sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

Die SPD strebt grundlegende Reformen an. Sie will Arbeitnehmerrechte stärken, vor allem aber hat sie mit ihrem beschlossenen Papier "Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit" Geringverdiener und deren Kinder im Blick. Die Stichworte heißen hier Erhöhung des Mindestlohns, Bürgergeld statt Hartz IV sowie Kindergrundsicherung.

Der Sozialexperte Martin Staiger ist dem Vorwurf nachgegangen, Hartz IV habe keinen Respekt vor der beruflichen Lebensleistung von über 50-Jährigen, wenn diese - oftmals unverschuldet - arbeitslos werden. Er beschreibt in seinem Gastbeitrag für epd sozial präzise, wie mit den Hartz-IV-Gesetzen die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verkürzt wurde. Und was ebenso schwer wiegt: die Prüfungen des Vermögens und der Ersparnisse, die der Auszahlung von Hartz-IV-Leistungen stets vorausgehen.

Die Union reibt sich an den Plänen von Sozialminister Heil, bei der Grundrente auf die Bedürftigkeitsprüfung zu verzichten. Im Koalitionsausschuss kam am 13. Februar keine Einigung zustande. Die Diakonie begrüßte dagegen die SPD-Pläne. "Wir sind dafür, keine Bedürftigkeitsprüfung vorzunehmen", sagte Sozialvorstand Maria Loheide in der ZDF-Sendung "Maybrit Illner". Liegt Loheide richtig? Wie sehen das die Leserinnen und Leser von epd sozial? Welche Erfahrungen machen Sie mit Bedürftigkeitsprüfungen bei Senioren? Schreiben Sie mir eine Email.

Die Gründerin der Arbeiterwohlfahrt machte als eine der ersten Frauen in Deutschland in der Politik Karriere. Marie Juchacz hielt am 19. Februar 1919 als erste Frau eine Rede vor einem deutschen Parlament. Noch im selben Jahr gründete sie die AWO - und wurde 30 Jahre später ihre Ehrenvorsitzende.

In einem reinen Wohngebiet dürfen ambulant betreute, pflegebedürftige Menschen in einer Wohngemeinschaft wohnen. Entscheidend hierfür ist nach einem Gerichtsurteil, dass die WG "selbst organisiert" ist.

Hier geht es zur Gesamtausgabe von epd sozial 7/2019

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Markus Jantzer

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sozial-Thema

Reformpläne

Das Sozialstaats-Konzept der SPD




Für Kinder aus armen Familien strebt die SPD Verbesserungen an (Archivbild).
epd-bild/Marko Priske
Die SPD will den Sozialstaat gründlich reformieren. In ihrem Konzeptpapier "Arbeit - Solidarität –Menschlichkeit" schlägt sie vor allem Verbesserungen für Kinder und Erwerbsfähige vor. Außerdem hat die SPD Vorschläge zur Alterssicherung, Gesundheit, Pflege und Wohnen angekündigt.

Die Grundrente nach den Plänen von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) war am 13. Februar in Berlin erstmals Thema im Koalitionsausschuss mit den Spitzenvertretern von Union und SPD. Die Rentenpläne sind allerdings nicht Teil des SPD-Konzepts "Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit", mit der die Partei die Agenda 2010 hinter sich lassen und ihr Profil neu schärfen will. Reformvorschläge für den Arbeitsmarkt, eine Kindergrundsicherung und ein Bürgergeld statt Hartz IV bilden den Auftakt. Vorschläge zur Alterssicherung, Gesundheit, Pflege und Wohnen sollen in einem nächsten Schritt folgen. Im Einzelnen:

- Ein Bürgergeld soll die Grundsicherung (Hartz-IV-Leistungen) ablösen. Es soll eine Anlaufstelle für alle Leistungen geben. Ein Teil der Sanktionen für mangelnde Mitwirkung soll fallen. Junge Erwachsene sollen nicht mehr härter sanktioniert werden als ältere. Der Entzug der Wohnkosten soll nicht mehr möglich sein. Einfache und verständliche Verfahren sollen Bürgergeldempfänger zu Partnern statt Bittstellern machen. Höhere Regelsätze sind nicht vorgesehen, wohl aber mehr Geld für Einzelanschaffungen.

Gebündelte Leistung für Kinder

- Wer zuvor Arbeitslosengeld bekommen hat, soll beim Übergang ins Bürgergeld zwei Jahre lang nicht gezwungen werden können, eine billigere Wohnung zu suchen.

- Alle Ansprüche für Kinder sollen in einer Kindergrundsicherung zusammengefasst werden. Sie soll die einzeln zu beantragenden und zum Teil aufeinander anzurechnenden Leistungen (Kindergeld, Kinderfreibetrag, Kinderzuschlag, Zuschüsse zu Schulsachen und Schulessen, Nachhilfe und Vereinsbeiträgen) ablösen.

- Die Kindergrundsicherung soll das Existenzminimum eines Kindes sichern und umso geringer ausfallen, je mehr die Eltern verdienen. Zusätzlich will die SPD die Infrastruktur für Kinder (Kita, Schule, Ganztagsbetreuung, Kulturangebote) barrierefrei und möglichst kostenlos machen.

Ein Mindestlohn von zwölf Euro

- In der Arbeitsmarktpolitik stehen die soziale Absicherung neuer Arbeitsformen, ein verlängertes Arbeitslosengeld und ein höherer Mindestlohn im Zentrum. Der Mindestlohn soll perspektivisch auf zwölf Euro angehoben werden. Das Arbeitslosengeld soll, nach Beitragsjahren gestaffelt, länger gezahlt werden - in Kombination mit einem Qualifizierungs-Arbeitslosengeld bis zu drei Jahre lang.

- Berufliche Qualifizierung soll finanziell abgesichert werden, wenn, etwa durch Digitalisierung, Jobs wegfallen. Das Arbeitsrecht und die Schutzrechte für Beschäftigte sollen auf die Digital-Wirtschaft übertragen werden. Plattformen als Arbeitgeber neuen Typs sollen die gleichen Verpflichtungen haben wie Arbeitgeber alten Typs. Ein Recht auf mobiles Arbeiten und Homeoffice soll gesetzlich verankert werden.

- Ein Zeitkonto über den gesamten Erwerbsverlauf soll Arbeitnehmern mehr Gestaltungsspielraum geben und dafür sorgen, dass auch sie vom Wandel der Arbeitswelt profitieren können.

Bettina Markmeyer


Reformpläne

Gastbeitrag

Der schnelle Weg in den sozialen Abstieg




Sozialrechtsexperte Martin Staiger
epd-bild/privat
Die SPD will die berufliche Lebensleistung wieder mehr anerkennen. Dazu will sie unter anderem die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I für Menschen, die lange in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, deutlich verlängern. Der Sozialexperte Martin Staiger erläutert, wie schnell ältere Arbeitnehmer nach einem Jobverlust ihr Einkommen und ihr Vermögen unter Hartz-IV-Bedingungen verlieren.

Die Führung der SPD hat am 10. Februar einstimmig beschlossen, Hartz IV hinter sich lassen zu wollen. "Viele Menschen treibt die Sorge vor sozialem Abstieg bei Verlust des Arbeitsplatzes um. Sie befürchten, bereits nach einem Jahr gleichgestellt zu werden mit Menschen, die lange nicht oder gar nicht gearbeitet haben. Dass Arbeit und längere Beitragszeiten hier oft keinen Unterschied machen, wird als zutiefst ungerecht empfunden." So schreiben die Genossinnen und Genossen in einem Papier mit dem Titel "Arbeit - Solidarität - Menschlichkeit."

Bezugsdauer radikal verkürzt

Mit der Agenda 2010, die die SPD jetzt gleichzeitig überwinden, aber dennoch nicht als Fehler bezeichnen will, war die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, das seitdem Arbeitslosengeld I heißt, insbesondere für ältere Arbeitslose radikal verkürzt worden. Wer zum Beispiel mit 52 Jahren seine Arbeit verlor, hatte bis Ende 2003 einen Arbeitslosengeldanspruch von bis zu zwei Jahren, 57-Jährige erhielten bis zu 32 Monate lang Arbeitslosengeld. Zum 1. Januar 2004 wurde der Arbeitslosengeldanspruch für alle unter 55 auf zwölf Monate verkürzt, über 54-Jährige konnten noch maximal 18 Monate Arbeitslosengeld erhalten. Diese Regelung wurde dann 2008 leicht entschärft, so dass seitdem Arbeitnehmer, die mit 58 arbeitslos werden, einen Anspruch auf bis zu zwei Jahre Arbeitslosengeld I haben.

Das Arbeitslosengeld I beträgt ca. 60 Prozent des Nettoeinkommens, bei Arbeitslosen mit mindestens einem Kind werden ca. 67 Prozent vom netto bezahlt. Ist die Bezugsdauer abgelaufen, besteht - unter Umständen - ein Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II, besser bekannt als "Hartz IV".

Bevor eine arbeitslose Person Hartz IV erhält, wird jedoch geprüft, ob die Einnahmen ihres Partners oder ihrer Partnerin ausreichen, um ihren "Bedarf" zu decken. Ist dies der Fall, besteht kein Hartz-IV-Anspruch. Besitzt die arbeitslose Person Vermögen, das über den in Paragraf 12 des zweiten Sozialgesetzbuches normierten Grenzen liegt, besteht ebenfalls kein Hartz-IV-Anspruch.

Sonderregeln für Altersvorsorgevermögen

Die Vermögensgrenze ist abhängig vom Lebensalter. Es gilt ein Grundfreibetrag von 150 Euro pro Lebensjahr. Dazu kommt ein "Freibetrag für notwendige Anschaffungen" in Höhe von 750 Euro. Das sogenannte Schonvermögen eines 52-Jährigen liegt also beispielsweise bei 8.550 Euro. Hat er ein höheres Vermögen, hat er keinen Hartz-IV-Anspruch und muss sein Vermögen bis auf einen Rest von 8.550 Euro verbrauchen, bevor er leistungsberechtigt ist.

Sonderregeln gelten für Altersvorsorgevermögen. In einem Riesterrentenvertrag angespartes Vermögen ist generell geschützt, bei anderen Formen der Altersvorsorge kommt es auf den Vertrag an. Für "geldwerte Ansprüche, die der Altersvorsorge dienen, soweit die Inhaberin oder der Inhaber sie vor dem Eintritt in den Ruhestand aufgrund einer unwiderruflichen vertraglichen Vereinbarung nicht verwerten kann", gilt eine Vermögensfreigrenze von 750 Euro pro Lebensjahr. Verfügt ein 52-Jähriger über einen solchen Vertrag, in dem maximal 39.000 Euro angespart sind, darf er ihn in voller Höhe behalten. Hat er mehr angespart, muss er sich die über 39.000 Euro hinausgehenden Ansprüche auszahlen lassen und zunächst davon leben, bevor er Hartz IV bekommt.

Altersvorsorgevermögen, für das kein Verwertungsausschluss vereinbart ist, ist nach dem Gesetz nur in den Grenzen des Grundfreibetrags von 150 Euro pro Lebensjahr geschützt. Dennoch können Hartz-IV-Bezieher, die eine Kapitallebensversicherung abgeschlossen haben, diese in vielen Fällen behalten, da "Rechte, soweit ihre Verwertung offensichtlich unwirtschaftlich ist", nicht angetastet werden dürfen. Im Anschluss an diese Norm hat die Bundesagentur für Arbeit bestimmt, dass Kapitallebensversicherungen vor dem letzten Fünftel ihrer Laufzeit nicht beliehen werden müssen.

Angemessenheit der Wohnung

Kraftfahrzeuge müssen nicht verkauft werden, wenn sie angemessen sind. Die Angemessenheitsgrenze liegt bei einem zu erzielenden Preis von 7.500 Euro. Lässt sich ein Auto teurer verkaufen, muss es veräußert werden. Der ehemalige Autobesitzer muss dann so lange von dem Verkaufserlös leben, bis sein Vermögen unter dem vom Lebensalter abhängigen Schonvermögen liegt. Dann hat er Anspruch auf Hartz IV.

Wer ein "selbst genutztes Hausgrundstück von angemessener Größe oder eine entsprechende Eigentumswohnung" sein Eigen nennt, muss seine Immobilie nicht veräußern, um Hartz IV erhalten zu können. Bei der Beurteilung der Angemessenheit kommt es insbesondere auf die Zahl der in dem Haus oder der Wohnung lebenden Personen, aber auch darauf an, ob eventuell ein erhöhter Flächenbedarf zum Beispiel für einen Rollstuhlfahrer besteht. Bei Eigentumswohnungen gelten für vier Personen in der Regel rund 120 Quadratmeter als angemessen, bei Häusern 130 Quadratmeter.

Zu wenig für ein menschenwürdiges Leben

Wer in der eigenen Immobilie lebt, hat jedoch oft ein anderes Problem. Denn Wohnkosten werden von den Jobcentern nur in "angemessener" Höhe bezahlt. Die Kommunen, die die Obergrenzen festlegen, orientieren sich bei vier Personen jedoch nicht an den Mietpreisen von 120 oder 130, sondern von ca. 90 Quadratmetern und außerdem an Wohnungen mit einfacherer Ausstattung. Da außer in besonderen Ausnahmefällen bei kreditfinanzierten Immobilien nicht der Tilgungs-, sondern nur der Zinsanteil vom Jobcenter bezahlt wird, haben Hartz-IV-Bezieher meist keine Möglichkeit, ihr Wohneigentum auf Dauer zu behalten.

Fazit: Menschen, die sich im Laufe ihres Arbeitslebens einen gewissen Wohlstand erarbeitet haben, werden durch die Hartz-IV-Gesetze gezwungen, in kurzer Zeit ihr Vermögen bis auf einen relativ kleinen Rest zu verbrauchen. Insofern ist der SPD zuzustimmen, wenn sie hier Änderungen vornehmen will.

Die von der SPD geplante verlängerte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I und eine zweijährige Schonfrist für Vermögen nützen allerdings dem 52-Jährigen, der seinen Arbeitsplatz verloren hat, nichts, wenn er auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr Fuß fasst. Die nach wie vor große Gruppe von Langzeitarbeitslosen benötigt dauerhaft großzügigere Vermögensregelungen, realistische Mietobergrenzen und höhere Regelsätze, da die geltenden Regelungen für ein menschenwürdiges Leben nicht ausreichen. Dazu sagt das SPD-Papier jedoch leider nichts.

Martin Staiger ist in der sozialrechtlichen Fortbildung von Sozialarbeitern und als Publizist tätig.


Reformpläne

Grundrente: Kramp-Karrenbauer erwartet Heils Vorschläge




Rentnerinnen im Gespräch (Archivbild)
epd-bild/Daniel Peter
An der Bedürftigkeitsprüfung scheiden sich die Geister. Zwar wollen Union und SPD gleichermaßen eine Grundrente, doch zu deren Ausgestaltung gibt es weiter unterschiedliche Vorstellungen.

