sozial-Branche

Bildung

Interview

Stiftung: Schulen in Brennpunkten brauchen mehr als nur Geld




Markus Warnke
epd-bild/Peter Gwiazda
Eine neue Untersuchung zeigt, mit welchen speziellen Problemen Schulen in sozialen Brennpunkten zu kämpfen haben. Welche das sind und wo eine Lösung für die Schwierigkeiten etwa bei der Integration von Flüchtlingskindern liegen könnte, erläutert Markus Warnke, Geschäftsführer der Wübben Stiftung Bildung, im Interview mit epd sozial.

Düsseldorf (epd). 17,4 Prozent der Kinder in Schullen in Brennpunkten haben zuvor keinen Kindergarten besucht und 22 Prozent der Schülerinnen und Schüler bleiben ein Jahr und länger als normal in der Grundschule, so die Erhebung der Wübben Stiftung Bildung. Sprachdefizite und psychosoziale Probleme sind die Folgen. „Diese Schulen sind keine schlechten Schulen, aber dort bündeln sich alle Probleme der Nachbarschaft“, sagt Markus Warnke und gibt Einblick in den schulischen Alltag. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Herr Warnke, Sie haben wie viele andere Experten, die mit Fragen der Migration vertraut sind, gespannt auf den Flüchtlingsgipfel in Berlin geschaut. Was war als Bildungsfachmann Ihre erste Reaktion auf die doch überschaubaren Ergebnisse?

Markus Warnke: Wir haben einen Tag nach dem Flüchtlingsgipfel das zehnjährige Bestehen unserer Stiftung gefeiert, auf dem NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) ein Grußwort gesprochen und darin eingestanden hat, dass ein solcher Gipfel zum Großteil sehr weit von der Realität stattfindet. An den Schulen würde ein wichtiger Teil der Integration stattfinden. Recht hat er. Zu diesem zentralen Punkt gab es aber keine Vereinbarungen.

epd: Also wird sich die Lage in den Schulen, in die besonders viele Flüchtlingskinder gehen, wohl nicht so schnell verbessern?

Markus Warnke: In Nordrhein-Westfalen wurden bislang 44.000 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine in die Schulen aufgenommen. Oftmals konzentriert sich der Zuzug der Familien an bestimmten Standorten, die auch schon vorher stark belastet waren, einfach weil es dort bezahlbaren Wohnraum gibt. Vor kurzem erzählte mir ein Schulleiter einer großen Grundschule mit über 400 Schülerinnen und Schülern aus dem Ruhrgebiet, dass er innerhalb eines Schuljahres 80 geflüchtete Kinder aus der Ukraine aufgenommen hat. Diese Schule platzte schon vorher aus allen Nähten, das Lehrerkollegium ist nicht vollständig besetzt. Die Hilfsbereitschaft des Lehrerkollegiums stößt dann doch an Grenzen.

epd: Reden wir über die Lage an den Schulen in sozialen Brennpunkten. Sie haben gerade eine neue Untersuchung vorgelegt. Was sind die zentralen Ergebnisse?

Markus Warnke: Wir haben nach den spezifischen Herausforderungen dieser Schulen gefragt. Was macht eigentlich eine Schule im Brennpunkt aus? Neben der mangelnden Ausstattung, insbesondere mit fachlich geeignetem Personal, sind für mich die Ergebnisse zu den Ausgangslagen der Kinder gravierend. Etwa drei Viertel der von uns befragten 150 Schulleitungen geben an, dass die Schülerinnen und Schüler große Unterstützungsbedarfe bei Sprachkompetenzen, Fachkompetenzen und in der sozial-emotionalen Entwicklung haben. 17,4 Prozent der Kinder haben vor der Schule keinen Kindergarten besucht und 22 Prozent der Schülerinnen und Schüler bleiben ein Jahr und länger als normal in der Grundschule.

epd: Wie kommentieren die Schulleitungen diese Daten?

