Frankfurt a.M. (epd). Der neue Bildungsbericht „Bildung in Deutschland 2024“ zeigt, dass das deutsche Bildungssystem vor etlichen grundlegenden Problemen steht. Denn angesichts des alarmierenden Befundes - Mangel an Fachpersonal, unzureichender Finanzierung, stagnierende und zum Teil sogar sinkende Schulleistungen sowie anhaltende soziale Ungleichheiten - kommen die Fachleute in ihrer Studie zu dem Schluss, dass das Bildungssystem bereits am Anschlag arbeitet. Sie beklagen fatale Fehlentwicklungen, die nur mit strukturellen Veränderungen zu beheben seien.
„Angesichts der vielschichtigen Herausforderungen gilt es, bereichsübergreifend alle Aktivitäten und Ressourcen klug, kohärent und nachhaltig miteinander zu verzahnen“, sagte Mitautor Kai Maaz. Denn das System arbeitet vielerorts bereits am Anschlag, nicht zuletzt aufgrund stetiger Aus- und Umbaumaßnahmen und der angespannten Situation beim Fachpersonal, sagte der Geschäftsführende Direktor des Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) und Sprecher der für den Bildungsbericht verantwortlichen Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am 17. Juni in Berlin.
Es gibt zahlreiche Baustellen, die zusätzlichen Anpassungsdruck mit sich bringen. „So stellt etwa die Integration von Personen mit Flucht- und Migrationserfahrung inzwischen eine Daueraufgabe und große Herausforderung dar, für die es bislang keine nachhaltigen Konzepte gibt. Bildungsprozesse müssen zudem vermehrt digital gestaltet und der Kulturwandel durch die Digitalisierung mitgedacht werden“, betonte der Forscher.
Der nationale Bildungsbericht wird alle zwei Jahre auf Basis von amtlichen Statistiken und sozialwissenschaftlichen Daten und Studien erstellt. Als systematische Bestandsaufnahme des gesamten Bildungswesens analysiert auch die aktuelle Ausgabe langfristige Entwicklungen und benennt neue Impulse.
Bemerkenswert ist der Umstand, dass die finanziellen Investitionen in Bildung steigen. Doch sie decken trotzdem nicht den Bedarf. Auch die Zahl der Bildungseinrichtungen lag 2022 um sechs Prozent über dem Stand von 2012. Gleiches gilt für die Anzahl der Bildungsteilnehmer: Sie hat sich 2022 im Vergleich zu 2012 erhöht - auf 17,9 Millionen Personen. Die Expansion von Bildungsangeboten hält also bei teils steigender Nachfrage an. In einigen Bereichen, etwa bei der Ganztagsbetreuung, übersteigt die Nachfrage oftmals das Angebot.
Maaz merkte kritisch an, dass das Bildungssystem stetig, aber eher reaktiv als proaktiv um- und ausgebaut werde. Gerade in den vergangenen zwei Dekaden seien viele Maßnahmen ergriffen worden, um Bildungsangebote auszuweiten, ihre Qualität zu verbessern und große Förderprogramme auf den Weg zu bringen. Doch ohne durchschlagenden Erfolg: „Vor dem Hintergrund großer gesamtgesellschaftlicher Veränderungen gilt es, einen Verständigungsprozess darüber anzustoßen, welche Ziele, Verantwortlichkeiten und Aufgaben das Bildungssystem und seine Institutionen übernehmen können und sollen“, sagte Maaz. Wichtig sei dabei, auf geteilte Ziele hinzuarbeiten und zu evaluieren, ob diese erreicht würden. Er spricht sich für ein „wissenschaftsbasiertes Monitoring-System“ aus, das es noch nicht in allen Bundesländern gibt. Das könne helfen, die Wirkung von Bildungsreformen wissenschaftlich zu überprüfen.
Zur Rekrutierung von Fachpersonal für Bildungseinrichtungen hieß es, die Lage sei weiterhin sehr schwierig. Beispiel Kindertageseinrichtungen: Dort ist die Zahl des pädagogischen Personals in den vergangenen zehn Jahren zwar um 54 Prozent gestiegen. In Westdeutschland wird dennoch eine bis 2035 anhaltende Personallücke erwartet. In Ostdeutschland kann der Personalbedarf inzwischen weitestgehend gedeckt werden, allerdings stellt sich der Personal-Kind-Schlüssel ungünstiger dar als in den westdeutschen Bundesländern.