Im Streit um die von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vorgeschlagene Grundrente nach 35 Beitragsjahren zeichnet sich bislang keine Einigung in der Koalition ab. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer signalisierte nach den ersten Beratungen im Koalitionsausschuss am 13. Februar allerdings Gesprächsbereitschaft. "Es ist jetzt Sache des Arbeitsministers, seine Pläne zu konkretisieren", sagte sie am Tag nach dem Treffen. Wenn Heil allerdings darauf bestehe, dass es für die garantierte Rente keine Bedürftigkeitsprüfungen geben soll, dann werde eine Einigung "eher schwer".

Der Arbeitsminister will eine Aufstockung geringer Renten um bis zu 447 Euro im Monat nach 35 Beitragsjahren, ohne dass die Bedürftigkeit der Rentner überprüft wird. CDU und CSU lehnen eine Mindestrente ganz ohne Prüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse ab. Der Wirtschaftsflügel der Union kritisiert an Heils Modell vor allem die jährlich anfallenden Ausgaben von schätzungsweise fünf Milliarden Euro.

Eingeschränkte Bedürftigkeitsprüfung denkbar

Kramp-Karrenbauer sagte, für die Unionsparteien sei die Bedürftigkeitsprüfung eine Frage der Gerechtigkeit. Mit ihr werde sichergestellt, dass die Hilfe auch bei denen ankommt, die sie brauchen. Sie brachte ins Gespräch, dass man noch einmal darüber redet, was als Bedürftigkeitsprüfung anzusehen ist. "Dazu gibt es ja keine konkreten Festlegungen", sagte Kramp-Karrenbauer, die nach ihrer Wahl zur CDU-Vorsitzenden im vergangenen Dezember erstmals an einem Treffen der Koalitionsspitzen teilgenommen hatte.

Es sei das gemeinsame Ziel von Union und SPD, eine Grundrente auf den Weg zu bringen. Kramp-Karrenbauer hält es für möglich, wie im Koalitionsvertrag festgelegt, eine Bedürftigkeitsprüfung vorzunehmen, aber über die Anrechung von selbst genutztem Wohneigentum noch einmal zu sprechen.

SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil äußerte sich derweil überzeugt, dass seine Partei CDU und CSU mit "guten Argumenten" von ihren Plänen werde überzeugen können. Entscheidend sei, "dass wir ein Modell haben, um Altersarmut zu bekämpfen". Im nächsten Schritt werde Heil nun einen Gesetzentwurf erarbeiten. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Carsten Schneider, betonte, dass die gesamte SPD hinter Heils Vorschlag stehe: "Wer 35 Jahre gearbeitet hat, soll von dem Geld auch halbwegs anständig leben können."

Institut sieht neue Ungerechtigkeiten

Nach Einschätzung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) Köln würden Heils Planungen zu neuen Ungerechtigkeiten führen. Von knapp sechs Millionen älteren Menschen mit geringen Renten würden nur 2,8 Millionen von der Garantierente profitieren. 3,2 Millionen Betroffene gingen leer aus.

Vor allem westdeutsche Frauen gingen in der Mehrzahl leer aus, hieß es. Von 3,7 Millionen bedürftigen Renterinnen in den westdeutschen Bundesländern kämen nur 1,2 Millionen auf 35 Beitragsjahre und könnten eine Aufstockung beanspruchen. 2,5 Millionen blieben außen vor. In Ostdeutschland würden dagegen 83 Prozent der betroffenen Rentnerinnen profitieren.

Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend und die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend begrüßten die Rentenpläne im Grundsatz. Doch die 35 Jahre Grundrentenzeiten als Voraussetzung erscheinen ihnen zu starr. Sie verweisen auf die heutigen Erwerbsbiografien junger Menschen, die vielfach geprägt seien von brüchigen Erwerbsverläufen, befristeten Arbeitsverträgen, Teilzeitarbeit und Solo-Selbstständigkeit.

Karsten Frerichs, Esther Soth



sozial-Politik

Gesundheit

Schwachstellen beim Erkennen von Organspendern




Nierentransplantation im Klinikum Bremen-Mitte (Archivbild)
epd-bild/Werner Krüper
Die Bundesregierung hofft durch interne Strukturreformen auf mehr Organspender. Experten begrüßen diesen gesetzlichen Weg. Noch befindet sich viel Sand im Getriebe des Transplantationswesens. Eine Studie zeigt, dass Verbesserungen greifen können.

Politiker und Experten streiten vehement über die Auswirkungen der Widerspruchslösung im Transplantationsrecht. Käme sie, dann wäre im Todesfall jeder automatisch Organspender, der zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat. Doch der Plan spaltet die Nation. Dass der Organmangel hierzulande auch ganz andere Ursachen hat, gerät leicht aus dem Blick.

Defizite in den Entnahmekrankenhäusern

Wo es intern hakt im Spendenprozess, belegt eine Untersuchung mit dem Titel "Rückgang der Organspenden in Deutschland - Eine bundesweite Sekundärdatenanalyse aller vollstationären Behandlungsfälle". Sie zeigt, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) offenbar mit seinen Reformen auf dem richtigen Weg ist. Sein "Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende" hat der Bundestag am 14. Februar beschlossen. Es soll zum 1. April in Kraft treten.

Die zehn Forscher kommen zu dem Schluss, dass der zuletzt gestoppte Rückgang der postmortalen Organspenden vor allem mit einem Erkennungs- und Meldedefizit der Entnahmekrankenhäuser zusammenhängt. "Gelingt es, diesen Prozess organisatorisch und politisch zu stärken, könnte die Zahl der gespendeten Organe erheblich gesteigert werden" - genau das soll das neue Gesetz bewirken.

Der an der Studie beteiligte Arzt Kevin Schulte sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Unser Hauptproblem ist, dass der überwiegende Anteil der möglichen Organspender in den Kliniken nicht erkannt wird. In diesen Fällen stellt sich die Frage gar nicht, ob der betreffende Patient mit einer Organspende einverstanden gewesen wäre."

Rückgang um 32,3 Prozent

Zunächst zur Ausgangslage: Die Zahl der möglichen Organspender stieg von 2010 bis 2015 um 13,9 Prozent von 23.937 auf 27.258. Alarmierend ist aber, dass die Zahl der realisierten Organspenden laut Untersuchung im selben Zeitraum um 32,3 Prozent zurückging.

Die Wissenschaftler suchten aus allen vollstationären Behandlungen der Jahre 2010 bis 2015 (mehr als 112 Millionen Fälle) diejenigen Todesfälle heraus, bei denen eine Hirnschädigung vorlag und eine Organspende theoretisch möglich war. Als Referenzgröße wurden die Ergebnisse eines 2010 begonnenen Inhouse-Koordinationsprojekt der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) ausgewählt. Hier wurde in mehr als 100 Krankenhäusern zwei Jahre lang jeder mögliche Organspender nachträglich auf seine reelle Eignung als Organspender untersucht. Ergebnis: Nahezu alle möglichen Organspender wurden tatsächlich für eine Organspende in Betracht gezogen. Die Realisationsquote der Organentnahmen lag bei 10,2 Prozent.

Die Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, dass 2015 unter der Annahme, dass dieselbe Realisationsquote wie im DSO-Inhouse-Koordinationsprojekt erreichbar gewesen wäre, statt der erfolgten 877 Organspenden 2.780 hätten erreicht werden können - 33,8 Organspenden pro einer Million Einwohner. 2017 lag der Wert in Deutschland bei 10,4.

"Trendwende ist möglich"

"Eine Trendwende unter den aktuellen Rahmenbedingungen ist möglich", betonten die Forscher. Genau die will Spahn nun erreichen. Krankenhäuser sollen mehr Zeit und Geld für Organtransplantationen bekommen. Das interne System der Spendererkennung und -meldung wird verbessert. Auch wird es künftig verbindliche Vorgaben für die Freistellung der Transplantationsbeauftragten geben, deren Arbeit von den Kassen voll refinanziert werden soll. Und: Flächendeckend wird ein neurologischer beziehungsweise neurochirurgischer Rufbereitschaftsdienst eingerichtet, um den Hirntot verlässlich feststellen zu können.

Die DSO ist von dem Vorhaben überzeugt. "Die Maßnahmen setzen genau da an, wo Schwachstellen in der Organisation und Zusammenarbeit mit den Entnahmekrankenhäusern bestehen", sagte der Medizinische Vorstand Axel Rahmel. Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, erklärte: "Es ist gut, die Organisation und Strukturen der Entnahmekrankenhäuser zu stärken. Denn nur hier können mögliche Organspender erkannt und gegebenenfalls gemeldet werden."

Dirk Baas


Gesundheit

Patientenschützer: Politik bleibt bei Organspende in der Verantwortung




Eugen Brysch
epd-bild/Deutsche Hospiz Stiftung
Eugen Brysch begrüßt, dass die Abläufe zur Organspende in den Entnahmekliniken verbessert werden sollen. Es bestehe aber weiter Handlungsbedarf.

Auch nach dem Beschluss des Bundestages am 14. Februar, die Strukturen zur Organentnahme in den Krankenhäusern zu verbessern, forderte der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, weitere Schritte des Gesetgebers. "Die Politik bleibt in der Verantwortung", sagte er im Interview. Mit Brysch sprach Dirk Baas.

epd sozial: Die Organspendezahlen weisen erstmals seit Jahren wieder merklich noch oben. Haben Sie dafür ein Erklärung?

Eugen Brysch: Der Anstieg bei den Organspendezahlen ist ein kleiner Lichtblick. Doch das ist kein Erfolg der teuren Werbekampagnen der letzten Jahre. Vielmehr ist die Organisation in den 1.250 Krankenhäusern mit Intensivstation besser geworden.

epd: Also ist das nicht der Beginn einer Trendwende, die den Druck des Handelns von der Politik nimmt?

Brysch: Es ist viel zu früh, bereits von einer Trendwende zu sprechen. Vielmehr gilt es, die Abläufe in den Transplantationszentren weiterzuentwickeln. Dazu dient die Gesetzesänderung. Das ist ein Anfang, doch die Strukturverbesserungen müssen weitergehen. Die Politik bleibt in der Verantwortung.

epd: Das Land und auch die Politik ist gespalten, ob die Einführung der Widerspruchslösung in Transplantationsrecht zur mehr Spendern führen würde. Wie bewerten Sie diese Pläne?

Brysch: Die Widerspruchsregelung ist der falsche Weg. Denn mit Zwang lässt sich kein Vertrauen gewinnen. Das kann schnell nach hinten losgehen. Denn das Recht auf Selbstbestimmung ist in unserer Verfassung eines der höchsten Güter. Schweigen heißt nicht Zustimmung. Jede Spende ist eine freiwillige und bewusste Entscheidung. Es ist ethisch besonders wertvoll, einem anderen Menschen sein Organ zu schenken. Doch dieses Geschenk ist nicht mit der Brechstange zu erzwingen. Genauso gut kann es auch ethische oder persönliche Gründe geben, sich gegen die Organspende zu entscheiden.



Flüchtlingsbürgen

Hilfsbereitschaft mit ungeahnten Folgen




Flüchtlingsbürgin Uta Heine
epd-bild/Darius Simka/regios24
Im Jahr 2014 bürgt die evangelische Pastorin Uta Heine dafür, eine syrische Familie nach Deutschland zu holen. Jahre später erhält sie Post vom Jobcenter. Die Wolfsburgerin soll mehr als 38.500 Euro zahlen. Eine Zeit der Ungewissheit beginnt.

Als Tausende Menschen im Jahr 2014 vor der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) im Nordirak fliehen, verfolgt die evangelische Pastorin Uta Heine im mehr als 4.000 Kilometer entfernten Wolfsburg die Bilder am Fernseher. "Ich war fix und fertig", erinnert sich die 57-Jährige. Angesichts des Flüchtlingsdramas wird ihr klar, dass sie etwas tun möchte.

Heine übernimmt, wie viele Menschen bundesweit, eine sogenannte Verpflichtungsgeberschaft. Sie bürgt dafür, dass eine siebenköpfige syrische Familie auf legalem Weg nach Deutschland reisen kann. Damals ahnt die alleinerziehende Mutter noch nicht, was ihr bevorsteht.

"Ich war fassungslos"

Etwa drei Jahre später flattern der Pastorin Briefe vom Jobcenter ins Haus. Sie soll rund 38.500 Euro an Sozialleistungen zurückzahlen. "Ich war fassungslos", sagt Heine. Die syrische Familie hatte nur wenige Monate nach ihrer Ankunft den Flüchtlingsstatus erhalten. Wie vielen anderen war auch Heine gesagt worden, dass ihre finanzielle Verantwortung damit erlischt. Doch der Bund legte rückwirkend längere Fristen fest.

Für Heine beginnt eine anstrengende Zeit der Ungewissheit. Unklar bleibt, für wie viele Jahre sie für die Familie bürgen wird. "Mein Verhältnis zu diesem Land, zur Politik und zur Rechtsprechung hat sich in den vergangenen zwei Jahren deutlich verändert", sagt die Pastorin, während sie von ihrem Amtszimmer auf den Wolfsburger Schlosspark blickt. In einer Ecke des Raums erinnert noch ein Samowar an die Zeiten, als die Gemeinde zu Zeiten der Flüchtlingswelle regelmäßig Menschen zum Tee und zur Begegnung einlud.

Bundesweit verschickten die Jobcenter Forderungen von insgesamt 21 Millionen Euro. "Ein gewisses Risiko war mir bewusst, aber mit Bescheiden in dieser Höhe habe ich nicht gerechnet", sagt Heine. "Wenn Juristen Entscheidungen überdenken oder nach einiger Zeit zu anderen Urteilen kommen, können diese nicht zulasten der Bürger fallen, die man vorher anders informiert hat."

Heine nimmt einen Anwalt

Heine sucht gemeinsam mit einer Kirchengemeinde, die ebenfalls eine Bürgschaft übernommen hat, zunächst nach einer politischen Lösung. Die Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen setzt sich an verschiedenen Stellen dafür ein. Gespräche der Innenminister mit dem Bund bringen vorerst keine Ergebnisse. Schließlich sucht Heine sich einen Anwalt. Die E-Mails und Briefe, die sie ihm übergibt, füllen mehrere Ordner. Allein in Niedersachsen haben mehr als 480 Bürgen gegen die Kostenbescheide geklagt.

Ende Januar scheinen Bund und Länder schließlich einen erlösenden Kompromiss gefunden zu haben. Die Bürgen müssten keine Rückzahlungen befürchten, heißt es aus Berlin. Heine will sich nicht zu früh freuen. "So richtig erleichtert bin ich erst dann, wenn ich es schwarz auf weiß habe", sagt sie mit einem leichten Lächeln. Auch der niedersächsische Flüchtlingsrat sieht bei der Einigung noch viele Detailfragen offen.

Vom niedersächsischen Innenministerium in Hannover heißt es derzeit, dass es "nur noch in wenigen Fällen" zu einer Erstattungspflicht kommen kann. Ob die Bürgen auch für die Anwalts- und Gerichtskosten aufkommen müssen, entschieden die Verwaltungsgerichte. Die Wolfsburger Pastorin hätte gerne auch dieses Geld lieber ihrer syrischen Familie gespendet. Während sich die fünf Kinder in Kindergarten und Schule gut integrieren, fällt es den Eltern noch schwer, in Deutschland Fuß zu fassen.

