Stationäre Pflege-Einrichtungen müssen nach einer Vereinbarung von Gesundheitsminister Karl Lauterbach und Pflegeverbänden Beauftragte bestimmen, die sich um Hygieneanforderungen, Corona-Impfungen, Tests für Personal, Besucher und Bewohner sowie die Bereitstellung antiviraler Medikamente kümmern. Zur Verringerung der Corona-Bürokratie werden regelmäßige Meldungen an die Gesundheitsämter über die Impfquoten in den Heimen vereinfacht. Widerstand gibt es in der Branche gegen eine strenge Maskenpflicht für Bewohnerinnen und Bewohner.
Nach der ergebnislosen Bund-Länder-Runde am 4. Oktober sind in der Energiekrise schnelle Finanzhilfen für Einkommensarme und Sozialeinrichtungen kaum noch zu erwarten. Um so wichtiger könnten die Wärmehallen werden, die die ersten Kommunen in Deutschland als Notlösung für einen kalten Winter vorbereiten. Dort sollen sich Bürger, die ihre Wohnung aus Kostengründen kalt lassen, aufwärmen können.
Die Präsidentin des Deutschen Pflegerats, Christine Vogler, dringt auf eine massive Aufwertung der Pflege. Wenn es nicht schnell zu tiefgreifenden Veränderungen komme, werde es in Zukunft nicht mehr für alle Pflegebedürftigen in Deutschland eine professionelle Versorgung geben, sagte sie im epd-Interview.
Arbeitgeber dürfen nur in engen Grenzen Auskünfte über ehemalige Beschäftigte an deren neuen Arbeitgeber geben. „Die Auskünfte, zu denen der Arbeitgeber berechtigt ist, betreffen nur Leistung und Verhalten des Arbeitnehmers während des Arbeitsverhältnisses“, entschied das Landesarbeitsgericht Mainz.
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Markus Jantzer
Berlin, Duisburg (epd). Pflege- und Kommunalverbände haben sich mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) darauf verständigt, die Corona-Schutzmaßnahmen für Pflegebedürftige und die Aufrechterhaltung der pflegerischen Versorgung auch in diesem Winter in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit zu stellen. Man wolle die Einrichtungen und Dienste sowie deren Mitarbeitende bei den kommenden Herausforderungen unterstützen, heißt in der gemeinsamen Erklärung, die Lauterbach am 6. Oktober in Berlin vorstellte. Im Wesentlichen geht es darin um die Neuerungen durch die jüngste Reform des Infektionsschutzgesetzes.
Lauterbach sagte, man habe zusammen mit allen Verantwortlichen in der Pflege ein gemeinsames Verständnis entwickelt, wie der Gefahr von Infektionen begegnet werden könne, ohne die Pflegekräfte zu überlasten oder Pflegebedürftige auszugrenzen.
Vereinbart wurde im Einzelnen, dass Schutz- und Hygienekonzepte fortgeführt werden. Die Einrichtungen müssen Beauftragte bestimmen, die sich um Hygieneanforderungen, Corona-Impfungen, Tests für Personal, Besucher und Bewohnerinnen sowie die Bereitstellung antiviraler Medikamente kümmern. Zur Verringerung der Corona-Bürokratie werden regelmäßige Meldungen an die Gesundheitsämter über die Impfquoten in den Heimen vereinfacht. Festgelegt wurde außerdem, dass Besuche nicht eingeschränkt werden und Schutzmaßnahmen nicht zur Isolation von Gruppen oder einzelnen Personen führen dürfen.
Keine Angaben macht die Erklärung dazu, ob die Corona-Impfpflicht für das Personal Ende des Jahres tatsächlich auslaufen soll. Sie geht auch nicht auf die Proteste gegen die Maskenpflicht für Bewohnerinnen und Bewohner ein, die seit Anfang Oktober nach Paragraf 28b des Infektionsschutzgesetzes bundesweit für den Aufenthalt in Gemeinschaftsräumen gilt.
