sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Dirk Baas
epd-bild/Heike Lyding

die Nutzung von Superlativen gehört in der Politik zum Alltag - wenn es darum geht, Neuerungen und Reformen anzupreisen. So auch in der Bildungspolitik, wo Ministerin Stark-Watzinger das neue Startchancen-Programm als „größtes Bildungsprojekt in der Geschichte des Landes“ bewarb. In der Tat wird viel Geld für einen langen Zeitraum in die Hand genommen, um Schulen in sozial schlechter gestellten Umfeldern punktgenau zu fördern. epd sozial hat sich umgehört, wie das Programm ankommt. Die Gewerkschaft GEW ist skeptisch. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit sieht noch etliche Hürden bei der Umsetzung. Dass hier dringender Handlungsbedarf besteht, zeigt der neue Bildungsbericht. Die Forscher kommen in ihrer Studie zu dem Schluss, dass das Bildungssystem bereits am Anschlag arbeitet.

Das Kabinett hat ein neues Gesetz auf den Weg gebracht, das helfen soll, Kinder und Jugendliche besser vor sexualisierter Gewalt zu schützen. Der Entwurf sieht vor, Beratungssysteme auszubauen und die Aufarbeitung vergangener Missbrauchsfälle zu erleichtern. Zentraler Kern ist die Verankerung des Amtes der unabhängigen Missbrauchsbeauftragten, Kerstin Claus. Zudem soll ein neues Forschungszentrum Daten zu sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen sammeln.

Während die Ampel-Parteien noch immer um den Haushalt für das kommende Jahr ringen, warnen die Spitzenverbände der freien Wohlfahrt vor drohenden Einsparungen im Sozialbereich. Weitere Kürzungen würden den sozialen Frieden und damit auch die Demokratie in Gefahr bringen. Laut einer Umfrage unter den Einrichtungen und Diensten zu deren finanzieller Lage haben knapp zwei Drittel in den vergangenen beiden Jahren Angebote eingeschränkt oder ganz eingestellt.

Wenn Bürgergeldbezieher eine zu hohe Miete bezahlt haben, gehen sie bei der Rückzahlung in aller Regel leer aus - sofern die unrechtmäßig überhöhte Miete komplett vom Jobcenter bezahlt wurde. Weil das Jobcenter die Unterkunftskosten gezahlt hat, kann auch nur die Behörde Rückerstattungsansprüche geltend machen, urteilte der Bundesgerichtshof. Anders kann die Lage sein, wenn das Jobcenter die Unterkunftskosten nur in Teilen bezahlt hat, doch darüber hatte das Gericht im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden.

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Ihr Dirk Baas




sozial-Thema

Bildung

Startchancen-Programm: Neuer Fokus auf mehr Bildungsgerechtigkeit




Auch die gezielte Förderung von Flüchtlingskindern könnte mit dem neuen Startchancen-Programm möglich werden.
epd-bild/Nancy Heusel
Das Startchancen-Programm für benachteiligte Schüler startet im August. Doch nur pro forma: Die zunächst rund 2.000 Schulen in sozial schwierigen Umfeldern beginnen erst mit der Umsetzung. Das vorhandene Fördergeld will richtig eingesetzt werden.

Berlin (epd). Das Startchancen-Programm, laut Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) das größte Bildungsprojekt in der Geschichte der Republik, bedeutet für die zur Teilnahme ausgewählten Schulen vor allem eins: viel organisatorische Arbeit und wohl auch Bürokratie. Und doch ist die zugesagte langfristige finanzielle Hilfe in Milliardenhöhe für die Schulen „mit einem hohen Anteil sozioökonomisch benachteiligter Schüler“ ein Wechsel auf eine bessere Zukunft. „Das finden wir mega, weil wir glauben, dass das Geld hier gut angelegt sein wird“, sagte Jan Drumla, Leiter der Wiesbachschule in Grävenwiesbach im hessischen Hintertaunus, der Lokalzeitung „Usinger Anzeiger“. Seine Grundschule ist eine der ersten 80 Schulen in Hessen, die in das Programm aufgenommen wurden.

In Hessen sind über die Laufzeit von zunächst zehn Jahren rund 320 Schulen zur Förderung vorgesehen. Die meisten Schulen (900) stellt Nordrhein-Westfalen, Bayern 580 und Baden-Württemberg 540. Bundesweit gehen zunächst jedoch nur rund 2.000 Schulen aller Schulformen an den Start. Insgesamt sollen es später 4.000 sein, von den 60 Prozent Grundschulen sind. Ein wesentliches Ziel: Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in Mathematik und Deutsch verfehlen, soll bis zum Ende der Programmlaufzeit halbiert werden.

Ziel: mehr Chancengerechtigkeit

Dass der Bildungserfolg hierzulande noch immer stark von der sozialen Herkunft abhängt, weiß auch Ministerin Stark-Watzinger. Sie betonte diesen Mangel jüngst bei der Unterzeichnung des Programms in Berlin. Mit der Förderung wolle man „mehr Chancengerechtigkeit in Deutschland erreichen“. Insgesamt sollen über zehn Jahre insgesamt 20 Milliarden Euro an die Schulen fließen. Das Geld soll unter anderem in die Ausstattung der Schulen, Fortbildungen, aber auch in Stellen für Sozialarbeiter, Psychologen und Logopäden fließen.

Die Förderung teilt sich auf in drei Säulen: Ein Investitionsprogramm für eine moderne Ausstattung der Schulen, das eine zeitgemäße Lernumgebung schaffen soll. Stichworte sind hier Digitalisierung, Barrierefreiheit und Klimaschutz. Das sogenannte Chancenbudget erhalten die Schulen zur möglichst freien und individuellen Verfügung. Schließlich soll die Schulsozialarbeit mit mehr Fachkräften gefördert werden.

Viel Hoffnung auf Veränderungen in der Wiesbachschule

Noch ist in der Wiesbachschule mit ihren 210 Schülern in neun Klassen nicht klar, wie die Umsetzung des Hilfsprogrammes ablaufen wird. Doch klar ist: Die Erwartungen sind groß, nicht nur bei der Schulleitung. Die Eltern seien bereits schriftlich informiert worden. Auch die Lehrer stünden dem Programm sehr aufgeschlossen gegenüber, so der Pädagoge: „Von den Eltern sind bereits konkrete Angebote zur Unterstützung eingegangen“, so Drumla. Er platze vor Neugier, „wie die Rahmenbedingungen aussehen“. Dass die Unterstützung der Kinder verbessert werden muss, stehe außer Frage: Auch an seiner Schule gebe es viele Mädchen und Jungen, die es aufgrund ihrer Sozialisation schwer hätten. Sie könnten oft nicht richtig lesen und schreiben und hätten „auch keine Begleitung von ihren Eltern“.

Zu tun gebe es vieles, listet der Schulleiter auf: Die Schule ist nicht barrierefrei. Ein Ruheraum steht schon lange auf der Wunschliste. Und auch die Überschattung der Außenbereiche könnte nun Wirklichkeit werden. Mit neuen multiprofessionellen Teams aus Sozialarbeitern und anderen Fachkräften werde es möglich sein, „den Fokus im Bereich Bildungsgerechtigkeit neu auszurichten“. Schließlich sei auch denkbar, eine Außenstelle zu schaffen, an die sich Eltern wenden können, die Beratung bei individuellen Problemen ihrer Kinder benötigen.

„Geld ist gut angelegt“

„Allein wegen des enormen Reparaturbedarfs in den Schulen ist das Geld gut angelegt. Noch ist aber nicht klar, wofür die Schulen das Geld verwenden werden. Jetzt sind die ersten Schulen benannt, die nun zunächst Konzepte erarbeiten müssen, dann Kooperationsvereinbarungen schließen und alle möglichen anderen Dinge abklären“, sagte Claudia Seibold, Referentin Bildung und verbandsinterne Kommunikation bei der Bundesarbeitsgemeinschaft evangelische Jugendsozialarbeit (BAG EJSA), dem Evangelischen Pressedienst (epd). Sie rechne jedoch damit, dass mit konkreten Maßnahmen ab dem zweiten Schulhalbjahr 2024/2025 gestartet werde.

„Die Bund-Länder-Vereinbarung enthält sehr viele, sehr richtige Überlegungen und Vorgaben. Mit einer besseren Ausstattung, einer Person für das pädagogische Team und dem Chancenbudget werden den Schulen mit besonderen Belastungen zentrale Elemente für eine positive Entwicklung gegeben“, urteilt Markus Warnke, Geschäftsführer der 2013 gegründeten Wübben-Stiftung Bildung. Dass jetzt Geld in Schulen in prekären sozialen Umfeldern fließe, sei richtig. „Richtig ist aber auch, dass es an fast allen Schulen Kinder mit diesen Bedarfen gibt“, so der Fachmann. Er hoffe, dass mit dem Startchancen-Programm beispielsweise Unterrichtskonzepte und Verfahren zur datengestützten Schul- und Unterrichtsentwicklung entstehen, „die allen Schulen und damit allen Kindern und Jugendlichen helfen“.

GEW sieht erheblich mehr Förderungsbedarf

An diesem Punkt setzt die Kritik der Gewerkschaft Bildung und Wissenschaft an. „Das Startchancen-Programm erreicht nur rund zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler - gut 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind jedoch arm beziehungsweise armutsgefährdet. Trotzdem ist das Programm natürlich ein Schritt nach vorne“, sagte Vorstand Anja Bensinger-Stolze dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Uns ist wichtig, dass die Gelder dort ankommen, wo sie am meisten gebraucht werden: an Schulen in benachteiligten Stadtvierteln und bei den armen Familien und Kindern. Allerdings würden nur 4.000 von rund 40.000 Schulen zusätzliche Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter bekommen: “Der Bedarf ist jedoch erheblich höher."

Die Gewerkschafterin sagte weiter, das Programm sei grundsätzlich zu klein angelegt. Und: „Wie groß seine Wirkung mit Blick auf mehr Förderung benachteiligter Schulen sowie deren Schülerinnen und Schüler und mehr Chancengleichheit sein wird, lässt sich im Moment noch nicht seriös abschätzen“, so Bensinger-Stolze.

Stiftung: Erster Schritt ist uneingeschränkt richtig

Auch Markus Warnke sagt: „Tatsächlich gibt es mehr Schulen, die sehr gerne Teil des Programms werden möchten. Am Ende sind die Gewichtung und die Wahl der Auswahlkriterien durch die Politik gesetzt, vom Grundsatz aber richtig. Wie immer wird es Schulen geben, die profitieren, und solche, die nicht berücksichtigt werden können. Ich finde diesen ersten Schritt aber uneingeschränkt richtig.“

Ob die Umsetzung des ambitionierten Programmes schnell und vor allem unbürokratisch gelingt, bleibt abzuwarten. Und auch, ob die bisherigen Standards der Jugendhilfe, etwa mit Blick auf die Schulsozialarbeit, gehalten werden. Weiteres Problem: In vielen Bundesländern gibt es bereits spezielle Finanzhilfen für die Schulsozialarbeit, die ähnliche Ziele verfolgen wie jetzt das Startchancen-Programm. Es sei bereits abzusehen, „dass die beteiligten freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe weniger Mittel erhalten als in den vorhandenen Landesprogrammen. Somit entsteht ein unerwünschtes und kontraproduktives Zweiklassen- beziehungsweise Mehrklassensystem“, so Seibold.

„Superlative sind nicht angebracht“

Ähnlich sieht das Tom Urig, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit. „Es ist notwendig, den starken Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg aufzubrechen. Erreicht werden mit dem Programm jedoch nur rund zehn Prozent aller Schulen in Deutschland.“ Schulformen wie die Berufsschulen profitierten eher nicht. Urig: „Superlative in der Bewertung sind nicht angebracht.“

Betrachte man die drei Säulen des Programms, so werde ein Fokus auf Ausstattung und Wissensdefizite gelegt. „Für die Schulsozialarbeit bleibt ein kleiner Teil im Verhältnis zu den anderen Säulen“, sagte Urig. Das entspreche nur bedingt dem Bedarf, der unter anderem von Lehrkräften und Leitungen in Schulen beschrieben werde. „Schulsozialarbeit ist in den Bundesländern zudem sehr unterschiedlich aufgestellt. Das Programm wird daran nicht viel ändern und keineswegs die Ausstattung mit Schulsozialarbeitern überall verbessern.“

„Geld ist nicht das Wichtigste im Programm“

Markus Warnke betont: „Die Verteilung der Ressourcen stellt eine sehr große Herausforderung für die Länder dar. Die Verantwortung für die Ausstattung liegt bei den Schulträgern.“ Sie müssten entscheiden, auf welchem Weg und mit welchen Freiheiten, aber auch Dokumentationspflichten die Schulen die Mittel erhalten. Die Länder haben sehr viel zu organisieren."

Er betont, dass nicht das Geld das Wichtigste am Programm ist: „Es geht darum, wie die Schulen dabei unterstützt werden können, die Qualität des Unterrichts bei und die Lerngelegenheiten für Schülerinnen und Schüler zu verbessern.“ Wenn das bessere Zusammenspiel von Ministerien, Schulaufsichten, Landesinstituten und Schulträgern funktioniere, würden am Ende nicht nur diese 4.000 Schulen, sondern das ganze Bildungssystem davon profitieren. Wenn das gelinge, „können wir nach zehn Jahren wirklich von dem wichtigsten Bildungsprogramm der Geschichte sprechen“.

Dirk Baas


Bildung

Interview

GEW: Startchancen-Programm ist zu klein angelegt




Anja Bensinger-Stolze
epd-bild/Kay Herschelmann/GEW
Zum kommenden Schuljahr startet das "Startchancen-Pogramm" von Bund und Ländern für benachteiligte Schülerinnen und Schüler. Ziel ist es, mehr Chancengerechtigkeit zu erreichen. Das sei ein guter Ansatz, sagt Anja Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied Schule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) im Interview mit epd sozial. Aber: Wo Licht ist, ist auch Schatten.

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) bezeichnete das Vorhaben jüngst als „größtes und langfristigstes Bildungsprojekt“ in der Geschichte Deutschlands. Dem widerspricht auch Anja Bensinger-Stolze nicht. Aber sie sagt auch: „Es werden viel zu wenig Finanzmittel bereitgestellt, und der Anteil der Gelder, die bedarfsgerecht an die Schulen verteilt werden, ist viel zu niedrig. Zudem sollte das Programm länger als zehn Jahre laufen, also verstetigt werden.“ Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) nennt das Startchancen-Programm für Schulen in sozial benachteiligten Orten das „größte langfristige Bildungsprojekt in der deutschen Geschichte“. Die fachlichen Meinungen gehen auseinander. Wie bewerten Sie das Programm ganz grundsätzlich?