Wenn nun manche kritisieren, dass der Steuerzahler für die Naivität der Flüchtlingsbürgen aufkommen muss, dann findet Heine das kurzsichtig. Manche Probleme habe man damals noch nicht absehen können. Nach vier Jahren in der Flüchtlingshilfe sehe auch sie vieles differenzierter, denn nicht alle könnten sich gleichermaßen leicht integrieren. "Mir war wichtig, in aktueller Not zumindest für einige Hilfe zu ermöglichen." Dazu stehe sie auch heute noch. "Wir können nicht einfach so tun, als würde unsere Verantwortung an der Haustür aufhören."

Charlotte Morgenthal


Medizinethik

Dabrock: "Der Gesetzentwurf zu 219a ist ein sinnvoller Kompromiss"




Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrats
epd-bild/Peter Roggenthin
Der Theologe und Ethiker Peter Dabrock hält den Regierungskompromiss beim Werbeverbot für Abtreibungen für sinnvoll. Bei der geplanten Änderung des Paragraf 219a "sollte es zugunsten des Rechts- und des sozialen Friedens bleiben", sagte der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats im Interview.

Bundesregierung und Bundestag beschäftigen derzeit auffallend viele bioethische Debatten: Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats Peter Dabrock, erklärt, warum er den Kompromiss zum Paragrafen 219a für sinnvoll hält, warum er findet, dass Bluttests für Schwangere von der Krankenkasse finanziert werden sollten, und warum man die Prüfverfahren für die Präimplantationsdiagnostik lockern sollte. Mit Dabrock sprachen Corinna Buschow und Franziska Hein.

epd sozial: Herr Dabrock, das Bundeskabinett hat den Kompromiss zur Änderung des Werbeverbots für Abtreibungen auf den Weg gebracht. Ist es ein guter Kompromiss?

Peter Dabrock: Ja, ich halte das für einen sinnvollen Kompromiss. Einerseits wird der Paragraf 219a modifiziert, um dem Informationsrecht der Frauen gerecht zu werden. Andererseits bleibt das Gesamtgefüge der Schwangerschaftskonfliktparagrafen im Strafrecht und in den begleitenden Gesetzen unangetastet. Dabei sollte es zugunsten des Rechts- und des sozialen Friedens bleiben.

epd: Glauben Sie, durch eine weitergehende Diskussion - etwa über die Abschaffung des gesamten Abtreibungsparagrafen - wäre der soziale Friede gefährdet?

Dabrock: Eine solche Diskussion hat alles Potenzial, den gesellschaftlichen Frieden hochgradig zu gefährden. Wir leben in einer Zeit, in der - unter anderem bedingt durch den stärkeren Einfluss sozialer Medien - Emotionalisierung und einseitige Betrachtungsweisen die Bereitschaft zu einem politisch und gesellschaftlich sinnvollen Kompromiss senken. Dabei müssen alle Seiten anerkennen, dass ein Schwangerschaftsabbruch keine "lockere" Angelegenheit der Empfängnisverhütung ist und keine Frau sich leichtfertig dafür entscheidet. Es kann keine Schwangerschaft gegen den Willen der Mutter geben. Und gleichzeitig muss man anerkennen, dass das Ungeborene ein Recht auf Leben hat.

epd: Den Bundestag beschäftigen derzeit auch andere ethische Fragen. Wie stehen Sie zu der Frage, ob die Bluttests an Schwangeren Kassenleistung werden sollen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Auskunft darüber geben, ob das Kind das Down-Syndrom hat?

Dabrock: Ich begrüße sehr, dass es eine gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit Menschen mit Behinderung gibt. Es kann uns weiterbringen, ehrlich festzustellen, dass es sowohl mit "behinderten" als auch mit sogenannten normalen Kindern Beglückendes, aber auch Anstrengungen und Schwierigkeiten gibt. Wir neigen sehr dazu, das eine zu romantisieren und das andere als untragbar zu betrachten. Bei der anstehenden Entscheidung geht es um die Finanzierung der nichtinvasiven Pränataldiagnostik bei Risikoschwangerschaften. Die risikoreiche invasive Methode, die Fruchtwasseruntersuchung, wird von der Kasse finanziert. Wenn wir das eine bezahlen, können wir das bei der anderen Methode nicht verweigern.

epd: Kritiker befürchten, dass die risikoarme Methode zu einem Massenscreening führen könnte ...

Dabrock: Nochmal, es geht um Risikoschwangerschaften, wobei natürlich die Zahl der Risikoschwangerschaften steigt. Ich finde es aber zynisch, gegenüber Frauen eine pseudo-heroische Erwartungshaltung zu haben: Momentan verlangt man von ihnen, bei invasiven Tests das Kind dem Risiko einer Fehlgeburt auszusetzen. Hinzu kommt die Frage nach sozialer Gerechtigkeit. Der Test ist ohnehin zugelassen. Wer die 300 bis 500 Euro dafür hat, kann ihn machen. Nicht jede Familie kann sich das leisten. Das ist sozial ungerecht.

epd: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wollte auch die Präimplantationsdiagnostik (PID) zur Kassenleistung machen. Nach Protest aus Kirchen und der Union hat er das gestoppt. Ist die Debatte um die PID, bei der Paare den Embryo bei künstlichen Befruchtungen im Reagenzglas vor dem Einsetzen in die Gebärmutter untersuchen lassen können, auch eine soziale Frage?

Dabrock: In Deutschland ist die PID grundsätzlich verboten. Erlaubt ist sie, wenn eine schwerwiegende genetische Krankheit oder eine Totgeburt zu erwarten sind. Überprüft wird dies durch ein komplexes Verfahren. Der in der Debatte stets mitschwingende Vorwurf, Paare würden die Methode für ein "Designerbaby" missbrauchen, geht völlig an der Realität vorbei. Das derzeit geradezu unbarmherzige Verfahren sollte gelockert werden. Es müsste unbürokratischer werden. Warum es bei den schweren Belastungen der Betroffenen nicht von der Kasse finanziert wird, leuchtet mir auch nicht ein.

epd: Was meinen Sie damit?

Dabrock: Die Präimplantationsdiagnostik ist bei uns so scharf geregelt, als handele es sich um ein Verbrechen. Man befürchtet offensichtlich Ausweitungstendenzen. Aber die Zahl möglicher Anwendungen ist schon deshalb begrenzt, weil sie nur bei künstlichen Befruchtungen infrage kommt. Das derzeitige Kontrollverfahren ist für die betroffenen Paare geradezu entwürdigend. Das sind doch Familien, in denen es Totgeburten - oft mehrere - gegeben hat oder Geschwisterkinder schwerste Erkrankungen haben. Hier Missbrauch zu unterstellen, während die Pränataldiagnostik für alle Risikoschwangerschaften völlig legal ist, ist doch "schräg". Ich wünsche mir sehr, dass man mit den betroffenen Hochrisikopaaren, die eine PID wünschen, gnädiger umgeht.

epd: Wie beurteilen Sie die Rolle der Kirchen in den Debatten zu diesen Themen?

Dabrock: Kirchen haben zwar in den vergangenen Jahren an Mitgliedern und damit auch an politischem Einfluss verloren. Die evangelische Kirche repräsentiert aber immer noch knapp ein Viertel der Bevölkerung dieses Landes. Sie ist immer noch über die Diakonie ein starker gesellschaftlicher Player. Die christliche Tradition bleibt ein wichtiger Kulturfaktor. Von daher finde ich es sehr wichtig, dass die Kirchen sich nicht von einer moralistischen Warte aus in solche Debatten einbringen, sondern Sensibilität für Konflikte zeigen. Die evangelische Kirche hat da in den vergangenen Jahren gut dazu gelernt.

epd: Gerade in den bioethischen Debatten zeigen sich schon die unterschiedlichen Positionen der evangelischen und katholischen Kirche. Läuft die evangelische Kirche Gefahr, ihr Profil zu verlieren, wenn sie zu stark auf Ökumene setzt?

Dabrock: Es ist eine Stärke der evangelischen Kirche, dass sie in solchen Debatten den Respekt für unterschiedliche Auffassungen hochhält. Das ist kein Beliebigkeitspluralismus. Die Sensibilität für Konflikte sollte nicht zugunsten forcierter Ökumene-Bemühungen aufgegeben werden. Die evangelische Kirche sollte in diesen Debatten zeigen, wie ein legitimer Korridor unterschiedlicher Positionen entwickelt und beworben werden kann. Das steht ihr gut zu Gesicht. Wenn man in diesem Sinne gemeinsame Positionen mit der katholischen Kirche findet, kann man sie auch gemeinsam vertreten.

epd: Die AfD sitzt nun mit im Bundestag. Wie wird sich das auf Debatten über ethisch sensible Themen auswirken?

Dabrock: Die bioethischen Debatten finden in einem Bundestag statt, der von einem deutlich verschärften Diskursklima geprägt ist. Bei der Debatte über die Organtransplantation haben sich die Abgeordneten der AfD, die sich zu Wort gemeldet haben, durchaus sachlich geäußert. Meine erste Vermutung, diese im Bundestag neue Partei würde auch diese Debatten unterschiedslos nutzen, um zu polarisieren, hat sich nicht bestätigt.



Wohlfahrtspflege

Bundesregierung betont Bedeutung von Sozialunternehmen



Sozialunternehmen gehen gesellschaftliche Fragen laut Bundesregierung "mit oftmals innovativen unternehmerischen Lösungen" an. Indem sie unternehmerisches Denken mit einem sozialen Mehrwert verbinden, kommt ihnen zugleich "eine wichtige Brückenfunktion für die Integration von Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik zu", heißt es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt.

Die Grünen-Fraktion hatte in ihrer Anfrage die Bedingungen für Social Entrepreneurs in Deutschland kritisiert. Im Koalitionsvertrag sei eine stärkere Förderung für Start-ups aus dem sozialen Bereich festgeschrieben, konkrete Maßnahmen seien aber bisher nicht gefolgt. Die sogenannten Social Entrepreneurs würden mit allerdings mit neuen, am Gemeinwohl orientierten Geschäftsmodellen und Projekten helfen, viele Herausforderungen zu bewältigen: "Sie sind kreativ, gehen neue Wege und nutzen dabei auch digitale Technologien."

In anderen Ländern gebe es eine deutlich bessere Unterstützung: In Großbritannien beispielsweise lockten Steuervorteile, in Frankreich seien ein Förderfonds von einer Milliarde Euro für soziale Innovationen aufgesetzt worden. Hierzulande gebe es "nicht einmal eine offizielle Definition für Social Entrepreneurship".

Innovationen in der Wohlfahrtsbranche

Die Bundesregierung erklärte hingegen, es gebe bereits vielfältige Maßnahmen und Initiativen zur Förderung sozialen Unternehmertums. So sei das Thema etwa als ein eigenständiges Handlungsfeld in der im November 2018 vom Bundeswirtschaftsministerium gestarteten Gründungsoffensive verankert. Zudem würden die Informations-, Beratungs- und Förderangebote mit Blick auf die Nutzung für Social Entrepreneurs überprüft, weiterentwickelt und sichtbarer kommuniziert.

Das Familienministerium fördere die bis 2020 laufenden Projekte "Soziale Innovationen in der Wohlfahrtspflege" und "Selbst ist die Frau". Bei Ersterem soll ein Austausch zwischen sozialen Start-Ups und den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege initiiert werden, bei Letzterem werden Ansprechpartnerinnen für gründungsinteressierte Frauen geschult und Netzwerke für Gründerinnen im ländlichen Raum etabliert. Sozialunternehmen würden zudem in vielen Förder- und Beratungsangeboten der Bundesregierung "implizit adressiert".

Die Regierung definiere Sozialunternehmen als Firmen, wirtschaftliche Vereine und Stiftungen, die soziale und gesellschaftliche Herausforderungen mit unternehmerischen Mitteln lösen wollen.



Ruhestand

Jeder Vierte geht mit Abschlägen in Rente



Nahezu jeder vierte Neurentner geht mit Abschlägen in den Ruhestand. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen hervor, die der Bundestag am 13. Februar in Berlin veröffentlichte. Im Osten Deutschlands müssen noch mehr Menschen Abzüge von ihrer Rente hinnehmen als im Westen. Dort geht fast jeder Dritte (31,5 Prozent) vorzeitig in Rente, im Westen der Republik ist es jeder Fünfte (21,3 Prozent).

Im Durchschnitt sind es gut zwei Jahre (25,7 Monate), die sich die Beschäftigten vorzeitig aus dem Arbeitsleben verabschieden. Frauen nehmen mit knapp 26 Prozent häufiger Abschläge in Kauf als Männer (20 Prozent). Für jeden Monat, den ein Beschäftigter früher in Rente geht, muss er einen Abschlag von 0,3 Prozent hinnehmen, pro Jahr also 3,6 Prozent. Der maximale Abzug beträgt 10,8 Prozent.

Der Rentenexperte der Grünen-Bundestagsfraktion Markus Kurth hatte die Anfrage gestellt, um mehr zu erfahren über Probleme beim Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand. Hintergrund ist die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, über deren Auswirkungen die Bundesregierung alle vier Jahre berichten muss.

Kurth zufolge ist auffällig, wie wenige Arbeitnehmer im rentennahen Alter von 63 bis 65 Jahren noch in einem normalen, sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis sind. Bei den 65-Jährigen sind es nur knapp 37 Prozent, bei den 64-Jährigen weniger als die Hälfte. Dagegen steigt der Anteil der Minijobber in diesem Alter. Insgesamt stehen dem Arbeitsmarkt nur jeder dritte 64-Jährige und jeder vierte 65-Jährige zur Verfügung.

Vielen Menschen sei es in den vergangenen Jahren nicht gelungen, mit der Anhebung der Altersgrenze Schritt zu halten, bilanzierte Kurth. Dabei seien gerade die letzten Jahre vor dem Renteneintritt wichtig für die Höhe des späteren Alterseinkommens. Minijobs und kleine Teilzeitbeschäftigungen könnten da erhebliche Lücken reißen, sagte Kurth.



Bayern

Unmut über das Ausstellen von Schwerbehindertenausweisen



Zahlreiche Menschen mit einer Behinderung sind offenbar unzufrieden mit der Ausstellungspraxis bei Schwerbehindertenausweisen in Bayern. Das legt die Antwort des bayerischen Sozialministeriums auf eine Anfrage der Grünen nahe, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt. Dem Ministerium zufolge wurden zwischen 2009 und 2018 rund 1,14 Millionen Erstanträge auf Feststellung eines Grades der Behinderung oder auf die Feststellung eines Merkzeichens gestellt. In 42,3 Prozent alle Fälle legten die Betroffenen Widerspruch gegen die Bescheide ein.