In der beruflichen Bildung ist die Lehrkräftesituation der Studie zufolge ebenfalls sehr angespannt, zumal mehr als die Hälfte der Lehrenden bereits 50 Jahre und älter ist. Auch im Weiterbildungssektor fehlt Lehrpersonal: 65 Prozent der Einrichtungen berichteten von wachsenden Problemen, geeignete Fachkräfte zu finden.
Internationale und nationale Bildungsstudien haben laut Maaz gezeigt, dass die Schulleistungen sowohl im Primarbereich als auch in der Sekundarstufe I stagnieren oder sogar zurückgehen. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die die Mindeststandards im Lesen nicht erreichen, ist demnach insgesamt und im internationalen Vergleich groß. Am Ende der Schulzeit verließen 2022 erneut mehr Jugendliche die allgemeinbildenden Schulen ohne Abschluss. Das sind 6,9 Prozent gegenüber 5,7 Prozent im Jahr 2013.
Auch bestehen sozial bedingte Ungleichheiten weiterhin in erheblichem Maße fort. Nur 32 Prozent der Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien erhalten eine Gymnasialempfehlung, verglichen mit 78 Prozent aus privilegierten Familien. Damit bleibt es weiter so, dass über den Bildungserfolg vor allem das Elternhaus und weniger die Schule entscheidet. Schon im Grundschulalter erreichen viele Kinder die Mindestanforderungen nicht. Maaz: „Wir sollten uns außerdem bewusst machen, dass soziale Bildungsungleichheiten nicht ausschließlich dort entstehen, wo sie in Bildungsstudien sichtbar werden, sondern auch und vor allem schon in der frühen Kindheit.“
Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, sagte: „Der Nationale Bildungsbericht macht erneut deutlich, dass die soziale Ungleichheit im Bildungssystem nach wie vor sehr hoch ist.“ Die Ursache dafür liege auch in einem Schulsystem, das Kinder und Jugendliche sehr früh auf verschiedene Schultypen verteile. „Es gelingt zu oft nicht, Kindern und Jugendlichen die Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Ausbildung und damit Berufslaufbahn mit auf den Weg zu geben.“ So sei der Anteil leseschwacher Viertklässler in den letzten Jahren gewachsen. Ebenso ist der Anteil von Jugendlichen, die das System ohne Schulabschluss verlassen, zwischen 2020 und 2022 noch gestiegen."
Für die Jugendlichen braucht es laut Kohlrausch dringend gute Angebote, damit ihnen der Übergang in eine berufliche Ausbildung gelingt. „Vor allem aber bedarf es einer besseren finanziellen Ausstattung des Bildungssystems, um etwa Schulsanierungen und den Ausbau von Ganztagsschulen finanzieren und der teilweise eklatanten Personalnot etwas entgegensetzen zu können.“
„Der Bildungsbericht zeigt einmal mehr, dass Personalmangel, soziale Ungleichheit und junge Menschen ohne Schul- und Berufsabschlüsse große Herausforderungen des Bildungssystems bleiben“, sagte Elke Hannack, die stellvertretende DGB-Vorsitzende. Ohne massive Investitionen in Personal und Qualität drohten sich die Probleme des chronisch unterfinanzierten Bildungswesens weiter zu verschärfen. „Die Schuldenbremse erweist sich längst als Investitionsbremse, gerade im Bildungsbereich - deshalb gehört sie erneut ausgesetzt und grundlegend reformiert“, forderte die Gewerkschafterin: „Junge Menschen brauchen erstklassig ausgestattete Schulen dringender als ausgeglichene öffentliche Haushalte. Einsparungen im Bereich Bildung sind angesichts dieser Herausforderungen Wahnsinn.“
Für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sagte die Vorsitzende Maike Finnern, dass das Bildungssystem seine Leistungen weiterentwickeln müsse, um Menschen, die nach Deutschland kommen, besser zu integrieren. „Das gilt für die Kinder und Jugendlichen, die in den Kitas und Schulen Bildung vom ersten Tag an brauchen. Das gilt aber auch für die Erwachsenen, die in ihrem Herkunftsland beispielsweise als Erzieherinnen, Erzieher oder Lehrkräfte ausgebildet worden sind.“ Die Anerkennung ihrer Qualifikationen müsse erleichtert, die Verfahren müssten beschleunigt werden. „Angesichts des riesigen Fachkräftemangels im Bildungsbereich ist es unverantwortlich, das vorhandene Potenzial nicht zu nutzen.“