Die Ruhrgebietskonferenz-Pflege, ein Zusammenschluss von 40 Pflegeeinrichtungen in der Region, hatte zuvor darauf gehofft, dass die umstrittene Regelung im Infektionsschutzgesetz, wonach Heimbewohner außer in den „für ihren dauerhaften Aufenthalt bestimmten Räumlichkeiten“ Maske tragen müssen, wieder zurückgenommen wird. Zumal offenbar manche Bundesländer bei der Auslegung des Gesetzes einen weiten Spielraum sehen.
Die Pflegeanbieter begrüßten den Erlass von NRW-Gesundheitsminister Karl Laumann (CDU) zur Auslegung des Infektionsgesetzes. Darin halte Laumann den Verzicht auf das Tragen einer Maske in Aufenthaltsräumen für vertretbar. „Wir freuen uns, dass Minister Laumann den Begriff der Privaträume weit auslegt und nicht der politisch motivierten Panik von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach folgt“, sagte Thomas Eisenreich als Sprecher der Ruhrgebietskonferenz-Pflege am 5. Oktober in Köln. Laumann hatte in einem am 30. September veröffentlichten Erlass die zuständigen Aufsichtsbehörden der Kommunen auf „Auslegungsmöglichkeiten“ des Gesetzes hingewiesen.
Auch der Vize-Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands in Sachsen-Anhalt hält die seit 1. Oktober geltende Maskenpflicht für Pflegeheimbewohner für unsinnig und kaum umsetzbar. „Die Regelungen schießen weit über das Ziel hinaus“, sagte Marcel Kabel dem MDR: „Menschen mit Behinderungen oder hohem Pflegebedarf werden hier unzumutbaren Belastungen ausgesetzt.“
Eugen Brysch von der Stiftung Patientenschutz kritisierte ebenfalls, dass der Bundesgesundheitsminister auf eine radikale Maskenpflicht setzt. „Er greift damit massiv in die verfassungsgemäßen Grundrechte der 810.000 Pflegeheimbewohner ein“, sagte Brysch. Zudem werde ignoriert, dass die Lebensgestaltung der pflegebedürftigen Menschen auch in gemeinschaftlich genutzten Räumen stattfindet. Gemeinschaftsküchen, Aufenthalts- und Fernsehräume seien Teil der Privatwohnung.
Berlin/Ludwigsburg (epd). Mit dem Krieg Russlands in der Ukraine droht eine Gasmangellage im Winter. Die Bürger fürchten sich vor kalten Wohnungen. Zugleich haben viele Menschen Angst, die steigenden Heizkosten finanziell nicht bewältigen zu können.
Die Stimmung ist aufgeheizt. 44 Prozent der Deutschen haben angekündigt, wegen der Energiekrise auf die Straße gehen zu wollen. Das geht aus einer repräsentativen INSA-Umfrage für die „Bild“-Zeitung hervor.
Auch die Debatte in den sozialen Medien ist hitzig. Auf Twitter wird intensiv über Wärmehallen diskutiert. Hintergrund sind die Pläne einiger Kommunen, im Winter Turn- und Mehrzweckhallen zu Wärmehallen umzufunktionieren. Dort sollen sich Bürger, die ihre Wohnung aus Kostengründen kalt lassen, aufwärmen können.
Der Vorschlag kam unter anderem vom Deutschen Städtetag. Auch die Bundesregierung mahnt dazu, Gas zu sparen und die Heizungen im kommenden Winter herunterzudrehen.
Martin Voß, Sozialwissenschaftler und Katastrophenforscher an der Freien Universität Berlin, sagt dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Eine Gasmangellage haben wir jetzt schon und es verknappt sich weiter.“ Der mögliche Einsatz von Wärmehallen bedeute für ihn „eine Kapitulation des Sozialstaats.“ Er betont jedoch auch: „Noch schlimmer wäre es, wenn wir die Wärmehallen tatsächlich bräuchten, sie aber nicht haben.“
Aus Sicht der Caritas „muss alles getan werden, eine Situation zu vermeiden, in der wir Wärmeräume brauchen“. Dennoch sei es richtig, sich auf alle Szenarien vorzubereiten, sagte die Pressesprecherin des katholischen Wohlfahrtsverbandes, Mathilde Langendorf.
Die Mietergewerkschaft Berlin zeigt sich von dem Vorschlag, für ältere Menschen, Obdachlose und Bedürftige Wärmehallen im Winter bereitzustellen, empört. „In einer Massenunterkunft sollte gar niemand wohnen müssen.“ Wärmehallen seien „Massenunterkünfte für arme Menschen“, Kritisiert die Organisation.