Die für diesen Bereich zuständige Behörde ist das Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS). Abgelehnt wurden von der Behörde in dem Zehn-Jahres-Zeitraum rund 106.000 Erstanträge, also 9,3 Prozent. Widerspruch eingelegt haben also nicht nur jene, die gar keinen Erfolg mit ihrem Antrag hatten, sondern auch viele derjenigen, denen zwar ein Grad der Behinderung oder ein Merkzeichen zuerkannt wurde, die mit der Entscheidung aber trotzdem nicht einverstanden waren - etwa, weil ihnen der anerkannte Grad der Behinderung als zu niedrig erschien.

Rund 57.753 der Erstantragsteller waren auch mit dem Ergebnis ihres Widerspruchs nicht zufrieden und reichten Klagen ein - immerhin 5,1 Prozent. Ziemlich genau die Hälfte davon war nach Auskunft der Landesregierung ganz oder zumindest teilweise erfolgreich.

In der Antwort heißt es, "aus Sicht der bayerischen Staatsregierung" wäre eine "Vereinfachung des Schwerbehindertenrechts des Bundes wünschenswert". Der Grad der Behinderung werde in neun Zehnergraden festgestellt, zudem gebe es elf Merkzeichen - "aG" für "Außergewöhnliche Gehbehinderung" oder "Gl" für "Gehörlos" zum Beispiel. Daran knüpften die verschiedenen Nachteilsausgleiche an, erläuterte das Sozialministerium. Würde der Grad der Behinderung stattdessen "nur in drei Stufen festgestellt, wäre die Situation für alle Beteiligten besser überschaubar und es würden sich zahlreiche Verwaltungsverfahren erübrigen".



Erziehung

Einzige muslimische Kita in Rheinland-Pfalz muss schließen



Das rheinland-pfälzische Landesjugendamt hat dem ersten und bislang einzigen muslimischen Kindergarten im Land die Betriebsgenehmigung entzogen. Spätestens zum 31. März müsse die Mainzer Al-Nur-Kindertagesstätte geschlossen werden, gab Landesamts-Präsident Detlef Placzek am 11. Februar bekannt. Grund für die Entscheidung sei die mangelnde Zuverlässigkeit des Trägervereins. "Der Verein vertritt Inhalte der Ideologie der Muslimbruderschaft sowie zum Salafismus und steht damit nicht mehr auf dem Boden der Verfassung der Bundesrepublik", erklärte Placzek.

Der 2009 eröffnete Kindergarten und der für die Einrichtung verantwortliche "Arab Nil-Rhein Verein" seien in den vergangenen zehn Jahren intensiv vom Landesamt beraten und begleitet worden, hieß es. Erste öffentliche Hinweise auf eine Nähe des Vereins zum Salafismus habe es bereits zum Jahreswechsel 2012/2013 gegeben, als ein umstrittener Prediger in dem Verein auftrat. Im vergangenen Herbst habe das Landesamt erfahren, dass der Verein bei einem interkulturellen Fest eine jugendgefährdende Schrift verteilt habe und als Prüfstelle für Studenten einer "Online-Universität" des Islamisten Bilal Philips fungierte.

Ein vom Verfassungsschutz angefertigtes "Behördenzeugnis" beschreibe weitere Sachverhalte, sagte Placzek. Einzelheiten aus dem Papier könne er jedoch nicht nennen. Hinweise auf eine unmittelbare Beeinflussung der betreuten Kinder mit radikalem Gedankengut gebe es nicht.

Mit der Stadt Mainz gebe es Absprachen darüber, wie die Betreuung der derzeit 22 in der Einrichtung betreuten Kinder künftig organisiert werden könne. Nach Placzeks Angaben ist der Mainzer Al-Nur-Kindergarten der erste in der rheinland-pfälzischen Landesgeschichte, der von den Behörden wieder geschlossen werden musste. Der Verein hatte in der Vergangenheit alle Vorwürfe zurückgewiesen und kann gegen die Entscheidung Rechtsmittel einlegen.



Geldleistungen

Mehr Behinderte im Rheinland organisieren Hilfen selbst



Im Rheinland erhalten immer mehr Menschen mit Behinderung Geld anstelle von Sachleistungen vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) und organisieren ihre Hilfen selbst. 1.118 Menschen nutzten im Jahr 2017 das "Persönliche Budget", wie der Verband am 11. Februar in Köln mitteilte. Das seien mit 235 Menschen 27 Prozent mehr als im Jahr 2015. Bei Erstanträgen stieg die Zahl den Angaben zufolge sogar um 94 Personen (64 Prozent).

Die Menschen nutzten das Geld etwa für den Einsatz und die Bezahlung von Haushalts- oder Mobilitätshelfern. Der LVR zahlte 2017 insgesamt 29 Millionen Euro aus. Für 2018 geht der Verband von einem weiteren Anstieg aus. Das persönliche Budget sei ein großer Schritt zu mehr Selbstbestimmung und Selbstständigkeit.

Das Geld werde nahezu vollständig für Leistungen der sozialen Teilhabe genutzt, hieß es. Der Löwenanteil von 85 Prozent des genutzten persönlichen Budgets entfalle auf ambulante und stationäre Wohnleistungen. Zum Stichtag 31. Dezember erhielten laut LVR 34.700 Menschen im Rheinland ambulante und 21.900 Menschen stationäre Wohnhilfen. Nur 2,8 Prozent von ihnen nutzten aber das persönliche Budget. Seit 2015 sei der Anteil hier um 0,3 Prozentpunkte pro Jahr gestiegen, hieß es. Vor allem Jüngere nutzten die Geldleistungen. 40 Prozent der Nutzer seien Menschen mit psychischer Behinderung, weitere drei Prozent seien suchtkrank. 41 Prozent von ihnen hätten eine geistige, 15 Prozent eine körperliche Behinderung.



Bayern

Mehr Schutz für von Gewalt betroffene Frauen



Die bayerische Landesregierung will das Hilfesystem für von Gewalt betroffene Frauen deutlich ausbauen. 24 Millionen Euro zusätzlich stehen dafür im Doppelhaushalt 2019/20 zur Verfügung, wie Sozialministerin Kerstin Schreyer (CSU) am 13. Februar in München mitteilte. Als nächster Schritt sollen nun die Frauenhäuser besser ausgestattet werden, um Frauen vor häuslicher und sexualisierter Gewalt zu schützen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband begrüßte die Kabinettsentscheidung.

Bereits im vergangenen Jahr hatte Schreyer mit der Umsetzung ihres "Drei-Stufen-Plans" begonnen. Danach sollen die Frauenhäuser mehr Plätze bekommen, zudem soll das Personal in Frauenhäusern, Notrufen und Fachberatungsstellen aufgestockt werden. Der Ministerin zufolge sollen die Verbesserungen mit den zuständigen Kommunen abgestimmt werden.

In der dritten Stufe soll dann ein umfassendes Programm zur Gewaltprävention erarbeitet werden, das sich nicht nur auf körperliche und sexualisierte Gewalt beschränke, hieß es. Die Formen von Gewalt in der Gesellschaft würden vielschichtiger. Es gelte, sich neuer Ausprägungen wie etwa seelischer und digitaler Gewalt anzunehmen.

"Endlich wird die seit langem überfällige Wende in der Unterstützung gewaltbetroffener Frauen eingeleitet", sagte Margit Berndl, Vorstand des Paritätischen. Mit dieser Entscheidung beende die Staatsregierung die "deutliche Unterversorgung".




sozial-Branche

Behinderung

Taub und ausgeschlossen




Der gehörlose Sascha Nuhn im Gespräch mit Dolmetscherin Martina Ströhmann
epd-bild/Thomas Rohnke
Wer ihnen auf der Straße begegnet, sieht ihnen ihre Einschränkung nicht an: Gerade wegen ihrer unsichtbaren Behinderung müssen Gehörlose noch immer für gesellschaftliche Teilhabe kämpfen. Auf Barrieren stoßen sie schon beim Zeitunglesen.

Irgendwann hat Sascha Nuhn es aufgegeben, auf große Familienfeiern zu gehen. Seine Verwandten können ihn einfach nicht verstehen, sagt der 41-Jährige. Nuhn wurde als gehörloses Kind von hörenden Eltern geboren, in seiner Familie kann niemand außer ihm die Gebärdensprache. "Mit zwölf, dreizehn Jahren saß ich auf den Feiern alleine in der Ecke und habe Gameboy gespielt", sagt er. Gehörlose fühlten sich oft nicht dazugehörig, sowohl im privaten als auch im beruflichen und gesellschaftlichen Umfeld.

In Deutschland leben nach Angaben des Deutschen Gehörlosen-Bundes 80.000 Gehörlose und 140.000 hörbehinderte Menschen, die im Alltag auf Gebärdensprach-Dolmetscher angewiesen sind. Gehörlosigkeit werde in 15 Prozent der Fälle vererbt. In den meisten Fällen entsteht sie laut Gehörlosen-Bund durch Erkrankungen, Medikamentenschädigung oder Probleme während der Geburt.

Ziel ist Anpassung an die hörende Gesellschaft

Bei Sascha Nuhn wurde die Behinderung im Alter von zwei Jahren entdeckt. Seine Eltern schickten ihn zum Logopäden, er sollte sprechen lernen. Auch in speziellen Förderschulen sei der Fokus lange auf das Erlernen der deutschen Sprache und das Trainieren des Restgehörs gesetzt worden, sagt der Frankfurter, der sich beim Hessischen Verband für Gehörlose und hörbehinderte Menschen engagiert. "Die Gehörlosenpädagogik in Deutschland wurde von Hörenden entwickelt", erklärt er. Das Ziel sei eine Anpassung der Kinder an die hörende Gesellschaft gewesen.

Noch heute ist es nach Angaben des Goethe-Instituts keine Selbstverständlichkeit, dass taube Kinder in Gebärden unterrichtet werden. Die Schüler müssten dann von den Lippen ablesen. "Das ist nicht nur extrem anstrengend, sondern auch ungenau", sagt Nuhn. Selbst erfahrene Lippenleser erkennen nur etwa 30 Prozent des Gesprochenen eindeutig, die restlichen 70 Prozent müssen erraten werden.

Viele Betroffene haben Lese-Rechtschreibschwäche

Durch diese Kommunikationsbarriere gingen Inhalte verloren, sagt Nuhn. Dazu hätten viele Gehörlose eine Lese-Rechtschreibschwäche, weil sich die Grammatik der Gebärdensprache so grundlegend von der der deutschen Schriftsprache unterscheidet. In Deutschland schafften nur wenige Taube einen Realschulabschluss. Im Ausland sei das anders: In den USA gebe es in Washington beispielweise eine Universität für Gehörlose mit rund 40 Bachelorprogrammen.

Nach der Schule haben es Taube laut Nuhn, der als einziger Gehörloser deutschlandweit in einem Stadtparlament sitzt, schwer, einen Ausbildungsplatz und eine gute Anstellung zu finden. "Ein Großteil arbeitet in Berufen, in denen Kommunikation nicht so wichtig ist", sagt er. Vielen Gehörlosen fehle im Bewerbungsgespräch das Selbstvertrauen, Arbeitgebern die Erfahrung.

Grundsätzlich stünden Gehörlosen nach Angaben der Integrationsämter viele Berufsbilder offen - unter den richtigen Voraussetzungen. Dazu gehörten unter anderem günstige Lichtverhältnisse, um das Lippenlesen zu erleichtern und technische Arbeitshilfen wie optische Signale an Maschinen. Genaue Zahlen zur Arbeitslosigkeit unter Gehörlosen gibt es der Agentur für Arbeit zufolge nicht. Schwerbehinderte seien aber generell häufiger arbeitslos als Menschen ohne Beeinträchtigung.

Nur wenige Museen sind für Gehörlose barrierefrei

Privat sei es für Menschen mit Hörbehinderung ebenso schwierig, etwas Neues zu lernen, sagt Nuhn. So seien nur wenige Museen für Gehörlose barrierefrei. Zeitungs- und Zeitschriftenartikel seien für Gehörlose aufgrund der weit verbreiteten Lese-Rechtschreibschwäche nur schwer verständlich. "Viele lesen die 'Bild', weil sie einfach geschrieben ist und Schlagwörter markiert werden." Auch die Untertitel im Fernsehen seien in der in Deutschland üblichen Blockform nicht ideal, insbesondere bei Live-Übertragungen.

Nuhn fordert, dass mehr Informationen in Gebärdensprachvideos übersetzt und mehr Fernsehübertragungen live gedolmetscht werden. Zudem müssten Hörende schon im Kindergarten und in der Schule für den Umgang mit Gehörlosen sensibilisiert werden. "Wenn beide Seiten offen an ein Gespräch herangehen, kann der Austausch zwischen Hörenden und Gehörlosen gut funktionieren."

Jana-Sophie Brüntjen


Behinderung

Hintergrund: Lautsprachlich oder gebärdensprachlich?



Seit Jahrhunderten herrscht ein Methodenstreit in der Gehörlosenpädagogik: Sollen taube Kinder in der Lautsprache oder der Gebärdensprache unterrichtet werden?

Der Streit darüber, in welcher Sprache Gehörlose unterrichtet werden sollen, wurde ironischerweise lange hauptsächlich zwischen Hörenden geführt. Ursprung des Konflikts sind die Unterschiede zwischen der vom Abbé de l’Epée entwickelten gebärdensprachlich orientierten "französischen Methode" und der lautsprachlich ausgerichteten "deutschen Methode" von Samuel Heinicke.

Lange glaubten die Menschen nach Angaben des Gehörlosenverbandes Hamburg, Gehörlose seien bildungsunfähig. "Wer nicht hören und nicht sprechen kann, kann auch nicht denken", soll der Philosoph Aristoteles gesagt haben. Im 16. Jahrhundert wurden trotz dieser Vorurteile erste Ansätze für den Unterricht von Gehörlosen entwickelt. Erste Fingeralphabete und Gebärden waren zuvor bereits von Mönchen entwickelt worden, die ein Schweigegelübde abgelegt hatten.

Erste Gehörlosenschule 1760 in Paris

Lange wurden gehörlose Kinder hauptsächlich von Hauslehrern unterrichtet, der Unterricht war also wohlhabenden Familien vorbehalten. Im 18. Jahrhundert wurden die ersten Gehörlosenschulen in Europa eröffnet. 1760 gründete der Abbé de l’Epée, ein französischer Theologe und Anwalt, in Paris die erste dieser Schulen in Europa. 18 Jahre später eröffnete der Pädagoge Samuel Heinicke in Leipzig das "Chursächsische Institut für Stumme und andere mit Sprachgebrechen behaftete Personen".

Während de l’Epée aus natürlichen Gesten und grammatischen Zeichen die erste französische Gebärdensprache entwickelte, betrachtete Heinicke Gebärden als minderwertiges Hilfsmittel. Stattdessen setzte er den Fokus auf das Lernen der richtigen Aussprache der Lautsprache. Dies nahm viel Zeit in Anspruch, der Inhalt musste auf das Nötigste beschränkt werden. Die französischen Schüler erwarben hingegen mit Hilfe von Gebärden und dem Fingeralphabet mehr Wissen, konnten sich aber schlechter mit Hörenden verständigen.