Markus Warnke: Die überwältigende Mehrheit der Schulleitungen gibt an, dass die Lehrpläne für ihre Kinder nicht passen und sie die Unterrichtmaterialien, wie etwa die Bücher nicht nutzen können. Diese Schulen sind keine schlechten Schulen, aber dort bündeln sich alle Probleme der Nachbarschaft.

epd: Sie haben acht Schulleitungen aus vier Bundesländern gebeten, ihre Ideen für eine bessere Unterstützung der Schulen im Brennpunkt aufzuschreiben. In der entstanden ist die Publikation „Chancen schaffen: Zur Situation von Schulen im Brennpunkt“. Wie lauten die Vorschläge?

Markus Warnke: Zunächst war für alle wichtig zu sehen, dass die Probleme, aber eben auch die Ideen, was dagegen getan werden kann, in den Bundesländern vergleichbar waren. Der zentrale Gedanke besteht darin, dass die Ungleichheit in den Ausgangslagen der Schulen berücksichtigt werden muss, und dass es eine gezieltere, datenbasierte Steuerung von Ressourcen geben muss. Die konkreten Vorschläge beziehen sich etwa auf eine frühzeitige sprachliche und motorische Förderung mit einer obligatorischen Vorschule. Dann wird eine sozialindexbezogene und faire Personalzuweisung vorgeschlagen sowie mehr Flexibilität bei der Umsetzung der Curricula und ein eigenverantwortliches Chancenbudget, wie es im Startchanden-Programm der Ampel vorgesehen ist.

epd: Traumatisierte Schüler, die als Flüchtlinge nach Deutschland kamen, fehlende Unterstützung durch Eltern, die kein deutsch sprechen: Das sind Herausforderungen, die die Schulen gar nicht lösen können. Was müsste hier verbessert werden?

Markus Warnke: Der Umgang mit traumatisierten Kindern ist an den von uns befragten Schulen nicht untypisch. Danach haben wir die Schulen ebenfalls befragt. Herausgekommen ist, dass mehr als jedes vierte Kind traumatische Erfahrungen gemacht hat. Die gute Nachricht ist, dass viele Schulen im Brennpunkt also grundsätzlich wissen, wie sie damit umgehen müssen.

epd: Das ist gut, dürfte aber nicht reichen ...

Markus Warnke: Stimmt. Es bräuchte vor allem mehr geschultes Personal, wie Schulsozialarbeiter oder Schulpsychologen. Und das ist die schlechte Nachricht, denn daran fehlt es. Auch die Zusammenarbeit mit Eltern ist herausfordernd und ressourcenintensiv. Das Konzept der in Nordrhein-Westfalen entwickelten Familiengrundschulzentren ist ein wirksamer Ansatz, um Eltern für die Kooperation zu gewinnen. Weit über 150 dieser Schulen mit einer ausgeprägten Elternarbeit entwickeln sich zu Familienzentren weiter. Es gibt bereits weitere Bundesländer, in denen dieses Konzept erprobt wird. Jetzt braucht es nur den Mut und dann auch die finanziellen Mittel, diese Ansätze in die Fläche zu bringen.

epd: Im föderalen System liegt die Zuständigkeit für die Schulen bei den Ländern. Wie bewerten Sie deren Sicht auf diese speziellen schulischen Nöte? Fehlt nicht nur das Geld, sondern auch die Einsicht in Änderungsbedarf?

Markus Warnke: Die Einsicht dafür ist unterschiedlich stark ausgeprägt. Woran es durchweg mangelt, ist die Bereitschaft, in einem viel stärkerem Umfang Daten zu nutzen, die nicht nur die Schulqualitäten, sondern auch die Wirksamkeit von Unterrichtskonzepten überprüft.

epd: Was kann das bringen?

Markus Warnke: Nehmen wird Kanada als Beispiel. Hier werden diese Daten systematisch erfasst. Dort werden auch Daten zur Belastungssituation und zum Entwicklungsstand der Schulen zur gezielten Steuerung von Personal und Geld genutzt. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sofort mehr Geld für Bildung fordern, sondern zunächst ein genaueres Hinsehen. Das bedeutet Transparenz über nachvollziehbare Kriterien. Erst dann wird deutlich, wo es an was fehlt und wieviel Geld tatsächlich fehlt. Die Gießkanne haben wir zu lange über die deutschen Schulen ausgeleert. Es braucht einen gezielten Einsatz von Finanzmitteln.

epd: Jedes Bundesland agiert anders. Wo ist im Ländervergleich die größte Offenheit bei der Lösung der beschriebenen schulischen Probleme zu sehen?