Eine der ersten Kommunen, die Wärmehallen ins Spiel brachte, ist die baden-württembergische Stadt Tuttlingen. Arno Specht, Pressesprecher der Stadt, sagt: „Derzeit sind wir noch dabei, das genaue Konzept zu erarbeiten.“ Dabei gehe es zum Beispiel um die Frage, wer berechtigt sei, die Halle zu nutzen. „Wichtig ist uns, jetzt Pläne vorzubereiten, die wir im Fall der Fälle - von dem wir nach wie vor hoffen, dass er nicht eintritt - schnell umsetzen können.“
Die Resonanz zu dem geplanten Vorhaben in der Bevölkerung falle unterschiedlich aus. „Die Bandbreite reicht von Lob bis Wut, von Häme bis zu Gleichgültigkeit“, sagt Specht.
Rund 150 Kilometer weiter nördlich in Ludwigsburg bei Stuttgart wurde ein Energie-Sparplan für den Winter vorgelegt. Das Maßnahmenpaket habe das Ziel, den Erdgasverbrauch um etwa 20 Prozent senken. Außerdem gebe es Pläne der Ludwigsburger Kirchengemeinden, eine Wärmestube einzurichten.
Ludwigsburgs Oberbürgermeister Matthias Knecht (parteilos) sagt: „Der kommende Winter wird eine große Herausforderung für unsere Gesellschaft. Die Energiekrise wird für viele finanzielle Auswirkungen haben. Daher freue ich mich über die Pläne der Kirchengemeinden, in einer Kirche eine Wärmestube einzurichten.“ Das spreche für menschliche Wärme und Nächstenliebe, die den sozialen Zusammenhalt stärken.
Laut Karin Brühl, Pressesprecherin der Stadt, zeigen die Menschen Verständnis für die ehrgeizigen Energie-Sparziele der Stadt. „Den Bürgerinnen und Bürgern ist die Brisanz und Wichtigkeit des Themas bekannt, was sich in viel Unterstützung und eher Sorge statt Kritik äußert.“ Sie betont: „Wir hoffen, dass wir keine Wärmehallen im Winter benötigen und die Bürgerinnen und Bürger zu Hause mit Energie versorgt werden können.“
Berlin (epd). Tim Vogt (Name geändert) hat bereits für viele Lieferdienste gearbeitet. „Ich war insgesamt fünf Jahre für Deliveroo, Lieferando und Gorillas tätig.“ Eines hätten alle gemeinsam: „Sie wollen rasant wachsen.“ Das Wohl der Mitarbeiter bleibe dabei oft auf der Strecke, sagt der Kurier.
Auf seinem Twitteraccount schreibt er unter dem Namen „Ausgeliefert“ über seine Erfahrungen. Vogt möchte anonym bleiben, weil er Konsequenzen am Arbeitsplatz befürchtet. „Einige meiner Kolleginnen und Kollegen haben ebenfalls bei Twitter über ihre schlechten Arbeitsbedingungen berichtet. Sie haben Abmahnungen erhalten, da man ihre Namen mit ihren Accounts in Verbindung gebracht hat“, erklärt er.
Der Masterstudent hat einen Minijob beim Bestelldienst Lieferando. Nach seinem Bachelorabschluss hatte er eine Zeitlang Vollzeit als Kurier gearbeitet, um Geld für seine weitere akademische Ausbildung anzusparen.