Schon de l’Epée und Heinicke stritten in Briefen um die richtige Methode. Über die Jahre haben beide Lager verschiedene Argumente für die von ihnen bevorzugte Methode gesammelt. Die lautsprachliche Methode sei die einzige Möglichkeit, gehörlose Kinder zur Sprache zu bringen und in die hörende Welt zu integrieren, sagen die einen. Die Gebärdensprache sei besser für den Erwerb von Wissen und die Vermittlung sozialer Normen, sagen die anderen. Darüber hinaus seien Gebärden hilfreich beim Erlernen der Laut- und Schriftsprache.

Eine entscheidende Wende gab es nach Angaben des Instituts für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser beim Mailänder Kongress von 1880: Bei diesem zweiten internationalen Kongress der Gehörlosenlehrer erlangten die Verfechter der lautsprachlichen Methode einen Sieg. Über ein Jahrhundert lang wurden Gebärden aus dem Gehörlosenunterricht verbannt. Gehörlose waren nicht zum Kongress eingeladen.

Verschiedene Konzepte vereinen

Inzwischen wurden verschiedene Konzepte entwickelt, die beide Ansätze vereinen. Ein Beispiel sind lautsprachbegleitende Gebärden, die parallel zur Lautsprache verwendet werden und bei denen, anders als bei der Gebärdensprache, die Grammatik der gesprochenen Sprache beibehalten wird.

Ein anderes Konzept ist die bilinguale Methode, wie vom Weltverband der Gehörlosen beschrieben: Hierbei wird die Gebärdensprache als Erstsprache und die Lautsprache als Zweitsprache unterrichtet. Gehörlose Kinder sollen sich so in beiden Welten zurechtfinden können - in der Welt der Tauben und der Welt der Hörenden.

Jana-Sophie Brüntjen


Sozialgeschichte

Marie Juchacz: Vom Dienstmädchen zur Sozialpionierin




AWO-Gründerin Marie Juchacz
epd-bild/AdsD/Friedrich-Ebert-Stiftung
Sie machte als eine der ersten Frauen in Deutschland in der Politik Karriere: die Parlamentsabgeordnete und Sozialpolitikerin Marie Juchacz. Sie gründete 1919 die Arbeiterwohlfahrt, deren Ehrenvorsitzende sie 30 Jahre später wurde.

Marie Juchacz hielt als erste Frau eine Rede vor einem deutschen Parlament. Im Weimarer Nationaltheater betrat die Sozialdemokratin am 19. Februar 1919 die Rednertribüne. Mit den Worten "Meine Herren und Damen" wandte sie sich an die überwiegend männlichen Abgeordneten der erst einen Monat zuvor gewählten Verfassunggebenden Nationalversammlung. Das sorgte für Heiterkeit, wie im Protokoll der Sitzung vermerkt ist.

41 weibliche Abgeordnete in der Nationalversammlung

Juchacz stellte klar: Für das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, seien die Frauen der Regierung keinen Dank schuldig. "Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist." Erst durch die politische Gleichstellung der Frau könne man von einem "neuen Deutschland" sprechen.

Der Chefredakteur des SPD-Parteiblattes "Vorwärts", Friedrich Stampfer, sah in ihrer Rede einen geschichtlichen Augenblick: "Marie Juchacz ist die Frau, die ihre errungenen Rechte mit würdiger Selbstverständlichkeit wahrnimmt." Jahrzehntelang hatten Frauen für das Wahlrecht kämpfen müssen, bis 41 weibliche Abgeordnete im Februar 1919 in die Nationalversammlung einzogen.

Für Marie Juchacz war der Aufstieg in der Politik in keiner Weise vorgezeichnet. Die Tochter eines Handwerksmeisters wurde am 15. März 1879 in Landsberg an der Warthe geboren, dem heutigen polnischen Gorzów Wielkopolski. Die Schulzeit war für sie nach acht Jahren beendet. Ihr älterer Bruder Otto brachte ihre Perspektiven einmal so auf den Punkt: "Haushalt und Fabrik und dann Versorgung durch Heirat, das ist dein Lebensweg." Doch Maries Leben sollte anders verlaufen.

Wärterin in einer Nervenheilanstalt

Die junge Frau verlässt 1906 ihre Heimatstadt, um nach Berlin zu ziehen. Hinter ihr liegt eine kurze, gescheiterte Ehe mit dem Schneidermeister Bernhard Juchacz, mit dem sie zwei Kinder hat. Tatsächlich hatte sie nach der Volksschule zunächst als Dienstmädchen gearbeitet, dann kurz in einer Fabrik und schließlich als Wärterin in einer Nervenheilanstalt.

Als sie genügend Geld gespart hat, macht sie eine Ausbildung zur Schneiderin. Ihre beiden kleinen Kinder Lotte und Paul nimmt sie nach der Trennung von ihrem Mann mit nach Berlin. Ihre jüngere Schwester Elisabeth kommt mit - auch sie wird 1919 als SPD-Abgeordnete in die Nationalversammlung einziehen. Gemeinsam erziehen die beiden Frauen die Kinder. Den Lebensunterhalt verdienen sie in Heimarbeit mit Nähen.

In der Reichshauptstadt engagieren die Schwestern sich zunächst in einem Frauenbildungsverein, der Leseabende organisiert. Sie lernen, Versammlungen zu leiten und Reden zu halten. Als 1908 in Preußen das Verbot der politischen Betätigung für Frauen fällt, tritt Marie Juchacz in die SPD ein.

Frauensekretärin im SPD-Parteivorstand

Obwohl sie sich nie in den Vordergrund drängt, wird sie bald zu einer gefragten Rednerin. 1913 geht sie hauptberuflich in die Politik und übernimmt die Stelle einer SPD-Frauensekretärin für die Obere Rheinprovinz in Köln. Das Nähen kann sie nun endlich aufgeben. 1917 wird Juchacz Frauensekretärin im SPD-Parteivorstand in Berlin.

Auf einem Abgeordnetenfoto aus dem Jahr 1919 sieht man sie am Schreibtisch sitzen. Ernst und entschlossen blickt sie mit großen, braunen Augen in die Kamera, das dunkle Haar ist in der Mitte gescheitelt.

Als Juchacz mit knapp 40 Jahren in die Nationalversammlung einzieht, kennt sie die sozialen Probleme ihrer Zeit aus eigener Erfahrung. Sie hat Erfahrungen in der Armenpflege und ist dem Elend der Kriegswitwen und Waisenkinder, der Arbeitslosen und Invaliden begegnet. Und sie ist entschlossen, auch als Abgeordnete zur Linderung der sozialen Not beizutragen.

Auf einem anderen Foto aus dem gleichen Jahr sieht man die große, schlanke Frau im Mantel auf einem Balkon stehen, wo sie eine Rede vor einer Menschenmenge hält. "Sie hatte eine starke und schöne Stimme, die sie gut zu gebrauchen wusste", schrieb ihr Neffe und Biograf Fritzmichael Roehl. "Wenn ihr auch - zumindest im Beginn ihrer Laufbahn - eine gewisse Schlagfertigkeit mangelte und wenn es ihr auch nicht gegeben war, zündende, die Massen mitreißende Reden zu halten, so sprach sie doch eindringlich und wirkungsvoll und gewann damit ihre Hörer."

Idee der Selbsthilfe

Schon in ihrer ersten Parlamentsrede definierte Marie Juchacz die Sozialpolitik als große Aufgabe der Frauen in der Politik. Im Dezember 1919 rief sie darum den Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt (AWO) in der SPD ins Leben. Im Vordergrund stand die Idee der Selbsthilfe innerhalb der Arbeiterschaft. Die Organisation, die sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten auflöste, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergegründet und existiert bis heute.

Im Jahr 2017 errichtete die AWO unweit des Mehringplatzes in Berlin-Kreuzberg ein Denkmal für ihre Gründerin. "Marie Juchacz setzte sich ihr Leben lang für diejenigen ein, die in der Gesellschaft keine Stimme hatten", würdigt sie der AWO-Bundesvorsitzende Wolfgang Stadler.

"Niemals habe ich mich zu einem Amt gedrängt", schrieb die Sozialpionierin selbst über sich. "Ich wurde immer irgendwie aufgespürt, für eine Funktion ausgesucht und vorgeschlagen oder gerufen."

Bis 1933 war Marie Juchacz Reichstagsabgeordnete, Mitglied des SPD-Parteivorstandes und Vorsitzende der AWO. Nach der Machtübernahme Hitlers ging sie ins Exil. 1949 kehrte sie aus den USA nach Deutschland zurück und begleitete als Ehrenvorsitzende den Wiederaufbau der AWO. Sie starb am 28. Januar 1956 im Alter von 76 Jahren in Düsseldorf.

Jürgen Prause


Familie

Jedes sechste Kind lebt mit süchtigen Eltern




Ein Mann setzt sich eine Spritze.
epd-bild/Christoph Papsch
Scham, Druck, Angst: Wenn Eltern Drogen nehmen, leiden darunter auch die Kinder. Rund drei Millionen Kinder leben Schätzungen zufolge in Deutschland in Suchtfamilien, ihr Leiden bleibt oft unentdeckt. Hilfsorganisationen fordern bessere Aufklärung.

Eines von sechs Kindern lebt Schätzungen zufolge in Deutschland in einer Suchtfamilie. Rund drei Millionen Jungen und Mädchen wachsen bundesweit mit mindestens einem alkohol- oder drogenabhängigen Elternteil auf, wie der Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbandes, Rolf Rosenbrock, am 11. Februar in Berlin sagte. Die Kinder litten nicht nur an der Krankheit selbst, sondern auch an der Stigmatisierung und Tabuisierung der Erkrankung ihrer Eltern. Langfristig könne dies zu schweren psychischen Störungen führen.

Unter massivem Druck

Um dem entgegenzuwirken, startete am 10. Februar die zehnte bundesweite "Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien". Veranstaltungen in mehr als 60 Städten wiesen nach den Angaben auf das Schicksal der betroffenen Kinder hin. Der Verein Nacoa als Initiator der Aktionswoche forderte zudem ein flächendeckendes und regelfinanziertes Hilfesystem für die Kinder. Die Aktionswoche findet zeitgleich auch in den USA, in der Schweiz und in Großbritannien statt.

Kinder aus Suchtfamilien suchten sich oft keine Hilfe, sagte Rosenbrock. Gründe seien Scham oder Angst vor Konsequenzen: "Stattdessen übernehmen sie Rollen, die weder ihrem Entwicklungsstand noch ihren Kräften entsprechen." Als Folge würden sie oftmals selbst abhängig. Zudem seien sie stark gefährdet, eine psychische Krankheit oder soziale Störung zu entwickeln.

Katharina Balmes, Vorstandsmitglied des Hamburger Vereins Sucht(t)- und Wendepunkt, berichtete von einem großen Druck, unter dem die betroffenen Kinder stehen: "Sie kümmern sich oft um ihre jüngeren Geschwister, gehen einkaufen und schmeißen den Haushalt." Viele Kinder suchten die Schuld für die Erkrankung der Eltern bei sich selbst: "Sie sind mehr darauf bedacht, wie es den Eltern geht, als wie sie sich fühlen."

Keine verlässliche Finanzierung

Besonders in Familien mit Alkoholproblemen ist laut Balmes zudem Gewalt weit verbreitet: "Dabei geht es nicht nur um körperliche Gewalt, sondern auch verbale." Manche Kinder zögen sich als Folge zurück, andere würden aggressiv oder spielten den Klassenclown. Nur etwa ein Drittel der Kinder trage keine langfristigen Schäden davon. "Das sind wahrscheinlich die Kinder, die einen stabilen Ansprechpartner außerhalb der Familie hatten", sagte sie.

Hilfsvereine hätten aber oftmals keine Planungssicherheit, kritisierte Balmes. Grund sei eine unsichere Finanzlage, oftmals müssten sich die Organisationen auf Spenden verlassen. Eine verlässliche Finanzierung sei aber entscheidend, um die Kinder lückenlos betreuen zu können. Generell würde die Situation der Kinder nur bei einem Bruchteil erkannt - wenn sie zum Beispiel zufällig an einen erfahrenen Jugendamtsmitarbeiter geraten: "Etwas so Grundlegendes wie Hilfe sollte aber nicht von Glück abhängen."

Viele Jahre versäumt

Rosenbrock sagte: "Es ist an der Zeit, dieses stille Leiden öffentlich wahrzunehmen." Dabei sei auch die Politik gefragt: Bereits 2017 habe der Bundestag beschlossen, dass Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern in Deutschland Hilfe bekommen sollen. Dazu gehörten Aufklärungskampagnen sowie Aus- und Weiterbildungen für Erzieher, Lehrer, Ärzte und Psychotherapeuten. "Wichtig ist, dass nach all den versäumten Jahren endlich Maßnahmen ergriffen werden", fügte er hinzu.

Henning Mielke vom Verein Nacao betonte die Wichtigkeit von Aus- und Weiterbildung: Nur wenige Mädchen und Jungen könnten ein spezielles Hilfeangebot für Kinder von Suchtkranken nutzen. "Umso wichtiger ist es, dass in jeder Kita und jeder Schule die dort tätigen Menschen in der Lage sind, diese Kinder zu erkennen, zu verstehen und zu unterstützen, damit sie nicht die Süchtigen und psychisch Kranken von morgen werden", unterstrich Mielke.

Jana-Sophie Brüntjen


Studie

Gesundheitsmarkt im Fokus ausländischer Investoren



Der deutsche Gesundheitssektor ist nach Angaben von Arbeitsforschern und Sozialwissenschaftlern zu einer der wichtigsten Zielbranchen von kapitalstarken privaten Finanzinvestoren geworden. "Die Dynamik hat insbesondere in den letzten Jahren zugenommen", erklärte Sebastian Merkel vom Institut Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen am 13. Februar.

Gemeinsam mit Christoph Scheuplein und Michaela Evans untersuchte er Geschäftsmodelle vornehmlich ausländischer Investoren, die darauf basieren, Krankenhäuser, Arztpraxen, Pflegeheime und -dienste zu kaufen, zu restrukturieren und wieder zu verkaufen. Rund 130 Übernahmen im Gesundheitssektor gab es demnach seit dem Jahr 2013, davon 60 Prozent allein in den zurückliegenden zwei Jahren.

Renditen fließen ins Ausland ab

Vor allem Pflegeheime und Pflegedienste stünden im Fokus von sogenannten Private-Equity-Gesellschaften, lautet ein Ergebnis der IAT-Untersuchung. Der Pflegebereich stelle den wirtschaftlich wichtigsten Bereich der Übernahmen dar - mit rund 37.000 und damit mehr als der Hälfte aller Beschäftigen in den übernommenen Unternehmen. Die Forscher betonten, dass für die betroffenen Beschäftigten die Eigentümerwechsel und die möglichen Folgen häufig nicht transparent seien. "Gerade in der Altenpflege ist es problematisch, wenn Spielräume der Lohngestaltung und des Personalbesatzes genutzt werden und die ohnehin knappen Ressourcen als Renditen ins Ausland abfließen", erklärte Arbeitsforscherin Evans.