Anja Bensinger-Stolze: Wir als Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft begrüßen das Startchancen-Programm grundsätzlich. Es ist gelungen, dass ein Teil der Gelder nach Sozialindex verteilt wird. Das ist im Vergleich zur Vergangenheit und der Mittelvergabe nach dem „Königsteiner Schlüssel“ ein echter Durchbruch. Allerdings werden viel zu wenig Finanzmittel bereitgestellt und der Anteil der Gelder, die bedarfsgerecht an die Schulen verteilt werden, ist viel zu niedrig. Zudem sollte das Programm länger als zehn Jahre laufen, also verstetigt werden.

epd: Ist denn derzeit überhaupt schon klar, wie die unterstützen Schulen das Geld verwenden? Und etwa auch mehr Schulsozialarbeiter einstellen?

Bensinger-Stolze: Uns ist wichtig, dass die Gelder dort ankommen, wo sie am meisten gebraucht werden: an Schulen in benachteiligten Stadtvierteln und bei den armen Familien und Kindern. Das Startchancen-Programm erreicht nur rund zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler - gut 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind jedoch arm beziehungsweise armutsgefährdet. Trotzdem ist das Programm natürlich ein Schritt nach vorne. Allerdings werden nur 4.000 von rund 40.000 Schulen zusätzliche Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter bekommen. Der Bedarf ist jedoch erheblich höher.

epd: Mehrere Bildungsforscher sagen, das Programm sei viel zu klein angelegt, auch die SPD ist dieser Meinung. Ist mit diesem Ansatz wirklich ein wirksames Mittel im Kampf gegen zunehmende Ungleichheit in der schulischen Bildung möglich?

Bensinger-Stolze: Ja, es stimmt, dass das Programm grundsätzlich zu klein angelegt ist. Wie groß seine Wirkung mit Blick auf mehr Förderung benachteiligter Schulen sowie deren Schülerinnen und Schüler und mehr Chancengleichheit sein wird, lässt sich im Moment noch nicht seriös abschätzen. Jetzt bedarf es guter Konzepte bei der Umsetzung. Von den Ländern erwarten wir als GEW, dass sie die Schulen und Schulleitungen bei der Administration des Programms, der Schulentwicklung, der pädagogischen Umsetzung und durch Fortbildung sowie mit zeitlichen Ressourcen unterstützen. Das ist wichtig, damit nicht immer wieder Schulen allein aufgrund fehlender Zeit und Kompetenzen am Procedere scheitern. Denn das Programm richtet sich ja gerade an die Schulen, die häufig besonders unter dem Lehrkräftemangel leiden.

epd: Sie hätten sich einen anderen Ansatz gewünscht ...

Bensinger-Stolze: Wir hatten mit dem Gutachten des Wissenschaftlers Detlef Fickermann einen Vorschlag vorgelegt, wie die Verteilung der Bundes- und Landesmittel nach Sozialindex gestaltet werden könnte - und zwar auf allen Ebenen des Bildungssystems, nicht nur bei den Bundesmitteln. Dessen Umsetzung wäre sicherlich wirksamer gewesen als die derzeitigen Pläne. Weitergehende Ansätze, die aber derzeit politisch nicht gewollt sind, sind sozialpolitische Maßnahmen, die die Kinderarmut ernsthaft bekämpfen sowie der Abbau der sozialen Selektion im Schulwesen.

epd: Warum ist das so wichtig?

Bensinger-Stolze: In kaum einem anderen Land sind die sozial bedingten Unterschiede zwischen den Schulen so groß wie in Deutschland. Wir leisten uns Schulen, in denen sich die Probleme derart konzentrieren, dass diese womöglich auch mit befristeten zusätzlichen Mitteln nur schwer erreichbar sind.

epd: Generell wird mehr Geld für die schulische Bildung gefordert. Auch viele andere Schulen, die nun nicht gefördert werden, beklagen fehlende Investitionen. Geht die Ampel hier dennoch den richtigen Weg?

Bensinger-Stolze: Ja, der Weg der Bundesregierung, die Länder in der Schulpolitik gezielt zu unterstützen, ist richtig. Die soziale Schere geht auch an den Schulen immer weiter auseinander. Deshalb muss Ungleiches ungleich behandelt werden - müssen Schule in schwierigen sozialen Lagen sowie arme Kinder und Familien besonders gefördert werden. Das Startchancen-Programm kann aber nur ein Einstieg in eine dauerhafte, solide Finanzierung benachteiligter Schulen, der Schulen insgesamt sein. Jede Regierung ist gut beraten, Bildung insgesamt aufzuwerten und soziale Schieflagen abzubauen, weil dies allein schon der eklatante Fachkräftebedarf erfordert. In jüngster Zeit sind daher zunehmend auch Stimmen aus der Wirtschaft zu hören, die davor warnen, zu viele „Bildungsverliererinnen und -verlierer“ zu produzieren, statt die Bildungspotenziale besser auszuschöpfen.

epd: Wenn die Strukturen durch das Programm erst mal aufgebaut sind, muss man hoffen, dass die Förderzusage auch auf Dauer steht. Ist das aber realistisch, wenn in anderthalb Jahren ein neuer Bundestag gewählt wird?

Bensinger-Stolze: Das Programm ist auf zehn Jahre angelegt. So lange gelten auch die finanziellen Zusagen, die jetzt gemacht worden sind. Wir werden darauf achten, dass das Programm nach diesem Zeitraum wissenschaftlich evaluiert wird. Nachdem erste Erfahrungen gesammelt worden sind, muss das Programm nachjustiert und möglichst ausgeweitet werden.

epd: Jetzt soll alles sehr schnell gehen: Laut Bildungsministerium profitieren schon ab August 2.060 Schulen. Können nach den Sommerferien auch bereits neue SchulsozialarbeiterInnen zum Einsatz kommen oder braucht das doch noch mehr Zeit?

Bensinger-Stolze: Dafür wird die Zeit wohl knapp, da die Stellenbesetzungsverfahren in der Regel länger dauern. Jetzt kommt es darauf an, die Stellen schnellstmöglich auszuschreiben.

epd: Würde man mal rein rechnerisch eine solche Stelle je Schule kalkulieren, dann bräuchte man 4.000 Fachkräfte. Sind die am Jobmarkt überhaupt verfügbar?

Bensinger-Stolze: Nein, auch hier gibt es einen Mangel, und auch hier muss stark nachgearbeitet werden, zumal die Quote der Studienanfängerinnen und -anfänger derzeit sogar eher rückläufig ist. Derzeit wird viel über fehlende Lehrkräfte sowie Erzieherinnen und Erzieher gesprochen. Aber auch die Schulsozialarbeit muss als Beruf attraktiver werden - nicht zuletzt mit Blick auf die Bezahlung, damit besonders die benachteiligten, aber perspektivisch alle Schulen ihre Arbeit auf multiprofessionelle Teams stützen können.



Bildung

Fachverband: Jugendhilfe nicht in Programmplanung eingebunden



Stuttgart (epd). Die Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit (BAG EJSA) sieht das Startchancen-Programm grundsätzlich positiv. Zugleich wendet Claudia Seibold, Referentin Bildung und verbandsinterne Kommunikation, im Gespräch mit epd sozial jedoch ein: „Dieses Vorhaben ist alleine schon dadurch, dass es eine Bund-Länder-Initiative ist und die Auswahl der Schulen in den Ländern erfolgt, stark infrage gestellt.“ Wenn schon die Auswahlkriterien in den Bundesländern auseinandergingen, könnten die nachfolgenden Maßnahmen weder gemeinsam entwickelt noch evaluiert werden, lautet die Kritik der Expertin.

Außerdem bemängelt der Fachverband, dass die Träger der Kinder- und Jugendhilfe trotz ihrer langjährigen Erfahrungen bei Förderung junger Menschen, die mit schlechteren Startchancen ins Leben gestartet sind, nicht in die Programmplanung eingebunden seien.

„Bisher sind nur in wenigen Bundesländern die Kultusministerien mit den Verantwortlichen der Kinder- und Jugendhilfe ins Gespräch gegangen. Das ist aus unserer Sicht eine der zentralen Voraussetzungen für eine gute konzeptionelle Zusammenarbeit zum Wohl der Kinder und Jugendlichen“, betonte Seibold. Zugleich warnte sie vor einen inhaltlichen Engführung des Programmes: „Die Fokussierung allein auf die Leistungen in den Fächern Deutsch und Mathe wird nicht den gewünschten Erfolg bringen.“ Eine frühzeitige Kooperation der Länder mit den Trägern „wäre wünschenswert, sinnvoll und notwendig“.

„Bewegung und soziales Lernen ermöglichen“

Um junge Menschen mit schlechteren Startchancen besser zu fördern, seien zunächst vor allem auch die Lebensbedingungen der jungen Menschen in den Blick zu nehmen. Das heiße, neben der Schule Räume und Freiräume zu fördern, die auch Bewegung und soziales Lernen ermöglichten. „Erfahrungsgemäß verbessern sich die schulischen Leistungen, wenn junge Menschen etwa künstlerisch-kreative Dinge tun, handwerklich aktiv sind oder auch Sport trieben. “Der Ausbau außerschulischer Kooperationen ist zwar in Säule 2 des Startchancen-Programms vorgesehen, jedoch ist hier eine enge thematische Eingrenzung vorgenommen worden", rügte die Expertin.

Noch sei völlig offen, ob die Schulen wirklich weitere Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter anstellen werden. „In einigen Bundesländern zeichnet sich schon ab, dass das künftige neue Personal nicht den Standards der Schulsozialarbeit folgt, sondern abgesenkte Standards zugrunde gelegt werden“, erläuterte die Expertin. Zu befürchten sei auch, dass abgesenkte Standards auch für andere Programme, die in mehreren Bundesländern schon zur Förderung benachteiligter Schülerinnen und Schüler bestehen, übernommen werden.

Außerdem sehe sie kritisch, dass auslaufende Programme mit den Mitteln des Startchancen-Programms weitergeführt werden können: „Das bedeutet für diese Schulen, dass ein Teil des Geldes für bereits bestehende Angebote verwendet wird und somit nur der bisherige Status quo erhalten wird.“



Bildung

Bericht: Bildungssystem arbeitet am Anschlag




Fachbücher auf der Bildungsmesse Didacta in Köln
epd-bild/Guido Schiefer
Der aktuelle Bildungsbericht liegt vor, und er enthält eine Fülle von Problemlagen. Schule, Kita, berufliche Bildung - vieles liegt demnach trotz Wachstum im Bildungsbereich im Argen. Und schnelle Abhilfe scheint nicht in Sicht. Nicht nur Gewerkschaften schlagen Alarm.

Frankfurt a.M. (epd). Der neue Bildungsbericht „Bildung in Deutschland 2024“ zeigt, dass das deutsche Bildungssystem vor etlichen grundlegenden Problemen steht. Denn angesichts des alarmierenden Befundes - Mangel an Fachpersonal, unzureichender Finanzierung, stagnierende und zum Teil sogar sinkende Schulleistungen sowie anhaltende soziale Ungleichheiten - kommen die Fachleute in ihrer Studie zu dem Schluss, dass das Bildungssystem bereits am Anschlag arbeitet. Sie beklagen fatale Fehlentwicklungen, die nur mit strukturellen Veränderungen zu beheben seien.

„Angesichts der vielschichtigen Herausforderungen gilt es, bereichsübergreifend alle Aktivitäten und Ressourcen klug, kohärent und nachhaltig miteinander zu verzahnen“, sagte Mitautor Kai Maaz. Denn das System arbeitet vielerorts bereits am Anschlag, nicht zuletzt aufgrund stetiger Aus- und Umbaumaßnahmen und der angespannten Situation beim Fachpersonal, sagte der Geschäftsführende Direktor des Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) und Sprecher der für den Bildungsbericht verantwortlichen Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am 17. Juni in Berlin.

Hoher Anpassungsdruck

Es gibt zahlreiche Baustellen, die zusätzlichen Anpassungsdruck mit sich bringen. „So stellt etwa die Integration von Personen mit Flucht- und Migrationserfahrung inzwischen eine Daueraufgabe und große Herausforderung dar, für die es bislang keine nachhaltigen Konzepte gibt. Bildungsprozesse müssen zudem vermehrt digital gestaltet und der Kulturwandel durch die Digitalisierung mitgedacht werden“, betonte der Forscher.

Der nationale Bildungsbericht wird alle zwei Jahre auf Basis von amtlichen Statistiken und sozialwissenschaftlichen Daten und Studien erstellt. Als systematische Bestandsaufnahme des gesamten Bildungswesens analysiert auch die aktuelle Ausgabe langfristige Entwicklungen und benennt neue Impulse.

Bemerkenswert ist der Umstand, dass die finanziellen Investitionen in Bildung steigen. Doch sie decken trotzdem nicht den Bedarf. Auch die Zahl der Bildungseinrichtungen lag 2022 um sechs Prozent über dem Stand von 2012. Gleiches gilt für die Anzahl der Bildungsteilnehmer: Sie hat sich 2022 im Vergleich zu 2012 erhöht - auf 17,9 Millionen Personen. Die Expansion von Bildungsangeboten hält also bei teils steigender Nachfrage an. In einigen Bereichen, etwa bei der Ganztagsbetreuung, übersteigt die Nachfrage oftmals das Angebot.

Maaz: Viele Reformen ohne Erfolg

Maaz merkte kritisch an, dass das Bildungssystem stetig, aber eher reaktiv als proaktiv um- und ausgebaut werde. Gerade in den vergangenen zwei Dekaden seien viele Maßnahmen ergriffen worden, um Bildungsangebote auszuweiten, ihre Qualität zu verbessern und große Förderprogramme auf den Weg zu bringen. Doch ohne durchschlagenden Erfolg: „Vor dem Hintergrund großer gesamtgesellschaftlicher Veränderungen gilt es, einen Verständigungsprozess darüber anzustoßen, welche Ziele, Verantwortlichkeiten und Aufgaben das Bildungssystem und seine Institutionen übernehmen können und sollen“, sagte Maaz. Wichtig sei dabei, auf geteilte Ziele hinzuarbeiten und zu evaluieren, ob diese erreicht würden. Er spricht sich für ein „wissenschaftsbasiertes Monitoring-System“ aus, das es noch nicht in allen Bundesländern gibt. Das könne helfen, die Wirkung von Bildungsreformen wissenschaftlich zu überprüfen.

