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Erste Hilfe in der Schule: "Nur nichts zu tun, ist ein Fehler"




Zwei Schüler üben eine Herz-Lungen-Massage.
epd-bild/Nicole Kiesewetter
Mehr Mut zur Reanimation: Mediziner gehen in Schulen, um Kindern lebensrettende Maßnahmen zu zeigen, vor denen Erwachsene sich im Notfall häufig scheuen. Das ist in Skandinavien seit Jahren etabliert.

Pasewalk (epd). „Nun ist der Nächste dran. Bitte einmal ansprechen, dann Hilfe holen, und nun fangt an zu drücken.“ Der Notfallmediziner Bernd Müllejans schaut in 25 Paar skeptische Kinderaugen, bis sich die ersten Fünftklässler der evangelischen St. Nikolaischule im vorpommerschen Pasewalk nach vorn trauen, um mit einer lebensechten Puppe eine Herz-Lungen-Massage zu üben. „Denkt immer dran, wenn ihr in so eine Notfallsituation geratet: Ihr könnt nichts falsch machen - nur nichts zu tun, ist ein Fehler.“

Bei einem Herzstillstand beginnen bereits nach drei Minuten ohne die lebenswichtige Sauerstoffzufuhr erste Hirnzellen abzusterben, hat der Chefarzt für Anästhesie an der Asklepios Klinik Pasewalk zuvor den Kindern erklärt. Laut Statistiken ist es Rettungsdiensten aber im Schnitt erst zehn Minuten nach der Alarmierung möglich, die Betroffenen vor Ort zu behandeln. „Wenn also bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes keine Wiederbelebungsmaßnahmen durchgeführt wurden, sind schwerste Hirnschäden mehr als wahrscheinlich“, erklärt Müllejans.

In Deutschland reanimieren Laien zu wenig

Die Laienreanimationsquote in Deutschland liege aktuell unter 50 Prozent, „was bedeutet, dass bei jedem zweiten Herz-Kreislauf-Stillstand Hilfe erst durch den Rettungsdienst kommt“, erklärt der Chefarzt. In der Regel sei das aber bereits zu spät, und so sterben in Deutschland jährlich um die 70.000 Menschen nach erfolglosen Maßnahmen zur Herz-Lungen-Wiederbelebung.

Die Idee, bereits Grundschulkindern die lebensrettenden Maßnahmen näherzubringen, trägt der Anästhesist bereits einige Zeit mit sich. „Die meisten Erwachsenen haben nur einmal in ihrem Leben Berührung mit einem Wiederbelebungskurs, nämlich wenn sie den Erste-Hilfe-Kurs zum Führerscheinerwerb besuchen und dann nie mehr wieder. Das ist definitiv zu wenig“, sagt Müllejans. In skandinavischen Ländern wie Dänemark zeigt ein verpflichtender Schulunterricht in der Reanimation Wirkung.

Dort liegt die Laienreanimationsquote inzwischen bei 80 Prozent. Sie hat sich seit Einführung der Unterrichtseinheiten „Herz-Lungen-Wiederbelebung“ vor 20 Jahren verdreifacht und die Überlebensrate nach Herz-Kreislauf-Stillstand konnte verdoppelt werden. Müllejans: „Wir wissen, dass die wesentlichsten Gründe für eine fehlende Hilfe Unsicherheit und Angst sind. Berührungsängste wiederum können durch eine frühzeitige Schulung im Kindesalter reduziert werden.“

Schulausschuss empfiehlt Wiederbelebungsunterricht

Die Fachgesellschaft „Deutscher Rat für Wiederbelebung“ fördert die Ausbildung von Kindern mit ihrem Projekt „Kids save lives“ (Kinder retten Leben) und weist darauf hin, dass der Schulausschuss der Kultusministerkonferenz seit 2014 zwei Schulstunden Wiederbelebungsunterricht im Jahr ab Klasse 7 empfiehlt. Die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin stellt auf ihrer Plattform „schuelerrettenleben.de“ Informationen und Unterrichtsmaterialien zur Verfügung.

In Pasewalk möchte Nikolai-Schulleiter Jörg Hartmann das Projekt regelmäßig in den Unterricht integrieren: „Wenn 70.000 Menschen dadurch sterben, dass ihnen nicht schnell genug geholfen wird, dann ist das siebenmal die Bevölkerung von Pasewalk. Da greift die Statistik als überzeugendes Argument.“

Müllejans verweist darauf, dass jeder grundsätzlich das notwendige Werkzeug bei sich habe, „denn die ersten Wiederbelebungsmaßnahmen erfordern nur unsere zwei Hände“. Die Formel für eine erfolgreiche Wiederbelebung: Erstens prüfen (Bewusstsein, Atmung), dann rufen (Hilfe und den Rettungsdienst über die in Europa einheitliche Notrufnummer 112) und als drittens drücken - „und zwar 100 Mal pro Minute möglichst ohne Unterbrechung den Brustkorb 5 bis 6 cm tief eindrücken, bis der Rettungsdienst übernimmt“.

Mit Musik geht es besser

Und weil auch in diesem Fall mit Musik alles besser geht, üben die Kinder an diesem Vormittag das Drücken mit Musik im Hintergrund. „Highway to Hell“ von AC/DC und „Stayin' Alive“ von den BeeGees haben zwischen 100 und 120 Schläge pro Minute, „und damit den perfekten Rhythmus für eine Herzdruckmassage“, sagt Müllejans. Hannes Job stehen nach der etwas anderen Unterrichtsstunde kleine Schweißperlen auf der Stirn: „Hat Spaß gemacht, aber war voll anstrengend - hätte ich nicht gedacht.“

Der Mediziner wünscht sich, dass das Thema verpflichtend in den Schullehrplan aufgenommen wird. „Es macht wenig Sinn, wenn Lehrkräfte alle zwei Jahre in diesem Bereich geschult werden, die Schülerinnen und Schüler aber nicht.“ Der Anästhesist will das Projekt zumindest für die Region um Pasewalk längerfristig anlegen, „um in unserer Region mit langen Anfahrtswegen für Rettungskräfte mit der Zeit eine hohe Laienreanimationsquote aufzubauen“.

Nicole Kiesewetter