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Corona

Interview

Kinderärztepräsident warnt vor Zunahme psychischer Erkrankungen




Thomas Fischbach
epd-bild/Frank Schöpgens FOTOGRAFIE
Nach der Beobachtung des Präsidenten des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, ist in der Corona-Krise besonders auffällig, dass viele Kinder in eine übermäßige Mediennutzung hereinrutschen. "Gaming Disorder wird ein Thema werden", sagt der Solinger Kinderarzt im Interview.

Durch den Corona-Lockdown sind zahlreiche Schülerinnen und Schüler dazu gezwungen, zu Hause zu bleiben. Der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, fürchtet deshalb eine Zunahme psychischer Erkrankungen bei Kindern und bei vielen Betroffenen langanhaltende Entwicklungsdefizite. Der in Solingen niedergelassene Kinder- und Jugendarzt nennt dabei vor allem Depressionen und Angststörungen. Die Fragen stellte Sebastian Stoll.

epd sozial: Psychische Erkrankungen bei Kindern werden wenig thematisiert, aber sie kommen vor. Wie oft werden Sie und Ihre Kollegen als Kinder- und Jugendärzte damit konfrontiert?

Thomas Fischbach: Das Robert Koch-Institut gibt derzeit eine Prävalenz von 17 Prozent an. Die Häufigkeit dieser Erkrankung hat sich in den vergangenen Jahren wenig verändert – wir haben also ein Situation, die stabil auf hohem Niveau ist. Ganz vorneweg haben wir dabei Angststörungen, depressive Störungen und dann hyperkinetische Störungen – also das, was man als ADHS kennt. Meine Kollegen und ich werden in unserer Arbeit täglich mehrfach konfrontiert mit Kindern mit psychischen Störungen.

epd: Kinder mit psychischen Problemen sind also ein alltägliches Bild in Kinder- und Jugendarztpraxen?

Fischbach: Es ist Alltagsgeschäft. Auch wenn die Gesamtzahl nicht steigt, beobachten wir doch, dass die Vorstellungsanlässe häufiger werden. Es gibt einen besseren Blick auf die Dinge – von Elternseite, Kindergarten, Schule –, aber sicher auch von ärztlicher Seite durch den Ausbau der Sozialpädiatrie in unserer Fachgruppe.

epd: Wie hat Corona die aktuelle Situation verändert?

Fischbach: Studien zeigen, dass psychische Auffälligkeiten bei Kindern in der Pandemie zugenommen haben - insbesondere im Bereich von Angststörungen, Depressionen und einer Minderung der Lebensqualität. Ich kann das auch aus meiner Praxis berichten: Beim ersten Lockdown war das nicht so auffällig. Aber jetzt vereinsamen die Kinder. Sie sagen mir: "Ich will endlich wieder mit meinen Freunden spielen, ich will endlich wieder in die Schule." Das sind viele Erst- und Zweitklässler. Eltern berichten zudem, dass viele Kinder in Computerspiele hineinrutschen. Das übermäßige Spielen führt zu Konzentrationsdefiziten, Schulleistungs- und Schlafstörungen und auch zu Depressionen.

epd: Wie kommt das?

Fischbach: Die Kinder können sich nur sehr eingeschränkt mit Freunden treffen, nicht mehr in den Sportverein, nicht mehr in die Musikschule. Das ganze Leben ist ihnen unter den Füßen weggezogen. Weil sich Kinder in der Entwicklung befinden, ist das ein besonders beeinträchtigendes Momentum. Wir setzen uns für die Öffnung insbesondere der Kindertageseinrichtungen und der Grundschulen ein. Die Schule ist nicht nur eine bildungsvermittelnde Einrichtung, sie hat auch einen Erziehungsauftrag. Sie unterstützt die Entwicklung der Kinder in Zusammenarbeit mit den Eltern. Das ist weg, das können Sie auch nicht durch digitale Formate ausgleichen.

epd: Die Schule gibt Struktur?

Fischbach: Genau. Wenn die Schule länger nicht stattfindet, dann hat das unmittelbar negative Auswirkungen für die Kinder. Es gibt Leute, die sagen: "Die haben halt länger Ferien." Das ist aber Unsinn. Es wird leider nicht wirklich wahrgenommen, welche enormen Auswirkungen dieser Lockdown auf ein sich entwickelndes Kind hat. Die Entscheider sehen das nicht. Aber wenn Sie als Beraterstab vorwiegend Virologen und Physiker haben, dann können Sie sich nicht wundern, dass das nicht aufgenommen wird.

epd: Können Sie die Situation von Kindern und Jugendlichen an einem Beispiel illustrieren?

Fischbach: Vor ein paar Wochen brach eine 13-Jährige bei mir in Tränen aus. Die Mutter hatte sie zu mir gebracht, weil das Kind ausgeprägte depressive Symptome hatte. Das Mädchen hat das selber an der Corona-Situation festgemacht, ich hatte gar nicht danach gefragt. Sie sagte, auch vor Corona, sei sie ein bisschen angefasst gewesen. "Aber seit das dazugekommen ist, weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich mit meinem Leben anfangen soll." Es war so schlimm, ich musste sie in die Kinder- und Jugendpsychiatrie überweisen.

epd: Was werden die langfristigen Folgen des Lockdowns sein?

Fischbach: Bei sensiblen Gruppen werden Entwicklungsschritte nicht ausreichend vollzogen werden. Wenn Sie eine gut funktionierende Familienstruktur haben, mit Eltern, die sich kümmern - dann lässt sich vieles ausgleichen. Auch wenn das natürlich nicht optimal gelingen kann, wenn man Homeoffice und Homeschooling verbinden muss. Aber Kinder, die ohnehin schon Probleme in ihren Strukturen haben ... Auch wenn wir naturgemäß noch nicht über Langzeitdaten verfügen können, die Verlierer kann man jetzt schon absehen.

epd: Der Lockdown wird ja immer wieder verlängert. Würde es Ihre Arbeit leichter machen, wenn Sie den Kindern ein Ende ankündigen können?

Fischbach: Das wäre schön, aber die Glaskugel haben wir alle nicht. Ich wage mal die Prognose, dass es etwas besser wird, wenn der Winter zu Ende geht – das kennen wir eigentlich von allen Viralinfekten der Luftwege. Es ist anzunehmen, nur mit letzter Sicherheit weiß man das alles nicht. Es wäre total wichtig, eine Perspektive herzustellen. Zumindest die Schulen muss man zum Teil öffnen. Es gibt auch keine belastbaren Daten, wie diese zum Infektionsgeschehen beitragen.

epd: Belastbare Daten gibt es in vielen Bereichen nicht. Wenn wir auf die warten, ist die Pandemie vielleicht schon vorbei.

Fischbach: Das ist gar nicht so unrealistisch. Wir haben im vergangenen Jahr Tausende von Abstrichen gemacht, meist bei Kontaktpersonen an Schulen. Die Zahl der infizierten Kinder war sehr gering im Vergleich zu Erwachsenen. Die Kinder haben sich zudem fast alle in ihren Familien angesteckt. Mir sagen Kollegen, dass das bei ihnen ähnlich ist.



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