Markus Warnke: Mit Blick auf die Schulen im Brennpunkt haben wir uns vor kurzem einen Überblick verschafft und gesehen, dass es eine Reihe von Bundesländern gibt, die bereits Programme für diese Schulen aufgesetzt haben. Für uns beispielgebend sind Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und Hamburg. Aber auch Berlin hat eine Reihe von Angeboten. Interessant ist, dass sieben Bundesländer keine speziell auf diese Schulen ausgerichteten über einen längeren Zeitraum gestalteten Unterstützungsprogramme haben. Diese sind für uns ein wichtiger Indikator dafür, ob ein Bundesland wirklich die Problemlagen verstehen und darauf adäquat reagieren will. Denn das bloße Zurverfügungstellen von Ressourcen allein ist nicht entscheidend.

epd: Der Bund verweist auf sein Startchancen-Programm, das 4.000 Schulen in sozialen Brennpunkten helfen soll. Täuscht der Eindruck oder geht es damit auch nicht wirklich voran?

Markus Warnke: Es hat eine Reihe von Workshops zwischen Bund und Ländern gegeben, in denen zahlreiche Wissenschaftler aber auch andere Experten eingebunden waren. Dieser Austausch war, nach allem, was wir wissen, sehr konstruktiv und von der Bereitschaft geprägt, aus den bereits vorliegenden Erfahrungen zu lernen. Jetzt geht es aber darum, wer das alles bezahlen soll. Deswegen erleben wir jetzt auf der großen politischen Bühne ein Ringen ums Geld und um den Einfluss des Bundes in dem Programm, wenn er etwa die Überprüfbarkeit des Mittelflusses nachvollziehen will. Für die Schulen und die Planungen wäre es gut, wenn wir schnellstmöglich eine Einigung hätten. Beide Seiten werden sich wohl noch bewegen müssen.

epd: Wie bewerten Sie das Programm und was müsste hier vor dem Hintergrund Ihrer jüngsten Erkenntnisse geändert werden?

Markus Warnke: In den Ursprungsüberlegungen fehlte ein Aspekt, der in dem jüngsten Vorschlag des Bundesbildungsministeriums aber auch in den Überlegungen der Länder vorhanden ist. Es geht um die Begleitung der Schulen in ihren Entwicklungsprozessen. Es braucht, wie im Fußball, einen gut ausgebildeten Trainer, der eine klare Vorstellung von Spiel seiner Mannschaft hat, die Taktik vermitteln und das Training leiten kann. So ist es auch an den Schulen notwendig, eine professionelle Leitung zu haben. Diese kann auch aus einem Leitungsteam bestehen. Dieses Team gilt es zu begleiten und zu qualifizieren, damit die dann in Aussicht gestellten Ressourcen, sei es ein frei einsetzbares finanzielles Budget oder personelle Ressourcen, gezielt eingesetzt werden können und sich die Schulen positiv entwickeln.

epd: Wie lautet die Zielvision?

Markus Warnke: Am Ende sollte es immer darum gehen, dass die Schulen zu besseren Lernorten für ihre Kinder und Jugendlichen werden. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass der Aspekt der Entwicklungsunterstützung für Schulen auch im Starchancen-Programm berücksichtigt werden sollte und wenn sich Bund und Länder einigen, hoffen wir, dass er nicht nur in den beiden Verhandlungspapieren, sondern auch im endgültigen Programm verankert wird.

Zur Person: Dr. Markus Warnke ist seit Juni 2013 Geschäftsführer der Wübben Stiftung Bildung. Davor war er fünf Jahre als Gruppenleiter in verschiedenen Abteilungen des Kinder- und Jugendministeriums NRW in Düsseldorf tätig. Von Ende 2002 bis zum März 2008 arbeitete er beim größten deutschen Familienverband, dem Familienbund der Katholiken in Berlin und war über vier Jahre dessen Bundesgeschäftsführer. Er hat Rechtswissenschaften an den Universitäten Marburg, Hannover und Speyer studiert.