Zur Rekrutierung von Fachpersonal für Bildungseinrichtungen hieß es, die Lage sei weiterhin sehr schwierig. Beispiel Kindertageseinrichtungen: Dort ist die Zahl des pädagogischen Personals in den vergangenen zehn Jahren zwar um 54 Prozent gestiegen. In Westdeutschland wird dennoch eine bis 2035 anhaltende Personallücke erwartet. In Ostdeutschland kann der Personalbedarf inzwischen weitestgehend gedeckt werden, allerdings stellt sich der Personal-Kind-Schlüssel ungünstiger dar als in den westdeutschen Bundesländern.

In der beruflichen Bildung ist die Lehrkräftesituation der Studie zufolge ebenfalls sehr angespannt, zumal mehr als die Hälfte der Lehrenden bereits 50 Jahre und älter ist. Auch im Weiterbildungssektor fehlt Lehrpersonal: 65 Prozent der Einrichtungen berichteten von wachsenden Problemen, geeignete Fachkräfte zu finden.

Schulleistungen gehen teilweise zurück

Internationale und nationale Bildungsstudien haben laut Maaz gezeigt, dass die Schulleistungen sowohl im Primarbereich als auch in der Sekundarstufe I stagnieren oder sogar zurückgehen. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die die Mindeststandards im Lesen nicht erreichen, ist demnach insgesamt und im internationalen Vergleich groß. Am Ende der Schulzeit verließen 2022 erneut mehr Jugendliche die allgemeinbildenden Schulen ohne Abschluss. Das sind 6,9 Prozent gegenüber 5,7 Prozent im Jahr 2013.

Auch bestehen sozial bedingte Ungleichheiten weiterhin in erheblichem Maße fort. Nur 32 Prozent der Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien erhalten eine Gymnasialempfehlung, verglichen mit 78 Prozent aus privilegierten Familien. Damit bleibt es weiter so, dass über den Bildungserfolg vor allem das Elternhaus und weniger die Schule entscheidet. Schon im Grundschulalter erreichen viele Kinder die Mindestanforderungen nicht. Maaz: „Wir sollten uns außerdem bewusst machen, dass soziale Bildungsungleichheiten nicht ausschließlich dort entstehen, wo sie in Bildungsstudien sichtbar werden, sondern auch und vor allem schon in der frühen Kindheit.“

Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, sagte: „Der Nationale Bildungsbericht macht erneut deutlich, dass die soziale Ungleichheit im Bildungssystem nach wie vor sehr hoch ist.“ Die Ursache dafür liege auch in einem Schulsystem, das Kinder und Jugendliche sehr früh auf verschiedene Schultypen verteile. „Es gelingt zu oft nicht, Kindern und Jugendlichen die Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Ausbildung und damit Berufslaufbahn mit auf den Weg zu geben.“ So sei der Anteil leseschwacher Viertklässler in den letzten Jahren gewachsen. Ebenso ist der Anteil von Jugendlichen, die das System ohne Schulabschluss verlassen, zwischen 2020 und 2022 noch gestiegen."

Kohlrausch: Bildungssystem besser finanzieren

Für die Jugendlichen braucht es laut Kohlrausch dringend gute Angebote, damit ihnen der Übergang in eine berufliche Ausbildung gelingt. „Vor allem aber bedarf es einer besseren finanziellen Ausstattung des Bildungssystems, um etwa Schulsanierungen und den Ausbau von Ganztagsschulen finanzieren und der teilweise eklatanten Personalnot etwas entgegensetzen zu können.“

„Der Bildungsbericht zeigt einmal mehr, dass Personalmangel, soziale Ungleichheit und junge Menschen ohne Schul- und Berufsabschlüsse große Herausforderungen des Bildungssystems bleiben“, sagte Elke Hannack, die stellvertretende DGB-Vorsitzende. Ohne massive Investitionen in Personal und Qualität drohten sich die Probleme des chronisch unterfinanzierten Bildungswesens weiter zu verschärfen. „Die Schuldenbremse erweist sich längst als Investitionsbremse, gerade im Bildungsbereich - deshalb gehört sie erneut ausgesetzt und grundlegend reformiert“, forderte die Gewerkschafterin: „Junge Menschen brauchen erstklassig ausgestattete Schulen dringender als ausgeglichene öffentliche Haushalte. Einsparungen im Bereich Bildung sind angesichts dieser Herausforderungen Wahnsinn.“

Für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sagte die Vorsitzende Maike Finnern, dass das Bildungssystem seine Leistungen weiterentwickeln müsse, um Menschen, die nach Deutschland kommen, besser zu integrieren. „Das gilt für die Kinder und Jugendlichen, die in den Kitas und Schulen Bildung vom ersten Tag an brauchen. Das gilt aber auch für die Erwachsenen, die in ihrem Herkunftsland beispielsweise als Erzieherinnen, Erzieher oder Lehrkräfte ausgebildet worden sind.“ Die Anerkennung ihrer Qualifikationen müsse erleichtert, die Verfahren müssten beschleunigt werden. „Angesichts des riesigen Fachkräftemangels im Bildungsbereich ist es unverantwortlich, das vorhandene Potenzial nicht zu nutzen.“

Dirk Baas



sozial-Politik

Missbrauch

Kabinett gibt grünes Licht für Anti-Missbrauchsgesetz




Flyer des Hilfe-Telefons Sexueller Missbrauch
epd-bild/Rolf Zöllner
Mit einem neuen Gesetz sollen Kinder und Jugendliche besser vor sexuellem Missbrauch geschützt werden. Der Entwurf der Bundesregierung sieht vor, Beratungssysteme auszubauen und die Aufarbeitung vergangener Missbrauchsfälle zu erleichtern.

Berlin (epd). Das Bundeskabinett hat am 19. Juni in Berlin das lange erwartete Gesetz zum Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt auf den Weg gebracht. „Zu viele Kinder und Jugendliche mussten Erfahrungen mit sexueller Gewalt durchmachen - im familiären Bereich, im sozialen Umfeld oder im digitalen Raum“, sagte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) nach der Kabinettssitzung. Durchschnittlich seien es im vergangenen Jahr 50 Jungen und Mädchen pro Tag gewesen.

Zentraler Kern des Gesetzentwurfs ist die gesetzliche Verankerung des Amtes der unabhängigen Missbrauchsbeauftragten (UBSKM), Kerstin Claus. Die oder der Beauftragte soll künftig vom Bundestag gewählt werden und dem Parlament sowie dem Bundesrat und der Regierung regelmäßig Bericht erstatten, um den staatlichen Schutz für Kinder und Jugendliche und die Aufarbeitung vergangener Missbrauchsfälle zu verbessern. Die Daten soll ein neues Forschungszentrum zu sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen liefern. Es ist laut Claus wichtig, das Dunkelfeld - die Zahl der nicht polizeilich bekannten Fälle - bei sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zu ermitteln und diese als „Richtschnur“ für politisches Handeln zu verwenden.

„Maßstäbe für die institutionelle Aufarbeitung“

„Politisch ist für mich die geplante Einführung einer Berichtspflicht gegenüber dem Bundestag, dem Bundesrat und der Bundesregierung von besonderer Bedeutung“, sagte die Beauftragte. Das hierfür erforderliche Zentrum für Forschung zu sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen sei bereits im Aufbau. Mit diesem Bundesgesetz werden auch erstmals Maßstäbe für Anforderungen an die individuelle, institutionelle und gesellschaftliche Aufarbeitung geschaffen.

Die sexualisierten Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche gehen seit Jahren nicht zurück. Polizeilich bekannt wurden 16.375 Fälle im vergangenen Jahr. Insgesamt verzeichnet die Polizeiliche Kriminalstatistik für das vergangene Jahr 18.497 Opfer. 2.206 Kinder waren jünger als sechs Jahre.

Mit dem „Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ sollen außerdem Betroffene in ihren Rechten gestärkt werden. Geplant ist ein Netz von Beratungsstellen, die ihnen bei der Aufarbeitung ihrer Erfahrungen zur Seite stehen. Jugendämter und -einrichtungen müssen dazu Akteneinsicht gewähren.

Betroffenenrat sieht wichtigen ersten Schritt

Auch der Betroffenenrat, der die Arbeit der Missbrauchsbeauftragten begleitet, und die unabhängige Aufarbeitungskommission werden gesetzlich abgesichert. „Dieser Gesetzentwurf, an dem wir im Rahmen der Verbändeanhörung selbst mitgewirkt haben, ist ein erster Schritt, dass Betroffenen nachhaltig Wege zur Gerechtigkeit eröffnet werden und der Staat die lang eingeforderte Verantwortung übernimmt“, hieß es. Zugleich kritisierte er aber, das Akteneinsichtsrecht für die Betroffenen sei zu eng gefasst. Es müsse auch andere Bereiche wie Schule, Sport und Kirchen einbeziehen. Keine Institution dürfe sich der Aufarbeitung verweigern.

Betroffenen-Verbände halten die Finanzierung des oder der Beauftragten und ihres Amtes nicht für ausreichend. „Im Gesetz braucht es zudem deutliche Nachbesserungen bei der finanziellen und personellen Ausstattung der ehrenamtlich arbeitenden Kommission. Nur so kann sie die zusätzlichen Aufgaben, die das Gesetz ihr anvertraut, erfüllen.“

SPD dringt auf mehr Geld für Aufarbeitung

Auch der Innenpolitiker und religionspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Lars Castellucci, mahnte mit Blick auf die laufenden Haushaltsverhandlungen in Richtung des FDP-geführten Finanzministeriums: "Es darf nicht sein, dass der Schutz Betroffener und die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt an finanziellen Hürden scheitern.”

Denise Loop, Obfrau im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, und Lamya Kaddor, Sprecherin für Innenpolitik:

Mit dem heutigen Kabinettsbeschluss heben wir den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt strukturell auf die nächste Stufe. Mit dem UBSKM-Gesetz werden wir das Amt einer unabhängigen Bundesbeauftragten, einen angegliederten Betroffenenrat und eine unabhängige Aufarbeitungskommission verstetigen. Durch die vorgesehene Berichtspflicht an den Deutschen Bundestag wird das Ausmaß von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche - sowie Empfehlungen zur Verbesserung - direkt ins Parlament getragen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wird bundesweit Präventionsangebote für Fachkräfte, Eltern und Kinder entwickeln. Um eine bessere Aufarbeitung zu ermöglichen, werden wir die Einsicht in Akten verbessern und problematische Kinderschutzfälle wissenschaftlich untersuchen.

Laut Polizeilicher Kriminalstatistik wurden in Deutschland 2023 rund 18.500 Kinder unter 14 Jahren Opfer von sexuellem Missbrauch bzw. eines Missbrauchsversuchs. Damit steigt die Zahl der Betroffenen gegenüber den Vorjahren weiter an und ist auf dem höchsten Punkt seit 2004. Die Dunkelziffer wird weitaus höher geschätzt und drängt auf unser politisches Handeln. Täter:innen stehen häufig in einem direkten Verhältnis zu den Betroffenen, aber auch durch Kontaktaufnahme im Internet können Täter:innen aktiv werden. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das in allen gesellschaftlichen Schichten existiert.

Als Grüne Bundestagsfraktion werden wir den Kabinettsentwurf im kommenden parlamentarischen Verfahren konstruktiv und zügig begleiten. Mit dem UBSKM-Gesetz verbessern wir den Kinderschutz, die Partizipation von Betroffenen und die Prävention.

Laut Familienministerin Paus sind aktuell knapp zwölf Millionen Euro jährlich für das Amt der Missbrauchsbeauftragten vorgesehen. Zusätzliche 2,5 Millionen Euro sollen für den Aufbau des Beratungsnetzes für Betroffene und knapp zwei Millionen für das Forschungszentrum aufgewendet werden. Details zur Finanzierung wollte Paus mit Verweis auf die laufenden Haushaltsverhandlungen nicht nennen. Mit dem Gesetz wird ein Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP umgesetzt. Es soll Anfang 2025 in Kraft treten.

Bettina Markmeyer, Lena Köpsell


Missbrauch

Hintergrund

Das steht im Gesetz gegen sexuellen Missbrauch



Berlin (epd). Das Amt der Missbrauchsbeauftragten wird gesetzlich verankert, Betroffene sollen mehr Unterstützung erfahren und der vorbeugende Kinderschutz verbessert werden. Das sind die Kernelemente des Gesetzentwurfs von Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne), den das Bundeskabinett am 19. Juni in Berlin gebilligt hat. Er wird nun im Bundestag beraten. Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Was ist das Ziel des Gesetzes? „Kinder und Jugendliche vor allen Formen von Gewalt, insbesondere vor sexueller Gewalt und Ausbeutung zu schützen, zählt zu den grundlegenden Aufgaben des Staates und der Gesellschaft“, lautet der erste Satz des Entwurfs.

Was ändert sich für das Amt der Missbrauchsbeauftragten? Das beim Bundesfamilienministerium angesiedelte Amt wird gesetzlich abgesichert. Die Aufgaben werden erweitert. Die oder der Missbrauchsbeauftragte wird künftig auf Vorschlag der Regierung vom Bundestag gewählt. Die Amtszeit beträgt fünf Jahre. Eine einmalige Wiederwahl ist möglich. Zum Amt gehören der Arbeitsstab, der ehrenamtliche Betroffenenrat und die Unabhängige Aufarbeitungskommission.

Was ändert sich für Betroffene? Das Gesetz verleiht ihnen eine stärkere Position. Wenn sie sich mit dem erlittenen Unrecht auseinandersetzen wollen, sollen sie künftig durch Fachleute unterstützt werden. Die zuständigen Behörden werden verpflichtet, „bei Vorliegen eines berechtigten Interesses Einsicht in die sie als Minderjährige betreffenden Erziehungshilfe-, Heim oder Vormundschaftsakten zu gestatten und Auskunft zu den betreffenden Akten zu erteilen“. Alle Akten müssen nach dem 30. Geburtstag der Betroffenen noch weitere 20 Jahre aufbewahrt werden. Dafür wird in das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) der Paragraf 9 b „Aufarbeitung“ eingefügt.

