Berlin (epd). Das Startchancen-Programm, laut Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) das größte Bildungsprojekt in der Geschichte der Republik, bedeutet für die zur Teilnahme ausgewählten Schulen vor allem eins: viel organisatorische Arbeit und wohl auch Bürokratie. Und doch ist die zugesagte langfristige finanzielle Hilfe in Milliardenhöhe für die Schulen „mit einem hohen Anteil sozioökonomisch benachteiligter Schüler“ ein Wechsel auf eine bessere Zukunft. „Das finden wir mega, weil wir glauben, dass das Geld hier gut angelegt sein wird“, sagte Jan Drumla, Leiter der Wiesbachschule in Grävenwiesbach im hessischen Hintertaunus, der Lokalzeitung „Usinger Anzeiger“. Seine Grundschule ist eine der ersten 80 Schulen in Hessen, die in das Programm aufgenommen wurden.
In Hessen sind über die Laufzeit von zunächst zehn Jahren rund 320 Schulen zur Förderung vorgesehen. Die meisten Schulen (900) stellt Nordrhein-Westfalen, Bayern 580 und Baden-Württemberg 540. Bundesweit gehen zunächst jedoch nur rund 2.000 Schulen aller Schulformen an den Start. Insgesamt sollen es später 4.000 sein, von den 60 Prozent Grundschulen sind. Ein wesentliches Ziel: Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in Mathematik und Deutsch verfehlen, soll bis zum Ende der Programmlaufzeit halbiert werden.
Dass der Bildungserfolg hierzulande noch immer stark von der sozialen Herkunft abhängt, weiß auch Ministerin Stark-Watzinger. Sie betonte diesen Mangel jüngst bei der Unterzeichnung des Programms in Berlin. Mit der Förderung wolle man „mehr Chancengerechtigkeit in Deutschland erreichen“. Insgesamt sollen über zehn Jahre insgesamt 20 Milliarden Euro an die Schulen fließen. Das Geld soll unter anderem in die Ausstattung der Schulen, Fortbildungen, aber auch in Stellen für Sozialarbeiter, Psychologen und Logopäden fließen.
Die Förderung teilt sich auf in drei Säulen: Ein Investitionsprogramm für eine moderne Ausstattung der Schulen, das eine zeitgemäße Lernumgebung schaffen soll. Stichworte sind hier Digitalisierung, Barrierefreiheit und Klimaschutz. Das sogenannte Chancenbudget erhalten die Schulen zur möglichst freien und individuellen Verfügung. Schließlich soll die Schulsozialarbeit mit mehr Fachkräften gefördert werden.
Noch ist in der Wiesbachschule mit ihren 210 Schülern in neun Klassen nicht klar, wie die Umsetzung des Hilfsprogrammes ablaufen wird. Doch klar ist: Die Erwartungen sind groß, nicht nur bei der Schulleitung. Die Eltern seien bereits schriftlich informiert worden. Auch die Lehrer stünden dem Programm sehr aufgeschlossen gegenüber, so der Pädagoge: „Von den Eltern sind bereits konkrete Angebote zur Unterstützung eingegangen“, so Drumla. Er platze vor Neugier, „wie die Rahmenbedingungen aussehen“. Dass die Unterstützung der Kinder verbessert werden muss, stehe außer Frage: Auch an seiner Schule gebe es viele Mädchen und Jungen, die es aufgrund ihrer Sozialisation schwer hätten. Sie könnten oft nicht richtig lesen und schreiben und hätten „auch keine Begleitung von ihren Eltern“.
Zu tun gebe es vieles, listet der Schulleiter auf: Die Schule ist nicht barrierefrei. Ein Ruheraum steht schon lange auf der Wunschliste. Und auch die Überschattung der Außenbereiche könnte nun Wirklichkeit werden. Mit neuen multiprofessionellen Teams aus Sozialarbeitern und anderen Fachkräften werde es möglich sein, „den Fokus im Bereich Bildungsgerechtigkeit neu auszurichten“. Schließlich sei auch denkbar, eine Außenstelle zu schaffen, an die sich Eltern wenden können, die Beratung bei individuellen Problemen ihrer Kinder benötigen.
„Allein wegen des enormen Reparaturbedarfs in den Schulen ist das Geld gut angelegt. Noch ist aber nicht klar, wofür die Schulen das Geld verwenden werden. Jetzt sind die ersten Schulen benannt, die nun zunächst Konzepte erarbeiten müssen, dann Kooperationsvereinbarungen schließen und alle möglichen anderen Dinge abklären“, sagte Claudia Seibold, Referentin Bildung und verbandsinterne Kommunikation bei der Bundesarbeitsgemeinschaft evangelische Jugendsozialarbeit (BAG EJSA), dem Evangelischen Pressedienst (epd). Sie rechne jedoch damit, dass mit konkreten Maßnahmen ab dem zweiten Schulhalbjahr 2024/2025 gestartet werde.