Übernahmen von privaten Finanzinvestoren bedeuteten eine starke Internationalisierung der Eigentümerstrukturen, hieß es. Während die ursprünglichen Eigentümer der Gesundheitseinrichtungen überwiegend ihren rechtlichen Sitz in Deutschland hatten, treffe dies nur auf etwa ein Drittel der Käufer zu. Alle Erfahrungen mit Private Equity in Deutschland zeigten, dass dies nur wenig gemildert werde, wenn die Investoren ihre Unternehmen weiter verkauften, erklärte der Sozialwissenschaftler Scheuplein.

Überwiegend würden die Übernahmen von fonds-basierten Gesellschaften aus europäischen Ländern und aus den USA getätigt. Zwei Drittel der beteiligten Fonds hatten demnach ihren rechtlichen Sitz in einem sogenannten Offshore-Finanzzentrum, vor allem auf den karibischen Kaimaninseln und auf der Ärmelkanal-Insel Guernsey, wohin die im deutschen Gesundheitssektor erzielten Gewinne abfließen.

Auch bei Facharztpraxen sei der Anfang eines Übernahme-Prozesses zu beobachten, erklärten die IAT-Forscher. Neben der Radiologie und der Augenheilkunde sei ein Beispiel auch die Zahnmedizin mit dem Aufbau von Zahnarzt-Ketten. Es gebe zwar erst sieben in Deutschland, doch allein drei von ihnen hätten erst im vergangenen Jahr ihren Expansionsprozess begonnen. Es entstünden integrierte Konzerne, bei denen alle Aktivitäten von der Zahnersatzherstellung über Labore bis zur Patientenversorgung angeboten werden.



Kirchen

Bundeszuschuss für deutsche Seemannsmissionen soll verdoppelt werden



Die evangelische Deutsche Seemannsmission begrüßt die geplante Erhöhung des Bundeszuschusses für die soziale Arbeit der beiden großen Kirchen zugunsten von Seeleuten in inländischen Häfen. "Wir sind überglücklich, dass die Arbeit im Inland anerkannt wird - das schafft finanzielle Stabilität", sagte Präsidentin Clara Schlaich am 14. Februar dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Bremen. Der federführende Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales hatte am Tag zuvor einer entsprechenden Reform des deutschen Seearbeitsgesetzes zugestimmt. Nun muss noch der Bundestag dem Entwurf zustimmen.

Nach einem Vorschlag der großen Koalition soll der Bundeszuschuss für die Deutsche Seemannsmission und die katholische Seemannsmission "Stella Maris" von jährlich 500.000 Euro rückwirkend zum 1. Januar auf eine Million Euro verdoppelt werden. Während CDU/CSU, SPD, Linke und Grüne dafür stimmten, enthielten sich die Vertreter von AfD und FDP. Der AfD-Fraktion erscheint der Zuschuss zu gering. Für die FDP-Fraktion bleiben Fragen offen, beispielsweise über den Bedarf des kirchlichen Engagements für Seeleute in ausländischen Häfen.

"Auslandsstationen in finanziellen Nöten"

Laut Seearbeitsübereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) aus dem Jahr 2006 müssen die Unterzeichnerstaaten in ihren Seehäfen Sozialeinrichtungen für Seeleute vorhalten. In den deutschen Seehäfen übernehmen diese Aufgabe die kirchlichen Seemannsmissionen, die dafür Seemannsheime und -klubs unterhalten. Der Bund muss deshalb keine eigenen Einrichtungen schaffen, beteiligt sich aber an der Finanzierung.

Die 16 Inlandsstationen und die Geschäftsstelle der Deutschen Seemannsmission in Bremen teilen sich zusammen mit einer Station von "Stella Maris" den Zuschuss. Dass es bisher keine Bundesförderung der 16 Auslandsstationen der Deutschen Seemannsmission gebe, sei ein Wermutstropfen, sagte Schlaich. Sie seien "in großen finanziellen Nöten". So sei zum Ende des Jahres bereits die Schließung der Station im finnischen Mäntyluoto beschlossen.

Zum weltweiten Netzwerk der Deutschen Seemannsmission gehören derzeit noch 32 Stationen im In- und Ausland. Die Arbeit wird aus Kirchensteuern, öffentlichen Mitteln, Spenden und freiwilligen Schiffsabgaben der Reeder finanziert. Mehr als 700 Haupt- und Ehrenamtliche leisten im Auftrag der Organisation und ihrer angeschlossenen Vereine auf Schiffen, in Seemannsklubs und in Seemannsheimen auf mehreren Kontinenten Seelsorge und Sozialarbeit an Seeleuten aus aller Welt.



Pflege

Bundesbeauftragter Westerfellhaus lobt Modellprojekt Nordhorn



Das Modellprojekt eines regionalen Pflegekompetenzzentrums im niedersächsischen Nordhorn ist aus Sicht des Pflegebeauftragten der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, "im Ansatz vielversprechend". Es könne sich als Blaupause für eine gute pflegerische Versorgung in dünner besiedelten Gebieten erweisen, sagte Westerfellhaus am 11. Februar bei einem Forum der DAK-Krankenkasse in Hannover.

Im Gebäude des ehemaligen katholischen Marienkrankenhauses in Nordhorn an der niederländischen Grenze entsteht unter Führung der DAK ein Zentrum, das unter einem Dach unterschiedliche Akteure der Pflege zusammenbringt. Ihre Aufgaben sind Pflegeberatung, ambulante Pflege, stationäre Pflege, medizinische Versorgung sowie Dienstleistungen zur Mobilität und gesellschaftlichen Teilhabe. Das Projekt wird mit zehn Millionen Euro aus dem Innovationsfonds des Bundesgesundheitsministeriums gefördert.

Umwandlung von Krankenhäusern

Die Arbeit soll nach Angaben des DAK-Vorstandsvorsitzenden Andreas Storm am 1. Oktober offiziell starten. Partner sind die Universität Osnabrück, der Verein "Gesundheitsregion Euregio" in den Landkreisen Grafschaft Bentheim und Emsland sowie die Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar.

Als regionale Zentren können dem Konzept zufolge Krankenhäuser genutzt werden, die von der Schließung bedroht sind. So wurde das Marienkrankenhaus bereits in ein Pflegeheim umgewandelt. Möglich sei es aber auch, bestehende Krankenhäuser entsprechend zu ergänzen, sagte DAK-Vorstandschef Storm.

Eine wichtige Rolle im Projekt spielen technische Innovationen. Frank Teuteberg, Wirtschaftsinformatiker an der Uni Osnabrück, nannte als Beispiel eine Internet-basierte Plattform, über die Patientendaten ausgetauscht werden sollen. Weitere Anwendungsmöglichkeiten sind der Einsatz von Datenbrillen im telemedizinischen Kontakt mit Ärzten und Sensoren, die Patienten unter die Haut implantiert werden, um Blutwerte zu überwachen.

"Gerade in ländlichen Regionen ist es wichtig, dass die vielen Akteure der Pflege reibungslos ineinandergreifen", sagte Storm. Dabei könne digitale Technik helfen.



Gesundheit

Johanniter sehen Rettungsdienste in NRW in Gefahr



Die Johanniter-Unfall-Hilfe sieht die Zukunft der Rettungsdienste in Nordrhein-Westfalen in Gefahr. Zu befürchten sei "ein erheblicher Mangel an Rettungskräften", sagte Richard Krings vom Landesverband der Johanniter dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Köln. Aufgrund veränderter rechtlicher Bestimmungen müsse ein großer Teil der jetzigen Mitarbeiter zwingend eine Zusatzprüfung absolvieren. "Doch zahlreiche Krankenkassen weigern sich, die Kosten für die Lehrgänge zu übernehmen, obwohl sie dazu gesetzlich verpflichtet sind", kritisierte der Fachbereichsleiter für die Einsatzdienste.

Mit dem Problem haben nach seinen Worten auch andere Rettungsdienstanbieter wie das Deutsche Rote Kreuz oder die Malteser in NRW zu kämpfen. Hintergrund sei eine Reform des Berufsbildes im Rettungswesen, erläuterte Krings. "Es wurde der Beruf des Notfallsanitäters geschaffen, der im Vergleich zu den bisherigen Rettungsassistenten eine längere Ausbildung durchläuft und auch über mehr Kompetenzen verfügt." Dieser könne Maßnahmen ergreifen, die die frühere Rechtslage nicht erlaubt habe, beispielsweise Medikamente verabreichen.

Petition mit mehr als 11.000 Unterschriften

Zugleich lege das Gesetz aber auch fest, dass die bisherigen Rettungsassistenten, um weiterhin tätig sein zu dürfen, eine Zusatzqualifikation benötigen. "Und die muss bis Ende 2020 abgeschlossen sein", sagte der Experte. Ansonsten bestehe nur die Möglichkeit, eine komplette, dreijährige Ausbildung zu absolvieren. Das komme für die meisten Mitarbeiter jedoch kaum in Betracht.

Um auf das Problem aufmerksam zu machen, haben die Rettungsdienste NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann eine Petition mit mehr als 11.000 Unterschriften überreicht. Darin werde der CDU-Politiker aufgefordert, die Krankenkassen zum Einlenken zu bewegen, damit endlich auch in NRW flächendeckend Notfallsanitäter ausgebildet werden können.

Die Gesetzesreform selbst bringe für den Beruf viele Vorteile mit sich, sagte der Fachbereichsleiter. Mit der verlängerten Ausbildungsdauer von zwei auf drei Jahre werde eine Durchlässigkeit zu anderen Gesundheitsberufen geschaffen. Das sei vor allem auch deshalb wichtig, weil viele Kolleginnen und Kollegen aufgrund der Belastung, die der Rettungsdienst mit sich bringe, diese Arbeit nicht bis zum Rentenalter ausüben könnten.



Ausbildung

Ausbau der Studienkapazitäten für Pflegelehrkräfte gefordert



Der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen trifft nach Angaben des Bundesverbandes Lehrende Gesundheits- und Sozialberufe (BLGS) zunehmend auch die Berufsgruppe der Lehrerinnen und Lehrer in der gesundheitsberuflichen Bildung. Viele Ausbildungsstätten leiden unter dem anhaltenden Mangel und können ihre Stellen kaum noch mit qualifiziertem Personal besetzen, wie der Verband am 6. Februar in Berlin mitteilte.

Der Verband verweist dazu auf Zahlen aus Hessen. Die dortige Landesregierung habe bereits 2017 berichtet, dass 95 Prozent der Krankenpflegeschulen und 66 Prozent der Altenpflegeschulen Probleme damit hätten, Lehrerstellen zu besetzen. Die Lage werde noch dadurch verschärft, dass in den kommenden fünf Jahren etwa 40 Prozent der Lehrkräfte altersbedingt aus dem Beruf ausscheiden. Zugleich soll nach den Zielvereinbarungen der "Konzertierten Aktion Pflege" der Bundesregierung die Zahl der Auszubildenden bis 2023 bundesweit um mindestens zehn Prozent steigen.

Der Bundesverband Lehrende Gesundheits- und Sozialberufe fordert einen massiven Ausbau pflegepädagogischer Studiengänge auf Masterniveau an staatlichen Hochschulen. "Allerdings haben die Länder die hierfür dringend notwendigen Investitionen bislang weitgehend verweigert", kritisierte der BLGS-Vorsitzende Carsten Drude.



Auszeichnung

10.000 Euro von Plansecur-Stiftung für Kinderhospizdienst



Der ambulante Kinder- und Jugendhospizdienst Kassel erhält den diesjährigen Förderpreis der Plansecur-Stiftung für sein herausragendes soziales Engagement. Die Stiftung habe die Arbeit des Dienstes schon seit zehn Jahren jährlich mit kleineren Beiträgen unterstützt und wolle nun mit dem Preis ihre besondere Wertschätzung für die Mitarbeiter und ehrenamtlichen Helfer hervorheben, sagte die Stiftungsvorsitzende Anette Trayser am 7. Februar in Kassel.

"Die Öffentlichkeit schaut nicht so gern auf solche Dinge", wies Trayser auf die Ausgrenzung der Themen Krankheit und Tod aus dem alltäglichen Leben hin. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert. Derzeit betreuen die drei hauptamtlichen und über 55 ehrenamtlichen Mitarbeiter des 2006 gegründeten Dienstes nach eigenen Angaben 30 Familien, deren Kinder lebensverkürzend erkrankt sind.

Zusammen mit ihrem Vorgängerverein "Planimpuls für engagierte Hilfe" hat die Plansecur-Stiftung seit 1989 insgesamt rund 1.500 Projekte mit rund vier Millionen Euro gefördert. Der Förderpreis wird zum 28. Mal verliehen. Die drei Ziele der Stiftung sind die Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Familien, die Förderung des wirtschaftsethischen Denkens sowie die Stärkung des christlichen Menschenbildes in Medien und Kultur.




sozial-Recht

Oberverwaltungsgericht

Ambulant betreute Pflege-WG in reinem Wohngebiet zulässig




Bewohnerin einer Senioren-WG in ihrem Zimmer
epd-bild/Jürgen Blume
Eine Wohngemeinschaft mit ambulant betreuten, pflegebedürftigen Menschen ist in einem reinen Wohngebiet erlaubt. Nach einem Gerichtsurteil ist hierfür entscheidend, dass die WG "selbst organisiert" ist.

In einem reinen Wohngebiet dürfen ambulant betreute, pflegebedürftige Menschen in einer Wohngemeinschaft wohnen. Nach der bundesweit geltenden Baunutzungsverordnung können auch Wohngebäude in einem reinen Wohngebiet erlaubt sein, die "ganz oder teilweise der Betreuung und Pflege ihrer Bewohner dienen", teilte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Rheinland-Pfalz am 6. Februar zu einem kürzlich veröffentlichten Beschluss mit. Die Koblenzer Richter lehnten in ihrer Entscheidung damit die Zulassung zur Berufung ab.

Anwohner wollen Pflege-WG verhindern

Im konkreten Fall ging es um eine Wohngemeinschaft mit neun überwiegend pflegebedürftigen älteren Menschen. Die WG hatte eine Ökumenische Sozialstation mit einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung beauftragt. Das im Schichtdienst arbeitende Pflege-und Betreuungspersonal erbrachte hauswirtschaftliche Unterstützungsleistungen und förderte das Gemeinschaftsleben. Einzelne WG-Bewohner hatten die Sozialstation zusätzlich mit unterschiedlichen Pflegeleistungen wie Hilfen bei der Morgen- und Abendtoilette beauftragt.

Anwohner wollten die Pflege-WG jedoch nicht dulden. Es handele sich hier um eine Pflegeeinrichtung. Diese sei nach der Baunutzungsverordnung 1977 in einem reinen Wohngebiet nicht erlaubt. Die Bewohner würden nicht in der WG "wohnen", sondern seien dort "untergebracht". Das Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstraße urteilte, dass in der Pflege-WG durchaus "gewohnt" werde und diese daher in einem reinen Wohngebiet erlaubt sei.