Wie wirkt sich das Gesetz auf die Politik aus? Der oder die Beauftragte muss dem Bundestag regelmäßig über das Ausmaß sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche berichten sowie über den Stand von Hilfen, Vorbeugung und Aufarbeitung. Daten und Erkenntnisse soll ein neues Forschungszentrum liefern. Die Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus hat bereits eine Dunkelfeldstudie angekündigt. Die künftigen Berichte enthalten eine Stellungnahme des Betroffenenrats sowie einen Bericht der Aufarbeitungskommission und beziehen Erkenntnisse aus den Bundesländern ein.

Wird mehr getan für Vorbeugung und Aufklärung? In der Kinder- und Jugendhilfe werden überall Schutzkonzepte verbindlich, ob im Jugendclub oder im Familienfreizeitheim. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) soll Materialien zur Information und Vorbeugung für Fachkräfte, Eltern und Kinder erarbeiten.

Wie werden die Kosten beziffert? Das Budget der Missbrauchsbeauftragten beträgt in diesem Jahr 11,7 Millionen Euro. Von 2025 an sollen jährlich rund 2,5 Millionen Euro für die Unterstützung von Betroffenen und 1,95 Millionen Euro für das Forschungszentrum zu sexueller Gewalt hinzukommen, 600.000 Euro weniger als zunächst geplant. Für 2025 wird insgesamt mit Mehrausgaben von 4,45 Millionen Euro gerechnet, ab 2026 jährlich mit 7,4 Millionen Euro. Das Geld soll aus dem Etat des Familienministeriums kommen.

Wann wird das Gesetz wirksam? Es soll am 1. Januar 2025 in Kraft treten, Bestimmungen zur BZgA und der geplanten Telefonberatung ein Jahr später. Mit dem Inkrafttreten wird die derzeitige „Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ (UBSKM) zur „Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen“.

Bettina Markmeyer


Flüchtlinge

Kunstaktion erinnert an mehr als 100 Millionen Flüchtlinge




100 Boote vor dem Berliner Dom erinnern an Flüchtlinge.
epd-bild/Christian Ditsch
Mit Slogans bemalte Boote machten in den vergangenen Monaten bundesweit auf das Schicksal von Geflüchteten aufmerksam. Nun wurden sie als Meer von Booten mitten in Berlin aufgestellt. Verbunden mit Forderungen nach einem fairen Asylsystem.

Berlin (epd). Zum Weltflüchtlingstag ist am 20. Juni mit einer Kunstaktion vor dem Berliner Dom an mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht erinnert worden. Dazu wurden im Lustgarten am Dom rund 100 jeweils fünf Meter lange Boote aus Milchkarton aufgestellt. Parallel wurden in der Kirche die Namen von auf der Flucht gestorbenen Menschen verlesen. Dabei wurden auch Todesumstände und -orte vorgetragen.

Der Berliner evangelische Bischof Christian Stäblein erklärte bei einem Gedenkgottesdienst im Berliner Dom, es sei wichtig, dass nicht „falsche Konkurrenzen“ entstehen zwischen Menschen auf der Flucht und anderen, „die hier Heimat und zu Hause haben“. Stäblein, der auch Flüchtlingsbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist, erinnerte überdies an illegale Zurückweisungen an EU-Außengrenzen, bei denen Menschen schwer misshandelt würden. Mit Blick auf die Boote vor dem Berliner Dom sagte er: „Man lässt niemanden ertrinken.“

Rekordzahl an Menschen auf der Flucht

Stäblein betonte zum Weltflüchtlingstag, weltweit seien mit 120 Millionen Menschen in diesem Jahr so viele auf der Flucht wie nie zuvor. Sie würden vor Gewalt, Krieg, Verfolgung oder der Klimakatastrophe fliehen: „Wir können nur erahnen, welche Verzweiflung und Not zu ihrem Weg gehört und wie viele Menschen buchstäblich auf der Strecke bleiben, verdursten oder ertrinken.“

Die Boote wurden nach Angaben des AWO Landesverbands Sachsen-Anhalt im vergangenen Jahr von rund 600 Freiwilligen gefaltet und nun für einen Tag vor dem Berliner Dom aufgestellt. In den vergangenen Monaten hatten sie schon an zahlreichen Orten bundesweit auf die Schicksale von Flüchtenden aufmerksam gemacht. Zur Begründung teilte die AWO mit, dass in einer Zeit, in der die extreme Rechte Zulauf erhalte und trotz menschenfeindlicher Ideologien in Parlamente gewählt werde, sei zivilgesellschaftliches Engagement wichtiger denn je.

Mahnmal an Politik und Gesellschaft

Der Vorsitzende des Präsidiums des AWO Bundesverbands, Michael Groß, bezeichnete die in Berlin zusammengeführten Boote als Mahnmal an politische Entscheidungsträger und die Gesellschaft. „Wir müssen Fluchtursachen nachhaltig bekämpfen und ein faires Asylsystem installieren, das die Menschenrechte uneingeschränkt achtet und sichere Fluchtrouten gewährleistet“, betonte Groß.

Die Berliner Domgemeinde erklärte zur parallel stattfindenden Lesung der Namen von ums Leben gekommenen Flüchtlingen, damit solle das Ausmaß der Verzweiflung der Gestorbenen auf erschütternde Weise spürbar werden. 2023 sei das bisher tödlichste Jahr der weltweiten Migrationsbewegung gewesen, hieß es weiter. Mehr als 100 Millionen Menschen seien auf der Flucht vor Kriegen, Hunger oder Naturkatastrophen. Das seien 1,4 Prozent der Weltbevölkerung.

Bettina Gabbe


Flüchtlinge

Dokumentation

Offener Brief: Menschen schützen, statt Asylverfahren auslagern



Über 300 Organisationen der Zivilgesellschaft haben einen Offenen Brief an Bundeskanzler Scholz unterzeichnet. Sie bezweifeln, dass die diskutierte Auslagerung von Asylverfahren völker- und menschenrechtlichen Vorgaben entsprechen kann. Sie fordern, diesen Plänen eine klare Absage zu erteilen. epd sozial dokumentiert den Appell vom 19. Juni 2024.

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, sehr geehrte Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten,

Menschlichkeit ist sowohl in Deutschland als auch in Europa die Basis unseres Zusammenlebens. Sie zu schützen, ist unsere gesellschaftliche Pflicht. Dazu gehört auch: Die unbedingte Achtung der Menschenwürde. Sie steht aus gutem Grund seit 75 Jahren in unserem Grundgesetz und gilt für alle Menschen, egal woher sie kommen.

Ausgerechnet am Weltflüchtlingstag (20. Juni, die Redaktion) beraten Sie die Idee der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes aus Deutschland und Europa in Drittstaaten. Wir, 309 Organisationen und Initiativen, möchten Teil einer Gesellschaft sein, die geflüchtete Menschen menschenwürdig aufnimmt. Wer Schutz bei uns in Deutschland sucht, soll ihn auch hier bekommen. Das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht.

Bitte erteilen Sie Plänen zur Auslagerung von Asylverfahren eine klare Absage.

Als im Flüchtlingsschutz aktive Organisationen und Initiativen wissen wir: Aufnahme und Teilhabe funktionieren, wenn alle an einem Strang ziehen und der politische Wille vorhanden ist. Vor den derzeitigen Herausforderungen verschließen wir dabei nicht die Augen. Wir begegnen ihnen vielmehr mit konstruktiven, praxisnahen und somit tatsächlich realistischen Vorschlägen für eine zukunftsfähige Aufnahme. Dafür setzen wir uns jetzt und auch zukünftig mit allen uns zur Verfügung stehenden Kräften ein - gerade auch auf kommunaler Ebene.

Pläne, Flüchtlinge in außereuropäische Drittstaaten abzuschieben oder Asylverfahren außerhalb der EU durchzuführen, funktionieren hingegen in der Praxis nicht, sind extrem teuer und stellen eine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit dar. Sie würden absehbar zu schweren Menschenrechtsverletzungen führen, wie pauschale Inhaftierung oder dass Menschen in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen menschenunwürdige Behandlung oder Verfolgung drohen. Bei Geflüchteten lösen solche Vorhaben oft große Angst aus und erhöhen die Gefahr von Selbstverletzungen und Suiziden. Dies gilt gerade für besonders schutzbedürftige Geflüchtete wie Menschen mit Behinderung, Kinder, queere Menschen, Überlebende von Folter oder sexualisierter Gewalt. Das zeigen uns die Erfahrungen der letzten Jahre, etwa das Elend auf den griechischen Inseln als Folge der EU-Türkei-Erklärung.

Aktuell leben drei Viertel der geflüchteten Menschen weltweit in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Setzen Sie sich deswegen für eine glaubhafte, nachhaltige und gerechte globale Verantwortungsteilung im Flüchtlingsschutz ein.

Wir sind uns sicher: Realistische und menschenrechtsbasierte Politik stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dass Anfang des Jahres so viele Menschen wie noch nie in Deutschland auf die Straße gegangen sind, um ein Zeichen für eine offene und diverse Gesellschaft und gegen Rechtsextremismus zu setzen, macht uns Mut. Eine zukunftsfähige Gesellschaft braucht Vielfalt, Offenheit und ein konsequentes Einstehen für Menschenrechte - für alle.



Gewerkschaften

Ver.di: Hohe Arbeitsbelastung in Kitas verstärkt Fachkräftemangel



Berlin (epd). Die Gewerkschaft ver.di hat zum ersten Mal Detailergebnisse der Arbeitszeitbefragung in Kitas veröffentlicht. Sie verdeutlichten die gravierenden Probleme in den Kindertagesstätten, heißt es in einer Mitteilung vom 17. Juni.

Die Arbeitszeitbefragung, an der sich bundesweit rund 12.600 Erzieherinnen und Erzieher beteiligten, belege die Personalengpässe, erklärte die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle: 56 Prozent der Beschäftigten berichten von sinkenden Beschäftigtenzahlen in ihren Kitas. Offene Stellen werden aufgrund der Arbeitsmarktlage (66 Prozent) und der schlechten Arbeitsbedingungen (54 Prozent) nicht mehr nachbesetzt.

20.000 Fachkräfte fehlen aktuell

„Wir haben bei den Erzieherinnen und Erziehern die größte Fachkräftelücke aller Einzelberufe. Das ist dramatisch und zeigt, dass hier dringend Maßnahmen erforderlich sind, um der Situation entgegenzuwirken“, betonte die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle. „Die Fachkräftelücke in den Kitas wächst von Jahr zu Jahr. Momentan liegt sie bei über 20.000.“ Behle wies darauf hin, dass in den Kitas überwiegend Frauen beschäftigt sind, die in Teilzeit arbeiten.

Die Situation sei so, dass sich 88 Prozent der Beschäftigten nach der Arbeit ausgebrannt und leer fühlten und 85 Prozent sich in ihrer arbeitsfreien Zeit nicht mehr erholen und abschalten könnten. 41,1 Prozent der Beschäftigten verzichtet aufgrund der Arbeitssituation auf Pausen. Viele Beschäftigte machen regelmäßig Überstunden, um nicht besetzte Stellen auszugleichen und ausgefallene Beschäftigte zu vertreten.

„Diese Aussagen machen deutlich, dass es innerhalb des Systems keine Ressourcen gibt, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken“, erläuterte Behle. „Wir haben die Teilzeit-Beschäftigten auch danach gefragt, ob sie Möglichkeiten der Aufstockung sehen würden. Das haben sie aufgrund ihrer derzeitigen Überlastung verneint. Die Belastung in den Kitas ist so hoch, dass fast alle Kolleginnen sich wünschen, weniger zu arbeiten und ihre Arbeitszeit zu reduzieren.“



Arbeit

Böckler-Stiftung: 2023 deutlich mehr Streiks in Deutschland



Düsseldorf (epd). Im vergangenen Jahr ist in Deutschland deutlich mehr gestreikt worden als 2022. Wegen Streiks fielen 2023 nach einer Schätzung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung rechnerisch mehr als 1,5 Millionen Arbeitstage aus, wie sie am 20. Juni in Düsseldorf mitteilte. Das seien mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr mit 674.000 Ausfalltagen.

In Deutschland habe es 312 Arbeitskämpfe gegeben. Das sei ein „neues Rekordniveau“, heißt es in der Arbeitskampfbilanz 2023 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Stiftung. Die Arbeitskämpfe hätten zu mehr als 10.000 Arbeitsniederlegungen in Betrieben und Einrichtungen insgesamt geführt, an denen sich 847.000 Menschen beteiligten. Das seien etwas weniger Teilnehmende als im Vorjahr (930.000).

Inflation als Konflikttreiber

Die hohe Konfliktintensität in den Tarifverhandlungen in Deutschland erklären die Wissenschaftler mit der starken Inflation. Die Auswirkungen mehrerer Arbeitskämpfe seien unmittelbar im Alltag vieler Menschen zu spüren gewesen, erklärte die Stiftung. So habe es etwa die Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst, im Nahverkehr, an den Flughäfen und bei Post und Bahn gegeben.

Die Arbeitskampfbilanz ist laut WSI eine Schätzung auf Basis von Gewerkschaftsangaben und Medienberichten.



Rheinland-Pfalz

Beauftragte: Lücken bei Gesundheitsversorgung behinderter Menschen




Ellen Kubica
epd-bild/Peter Pulkowski/MASTD

Mainz (epd). Menschen mit Behinderung haben nach Aussage der Landesbeauftragten Ellen Kubica (Grüne) auch in Rheinland-Pfalz vielfach noch immer keinen Zugang zu qualifizierter ärztlicher Betreuung. Im Gesundheitssystem gebe es weiterhin „unheimlich viele Barrieren“, sagte sie in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). „In vielen Gegenden werden Menschen mit Behinderung ins Krankenhaus geschickt, weil sie keinen Facharzt finden.“

Dies habe teils fatale Folgen, wenn etwa Krebsvorsorgeuntersuchungen nicht wahrgenommen werden könnten, sagte Kubica. Es gebe kaum Frauenärzte, die auf mobilitätseingeschränkte Patientinnen eingestellt seien. Auch eine Psychotherapie für Menschen mit Behinderung werde kaum angeboten.

Kubica, die das im Mainzer Sozialministerium angesiedelte Amt der Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen Ende 2023 übernommen hatte und selbst auf einen Rollstuhl angewiesen ist, will in ihrer neuen Funktion die Probleme von Frauen mit Behinderung stärker in den Blick nehmen. „Frauen mit Behinderung sind überdurchschnittlich von Gewalt bedroht oder betroffen“, sagte sie.

