geändert: Danach dürfen auch alleinstehende, gesunde Männer im arbeitsfähigen Alter derzeit nicht nach Afghanistan abgeschoben werden. Grund dafür sei, dass sich die wirtschaftliche Lage in der Corona-Pandemie gravierend verschlechtert habe, heißt es in dem am 3. Februar veröffentlichten Urteil des baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshof in Mannheim Dort drohe Rückkehrern die Verelendung.

So werde es ihnen dort voraussichtlich nicht gelingen, auf legalem Wege die elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene zu befriedigen, hieß es. Anders sei dies, wenn ein Rückkehrer in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk habe, er nachhaltig finanziell oder materiell durch Dritte unterstützt werde oder über ausreichendes Vermögen verfüge. Bislang war das Gericht in seinen Entscheidungen davon ausgegangen, dass leistungsfähigen, erwachsenen Rückkehrern in Afghanistan keine Verelendung drohe.

Az.: A 11 S 2042/20



Verwaltungsgericht

Keine Ferienvermietung an Geimpfte



Ferienwohnungen in Mecklenburg-Vorpommern dürfen derzeit auch nicht an Covid-19-Geimpfte vermietet werden. Einen entsprechenden Beschluss teilte das Verwaltungsgericht Greifswald am 9. Februar mit. Es gebe derzeit keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass Covid-19-Geimpfte oder von Corona-Genesene das Virus nicht mehr übertragen können, hieß es zur Begründung. Der Gesundheitsschutz sei daher höher zu gewichten als das finanzielle Interesse der Antragsteller. Ein Ferienwohnungsbesitzer in Heringsdorf auf Usedom hatte Rechtsschutz beantragt, um für ein Ehepaar aus Nordrhein-Westfalen eine Ausnahmegenehmigung beim Landrat zu erhalten.

Die Corona-Landesverordnung ist nach Auffassung des Gerichts nicht zu beanstanden. Danach ist es privaten und gewerblichen Vermietern von Ferienwohnungen untersagt, Touristen zu beherbergen. Eine Ausnahme sehe die Landesverordnung nicht vor, so das Gericht. Daher könne der zuständige Landrat sich auch nicht darüber hinwegsetzen. Gerade der Landkreis Vorpommern-Greifswald sei mit einem 7-Tage-Inzidenzwert von über 200 ein Hochrisikogebiet und stark von der Corona-Pandemie betroffen. Eine Beschwerde gegen den Beschluss ist möglich.

Az.: 4 B 122/21 HGW




sozial-Köpfe

Führungswechsel

Sabina Schutter neu im Vorstand von SOS-Kinderdorf




Sabina Schutter
Max Baudrexl
Die bisherige Doppelspitze des deutschen SOS-Kinderdorfvereins wird auf drei hauptamtliche Vorstandsmitglieder erweitert: Zum 1. März tritt dabei Professor Dr. Sabina Schutter den Posten der Vorstandsvorsitzenden an.

Sabina Schutter, Soziologin, und Georg Falterbaum, Diplom-Kaufmann, werden Vorstände bei SOS-Kinderdorf. Die bisherige Doppelspitze wird um eine dritte hauptamtliche Person erweitert. Zum 1. März beginnt Schutter für die Dauer von fünf Jahren als Vorstandsvorsitzende, zum 1. April folgt Falterbaum. Vorstandsmitglied Kay Vorwerk wird auch in der kommenden Legislaturperiode seine Arbeit für SOS-Kinderdorf fortsetzen. Birgit Lambertz verabschiedet sich nach zwei Legislaturperioden in den Ruhestand.

Schutter übernimmt die Verantwortung für die Bereiche Einrichtungen und Regionen, Pädagogik, Repräsentanz und Advocacy. Sie ist Expertin für die Kinder- und Jugendhilfe. Sie war als Referentin im Verband Alleinerziehender Mütter und Väter tätig sowie stellvertretende Leiterin der Abteilung Familie und Familienpolitik im Deutschen Jugendinstitut (DJI, München) und seit 2016 Professorin für Pädagogik der Kindheit an der Technischen Hochschule Rosenheim.