Selbstbestimmt und freiwillig

Die wegen der Nichtzulassung der Berufung eingelegte Beschwerde wies das OVG nun zurück. Zwar seien Pflegeheime, bei denen der "Versorgungs-, Pflege und Betreuungscharakter im Vordergrund" stehe, nach den geltenden Regelungen in einem reinen Wohngebiet nicht erlaubt.

Davon sei aber die selbst organisierte Wohngemeinschaft abzugrenzen. Hier lebten die Mitglieder der Gemeinschaft freiwillig in dem Haus, wobei es keine Rolle spiele, "dass der freie Wille zum Teil nur mit Hilfe eines Betreuers umgesetzt" wurde, entschieden die Koblenzer Richter. Für das "Wohnen" im Wohngebiet komme es zudem auf die "selbstbestimmte Häuslichkeit" an. Dies sei hier der Fall.

Die Bewohner hätten ihr eigenes Zimmer mit ihren persönlichen Dingen ausgestattet. Es gebe keine Mehrfachbelegung oder vorgegebene Schlaf- und Ruhezeiten. Feste Essenszeiten existierten auch nicht. Über die Aufnahme neuer WG-Mitglieder werde per Mehrheitsbeschluss entschieden. Die Lebensführung werde hier - anders als von Pflegeeinrichtungen - nicht vorgegeben, befand das OVG.

Es fehlt an der Selbstständigkeit

Das Bundesverwaltungsgericht entschied in einem Beschluss vom 20. Dezember 2016, dass dagegen psychisch kranke Kinder in einem reinen Wohngebiet nicht in einer Wohngruppe untergebracht werden dürfen. Sie würden dort nicht "wohnen".

Wohnen sei durch eine "auf Dauer angelegte Häuslichkeit, Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie Freiwilligkeit des Aufenthalts gekennzeichnet", so das Bundesverwaltungsgericht. Hier könnten die Kinder jedoch die Haushaltsführung und den häuslichen Wirkungskreis nicht selbstständig gestalten. Daher würden sie laut Baurecht in der Wohngruppe auch nicht "wohnen".

Tagespflegeeinrichtung nicht in reinem Wohngebiet

Das Verwaltungsgericht Kassel entschied in einem am 14. Oktober 2013 bekanntgegebenen Beschluss, dass in einem reinen Wohngebiet auch der Bau von Tagespflegeeinrichtungen nicht erlaubt ist. Im konkreten Fall wurde solch eine Einrichtung untersagt, so dass der Projektentwickler sein Vorhaben nachbesserte und nun "betreutes Wohnen" anbieten wollte.

Dies wurde vom Verwaltungsgericht dagegen gebilligt, da die Bewohner dort ihre Haushaltsführung weitgehend selbst gestalten und sich im Gebäude einrichten können.

Az.: 8 A 11049/18 (OVG Koblenz, Pflege-WG)

Az.: 4 B 49.16 (Bundesverwaltungsgericht, psychotherapeutische Wohngruppe)

Az.: 2 L 653/13.KS (Verwaltungsgericht Kassel, Tagespflegeeinrichtung)

Frank Leth


Bundesarbeitsgericht

Firma muss bei fehlerhafter Massenentlassung nicht doppelt zahlen



Bei einem vom Arbeitgeber zu verantwortenden fehlerhaften Verfahren einer Massenentlassung können betroffene Beschäftigte nicht doppelt kassieren. Steht einem Arbeitnehmer wegen der fehlerhaften Massenentlassung ein sogenannter Nachteilsausgleich zu, kann eine ebenfalls vom Betriebsrat ausgehandelte Sozialplan-Abfindung damit verrechnet werden, urteilte am 12. Februar das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt.

Im konkreten Fall hatte ein Arbeitgeber den Betriebsrat über eine beabsichtigte Massenentlassung unterrichtet. Das Betriebsverfassungsgesetz sieht dabei vor, dass Arbeitgeber und Betriebsrat in einer Einigungsstelle über einen Interessenausgleich verhandeln. Der Arbeitgeber wartete jedoch nicht ab, er kündigte bereits vorher allen Arbeitnehmern.

Ein MitKläger zog daraufhin vor das Arbeitsgericht. Dieses sprach dem Beschäftigten wegen des "betriebsverfassungswidrigen Verhaltens" des Arbeitgebers einen Nachteilsausgleich zu. Da der Arbeitgeber die Massenentlassung nicht korrekt vollzogen hatte, habe der Arbeitnehmer einen wirtschaftlichen Schaden erlitten. Damit stehe ihm ein Nachteilsausgleich in Höhe von 16.307 Euro zu. Zwischenzeitlich hatte der Betriebsrat aber noch einen Sozialplan ausgehandelt. Danach hätte der Kläger eine Abfindung in Höhe von 9.000 Euro erhalten. Der Arbeitgeber wollte diese jedoch nicht zusätzlich zahlen, sondern mit dem Nachteilsausgleich verrechnen.

Dies hielt das BAG für zulässig. Sowohl Sozialplanabfindung als auch Nachteilsausgleich hätten weitgehend denselben Zweck und können daher miteinander verrechnet werden. Beide dienten dazu, wirtschaftliche Nachteile des Arbeitnehmers wegen der Kündigung auszugleichen.

Az.: 1 AZR 279/17



Bundesarbeitsgericht

Zuhause unterschriebener Aufhebungsvertrag ist kein Haustürgeschäft



Arbeitnehmer können einen in der eigenen Wohnung mit dem Arbeitgeber unterschriebenen Aufhebungsvertrag zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht widerrufen. Allerdings muss der Arbeitgeber vor Abschluss des Aufhebungsvertrags das "Gebot des fairen Verhandelns" beachten und darf den Beschäftigten nicht psychisch unter Druck setzen, urteilte am 7. Februar das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt. Das Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften sei hier nicht anzuwenden.

Im konkreten Fall hatte die klagende Reinigungskraft zu Hause Besuch von ihrem Arbeitgeber erhalten. Dieser hatte ihr einen Aufhebungsvertrag zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorgehalten, der keine Abfindung vorsah. Die Frau unterschrieb den Vertrag und war damit ihren Job los.

Die Vereinbarung wollte sie widerrufen und berief sich dabei auf das Bürgerliche Gesetzbuch. Dieses sieht vor, dass Verbraucher bei Haustürgeschäften ein zweiwöchiges Widerrufsrecht haben. Eine Begründung für den Widerruf ist nicht erforderlich.

Zwar sind auch Arbeitnehmer Verbraucher, urteilte das BAG. Der Gesetzgeber habe jedoch deutlich gemacht, dass arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge nicht vom Widerrufsrecht umfasst sind.

Dennoch seien Beschäftigte nicht schutzlos gestellt. Denn es gehöre zur "arbeitsvertraglichen Nebenpflicht", dass vor Abschluss eines Aufhebungsvertrages das "Gebot des fairen Verhandelns" beachtet wird. So dürfe der Arbeitgeber keinen psychischen Druck ausüben, so dass eine "freie und überlegte Entscheidung des Vertragspartners" erschwert wird. Hier habe die Klägerin vorgetragen, dass sie beim Besuch ihres Arbeitgebers krank gewesen und damit eine "krankheitsbedingte Schwäche" bewusst ausgenutzt worden sei.

Ob dies der Fall war, muss nun das Landesarbeitsgericht Niedersachsen prüfen. Werde dies bejahrt, stehe der Klägerin Schadenersatz zu. Sie sei dann auch so zu stellen, als hätte sie den Aufhebungsvertrag nie geschlossen.

Az.: 6 AZR 75/18



Bundesfinanzhof

Kfz-Kosten für Gehbehinderte nur beschränkt steuerlich abziehbar



Stark Gehbehinderte können nicht die vollen Kosten für ihr Auto als außergewöhnliche Belastung geltend machen. Es sei nicht zu beanstanden, dass - bis auf "krasse Ausnahmefälle" - nur der Pauschalsatz in Höhe von 0,30 Euro pro gefahrenem Kilometer abzugsfähig ist, entschied der Bundesfinanzhof in München in einem am 13. Februar veröffentlichten Urteil.

Geklagt hatte ein an Multipler Sklerose und fortgeschrittener Osteoporose erkrankter Mann aus Hessen. In seinem Schwerbehindertenausweis war das Merkzeichen "aG" für außergewöhnlich gehbehindert eingetragen. Um transportiert werden zu können, kaufte sich der Kläger einen Kleinbus und ließ diesen behindertengerecht umbauen.

Die angefallenen tatsächlichen Kosten machte er über mehrere Jahre verteilt als außergewöhnliche Belastung steuermindernd geltend. So gab er für behinderungsbedingte Fahrten im Streitjahr 0,77 Euro pro gefahrenem Kilometer in seiner Einkommensteuererklärung an. Darin enthalten waren entsprechend der Nutzungsdauer auch anteilig die Kosten für den behindertengerechten Umbau.

Der Bundesfinanzhof folgte dieser Rechnung jedoch nicht. Zwar könnten außergewöhnlich Gehbehinderte die Kfz-Aufwendungen für Privatfahrten "in angemessenem Rahmen" als außergewöhnliche Belastung geltend machen. Angemessen seien Fahrten für bis zu 15.000 Kilometer pro Jahr. Es gelte aber nur der Kilometerpauschbetrag in Höhe von 0,30 Euro. Höhere tatsächliche Kosten könnten grundsätzlich nicht geltend gemacht werden.

Nur in "krassen Ausnahmefällen" sei ein Abweichen von den Pauschalsätzen gerechtfertigt. Zudem dürften die Umbaukosten nicht auf die Nutzungsdauer des Kfz verteilt über mehrere Jahre steuermindernd angegeben werden. Diese seien nur einmalig, im Jahr der Anschaffung, als außergewöhnliche Belastung abziehbar.

Az.: VI R 28/16



Bundesgerichtshof

Unbefristete Sozialbindung von Wohnungen ist unwirksam



Eine unbefristet vereinbarte Sozialbindung von Mietwohnungen ist unwirksam. Gewährt der Staat Bauherren für den Wohnungsbau Vorteile - wie etwa ein günstiges Darlehen -, kommt aber eine langfristige Sozialbindung in Betracht, wie am 8. Februar der Bundesgerichtshof (BGH) urteilte. Denkbar sei, dass Sozialmieten so lange gewährt werden müssen, wie die Laufzeit des vergünstigten Kredits fortbesteht, erklärten die Karlsruher Richter.

Im konkreten Fall ging es um 52 Sozialwohnungen in der Stadt Langenhagen bei Hannover. Eine Wohnungsbaugesellschaft hatte die Grundstücke im Januar 1995 zum Bau von Sozialwohnungen von der Stadt gekauft. Zur Teilfinanzierung gewährte die Kommune ein zinsgünstiges Darlehen.

Nicht länger als 15 Jahre

Im Gegenzug verpflichtete sich die Wohnungsbaugesellschaft zur unbefristeten Sozialbindung der Wohnungen. Bedürftige Mieter mit Wohnberechtigungsschein sollten also von günstigen Sozialmieten profitieren können. Gut ein halbes Jahr später kaufte die Klägerin, eine Wohnungsgenossenschaft aus Hannover, die Grundstücke.

Mit ihrer Klage wollte sie nun feststellen lassen, dass die Sozialbindung nicht unendlich gelten könne. Sie wollte die Wohnungen 20 Jahre nach dem Erstbezug ohne Sozialbindung und damit teurer vermieten können.

Der BGH gab der Wohnungsgenossenschaft im Grundsatz recht. Eine zeitlich unbefristete Verpflichtung zur Vermietung der Wohnungen an Mieter mit Wohnberechtigungsschein sei unwirksam. Der Gesetzgeber habe die unbefristete Sozialbindung nicht vorgesehen. Die Frist solle 15 Jahre nicht überschreiten.

Allerdings könne laut Gesetz auch ein "längerer Zeitraum geboten" sein, etwa wenn die Förderung des Wohnungsbaus länger dauere, entschied der BGH. Einer Wohnungsbaugenossenschaft könne aber keine Sozialbindung mehr auferlegt werden, nachdem die mit der Förderung verbundenen Vorteile aufgebraucht sind.

Dies müsse im konkreten Fall das Oberlandesgericht Celle prüfen. Maßgeblich sei, wie die Vorstellungen der Parteien bei Vertragsschluss waren und inwieweit die Sozialbindung während der gesamten Laufzeit des vergünstigten Kredits fortbestehen sollte.

Az.: V ZR 176/17



Oberverwaltungsgericht

Flüchtlingsbürge bekommt recht



Im Streit um Bürgschaften für syrische Flüchtlinge hat das niedersächsische Oberverwaltungsgericht einem Flüchtlingsbürgen recht gegeben. Erlassen des niedersächsischen Innenministeriums zufolge ende eine Verpflichtung des Bürgen mit der Asylanerkennung, sagte der Vorsitzende Richter des 13. Senats, Alexander Weichbrodt, am 11. Februar in Lüneburg. "Das ist eine niedersächsische Besonderheit", sagte Weichbrodt nach der ersten obergerichtlichen Verhandlung zu den Bürgschaften im Land. Eine Revision ließ das Gericht nicht zu.

Ein heute 80-Jähriger hatte Berufung gegen mehrere anderslautende Urteile des Verwaltungsgerichtes Lüneburg eingelegt. Er hatte 2014 Verpflichtungserklärungen für vier syrische Flüchtlinge unterschrieben, mit denen er seiner Auffassung nach nur bis zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Sozialleistungen bürgte. Das Jobcenter Uelzen stellte aber darüber hinaus Forderungen. Sie belaufen sich nach Angaben des Kläger-Anwaltes Andreas Hansen auf insgesamt mehr als 80.000 Euro.

Ab 2013 haben sich in Niedersachsen zahlreiche Einzelpersonen, Initiativen oder auch Kirchengemeinden verpflichtet, die Kosten für den Lebensunterhalt syrischer Flüchtlinge zu übernehmen. Damit haben sie ihnen eine Einreise nach Deutschland ermöglicht. Wie Niedersachsen waren auch die Länder Nordrhein-Westfalen und Hessen davon ausgegangen, dass die entsprechenden Bürgschaften nur auf wenige Monate befristet sind. Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts setzte aber zwischenzeitlich längere Fristen für die Bürgschaften fest.

Az.: 13 LB 435/18 u.a.



Landesarbeitsgericht

Bundesarbeitsagentur muss Schwerbehindertem Entschädigung zahlen



Schwerbehinderte Bewerber sind im Öffentlichen Dienst auch dann zum Bewerbungsgespräch einzuladen, wenn die Stelle nur intern ausgeschrieben wurde. Das geht aus einer am 12. Februar vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg veröffentlichten Begründung hervor.

Bewirbt sich ein Kandidat auf mehrere Stellen mit identischem Anforderungsprofil, ist grundsätzlich für jede Bewerbung ein Vorstellungsgespräch zu führen, urteilte das Landesarbeitsgericht. Die Einladung zu nur einem Gespräch sei nur dann ausreichend, wenn das Auswahlverfahren identisch ist, die Auswahlkommissionen sich aus denselben Personen zusammensetzen und zwischen den jeweiligen Auswahlentscheidungen nur wenige Wochen liegen würden.