„In anderen Ländern gibt es das nicht“

Von der jüngsten Debatte um die vom Land bekanntgegebenen Änderungen an den Förderschulen zeigte sie sich überrascht. „Manche bezeichnen das schon als Kulturkampf“, sagte Kubica zur Vehemenz der Diskussionen. Die Entscheidung des Bildungsministeriums, Kinder mit Lernbehinderung künftig immer zuerst an der gewöhnlichen Grundschule einzuschulen, sei richtig. Ohne Vorliegen zusätzlicher Einschränkungen von einer „Lernbehinderung“ zu sprechen und davon die Schullaufbahn eines Kindes abhängig zu machen, sei eine „sehr deutsche Erfindung“, kritisierte sie. „In anderen Ländern gibt es das so nicht.“

Die Vorstellungen von Menschen mit Behinderung über ihren Lebensweg hätten sich in den vergangenen Jahren spürbar geändert. Auch immer mehr Eltern wünschten sich für ihre Kinder eine Alternative zu Förderschule und anschließender Beschäftigung in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Es sei aber nicht einfach, sich ein objektives Bild darüber zu machen, wie zufrieden oder unzufrieden die Menschen in den Werkstätten seien, räumte Kubica ein. Fakt sei jedenfalls, dass Alternativen wie das zuerst von Rheinland-Pfalz eingeführte Budget für Arbeit und Anstellungen bei normalen Arbeitgebern sich großer Nachfrage erfreuten.

Bis zu ihrem Wechsel in den Landesdienst war Ellen Kubica Projektleiterin beim Verein „Bildungs- und Forschungsinstitut zum selbstbestimmten Leben Behinderter“ (bifos) und Vorsitzende des kommunalen Mainzer Beirats für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Außerdem gehört sie der Grünen-Fraktion im Mainzer Stadtrat an, trat allerdings bei der jüngsten Kommunalwahl nicht mehr erneut an.

Karsten Packeiser



sozial-Branche

Gesundheit

Erste Hilfe in der Schule: "Nur nichts zu tun, ist ein Fehler"




Zwei Schüler üben eine Herz-Lungen-Massage.
epd-bild/Nicole Kiesewetter
Mehr Mut zur Reanimation: Mediziner gehen in Schulen, um Kindern lebensrettende Maßnahmen zu zeigen, vor denen Erwachsene sich im Notfall häufig scheuen. Das ist in Skandinavien seit Jahren etabliert.

Pasewalk (epd). „Nun ist der Nächste dran. Bitte einmal ansprechen, dann Hilfe holen, und nun fangt an zu drücken.“ Der Notfallmediziner Bernd Müllejans schaut in 25 Paar skeptische Kinderaugen, bis sich die ersten Fünftklässler der evangelischen St. Nikolaischule im vorpommerschen Pasewalk nach vorn trauen, um mit einer lebensechten Puppe eine Herz-Lungen-Massage zu üben. „Denkt immer dran, wenn ihr in so eine Notfallsituation geratet: Ihr könnt nichts falsch machen - nur nichts zu tun, ist ein Fehler.“

Bei einem Herzstillstand beginnen bereits nach drei Minuten ohne die lebenswichtige Sauerstoffzufuhr erste Hirnzellen abzusterben, hat der Chefarzt für Anästhesie an der Asklepios Klinik Pasewalk zuvor den Kindern erklärt. Laut Statistiken ist es Rettungsdiensten aber im Schnitt erst zehn Minuten nach der Alarmierung möglich, die Betroffenen vor Ort zu behandeln. „Wenn also bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes keine Wiederbelebungsmaßnahmen durchgeführt wurden, sind schwerste Hirnschäden mehr als wahrscheinlich“, erklärt Müllejans.

In Deutschland reanimieren Laien zu wenig

Die Laienreanimationsquote in Deutschland liege aktuell unter 50 Prozent, „was bedeutet, dass bei jedem zweiten Herz-Kreislauf-Stillstand Hilfe erst durch den Rettungsdienst kommt“, erklärt der Chefarzt. In der Regel sei das aber bereits zu spät, und so sterben in Deutschland jährlich um die 70.000 Menschen nach erfolglosen Maßnahmen zur Herz-Lungen-Wiederbelebung.

Die Idee, bereits Grundschulkindern die lebensrettenden Maßnahmen näherzubringen, trägt der Anästhesist bereits einige Zeit mit sich. „Die meisten Erwachsenen haben nur einmal in ihrem Leben Berührung mit einem Wiederbelebungskurs, nämlich wenn sie den Erste-Hilfe-Kurs zum Führerscheinerwerb besuchen und dann nie mehr wieder. Das ist definitiv zu wenig“, sagt Müllejans. In skandinavischen Ländern wie Dänemark zeigt ein verpflichtender Schulunterricht in der Reanimation Wirkung.

Dort liegt die Laienreanimationsquote inzwischen bei 80 Prozent. Sie hat sich seit Einführung der Unterrichtseinheiten „Herz-Lungen-Wiederbelebung“ vor 20 Jahren verdreifacht und die Überlebensrate nach Herz-Kreislauf-Stillstand konnte verdoppelt werden. Müllejans: „Wir wissen, dass die wesentlichsten Gründe für eine fehlende Hilfe Unsicherheit und Angst sind. Berührungsängste wiederum können durch eine frühzeitige Schulung im Kindesalter reduziert werden.“

Schulausschuss empfiehlt Wiederbelebungsunterricht

Die Fachgesellschaft „Deutscher Rat für Wiederbelebung“ fördert die Ausbildung von Kindern mit ihrem Projekt „Kids save lives“ (Kinder retten Leben) und weist darauf hin, dass der Schulausschuss der Kultusministerkonferenz seit 2014 zwei Schulstunden Wiederbelebungsunterricht im Jahr ab Klasse 7 empfiehlt. Die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin stellt auf ihrer Plattform „schuelerrettenleben.de“ Informationen und Unterrichtsmaterialien zur Verfügung.

In Pasewalk möchte Nikolai-Schulleiter Jörg Hartmann das Projekt regelmäßig in den Unterricht integrieren: „Wenn 70.000 Menschen dadurch sterben, dass ihnen nicht schnell genug geholfen wird, dann ist das siebenmal die Bevölkerung von Pasewalk. Da greift die Statistik als überzeugendes Argument.“

Müllejans verweist darauf, dass jeder grundsätzlich das notwendige Werkzeug bei sich habe, „denn die ersten Wiederbelebungsmaßnahmen erfordern nur unsere zwei Hände“. Die Formel für eine erfolgreiche Wiederbelebung: Erstens prüfen (Bewusstsein, Atmung), dann rufen (Hilfe und den Rettungsdienst über die in Europa einheitliche Notrufnummer 112) und als drittens drücken - „und zwar 100 Mal pro Minute möglichst ohne Unterbrechung den Brustkorb 5 bis 6 cm tief eindrücken, bis der Rettungsdienst übernimmt“.

Mit Musik geht es besser

Und weil auch in diesem Fall mit Musik alles besser geht, üben die Kinder an diesem Vormittag das Drücken mit Musik im Hintergrund. „Highway to Hell“ von AC/DC und „Stayin' Alive“ von den BeeGees haben zwischen 100 und 120 Schläge pro Minute, „und damit den perfekten Rhythmus für eine Herzdruckmassage“, sagt Müllejans. Hannes Job stehen nach der etwas anderen Unterrichtsstunde kleine Schweißperlen auf der Stirn: „Hat Spaß gemacht, aber war voll anstrengend - hätte ich nicht gedacht.“

Der Mediziner wünscht sich, dass das Thema verpflichtend in den Schullehrplan aufgenommen wird. „Es macht wenig Sinn, wenn Lehrkräfte alle zwei Jahre in diesem Bereich geschult werden, die Schülerinnen und Schüler aber nicht.“ Der Anästhesist will das Projekt zumindest für die Region um Pasewalk längerfristig anlegen, „um in unserer Region mit langen Anfahrtswegen für Rettungskräfte mit der Zeit eine hohe Laienreanimationsquote aufzubauen“.

Nicole Kiesewetter


Verbände

Wohlfahrtspflege: Haushaltskürzungen gefährden sozialen Frieden




"Silbernetz": Kontaktangebot für ältere Menschen
epd-bild/Hans Scherhaufer
Die Spitzenverbände der freien Wohlfahrt schlagen Alarm: Wird bei der sozialen Arbeit weiter gespart, bringt das die Demokratie in Gefahr. Zahlreiche Angebote der Träger mussten bereits eingestellt werden.

Berlin (epd). Die sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege beobachten Einschnitte in den eigenen Angeboten mit Sorge und sehen bei weiteren Kürzungen den sozialen Frieden in Deutschland in Gefahr. Menschen in schwierigen Lebenssituationen und Notlagen zu helfen, werde angesichts massiver Kostensteigerungen und sinkender Haushaltsmittel immer schwieriger, erklärten die Verbände am 19. Juni in Berlin.

Laut einer Umfrage unter den Einrichtungen und Diensten zu deren finanzieller Lage hätten knapp zwei Drittel in den vergangenen beiden Jahren Angebote eingeschränkt oder ganz eingestellt. „Bei 14,7 Prozent der Befragten führte dies sogar dazu, dass Angebote und Leistungen gänzlich eingestellt werden mussten“, so die Befragten.

Gefahren für das Ehrenamt

Mehr als drei Viertel der Befragten rechneten zudem damit, Angebote auch im nächsten Jahr weiter zurückfahren zu müssen. Ein weiteres Problem treibt die Branche in diesem Zusammenhang um: Vielfach sind die Träger in ihren Quartieren, Städten und Regionen Ankerpunkte für Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement. 70,5 Prozent der Befragten sind sich sicher oder befürchten, dass dieses Engagement durch den Wegfall ihrer Angebote und Leistungen ebenfalls zurückgehen wird.

Der Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Michael Groß, nannte die Sparpolitik von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) eine „ernste Bedrohung für die soziale Infrastruktur in unserem Land“. Statt auf Kosten der Menschen und ihrer Zukunft zu sparen, müsse die Bundesregierung umsteuern und in Zusammenhalt investieren, forderte Groß, Vorsitzender des Präsidiums im Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO).

Schuch sieht Demokratie gefährdet

Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch sagte: „Weitere Kürzungen bei sozialpolitischen Leistungen und bei der Förderung von freiwilligem Engagement im Bundeshaushalt 2025 sind demokratiegefährdend und nicht akzeptabel.“ Wer stattdessen die soziale Arbeit in den Wohlfahrtsverbänden stärke und in den Sozialstaat investiere, sichere die Demokratie und unterstützt konkret den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Derzeit arbeitet die Ampel-Koalition an der Aufstellung des Etats für das nächste Jahr.

„Eine starke Gesellschaft lebt von aktiven Bürgerinnen und Bürgern, die im Sinne des Gemeinwohls mitgestalten. Wenn soziale Angebote beispielsweise in der Alten-, Kinder- und Jugendhilfe wegfallen, fallen auch Orte des ehrenamtlichen Engagements und damit des gesellschaftlichen Zusammenhalts weg“, warnte Gerda Hasselfeldt, Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Das Ehrenamt sei das Rückgrat unserer Gesellschaft. Daran zu sparen wäre fatal, betonte Hasselfeldt.

„Beratung muss sichergestellt sein“

Abraham Lehrer, Präsident der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), verwies auf die Bedeutung von intakten Beratungsstrukturen. „Die Unterstützung und Befähigung gesellschaftlicher Teilhabe ist eine Langzeitaufgabe und erfordert verlässliche Strukturen. Unzureichende Beratungsstrukturen können gesellschaftliche Spaltung bedeuten und antidemokratische Ressentiments befeuern“, betonte Lehrer.

Die Online-Umfrage unter den Einrichtungen und Diensten fand vom 7. bis 16. Juni statt. Die Teilnahme war anonym und freiwillig, sie wurde beworben über Mail-Verteiler und Newsletter der beteiligten Wohlfahrtsverbände sowie in sozialen Medien. Insgesamt gingen den Angaben zufolge 8.297 valide Fragebögen ein.

In der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege arbeiten die sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege zusammen, das sind die Arbeiterwohlfahrt (AWO), der Deutsche Caritasverband, der Paritätische Gesamtverband, das Deutsche Rote Kreuz (DRK), die Diakonie Deutschland und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Nach eigenen Angaben sind unter dem Dach der Freien Wohlfahrtspflege bundesweit rund 118.000 Einrichtungen und Dienste tätig, die etwa 1,9 Millionen Beschäftigte haben.

Karsten Frerichs, Dirk Baas


Jugend

Freiwilligendienste: Jugendhilfeträger schreiben Brief an Regierung



Berlin (epd). Mehr als 50 Träger aus der Jugendhilfe und von Freiwilligendiensten haben in einem Offenen Brief an die Bundesregierung davor gewarnt, dass die Rotstift-Politik zulasten junger Menschen gehe. Sie wollen laut Mitteilung vom 18. Juni darauf aufmerksam machen, wie wichtig es ist, in die Zukunft der künftigen Generationen zu investieren. Die geplanten Einsparungen, etwa bei den Freiwilligendiensten, würden „erhebliche gesellschaftliche Folgekosten nach sich ziehen“.

Im Mittelpunkt steht für die Unterzeichner die Frage nach der Zukunft der Gesellschaft und der Rolle, die junge Menschen darin spielen. Für junge Menschen sei es wichtig, Demokratie selbst zu machen und Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Das bietet die Kinder- und Jugendhilfe, etwa in Jugendverbänden, in Sportvereinen, in Jugendzentren, in Bildungsstätten, bei internationalen Begegnungen, in Freiwilligendiensten oder in Selbstvertretungen junger Menschen, die in stationären Einrichtungen aufwachsen.

Rechtsruck bei den Europawahlen

„Nicht zuletzt die Europawahl hat gezeigt, dass der Demokratiemotor Kinder- und Jugendhilfe nicht kaputt gespart werden darf: Denn überall in Europa ist zu beobachten, dass der Rechtsruck mit der Schwächung zivilgesellschaftlicher Strukturen einhergeht“, sagte die Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe (AGJ), Franziska Porst, für die „InitiativeKJP“, die den Brief geschrieben hat. Zur Stärkung der individuellen und gesellschaftlichen Resilienz junger Menschen in krisenhaften Zeiten komme deswegen der verlässlichen Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe eine wichtige Rolle zu.