Als Vorstandsmitglied mit den Geschäftsbereichen Personal, Marketing, interne und externe Kommunikation sowie Digitalisierung tritt Falterbaum sein Amt an, er ist ebenfalls für fünf Jahre bestellt. Er hat seit über 25 Jahren verschiedene leitende Funktionen zunächst in der Privatwirtschaft und nun seit mehr als 15 Jahren in der Sozialwirtschaft inne. Er führte als Landesdirektor den Caritasverband Schleswig-Holstein und als Vorstandsvorsitzender den Caritasverband Rhein-Erft-Kreis. Derzeit ist er noch Direktor und Vorstandsvorsitzender des Caritasverbandes der Erzdiözese München und Freising.

SOS-Kinderdorf bietet Kindern in Not ein Zuhause und hilft dabei, die soziale Situation benachteiligter junger Menschen und Familien zu verbessern. In SOS-Kinderdörfern wachsen Kinder, deren leibliche Eltern sich aus verschiedenen Gründen nicht um sie kümmern können, in einem familiären Umfeld auf. Der SOS-Kinderdorfverein bietet Frühförderung in seinen Kinder- und Begegnungseinrichtungen. Ebenso gehören zum SOS-Kinderdorf e.V. die Dorfgemeinschaften für Menschen mit geistigen und seelischen Beeinträchtigungen.

In Deutschland helfen in 39 Einrichtungen insgesamt rund 4.400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der Verein erreicht und unterstützt mit seinen über 800 Angeboten rund 109.500 Menschen in erschwerten Lebenslagen in Deutschland. Darüber hinaus finanziert der deutsche SOS-Kinderdorfverein 173 SOS-Einrichtungen in 29 Ländern weltweit.



Weitere Personalien



Martin Holler, Leiter der Unternehmensentwicklung der Johannes-Diakonie Mosbach in Baden-Württemberg, erhält den mit 10.000 Euro dotierten Wichernpreis des Instituts für Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement (IDM) der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Er erhält die Auszeichnung für seine Dissertation an der Evangelischen Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg. Unter dem Titel "Die Mit-Gestaltung inklusiver Sozialräume in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung" konzipierte der Diplom-Geograph ein Modell für eine gelingende Integration in einem Quartier, hieß es zur Begründung. Holler, der sich vor allem mit sozialgeographischen Themen und Partizipation im Städtebau befasst hat, ist seit 2016 bei der Johannes-Diakonie Mosbach. Außerdem ist er nebenberuflich Geschäftsführer des Verbandes für Digitalisierung in der Sozialwirtschaft.

Traugott Roser ist vom Institut für Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement (IDM) mit einem Sonderpreis in Höhe von 2.500 Euro geehrt worden. Die Jury würdige damit das publizistische Wirken des Theologieprofessors der Universität Münster für die Diakoniewissenschaft, insbesondere für die Schwerpunkte in der Seelsorge/Krankenhausseelsorge und der Spiritual Care.

Lars Wißmann (49), evangelischer Klinikseelsorger, hat die Position des Theologischen Direktors und Unternehmenssprechers des Agaplesion Diakonieklinikums in Rotenburg bei Bremen übernommen. Er tritt die Nachfolge von Matthias Richter an, der sich seit Jahresbeginn hauptamtlich den Aufgaben des Vorstandsvorsitzenden des Diakonissen-Mutterhauses im Ort widmet. Als Theologischer Direktor gehört Wißmann der Krankenhausbetriebsleitung an und übernimmt die Leitung des Bereichs Marketing und Kommunikation. Außerdem ist er verantwortlich für Fort- und Weiterbildungen sowie für die Berufsfachschule Pflege am Diakonieklinikum und die Klinikseelsorge. Seit 2007 leitete er die evangelische Klinikseelsorge an der Medizinischen Hochschule Hannover. Seit 2016 war er auch Beauftragter für Krankenhaus-Seelsorge der Landeskirche Hannover. Das Agaplesion Diakonieklinikum in Rotenburg ist nach eigenen Angaben mit rund 2.500 Beschäftigten das größte konfessionelle Krankenhaus in Niedersachsen. Dazu gehören 23 Fachabteilungen mit rund 800 Betten.

Horst Gorski ist der neue Vorstandsvorsitzende des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Hannover. Er folgt auf den Theologen Arend de Vries, der im vergangenen Jahr in den Ruhestand gegangen ist. Gorski bekleidete bislang das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden und ist Leiter des Amtes der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) und Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD. Das Institut begleitet und kommentiert aktuelle Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft und forscht, publiziert und referiert über Gegenwart und Zukunft sozialer Gerechtigkeit, wobei Perspektiven von Kirche und Religion in der Gesellschaft beleuchtet werden.