Im vorliegenden Fall hatte sich ein Schwerbehinderter bei der Bundesagentur für Arbeitb um zwei intern ausgeschriebene Stellen mit identischem Anforderungsprofil in Berlin und Cottbus beworben. Die Behörde hatte den Bewerber aber nur zum Vorstellungsgespräch für die Stelle in Berlin eingeladen. Für den Arbeitsplatz in Cottbus sei er dagegen nicht zu einem Gespräch eingeladen worden. Nachdem der Kläger für beide Stellen nicht berücksichtigt worden war, hatte er einen Entschädigungsanspruch nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geltend gemacht.

Das Landesarbeitsgericht verurteilte die Bundesagentur für Arbeit zur Zahlung einer Entschädigung. Entschließe sich der öffentliche Arbeitgeber zu Auswahlgesprächen, müsse er einen schwerbehinderten Bewerber einladen, auch wenn die Stelle nur intern ausgeschrieben worden sei, hieß es. Das erfordere der Sinn und Zweck des Paragrafen 165 Satz 3 SGB IX, mit dem für schwerbehinderte Menschen gleiche Bewerbungschancen hergestellt werden sollen.

Az.: 21 Sa 1643/17



Oberlandesgericht

Pflegeeltern können Vorrang vor Verwandten haben



Bei der Entscheidung, wer sich nach einer Sorgerechtsentziehung künftig um ein vernachlässigtes Kind kümmert, kommen nicht automatisch Angehörige der leiblichen Eltern in Betracht. Vielmehr könnten Pflegeeltern Vorrang vor Verwandten haben, teilte das Oberlandesgericht Düsseldorf am 13. Februar eine Entscheidung des Senats für Familiensachen mit. Wenn dem Wohl eines Kindes besser damit gedient sei, müsse die Unterbringung bei "Profi-Pflegeltern" auch dann ermöglicht werden, wenn ein Verwandter bereit sei, die Vormundschaft und die Betreuung des Kindes zu übernehmen.

Im konkreten Fall hatte das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr einer alleinerziehenden Mutter die elterliche Sorge über ihre heute zwei und zehn Jahre alten Kinder entzogen. Die Mutter hatte ihre Kinder aus eigener Hilflosigkeit stark vernachlässigt und steht in zwischen selbst unter Betreuung, wie die Düsseldorfer Richter erläuterten. Die Familie wünschte, dass die Kinder nun bei den beiden Schwestern der Mutter aufwachsen sollten, die sich dazu bereiterklärt hatten.

Diesem Wunsch widersprach das Oberlandesgericht und bestätigte die Entscheidung des Amtsgerichts, das Jugendamt zum Vormund zu bestellen und die Unterbringung der Kinder bei Pflegeeltern zu ermöglich. Denn ein Aufwachsen bei den Schwestern der Mutter entspreche nicht den Interessen der Kinder. Es genüge nicht, dass den Kindern bei ihren Tanten keine weitere Gefahr drohe, erläuterte der zuständige Senat.

Den Tanten fehle die persönliche Eignung, die für die Bestellung zum Vormund erforderlich sei, hieß es. Sie hätten sich bislang nicht um die Kinder gekümmert und keine Beziehung zu ihnen aufgebaut. Die stark vernachlässigten Kinder bräuchten aber emotionale Sicherheit, einen sicheren Lebensort und stabile Lebensverhältnisse, betonten die Richter. Dies könne im konkreten Fall von "Profi-Pflegeeltern" besser gewährleistet werden als von den eigenen Verwandten.

Az.: I-8 UF 187/17




sozial-Köpfe

Leitungswechsel

Neue Geschäftsführerin in der Osnabrücker Diakonie




Christiane Mollenhauer
epd-bild/Diakonie Osnabrück
Das Diakonische Werk in Stadt und Landkreis Osnabrück bekommt mit Christiane Mollenhauer (54) eine neue Geschäftsführerin.

Christiane Mollenhauer tritt am 1. Mai ihre neue Aufgabe als Geschäftsführerin Diakonisches Werk in Stadt und Landkreis Osnabrück an. Mollenhauer leitete 20 Jahre lang die Geschäftsstelle des Diakonischen Werks im Kirchenkreis Gifhorn. Seit 2014 arbeitet sie als Abteilungsleiterin im Sozialamt des Landkreises Gifhorn.

Die 54-Jährige Diplom Sozialpädagogin tritt die Nachfolge von Hinrich Haake und Heiko Grube an. Haake geht zum 30. April in den Ruhestand. Grube, der neben Haake bislang Geschäftsführer war, übernimmt ab Mai als Prokurist das Geschäftsfeld betriebliche Sozialberatung der Diakonie. Beide hatten neben ihren Geschäftsführungsaufgaben auch operative Funktionen in einzelnen Geschäftsfeldern inne.

Das Diakonische Werk in Stadt und Landkreis Osnabrück beschäftigt nach eigenen Angaben etwa 150 Mitarbeitende und bündelt einige Beratungsangebote innerhalb der Diakonie. Dazu zählen vor allem die Suchtberatung an mehreren Standorten und die Flüchtlingsarbeit. Das Diakonische Werk ist eine Tochter der Diakonie Osnabrück Stadt und Land mit 2.100 Mitarbeitenden. Sie betreuen in mehr als 40 Einrichtungen und 40 Beratungsstellen in Stadt und Landkreis Osnabrück vorwiegend Senioren, Kinder und Jugendliche.

"Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Frau Mollenhauer", unterstreicht Friedemann Pannen, theologischer Geschäftsführer der Diakonie Osnabrück. "Frau Mollenhauer bringt nicht nur langjährige Leitungserfahrung mit, sondern kennt die Beratungsarbeit der Diakonie sehr gut."

Hinrich Haake wird am 26. April im Rahmen eines Gottesdienstes und einer Feierstunde in den Ruhestand verabschiedet. Er war 22 Jahre in der Diakonie Osnabrück tätig. Heiko Grube wechselt nach Melle und wird dort die betriebliche Sozialberatung ausbauen.



Weitere Personalien



Gerhard Glock verlässt zum 31. März die Geschäftsführung des evangelischen Agaplesion Krankenhaus Bethanien Iserlohn. Bis es eine neue dauerhafte Lösung für die Geschäftsführung gibt, werde Maria Theis zum 1. April Geschäftsführung übernehmen und zudem ihre bisherige Tätigkeit als Geschäftsführerin des Agaplesion Diakoniekrankenhauses Seehausen weiterführen. Glock führte die Geschäfte in Iserlohn seit 2015. "Mit großer Umsicht und hohem Engagement" habe er das Krankenhaus geführt, weiterentwickelt und die Integration in den Agaplesion Verbund befördert, erklärte Markus Horneber, Vorstandsvorsitzender bei Agaplesion.

Rainer Pappert wird zum 1. April neben Markus Richter und dem Vorsitzenden Paul Neuhäuser dritter Geschäftsführer der gemeinnützigen St. Augustinus Gruppe in Neuss. Der Experte für Digitalisierung soll die Vernetzung der breitgefächerten Unternehmensleistungen – von der medizinischen Leistung in Krankenhäusern über die Angebote in der Senioren- und Behindertenhilfe bis hin zur Rehabilitationsleistung – bündeln und steuern. Seit 2005 war der 46-Jährige in diversen Führungspositionen tätig, zuletzt als Mitglied der Geschäftsführung bei Johnson & Johnson Medical GmbH in Neuss. Die St. Augustinus Gruppe ist im Rheinland einer der größten christlichen Dienstleister für Gesundheit und Soziales. Zu ihr gehören 15 Tochtergesellschaften an rund 85 Standorten und über 5.200 Mitarbeitern, die sich in etwa 160 Berufsfeldern engagieren.

Andreas Rieß (47) wird zum 15. Mai neuer Vorstand und Geschäftsführer im Bereich Rehabilitation der Kölner Josefs-Gesellschaft. Sein Vorgänger, Manfred Schulte, geht Ende Februar in den Ruhestand, teilte die Gesellschaft für Alten- und Behindertenhilfe mit. Rieß ist aktuell Geschäftsführer des Heinrich-Hauses in Neuwied. Zuvor leitete er die Abteilung Rehabilitation in der Josefs-Gesellschaft und war Interims-Geschäftsführer des Josefsheims in Olsberg. Rieß studierte Sozialpädagogik und Sportwissenschaften. Bei der Josefs-Gesellschaft arbeiten über 7.200 Mitarbeitende, die insgesamt 10.000 Menschen mit Behinderung, Senioren und kranke Menschen betreuen, versorgen, schulen und beschäftigen.

Margot Käßmann und Matthias Brodowy sind die neuen Mitherausgeber des niedersächsischen Straßenmagazins "Asphalt". Die frühere hannoversche Landesbischöfin und der Kabarettist bilden ab sofort mit dem hannoverschen Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes ein Dreierteam. Müller-Brandes war nach dem Ausscheiden der Journalistin Hanna Legatis und des Politikwissenschaftlers Heiko Geiling seit Ende 2018 alleiniger Herausgeber von "Asphalt". Das 1994 gegründete Magazin verkauft nach eigenen Angaben monatlich rund 22.500 Zeitungen in 17 Städten in Niedersachsen. Auf 40 Seiten berichten vier professionelle Journalisten über soziale Themen und erreichen 60.000 Leserinnen und Leser. Rund 170 Verkäufer, die sonst über ein geringes Einkommen verfügen, bieten die Zeitung auf Straßen und öffentlichen Plätzen an. Jeder Verkäufer behält dabei die Hälfte des Verkaufspreises für sich.

Oliver Wirths und Björn Tampe haben den mit 50.000 Euro dotierten Inge- und Fritz-Kleekamm-Preis der Alzheimer Stiftung Göttingen erhalten. Die Göttinger Wissenschaftler wurden für ein Forschungsvorhaben zu den Auswirkungen von Nierenfunktionsstörungen auf Alzheimer ausgezeichnet, teilte die Universitätsmedizin Göttingen mit. Wirths (44) lehrt und forscht an der Universitätsmedizin als Professor für Psychiatrie und Psychotherapie. Tampe (37) ist dort Mitarbeiter der Klinik für Nephrologie und Rheumatologie. Der nach seinen Stiftern benannte Inge- und Fritz-Kleekamm-Preis wird seit 2010 verliehen. Die Alzheimer Stiftung Göttingen würdigt damit innovative Forschungsvorhaben aus dem Bereich der Alzheimer-Therapie am Campus Göttingen.

Thomas Seidel, früherer Thüringer Landesbeauftragte für das Reformationsjubiläum, ist am 9. Februar im Erfurter Augustinerkloster offiziell in sein neues Amt als Leiter der Diakonen-Ausbildung in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) eingeführt worden. Der promovierte Theologe hatte seine Lehrtätigkeit am Diakonischen Bildungsinstitut "Johannes Falk" in Eisenach bereits am 1. November 2018 aufgenommen. Zudem ist er im Bereich der Fort- und Weiterbildungsakademie als Dozent für Diakonische Bildung und Kulturentwicklung tätig.

Anne Löffler, Künstlerin aus Sinzig im rheinland-pfälzischen Landkreis Ahrweiler hat den Deutschen Kinderhospizpreis 2019 erhalten. Löffler engagiert sich seit 2001 in der Kinderhospizarbeit und gestaltet Geburtstags- und Erinnerungskarten für die schwer kranken und bereits verstorbenen Kinder der Mitgliedsfamilien. Seit 2001 gestaltete sie nach den Angaben mehr als 7.500 Karten und versah sie mit handschriftlichen Texten, jede davon "einzigartig, unverwechselbar, persönlich", würdigte die Jury die Preisträgerin. Der Kinderhospizverein wurde im Februar 1990 gegründet. Das erste Kinderhospiz wurde 1998 in Olpe eröffnet.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis April



Februar:

25.-26.2. Berlin:

Seminar "Bundesteilhabegesetz: Personal- und Vertragsrecht"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-142

26.2. Hannover:

Seminar "Tagespflege am Puls der Zeit - Rechtliche Rahmenbedingungen und Konzeption"

der Landesvereinigung für Gesundheit

Tel.:0511/3881189-0

26.-27.2. Frankfurt a.M.:

Seminar "Förderung der Resilienz in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen"

des Paritätischen Bildungswerkes Bundesverband

Tel.: 069/6706-252

März

5.3. Hannover:

Fachtag "Geflüchtet - behindert - versorgt?"

der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen

Tel.: 0511/3881189-0

5.3. Münster:

Seminar "Wenn Beratung schnell gehen muss: Ultrakurzzeitberatung"

der Fachhochschule Münster

Tel.: 0251/8365720

6.3. Frankfurt a.M.:

Workshop "Topfit im Datenschutz - Datenschutz für Beginner(innen)"

des Fort- und Weiterbildungsinstituts der AWO

Tel.: 069/298901-0

6.3. Leipzig:

Seminar "Qualitätsmanagement - Basiswissen für Führungskräfte"

des Paritätischen Sachsen

Tel.: 0351/4916619

6.-8.3. Remagen-Rolandseck:

Netzwerktagung "Ambulante und teilstationäre Hilfen zur Erziehung der AWO-Bundesakademie

Tel.: 030/26309325-99

7.-10.3. Berlin:

Konferenz "Making Heimat goes Europe - Lebensbedingungen Geflüchteter in Europa"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/20355-0

14.3. Berlin:

Seminar "Fördermittel und Zuwendungsrecht"

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 02203/8997-221

18.-19.3. Potsdam:

Seminar "Führen im Tandem"

des Paritätischen Bildungswerks Brandenburg

Tel.: 0331/7481875

21.-22.3. Hannover:

Seminar "Aktuelle Fragen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten: Perspektiven auf Mitwirkung"

der Deutschen Vereins

Tel. 030/

25.-26.3. Weimar:

Tagung "Kein Platz nirgends!? Frauengerechte Wohnungslosenhilfe in Zeiten des Wohnungsmangels"

der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe

Tel.: 030/2844537-0

25.-27.3. Frankfurt a.M.:

Seminar "Methodenkoffer Beratung"

des Paritätischen Bildungswerks

Tel.: 069/6706-219/252

27.-29.3. Berlin:

Caritaskongress "Wir.Jetzt.Hier.Zusammenhalt"

des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-408

28.-29.3. Frankfurt a.M.:

Seminar "Was ist der Early Excellence Ansatz? - Philosophie und Geschichte, Leitgedanken, Pädagogische Strategien und Ethischer Code"

des Paritätischen Bildungswerks

Tel.: 069/6706-219/252

29.-31.3. Loccum:

Tagung "Mensch im Alter - Der Umgang mit Alter in Gesellschaft und hospizlicher Begleitung"

der Ev. Akademie Loccum und dem Zentrum für Seelsorge

Tel.: 05766/81-0

April

8.4. Hannover:

Seminar "Junge volljährige Flüchtlinge: Betreuung, Bildung, Arbeitsmarktintegration und Aufenthalt"

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980605