Diese Infrastruktur wird über den Kinder- und Jugendplan (KJP) des Bundes, dem zentralen Förderinstrument des Bundes für die Kinder- und Jugendhilfe, finanziert. Aufgrund der gerade debattierten strikten Sparvorhaben für alle Ressorts, also auch das Familienministerium, stehe die Förderung und Existenz zivilgesellschaftlicher Strukturen auf dem Spiel.

Kürzungen betreffen auch den Kinder- und Jugendhilfeplan

Bei Kürzungen in den Programmtiteln des Familienministeriums würden auch die über den Kinder- und Jugendplan des Bundes geförderte Kinder- und Jugendhilfe sowie die Freiwilligendienste empfindlich getroffen. „Eine wegbrechende Infrastruktur wird langfristig nicht ersetzbar sein und wird die Demokratie schwächen. Hier ist also gesamtgesellschaftlich viel mehr zu verlieren, als fiskalisch zu gewinnen ist,“ so Porst. „An den Leistungen und Angeboten für junge Menschen zu kürzen - all das paradoxerweise unter Verweis auf eine generationengerechte Haushaltspolitik - wäre zutiefst kurzsichtig“, heißt es in dem Schreiben.

Die initiativeKJP wurde 2023 vor dem Hintergrund drohender Kürzungen des KJP ins Leben gerufen. Ihr Ziel ist es, dieses zentrale Förderinstrument der Kinder- und Jugendhilfe auf Bundesebene langfristig und nachhaltig zu stärken. In der Initiative sind sieben bundesweit tätige Verbände zusammengeschlossen.



Pflege

Fachverband: Mehr Hilfen für pflegende Angehörige unverzichtbar




Carolin Favretto
epd-bild/Bundesvereinigung der Senioren-Assistenten Deutschland
Professionelle Senioren-Assistenzen könnten mehr Hilfen für daheim Pflegende anbieten. Doch es fehlt an der Refinanzierung durch die Pflegekassen. Und auch der föderale Regelungsdschungel bremst die Dienste aus, berichtet Carolin Favretto, Vorsitzende des Vorstandes der Bundesvereinigung der Senioren-Assistenten Deutschland, in ihrem Gastbeitrag für epd sozial.

In Deutschland gibt es aktuell rund 5,2 Millionen Menschen mit einem Pflegegrad. Davon werden etwa 84 Prozent zu Hause versorgt - die meisten von Partnern, Verwandten oder Freunden. Deutschlands größter Pflegedienst sind damit die Angehörigen. Was wäre, wenn der größte Pflegedienst unseres Landes streiken würde? Wenn jede und jeder pflegende Angehörige ihren oder seinen Pflegling nur für einen Tag vor den Toren eines Seniorenheims in der Nähe „parkt“? Und: Würde das die Politik dazu bringen, über den Tellerrand zu schauen und Senioren-Assistenzen als unverzichtbaren Bestandteil in der häuslichen Versorgung bundesweit einheitlich anzuerkennen, damit unsere alternde Bevölkerung gut versorgt wird?

Die derzeitige Gesetzeslage ist dazu eindeutig, denn in Paragraf 3 SGB XI heißt es: Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können.

Es droht der demografische Super-GAU

Und doch navigiert unsere Gesellschaft in den demografischen Super-GAU. Das ist - ähnlich wie der Klimawandel - seit Jahrzehnten bekannt. Aber noch langsamer als die Konsequenzen des Klimawandels kommen die des Demografie-Wandels in den Köpfen der Politik an. Die Babyboomer werden in den nächsten Jahren in Rente gehen. Weniger Erwerbstätige müssen immer mehr Rentnerinnen und Rentner finanzieren. Die Menschen werden immer älter, und die Prognose hinsichtlich einer möglichen Pflegebedürftigkeit einer alternden Bevölkerung ist angsteinflößend: Das Bund-Länder-Demografie-Portal geht von fast sieben Millionen Pflegebedürftigen im Jahr 2060 aus. Das ist eine Steigerung von fast zwei Millionen Betroffenen gegenüber dem Jahr 2021.

Aber: Steigende Sozialabgaben möchte die Politik vermeiden - gern auch dadurch, dass Teilzeitkräfte mehr arbeiten. Schaut man sich aber an, welcher Teil der Beschäftigten in Deutschland primär in Teilzeit arbeitet, dann landet man - keine große Überraschung - bei einem primär weiblichen Bevölkerungsanteil. Frauen arbeiten anteilig deutlich häufiger in Teilzeit (50 Prozent) als Männer (13 Prozent). Durchschnittlich wenden Frauen im Durchschnitt 44,3 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf als Männer. Das ist genau die Zeit, die für die eigene Erwerbstätigkeit fehlt.

Care-Arbeit braucht angemessene Entlohnung

Wäre es daher sinnvoll, Care-Arbeit für Pflegebedürftige angemessen zu entlohnen? Zum Beispiel durch ein ähnliches Konstrukt wie das Elterngeld? Denn wenn die Politik auf der einen Seite weniger Teilzeitbeschäftigung möchte, aber gleichzeitig die ambulante Versorgung von pflegebedürftigen Menschen in den eigenen vier Wänden gewährleistet werden soll, dann stellt sich die Frage, wer genau denn diese Care-Arbeit leisten soll vor dem Hintergrund von Fachkräftemangel und alternder Gesellschaft. Es ist vollkommen illusorisch, dass sieben Millionen potenzielle Pflegebedürftige in Pflegeheimen versorgt werden könnten, damit Teilzeitkräfte mehr oder überhaupt arbeiten können.

Wir als Verband weisen schon lange darauf hin, dass es im existierenden Leistungsspektrum der Pflegeversicherung ungenutzte Gelder gibt, um Sorgende finanziell zu unterstützen. Es gibt ein monatliches Budget für die sogenannte Tages- und Nachtpflege (bis zu 1.995 Euro im Monat bei Pflegegrad 5), das aber nur von einem Bruchteil der Menschen, die ambulant gepflegt werden, genutzt wird. Im Jahr 2022 waren es gerade einmal 2,72 Prozent.

Milliarden Euro an Entlastungsleistungen bleiben liegen

So könnte zum Beispiel das künftige Entlastungsbudget weiter flexibilisiert werden, und zwar um genau diese Leistungen der Tagespflege, damit nicht jedes Jahr Milliarden an Betreuungsleistungen liegenbleiben, die stattdessen für die Unterstützung von Sorgenden in der Häuslichkeit eingesetzt werden könnten.

Qualifizierte Senioren-Assistentinnen und -assistenten sind es, die - im Unterschied zu den Pflege- und Haushaltsdiensten - Zeit und Geduld für individuelle Zuwendung und volle Aufmerksamkeit für ihr Gegenüber mitbringen und damit erheblich zu persönlichem Wohlbefinden und Lebensqualität beitragen. Mit Angeboten wie Erlernen von Entspannungstherapien oder Gedächtnistraining können Pflegebedürftige gefördert und Sorgende entlastet werden.

Abrechnung mit der Pflegekasse nicht möglich

Aber zur Wahrheit gehört leider auch, dass eine Unterstützung durch qualifizierte Senioren-Assistenzen bundesweit immer noch nicht einheitlich mit der Pflegeversicherung abgerechnet werden kann. Wir als Bundesvereinigung der Senioren-Assistenten beklagen, dass aktuell keine Chancengleichheit auf dem deutschen Arbeitsmarkt besteht, denn derzeit regeln 16 unterschiedliche Länderverordnungen, wer qualifizierte Angebote zur Unterstützung im Alltag gemäß § 45b SGB XI abrechnen darf. Während in einigen Bundesländern das Berufsbild der Senioren-Assistenz bereits anerkannt ist, ist das in anderen Bundesländern nur zu erschwerten Bedingungen oder gar nicht möglich.

Unsere Bundesvereinigung mit Sitz in Berlin ist die Interessenvertretung qualifizierter Dienstleister, die begleitende Alltagsunterstützung für Senioren und Menschen mit Hilfebedarf anbieten. Als Verein setzen wir uns für die Anerkennung des Berufsbildes in der Gesellschaft ein und bieten ein Beratungs- und Kompetenznetzwerk mit hohen Qualitätsansprüchen. Unser gesamter Service ist auf unserer Homepage gebündelt.

Carolin Favretto ist Vorsitzende des Vorstandes der Bundesvereinigung der Senioren-Assistenten Deutschland (BdSAD)


Pflege

Verband: Internationale Fachkräfte schneller anerkennen



Saarbrücken (epd). Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) fordert die schnellere Anerkennung von Pflegefachkräften aus dem Ausland. „Es reicht nicht aus, die Bedeutung internationaler Kräfte in Sonntagsreden hervorzuheben“, sagte der saarländische Landeschef Ralf Mertins am 17. Juni in Saarbrücken. Bürokratische Hürden müssten wirksam abgebaut werden, „um die Anerkennung dieser dringend benötigten Pflegekräfte schneller zu ermöglichen“.

Aktuell dauere es oft monatelang, bis eine hoch qualifizierte Pflegekraft in Deutschland als Fachkraft arbeiten darf. „Diese Menschen kommen zu uns, um uns bei der Bewältigung unserer demografischen Herausforderungen zu helfen. Dann dürfen wir sie nicht Ewigkeiten auf die Ersatzbank schicken, sondern müssen sie sofort aufs Spielfeld lassen“, so der Landesvorsitzende. Es müsse gelten: Wer qualifiziert ist und die Sprache beherrscht, muss in den Pflegeeinrichtungen als Fachkraft eingesetzt werden dürfen, „auch wenn noch nicht die letzte Behörde das Zeugnis abgestempelt hat.“

Der bpa hat einen Fünf-Punkte-Plan mit Sofortmaßnahmen zur Sicherung der pflegerischen Versorgungsstrukturen vorgestellt. Der enthält neben Anpassungen bei der Pflegeversicherung auch die Einführung einer Kompetenzvermutung in der Pflege, mit der internationale Pflegekräfte deutlich schneller in den Versorgungsalltag gebracht werden können.



Einsamkeit

Malteser und Caritas: Starke Strukturen stärken starkes Ehrenamt



Viele Ehrenamtliche helfen dabei, Einsamkeit im Alter zu vermeiden. Um sie zu stärken, braucht es auch bessere professionelle Strukturen. Das zeigt eine neue Studie, unter Ehrenamtlichen und älteren Menschen, die in Berlin vorgestellt wurde.

Berlin (epd). Im Rahmen der Aktionswoche „Gemeinsam aus der Einsamkeit“ wurde die neue Erhebung am 18. Juni auf dem 2. bundesweiten „Forum Miteinander-Füreinander“ in Berlin vorgestellt. Dort kamen rund 200 Aktive vieler Fachverbände sowie Wissenschaftlerinnen und Vertretungen von Kommunen aus ganz Deutschland zusammen, um über Wege zu einem gelingenden Leben im Alter zu beraten. Sie diskutierten auch Strategien gegen Einsamkeit und nahmen besonders die Arbeit von Ehrenamtlern auf diesem Feld in den Blick. Dabei ging es vor allem um die Frage, welche Maßnahmen gegen Einsamkeit im Alter wirksam sind wirksam.

Um insbesondere Einsamkeit im Alter entschlossen entgegenzutreten, haben sich der Malteser Hilfsdienst, der Deutsche Caritasverband, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) und das Kompetenzwerk Einsamkeit (KNE) zusammengetan.

Vielfältige Angebote für Ältere

Die Frage nach der effektiven Hilfe gegen Einsamkeit stand auch im Zentrum der qualitativen Wirksamkeitsstudie unter älteren Menschen und Engagierten an den 112 Standorten des Malteser Projekts „Miteinander-Füreinander“. Das wurde vom Bundesministerium für Senioren von 2020 bis 2024 gefördert. Es bietet mehr als 200 ehrenamtliche Angebote für ältere Menschen, von Seniorentreffs, Rikschafahrten über telefonische und persönliche Besuche, Einkaufshilfen bis hin zu Kulturbegleitungen.

„Unsere Erfahrung und die Wirksamkeitsstudie zeigen: Ehrenamtliche Angebote für Ältere sind wirksam im Kampf gegen Einsamkeit, doch Ehrenamt allein kann es nicht stemmen. Daher lautet unser dringender Appell: Wir brauchen hauptamtliche Strukturen in den Kommunen und in den Hilfsorganisationen, um das Ehrenamt zu etablieren und nachhaltig zu sichern“, forderte Georg Khevenhüller, Präsident des Malteser Hilfsdienst.

„Netz der Solidarität knüpfen“

Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa sagte, gerade dort, wo es darum gehe, im Sozialraum Nähe und Begegnungsorte zu schaffen, die Einsamkeit vorbeugen, sei das Engagement der Ehrenamtlichen unverzichtbar. „Sie ihrerseits profitieren von den Strukturen der Verbände, die das befristete Engagement der Vielen zu einem Netz der Solidarität verlässlich zusammenknüpfen.“

Ein wichtiger Beitrag der konfessionellen Wohlfahrtsverbände zum nachhaltigen Erhalt der Angebote gegen Einsamkeit seien ehrenamtliche Leitungen. Aber: „Hauptamtliche, die sie begleiten und unterstützen, sollten durch öffentliche Gelder finanziert werden“, fordern Malteser und Caritas. Zudem sollten erfolgreiche Projekte in Regelstrukturen überführt und in anderen Kommunen multipliziert werden - wie das Berliner Projekt „Türöffner“ der Malteser und der Caritas. Die Aktionswoche „Gemeinsam aus der Einsamkeit“ vom 17. bis 23. Juni 2024 statt.

Um insbesondere Einsamkeit im Alter entschlossen entgegenzutreten, haben sich der Malteser Hilfsdienst, der Deutsche Caritasverband, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) und das Kompetenzwerk Einsamkeit (KNE) zusammengetan.

Dirk Baas


Umfrage

Frauenbeauftragte in Förderwerkstätten sind stark belastet



Holzminden (epd). Studierende des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit an der Fakultät Management, Soziale Arbeit, Bauen der HAWK in Holzminden haben mit einer bundesweiten Fragebogenaktion erstmals Informationen über die Arbeitsbedingungen von Frauenbeauftragten in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM) gesammelt. „Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Frauen-Beauftragten für viele Themen Ansprechpartnerinnen sind. Sie zeigen aber auch, dass die rechtlichen Vorgaben zur Arbeit der Frauenbeauftragten nicht an allen Stellen umgesetzt werden und die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit noch besser ausgestaltet werden sollten“, heißt es in einer Mitteilung.