Sebastian Schwager tritt bei der Diakonie Bottrop-Gladbeck-Dorsten die Nachfolge der kaufmännischen Geschäftsführung vom bisherigen Geschäftsführer Karl-Heinz Kinne an, der noch bis Oktober in der Geschäftsführung verbleibt. Karl Hesse ist vom Evangelischen Kirchenkreis Gladbeck-Bottrop-Dorsten als Diakoniepfarrer entsandt und übernimmt die seit zwei Jahren vakante Position des theologischen Geschäftsführers. Damit ist die neue Doppelspitze des Diakonischen Werks komplett. Der Betriebswirt Sebastian Schwager ist bereits seit Januar 2020 als stellvertretender Geschäftsführer im Werk tätig, Hesse war die vergangenen zwölf Jahre Landespfarrer für Jugendarbeit in der Ev. Kirche im Rheinland.

Angelika Sennlaub, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Hauswirtschaft e.V. (dgh), ist in den Fachbeirat des Innovations- und Kompetenzzentrums Hauswirtschaft Baden-Württemberg berufen worden. Der Fachbeirat, der Anfang Februar 2021 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkam, besteht aus sieben Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Wohlfahrtspflege. Das baden-württembergische Kompetenzzentrum ist ein Projekt des Diakonischen Werks Württemberg und entwickelt Aktivitäten zur Förderung der Hauswirtschaft, die für soziale Einrichtungen immer bedeutsamer werde.

Lisi Maier von der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) wird für ihr Engagement für das Zusammenwachsen des europäischen Kontinents ausgezeichnet. Maier erhalte die undotierte Auszeichnung als "Frau Europas" für ihren Einsatz für bessere Strukturen in der europäischen Zusammenarbeit, gerade für junge Menschen, begründete der Verein Europäische Bewegung Deutschland (EBD) seine Entscheidung. Die Begeisterung für den europäischen Zusammenhalt bringe die gebürtige Münchenerin Lisi Maier, die Vorsitzende des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend ist, neben vielen Bereichen auch explizit in die Jugendsozialarbeit ein, hieß es. Beim Austausch von Fachkräften in osteuropäische Länder habe sie auch die Förderung junger Menschen mit individuellem Förderbedarf oder sozialer Benachteiligung im Blick gehabt. Der "Preis Frauen Europas - Deutschland" wird seit 1991 verliehen.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis März



Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, dies zu beachten.

Februar

18.-19.2.:

Online-Seminar: "Mit Mitarbeiter/Innen sprechen 2.0"

der Fortbildungsakademie der Caritas

Tel.: 0761/200-1700

22.-24.2.:

Online-Seminar: "Der Offene Dialog als wertebasierte Kommunikation - Die harte Realität der weichen Organisationsentwicklung

der Fortbildungsakademie der Caritas

Tel.: 0761/200-1700

24.2.:

Online-Fortbildung: "Die Herausforderungen und Chancen für die Führungskraft bei der Realisierung der Selbststeuerung"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-488

März

4.-10.3.:

Online-Kurs: "Meetings per Video oder Telefon moderieren: online miteinander im Kontakt sein und effektiv arbeiten"

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

9.3.:

Online-Seminar: "Der digitale Jugendclub Chancen und Potenziale für die Jugendarbeit"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828227

9.3.:

Online-Seminar "Wichtige Kennzahlen für ambulante Pflegedienste in der Krise - und danach"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

9.-10.3.:

Online-Seminar: "Die Schnittstelle Eingliederungshilfe - Pflege gestalten"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172/301 28 19

18.3.:

Online-Seminar: "IT-Strategie für Verbände (4.0)"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

22.3.:

Online-Kurs: "Praktischer Datenschutz und IT-Sicherheit für kleinere Organisationen"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

22.-24.3.:

Online-Kurs: "Erfolgreiche Lobbyarbeit im politischen Raum"

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

23.-25.3.:

Online-Fortbildung: "Psychisch kranke Wohnungslose zwischen den Hilfesystemen - Aspekte bedarfsgerechter Hilfen"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172/301 28 19

24.-25.3.:

Online-Seminar: "Team auf Distanz - Team in Balance"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139