„Die Bund-Länder-Vereinbarung enthält sehr viele, sehr richtige Überlegungen und Vorgaben. Mit einer besseren Ausstattung, einer Person für das pädagogische Team und dem Chancenbudget werden den Schulen mit besonderen Belastungen zentrale Elemente für eine positive Entwicklung gegeben“, urteilt Markus Warnke, Geschäftsführer der 2013 gegründeten Wübben-Stiftung Bildung. Dass jetzt Geld in Schulen in prekären sozialen Umfeldern fließe, sei richtig. „Richtig ist aber auch, dass es an fast allen Schulen Kinder mit diesen Bedarfen gibt“, so der Fachmann. Er hoffe, dass mit dem Startchancen-Programm beispielsweise Unterrichtskonzepte und Verfahren zur datengestützten Schul- und Unterrichtsentwicklung entstehen, „die allen Schulen und damit allen Kindern und Jugendlichen helfen“.
An diesem Punkt setzt die Kritik der Gewerkschaft Bildung und Wissenschaft an. „Das Startchancen-Programm erreicht nur rund zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler - gut 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind jedoch arm beziehungsweise armutsgefährdet. Trotzdem ist das Programm natürlich ein Schritt nach vorne“, sagte Vorstand Anja Bensinger-Stolze dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Uns ist wichtig, dass die Gelder dort ankommen, wo sie am meisten gebraucht werden: an Schulen in benachteiligten Stadtvierteln und bei den armen Familien und Kindern. Allerdings würden nur 4.000 von rund 40.000 Schulen zusätzliche Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter bekommen: “Der Bedarf ist jedoch erheblich höher."
Die Gewerkschafterin sagte weiter, das Programm sei grundsätzlich zu klein angelegt. Und: „Wie groß seine Wirkung mit Blick auf mehr Förderung benachteiligter Schulen sowie deren Schülerinnen und Schüler und mehr Chancengleichheit sein wird, lässt sich im Moment noch nicht seriös abschätzen“, so Bensinger-Stolze.
Auch Markus Warnke sagt: „Tatsächlich gibt es mehr Schulen, die sehr gerne Teil des Programms werden möchten. Am Ende sind die Gewichtung und die Wahl der Auswahlkriterien durch die Politik gesetzt, vom Grundsatz aber richtig. Wie immer wird es Schulen geben, die profitieren, und solche, die nicht berücksichtigt werden können. Ich finde diesen ersten Schritt aber uneingeschränkt richtig.“
Ob die Umsetzung des ambitionierten Programmes schnell und vor allem unbürokratisch gelingt, bleibt abzuwarten. Und auch, ob die bisherigen Standards der Jugendhilfe, etwa mit Blick auf die Schulsozialarbeit, gehalten werden. Weiteres Problem: In vielen Bundesländern gibt es bereits spezielle Finanzhilfen für die Schulsozialarbeit, die ähnliche Ziele verfolgen wie jetzt das Startchancen-Programm. Es sei bereits abzusehen, „dass die beteiligten freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe weniger Mittel erhalten als in den vorhandenen Landesprogrammen. Somit entsteht ein unerwünschtes und kontraproduktives Zweiklassen- beziehungsweise Mehrklassensystem“, so Seibold.
Ähnlich sieht das Tom Urig, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit. „Es ist notwendig, den starken Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg aufzubrechen. Erreicht werden mit dem Programm jedoch nur rund zehn Prozent aller Schulen in Deutschland.“ Schulformen wie die Berufsschulen profitierten eher nicht. Urig: „Superlative in der Bewertung sind nicht angebracht.“
Betrachte man die drei Säulen des Programms, so werde ein Fokus auf Ausstattung und Wissensdefizite gelegt. „Für die Schulsozialarbeit bleibt ein kleiner Teil im Verhältnis zu den anderen Säulen“, sagte Urig. Das entspreche nur bedingt dem Bedarf, der unter anderem von Lehrkräften und Leitungen in Schulen beschrieben werde. „Schulsozialarbeit ist in den Bundesländern zudem sehr unterschiedlich aufgestellt. Das Programm wird daran nicht viel ändern und keineswegs die Ausstattung mit Schulsozialarbeitern überall verbessern.“
Markus Warnke betont: „Die Verteilung der Ressourcen stellt eine sehr große Herausforderung für die Länder dar. Die Verantwortung für die Ausstattung liegt bei den Schulträgern.“ Sie müssten entscheiden, auf welchem Weg und mit welchen Freiheiten, aber auch Dokumentationspflichten die Schulen die Mittel erhalten. Die Länder haben sehr viel zu organisieren."
Er betont, dass nicht das Geld das Wichtigste am Programm ist: „Es geht darum, wie die Schulen dabei unterstützt werden können, die Qualität des Unterrichts bei und die Lerngelegenheiten für Schülerinnen und Schüler zu verbessern.“ Wenn das bessere Zusammenspiel von Ministerien, Schulaufsichten, Landesinstituten und Schulträgern funktioniere, würden am Ende nicht nur diese 4.000 Schulen, sondern das ganze Bildungssystem davon profitieren. Wenn das gelinge, „können wir nach zehn Jahren wirklich von dem wichtigsten Bildungsprogramm der Geschichte sprechen“.