„Dieses Projekt hat uns nicht nur einen tiefen Einblick in die tatsächlichen Arbeitsbedingungen von Frauenbeauftragten gegeben, sondern den Studierenden auch die Gelegenheit geboten, direkt an der Verbesserung dieser Bedingungen mitzuwirken und dabei Forschung anhand eines praxisnahen Themas zu erlernen“, erklärte Professorin Viviane Schachler, die das Projekt leitete.

Interessenvertretung seit 2017 rechtlich bindend

Die Frauenbeauftragten sind seit 2017 als Interessenvertretung der weiblichen Beschäftigten in den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen vorgesehen, um vor dem Hintergrund der hohen Gewaltbetroffenheit von Frauen mit Behinderungen und anderer Benachteiligungen eine niedrigschwellige Anlaufstelle zu schaffen.

Die HAWK forschte in Zusammenarbeit mit dem Bundes-Netzwerk der Frauen-Beauftragten in Einrichtungen „Starke-Frauen-machen“. Den Angaben nach wurde so eine bisherige Forschungslücke geschlossen und eine wichtige Datengrundlage zu den Frauenbeauftragten in Werkstätten geliefert.

Die Studierenden erstellten einen Fragebogen in einfacher Sprache, den sie an alle 731 anerkannten WfbM in Deutschland verschickten. Insgesamt 392 Fragebögen erhielten sie zurück. Die Erhebungsbeteiligung von 53 Prozent zeige, dass ein erhebliches Interesse an der Befragung von Seiten der Frauenbeauftragten bestehe, hieß es.

Oft fehlt es an Stellvertreterinnen

So hat jede fünfte Frauenbeauftragte keine Stellvertreterin, obwohl das gesetzlich vorgesehen ist, und die vorgegebenen monatlichen Treffen der Frauenbeauftragten mit der Werkstattleitung finden nur in 44 Prozent der befragten Werkstätten statt. Beachtenswert sei auch, dass sich ein Viertel der Frauen-Beauftragten durch die Arbeit belastet fühlt. Bei den notwendigen Veränderungen, die sich Frauenbeauftragte für ihre Arbeit wünschen, nannten sie am häufigsten konkrete Mitbestimmungsrechte.

Nicole Burek, Vorstandsvorsitzende vom Bundes-Netzwerk der Frauen-Beauftragten begrüßte das Vorliegen einen handfesten Datengrundlage: „Endlich wissen wir mehr darüber, wie es um die Arbeitsbedingungen der Frauenbeauftragten steht und können daraus gezielte Forderungen an die Politik und an die Werkstätten ableiten“.



Kirchen

Diakonische Dienstgeber: Dienstpflicht für alle statt Wehrpflicht für Männer



Berlin (epd). Der Vorsitzende des Verbandes diakonischer Dienstgeber in Deutschland (VdDD), Ingo Habenicht, unterstützt die Idee eines sozialen Pflichtdienstes: „Die jüngsten Wahlergebnisse unter jungen Menschen zeigen, dass wir mehr tun müssen, um den sozialen Zusammenhalt zu fördern und Tendenzen der Ausgrenzung entgegenzutreten.“ Statt einer diskutierten Wehrpflicht für Männer sei eine Dienstpflicht für alle zielführender und zeitgemäßer, sagte der Vorstandschef am 17. Juni in Berlin.

Der starke Rückgang der freiwillig Wehrdienstleistenden nach Aussetzung der Wehrpflicht sei ein Beleg dafür, dass man mit Freiwilligkeit alleine nicht das gewünschte Ziel erreichen könne. Es sei zudem nicht nachvollziehbar, dass 600.000 junge Menschen in Deutschland derzeit weder studieren, in Ausbildung sind oder einer Beschäftigung nachgehen. „Hier liegt Potenzial brach, was wir im sozialen Sektor dringend benötigen könnten. Ein Pflichtdienst könnte auch für diese Gruppe neue Horizonte eröffnen“, begründete Habenicht seine Forderung.

„Junge Generation fordern und fördern“

Alternativ oder ergänzend seien auch längere Praktika während der schulischen Ausbildung inklusive der Ferien denkbar. „Die Solidargemeinschaft ist keine Einbahnstraße, in der ich nur Leistungen empfange. Wir müssen die junge Generation fordern und fördern, damit sie ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft finden kann - eine Sehnsucht, die auch in der aktuellen Sinus-Studie benannt wird.“

„Eine Tätigkeit in der Alten-, Pflege- oder Wohnungslosenhilfe, Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen oder Geflüchtete bis hin zur Kita kann eine hilfreiche Orientierung für die spätere Berufswahl darstellen“, betonte Habenicht. Grundlegend sei jedoch, dass zur Finanzierung dieser Angebote ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung stünden. Die Tatsache, dass bei den bestehenden Freiwilligendiensten aufgrund der angespannten Haushaltslage der Rotstift angesetzt werden muss, könnte noch fatale Auswirkungen haben, sagte der VdDD-Chef.




sozial-Recht

Bundesgerichtshof

Überzahlte Miete steht fast immer dem Jobcenter zu




Hinweisschild am Bundesgerichtshof in Karlsruhe
epd-bild/Uli Deck
Bürgergeldbezieher profitieren in aller Regel nicht von Streitigkeiten mit dem Vermieter wegen einer rechtswidrig gezahlten überhöhten Miete. Weil das Jobcenter die Unterkunftskosten gezahlt hat, kann auch nur die Behörde Rückerstattungsansprüche geltend machen, urteilte der Bundesgerichtshof.

Karlsruhe (epd). Bürgergeldbezieher können eine rechtswidrig überhöhte Miete regelmäßig nicht von ihrem Vermieter zurückfordern. Wurde die überhöhte Miete vom Jobcenter gezahlt, geht der Anspruch auf Rückerstattungen auf die Behörde über, urteilte der Bundesgerichtshof (BGH) am 5. Juni. Nicht entschieden haben die Karlsruher Richter, ob Bürgergeldbezieher Rückerstattungsansprüche gegen den Vermieter geltend machen können, wenn sie einen Teil der Miete aus eigener Tasche bezahlt haben - etwa weil das Jobcenter wegen einer unangemessenen Wohnung nicht sämtliche Unterkunftskosten übernommen hat.

Im vorliegenden Fall hatte der Kläger vom 1. September 2018 bis Ende Juni 2020 gemeinsam mit einer weiteren Person eine Wohnung in Berlin gemietet. Die Miete für den damals Hartz IV beziehenden Mann hatte das Jobcenter vollständig übernommen.

Verstoß gegen Mietpreisbremse vermutet

Gegenüber dem Vermieter hatten er und sein Mitmieter unter anderem geltend gemacht, die Miete verstoße gegen die in Berlin geltende Mietpreisbremse und sei sittenwidrig überhöht. Zudem sei sie wegen eines Wasserschadens von Mitte September 2019 bis in den März 2020 hinein in vollem Umfang gemindert gewesen. Das Amtsgericht Köpenick gab der Klage in Höhe von rund 11.000 Euro statt. Das Landgericht Berlin wies die Berufung des Mieters jedoch zurück.

Das hat nun auch der BGH bestätigt. Die Ansprüche auf Rückerstattung der überzahlten Miete seien während des Bezugs von Hartz IV, dem heutigen Bürgergeld, entstanden. Hätte der Vermieter dieses Geld noch während des Mietverhältnisses zeitnah zurückgezahlt, hätte sich der Hartz-IV-Empfänger das vom Amt leistungsmindernd anrechnen lassen müssen. Würde ihm die vom Vermieter vorgenommene nachträgliche Zahlung nun überlassen, käme das einer „ungerechtfertigten Bereicherung“ gleich, so die Karlsruher Richter.

Jobcenter wurde nicht gegen Vermieter aktiv

Zwar habe das Jobcenter keine Ansprüche gegen den Vermieter geltend gemacht. Darauf komme es aber nicht an, befand das Gericht. Denn „das betrifft ausschließlich den Verwaltungsvollzug, berührt jedoch nicht die Voraussetzungen des gesetzlichen Anspruchsübergangs auf den Leistungsträger“, urteilte der BGH.

Dass das Jobcenter eine zu viel gezahlte Miete vom Vermieter zurückfordern kann, hatten die Karlsruher Richter bereits am 31. Januar 2018 entschieden. Danach kann die Behörde, die die Miete für Hartz-IV-Bezieher direkt an den Vermieter überwiesen hat, eine wegen des Auszugs des Mieters irrtümlich zu viel überwiesene Miete zurückfordern. Der Vermieter dürfe das überzahlte Geld nicht mit bestehenden Forderungen gegen den Mieter verrechnen. Im konkreten Fall wurde damit ein Vermieter dazu verurteilt, 860 Euro an das örtliche Jobcenter zurückzuzahlen.

Der BGH urteilte, dass dem Jobcenter ein Rückforderungsanspruch zusteht. Denn mit der Vorlage des neuen Mietvertrages hätten die Hartz-IV-Empfänger indirekt erklärt, dass sie keine weiteren Zahlungen an den alten Vermieter wünschten. Durch die Mietkündigung habe der Vermieter zudem gewusst, dass ihm das Geld nicht mehr zustehe, so das Gericht.

BSG urteilte über Sofortbonus

Doch nicht nur beim Streit um Rückzahlungsansprüche wegen zu viel gezahlter Miete gehen ehemalige Hartz-IV- und jetzige Bürgergeldbezieher leer aus. Wollen sie von niedrigeren Stromkosten profitieren und erhalten sie für den Wechsel des Stromanbieters von diesem einen „Sofortbonus“ ausgezahlt, wird dieser Betrag als Einkommen mindernd auf die Hilfeleistung angerechnet, urteilte am 14. Oktober 2020 das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel.

Zwar mindere etwa eine Stromkostenerstattung nicht das Arbeitslosengeld II. Geld, das die Hartz-IV-Empfänger aus ihrer Regelleistung selbst aufgebracht haben, könne nicht als Einkommen angesehen werden. Das gelte aber nicht für einen ausgezahlten Bonus, so die obersten Sozialrichter. Dabei handele es sich nicht um eine Rückzahlung, sondern um einen vom Stromverbrauch unabhängigen Bonus. Damit liege eine Einnahme vor, befand das Gericht. Kein anzurechnendes Einkommen liegt nach den Urteilsgründen dagegen vor, wenn der Bonus nicht ausgezahlt, sondern in Form künftiger geringerer Stromzahlungen gewährt wird.

Az.: VIII ZR 150/23 (Bundesgerichtshof, Mietrückerstattung)

Az.: VIII ZR 39/17 (Bundesgerichtshof, Vermieter, Aufrechnung)

Az.: B 4 AS 14/20 R (Bundessozialgericht)

Frank Leth


Bundesgerichtshof

Günstige Versicherungsprämien bei gesundheitsbewusstem Verhalten



Karlsruhe (epd). Gesundheitsbewusstes Verhalten kann die Beiträge für eine Berufsunfähigkeitsversicherung verringern. Allerdings muss dazu der Versicherte in den Versicherungsbedingungen klar und transparent erkennen können, wie sich sein Verhalten auf die Beitragshöhe auswirkt, urteilte am 12. Juni der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe.

Konkret ging es um einen sogenannten Telematik-Tarif für eine Berufsunfähigkeitsversicherung, den die zum Generali-Konzern gehörende Lebensversicherungs AG anbot. Die Vertragsbedingungen sahen die Teilnahme an einem „Vitality Programm“ über eine Smartphone-App vor. Bewegung, Sport oder auch Arztbesuche brachten dort Punkte im sogenannten „Vitality Status“. Der hatte Einfluss auf die Überschussbeteiligung und damit indirekt auch auf die Versicherungsprämien.

Klauseln intransparent und damit unwirksam

Die Hamburger Verbraucherschutzorganisation Bund der Versicherten hielt die Klauseln zum Versicherungstarif für intransparent. Die Verbraucher würden gar nicht erfahren, welches konkrete Verhalten zu welchen tatsächlichen Vergünstigungen führt. Zudem werde nicht darauf hingewiesen, dass die in Aussicht gestellten Rabatte bei fehlenden Überschüssen der Versicherung gänzlich wegfallen könnten.

Der BGH urteilte, dass die Vesicherungsklauseln intransparent und daher unwirksam seien. Denn ihnen seien keine Kriterien zu entnehmen, nach denen der Versicherer die „Modifikation der Überschussbeteiligung“ und damit letztlich die Beiträge berechne.

Zudem kippten die Karlsruher Richter eine weitere Vertragsklausel zu dem Fall, dass das Smartphone keine Daten aus dem „Vitality Programm“ übermittelt. Danach unterstelle der Versicherer dann automatisch ein nicht gesundheitsgerechtes Verhalten, obwohl der Grund auch in technischen oder anderen Fehlern bei der Nutzung des Smartphones liegen könne, für die der Versicherungsnehmer nicht verantwortlich ist. Das sei eine unzulässige Benachteiligung der Verbraucher, befand das Gericht.

Az.: IV ZR 437/22



Landessozialgericht

Kein Unfallschutz bei Orientierungslosigkeit wegen Unterzuckerung



Celle (epd). An Diabetes erkrankte Arbeitnehmer können ein Abweichen von ihrem regulären Arbeitsweg nicht mit einer Unterzuckerung und einer damit einhergehenden Orientierungslosigkeit rechtfertigen. Kommt es auf solch einem „Abweg“ zu einem Unfall, stehen sie nicht mehr unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, entschied das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen in Celle in einem am 3. Juni bekanntgegebenen Urteil. Nur bei „äußeren Umständen“ wie etwa starkem Nebel könne auf „Abwegen“ weiterhin Versicherungsschutz bestehen.

Im Streitfall war der an Diabetes erkrankte Kläger auf dem Rückweg von seiner Arbeit zunächst vier Kilometer an seiner Wohnung vorbeigefahren. Dann geriet er auf die Gegenfahrbahn und stieß frontal mit einem Lkw zusammen. Schwer verletzt kam er ins Krankenhaus. Der Notarzt stellte bei dem Kläger eine Unterzuckerung fest.

Berufsgenossenschaft lehnte Zahlungen ab

Die Berufsgenossenschaft lehnte die Anerkennung eines versicherten Wegeunfalls ab. Der Unfall habe sich nicht auf dem direkten Heimweg, sondern auf einem unversicherten „Abweg“ ereignet, so die Argumentation.

Anders als noch zuvor das Sozialgericht Oldenburg hat das LSG nun die Auffassung der Berufsgenossenschaft bestätigt. Versichert seien regulär nur Wegeunfälle „auf direkter Strecke“ zwischen Wohnung und Arbeitsort. Ausnahmen seien nur begründet aufgrund äußerer Umstände, etwa Dunkelheit, Nebel oder einer schlechten Beschilderung der Fahrstrecke.

Hier sei der Kläger jedoch „aufgrund einer inneren Ursache auf einen Abweg geraten, nämlich der Orientierungslosigkeit aufgrund einer Bewusstseinsstörung infolge diabetesbedingter Unterzuckerung“. Das sei vom Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nicht mehr gedeckt und würde auch „dem Sinn und Zweck der Wegeunfallversicherung widersprechen“, so das Gericht. Es ließ wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision zum Bundessozialgericht (BSG) in Kassel zu.

Az.: L 14 U 164/21



Landesarbeitsgericht

Manipulation der elektronischen Patientenakte rechtfertigt Kündigung



Erfurt (epd). Manipulationen an einer elektronischen Patientenakte durch eine Arztpraxis-Mitarbeiterin rechtfertigen die fristlose Kündigung. Das gilt auch dann, wenn die Beschäftigte 15 Jahre zuvor beanstandungsfrei in der Praxis gearbeitet hat, entschied das Thüringische Landesarbeitsgericht (LAG) in Erfurt in einem kürzlich veröffentlichten Urteil vom 28. Februar 2024.

Damit ist die in einer Arztpraxis im Raum Gera angestellte Klägerin ihren Job los. Die Frau hatte zunächst 15 Jahre als Dokumentationsassistentin ohne jegliche Beanstandungen gearbeitet. Doch dann hatte sie in den vergangenen zwei Jahren nach Streitigkeiten um ihre Arbeitsmoral zwei Abmahnungen erhalten.

Datum nachträglich geändert

Als im Dezember 2022 die Ärztin für eine Patientin eine Heilmittelverordnung ausstellte, sollte die Klägerin das Schreiben zur Post bringen. Doch die Klägerin versäumte das. Aus Angst um ihren Arbeitsplatz log sie ihre nachfragende Chefin an. Um das Versäumnis zu vertuschen, änderte sie in der elektronischen Patientenakte nachträglich das Datum der Verordnung.

Als die Ärztin die nachträgliche Manipulation der elektronischen Patientenakte bemerkte, kündigte sie der Frau fristlos. Sie verwies zudem auf die mehrfachen Lügen der Beschäftigten.

Das LAG erklärte die Kündigung nun für wirksam. „Die nachträgliche Veränderung von Daten in der elektronischen Patientenakte durch die Klägerin ist eine schwerwiegende arbeitsvertragliche Pflichtverletzung. Diese ist an sich geeignet, einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung darzustellen.“

Exakt geführte Akte hat große Bedeutung

Denn die exakt geführte elektronische Patientenakte sei von großer Bedeutung. Sie diene der Dokumentation von Behandlungsverläufen, der Abrechnung und sei auch für Haftungsfragen bedeutsam. Komme es zu einem Ärztinnenwechsel, sei eine fehlerfreie Dokumentation von großer Wichtigkeit.

„Deshalb gehört es zu den arbeitsvertraglichen Pflichten des medizinischen Hilfspersonals, Eintragungen in die Patientenakte sorgfältig und anweisungs- sowie wahrheitsgemäß vorzunehmen und nachträgliche Änderungen, die nicht den Tatsachen entsprechen, zu unterlassen.“ Als staatlich geprüfte medizinische Dokumentationsassistentin habe sie dabei sehr wohl gewusst, was sie tut. Dadurch und durch ihr mehrfaches Lügen und Leugnen habe sie „das in sie gesetzte Vertrauen zerstört“, befand das Gericht.

Az.: 4 Sa 166/23



Landgericht

Verurteilte Corona-Ärztin vorerst auf freiem Fuß



Dresden (epd). Die sächsische Ärztin Bianca W. ist am 17. Juni wegen zahlreicher während der Corona-Pandemie gefälschter Atteste zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt worden. Die zuständige Kammer des Landgerichtes Dresden sah es als erwiesen, dass die 67-jährige Angeklagte aus Moritzburg in mehr als 1.000 Fällen gegen Bezahlung falsche Gesundheitszeugnisse ausgestellt hat.

Laut dem Urteil hat die Ärztin während der Corona-Pandemie Patientinnen und Patienten pauschal bescheinigt, dass diese aus gesundheitlichen Gründen keinen Mund-Nasenschutz tragen können sowie nicht geimpft werden und sich keinen Corona-Tests unterziehen dürfen. Die Staatsanwaltschaft hatte für die Angeklagte eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und zehn Monaten gefordert.

Richter: Ohne Befund kein Attest

Jeder Arzt und jede Ärztin wisse, dass ohne Befund kein Attest geschrieben werden dürfe, sagte der Vorsitzende Richter Jürgen Scheuring. Ein ärztliches Gesundheitszeugnis habe einen hohen Wert, aber dies sei von der Angeklagten nicht beachtet worden. Laut Urteil soll sie mehr als 47.000 Euro zurückzahlen. Wie viel Geld sie mit den falschen Attesten eingenommen hat, ist offiziell nicht bekannt. Es könnte sich aber um sechsstellige Summen handeln.

„Wir haben es mit Gefälligkeitszeugnissen zu tun“, sagte Scheuring. Dafür habe sich die Angeklagte „ordentlich bezahlen lassen“, für eine faktische Nichtleistung pro Attest zwischen 25 und 50 Euro. Die Ärztin sei von Herbst 2021 an durch die Bundesrepublik gefahren, habe bei mehr als 40 Terminen mit zum Teil mehr als 250 Menschen falsche Atteste ausgestellt. In einigen Fällen seien Familien im Zehn-Minuten-Takt durchgeschleust worden.

Urteil ist noch nicht rechtskräftig

Zudem wurde Bianca W. wegen Waffenbesitz verurteilt. An ihrem Wohnsitz sei ein verbotener Elektroschocker gefunden worden, hieß es. Der Prozess fand in einem Saal des Oberlandesgerichtes Dresden unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen statt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Weil die Angeklagte bereits seit gut einem Jahr und vier Monaten in Untersuchungshaft saß, wurde sie nach der Verhandlung am Montag erst einmal entlassen - allerdings unter strengen Auflagen. Vor dem Gerichtsgebäude bedankte sich die Ärztin, die dem Reichsbürgermilieu zugeordnet wird, bei ihren Anhängerinnen und Anhängern für die Unterstützung.

Haftbefehl außer Vollzug gesetzt

Die Angeklagte befand sich seit Februar 2023 im Gefängnis. Ein weiterer Verbleib in der Untersuchungshaft sei unverhältnismäßig, sagte Scheuring. Der Haftbefehl werde allerdings lediglich außer Vollzug gesetzt, nicht aufgehoben. Die Kammer sehe weiterhin eine Fluchtgefahr und daher auch einen Haftgrund. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Ärztin untertauche.

Zu den Auflagen zählt unter anderem, dass sich Bianca W. jeden Dienstag bei der Polizei melden muss. Andernfalls drohe wieder Haftbefehl, hieß es. Nach Abschluss des Verfahrens gelte für die rechtmäßig Verurteilte ein dreijähriges Berufsverbot.

Die Urteilsverkündung der Kammer war kurz nach Beginn für etwa anderthalb Stunden unterbrochen worden. Grund dafür waren lautstarke Proteste des Publikums. Der Verhandlungssaal wurde komplett geräumt, einige Störer danach nicht mehr zugelassen.

Az.: 15 KLs 734 Js 35923121




sozial-Köpfe

Kirchen

Annika Woydack leitet künftig das Diakonische Werk Hamburg




Annika Woydack
epd-bild/Diakonie Hamburg
Annika Woydack wird ab 1. November das Diakonische Werk Hamburg leiten. Die Kirchenleitung der evangelischen Nordkirche hat die derzeitige Landesjugendpastorin in das neue Amt berufen. Sie folgt auf Landespastor Dirk Ahrens, der das Diakonische Werk nach 14 Jahren verlassen hat.

Hamburg (epd). Mit der Berufung von Annika Woydack folgte die Kirchenleitung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) dem Vorschlag des Aufsichtsrates des Diakonischen Werkes Hamburg, heißt es in einer Mitteilung vom 17. Juni. Woydack sei eine ideale Wahl für die neue Leitung. „Mit ihrer Fähigkeit, den Dialog mit jungen Menschen auch über kulturelle Grenzen zu führen, wird Annika Woydack dabei sicher zukunftsorientiert weiterarbeiten an einem Netzwerk der Barmherzigkeit und Nächstenliebe“, sagte die Vorsitzende der Kirchenleitung, Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt.

Annika Woydack (Jahrgang 1974) studierte Evangelische Theologie in Bethel, Berlin, Lausanne und Hamburg und ist ausgebildete systemische Supervisorin. Sie leitete zunächst in der Stiftung Alsterdorf das Projekt „Schule unterm Kirchturm“. Als Pastorin zweier Kirchengemeinden in Altona begleitete sie die kirchlich-diakonische Arbeit vor Ort unter anderem mit Sozialberatung, Hilfe für Wohnungslose und eine Tafelausgabe. Aktuell ist sie in der Nordkirche für die inhaltliche Gestaltung der Arbeit mit jungen Menschen verantwortlich.

Woydack nehme die neue Leitung mit großem Respekt an, hieß es. „Ich freue mich sehr auf diese Aufgabe: einzutreten für die Würde eines jeden Menschen in unserer Demokratie und besonders für diejenigen, denen es an etwas fehlt - sei es Pflege, Beratung oder eine Wohnung.“ Sie wolle sich dafür einsetzen, als Diakonie eine christliche Kirche für die Menschen zu sein.

Pastor Andreas Theurich, Aufsichtsratsvorsitzender des Diakonischen Werkes Hamburg, sagte, Woydack werde das „konstruktive Zusammenwirken von Kirche, Diakonie und Stadt weiter fördern“.

Das Diakonische Werk Hamburg ist der Spitzenverband mit 330 diakonischen Unternehmen und damit rund 1.500 Einrichtungen und Angeboten der Sozialwirtschaft. Das Spektrum der Mitgliedseinrichtungen reicht von der Kirchengemeinde mit einer Kita bis zu großen Trägern mit mehreren Tausend Mitarbeitenden. Insgesamt zählt das Hilfswerk 20.000 hauptamtlich Mitarbeitende und etwa 20.000 ehrenamtlich und freiwillig Engagierte.



Weitere Personalien



Inken Gallner (59), Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, hat am 18. Juni den Vorsitz im Stiftungsrat der Deutschen Stiftung Patientenschutz übernommen. Die Richterin tritt die Nachfolge von Harald Schliemann (80) an, der die Position 13 Jahre lang innehatte. Schliemann war von 2004 bis 2008 Justizminister des Freistaats Thüringen. Zuvor war er als Vorsitzender Richter beim Landes- und beim Bundesarbeitsgericht (BAG) tätig. Seine Nachfolgerin Gallner ist seit sechs Jahren im Stiftungsrat und war zuletzt stellvertretende Stiftungsratsvorsitzende. 2017 erfolgte ihre Ernennung zur Vorsitzenden Richterin. Seit Januar 2022 ist sie Präsidentin des höchsten Arbeitsgerichtes. Professor Wolfram Höfling übernahm ihren Posten des stellvertretenden Stiftungsratsvorsitzenden. Der Staatsrechtler unterstützt seit mehr als 20 Jahren zunächst als Mitglied des Vorstandes und später des Stiftungsrates die Arbeit der Patientenschützer. Er war von 1998 bis 2022 Direktor des Instituts für Staatsrecht der Universität zu Köln und acht Jahre lang Mitglied des Deutschen Ethikrates.

Stefanie Deutsch (41) ist neue Geschäftsführerin der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege in Sachsen-Anhalt mit Sitz in Magdeburg. Sie übernahm die Aufgaben von Uwe Leicht, der seit August 2022 Geschäftsführer der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege war. Zuletzt leitete die gebürtige Magdeburgerin mehr als sechs Jahre lang den Verein der Magdeburger Krebsliga.

Hans-Heinrich Aldag ist zum Präsidenten des Bundesverbandes Deutscher Privatkliniken (BDPK) gewählt worden. Er ist Nachfolger von Katharina Nebel, die das Amt seit 2009 über fünf Wahlperioden innehatte und nicht mehr zur Wiederwahl angetreten war. Sie wurde zur Ehrenpräsidentin ernennt. Aldag ist seit 2015 Mitglied des BDPK-Vorstands und gehört seit 2012 dem BDPK-Fachausschuss Rehabilitation und Pflege an. Aldag führt seit 1990 in dritter Generation als Geschäftsführender Gesellschafter die Waldklinik Jesteburg im nördlichen Niedersachsen.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Juli



Juni

26.6. Gelsenkirchen:

Fachtagung „Unternehmerische Friktionen durch den Pflegenotstand“

der Ruhrgebietskonferenz Pflege

Tel.: 0172/2844861

27.6. Berlin:

Seminar „Vergütungssatzverhandlungen in der Eingliederungshilfe“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 030/28486-0

Juli

1.7.:

Webinar „Community Health Nursing“

der SozialGestaltung GmbH

Tel.: 0221/98816-888

4.-11.7.:

Online-Seminar „Digitale Öffentlichkeitsarbeit und Social-Media für soziale Einrichtungen - Grundkurs“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 01577/7692794

8.-11.7. Freiburg:

Seminar „Klar kommunizieren, auch wenn's eng wird“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

11.7.:

Webinar „Finanzierung für eine Grüne Zukunft: Fördermittel für Klimaschutz in der Sozialwirtschaft erfolgreich akquirieren“

der SozialGestaltung GmbH

Tel.: 0221/98816-888

15.7. Würzburg:

Seminar „ABC des Umsatzsteuer- und Gemeinnützigkeitsrechts“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 02203/8997-375

15.-17.7. Berlin:

Seminar „Kinderschutz neu denken! Inklusiver Kinderschutz für alle Kinder“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980-605

16.7. Würzburg:

Seminar „Energieerzeugung und Steuern (Blockheizkraftwerke, Photovoltaikanlagen) - Ein steuerrechtlicher Überblick“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 02203/8997-375