„Wir Kuriere mussten in den letzten Jahren sehr viel einklagen und um unsere Rechte kämpfen“, sagt der 25-Jährige. Es gebe viele Grauzonen. „Die Rucksäcke sind sehr schwer. Eigentlich dürften sie nur höchstens zehn Kilogramm betragen“, sagt er. Daran werde sich nicht immer gehalten. „Ich kenne keinen einzigen Kurier, der nicht unter Rückenschmerzen leidet.“
„Ich habe mehr als 10.000 Lieferungen für Lieferando, Gorillas und Co. ausgetragen. Egal, ob bei Schnee, Regen oder Hitze“, sagt Vogt. Dabei werde ihm und vielen seiner Kollegen häufig nicht einmal die Grundausstattung gestellt. „Wir mussten uns Regenkleidung, Fahrräder und Diensthelme einklagen.“ Er schätzt, 90 Prozent aller Kuriere fangen mit ihrem eigenen Fahrrad an. „Das wäre so, als müsste ein Bauarbeiter seinen eigenen Betonmischer auf die Baustelle mitbringen.“
Nora Walraph, Pressesprecherin von Lieferando, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd) hingegen: „Wir stellen unseren Fahrerinnen und Fahrern ein rund 20-teiliges Equipment.“ Dieses umfasse die Basisausstattung wie Helm, Rucksack, Jacken, Handyhalterung und -hülle sowie eine zusätzliche Winterausstattung mit Thermokleidung.
Wer sein privates Rad nutzt, erhalte eine Verschleißpauschale zur Instandhaltung seines Fahrrads, auch bei überwiegend privater Nutzung. Zu Diensthandys inklusive zugehöriger Reparatur- und Versicherungsservices erzielte Lieferando kürzlich eine Einigung mit dem Betriebsrat. „Mit dieser Lösung sind wir der erste Lieferdienst, der seinen Fahrerinnen und Fahrern Diensthandys zur Verfügung stellt.“ Die Nutzung eigener Handys kompensiere Lieferando mit einer stündlichen Pauschale.
Berliner Lieferando-Kuriere haben in der Tat einen Durchbruch erzielt: Am 8. August wählten sie einen Betriebsrat. Für Andreas Splanemann, Pressesprecher der Gewerkschaft ver.di in Berlin-Brandenburg, geht es dabei „zunächst einmal um die Einhaltung geltender Gesetze und Vorschriften“. Dies zu überwachen, sei klassische Aufgabe von Betriebsräten.
Laut ver.di-Sprecher Splanermann sind bei Lieferdiensten „sehr oft Personen tätig, die noch nicht lange in Deutschland sind, kein oder wenig Deutsch sprechen und keine Erfahrung mit den Mitbestimmungsrechten und der hiesigen Rechtslage haben“. Das bestätigt auch Vogt: „Viele Kuriere kommen aus armen Ländern wie Argentinien. Diese lassen sich leicht ausbeuten und stehen nicht für ihre Rechte ein.“
Aus Sicht von ver.di liegt es auch in der Verantwortung der Kundinnen und Kunden der Lieferdienste, sich zu informieren, wen sie mit ihren Bestellungen unterstützen und was für ein System hinter der Firma stecke. Laut der Verbrauchs- und Medienanalyse VuMa haben in Deutschland im vergangenen Jahr mehr als acht Millionen Menschen mehrmals im Monat Essen bei einem Lieferservice bestellt.
Köln (epd.) Die Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch sind ach Einschätzung der Frauenärztin Gabriele Stöcker vielschichtig. „Wenn schon Kinder im Haus sind, stoßen manche an ihre Grenzen: psychisch und körperlich, aber auch finanziell.“ Auch familiäre Schwierigkeiten, Probleme in der Partnerschaft, Trennungen oder ein nicht vorhandener Kinderwunsch könnten dazu führen, dass Frauen eine Schwangerschaft nicht fortführen wollten. Stöcker berät in Köln für die bundesweit aktive Organisation pro familia zu Sexualität, Schwangerschaft, Abtreibung und Partnerschaft. Mit ihr sprach Anna Schmid.
epd sozial: In welcher Situation sind die Frauen, die zu Ihnen in die Schwangerschaftskonfliktberatung kommen?
Gabrielle Stöcker: Unterschiedlich. Die meisten sind unbeabsichtigt schwanger geworden, wünschen einen Abbruch der Schwangerschaft oder denken darüber nach. Manche wissen überhaupt nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen und sind wirklich im Konflikt. Es kommen aber auch viele Frauen, die sehr entschieden sind und ganz klar wissen, dass sie diese Schwangerschaft beenden möchten. Auch wie es den Frauen geht, ist unterschiedlich. Eine Schwangere, die nicht weiß, ob sie die Schwangerschaft austragen soll oder nicht, ist sicherlich aufgewühlter und trauriger als eine Frau, die kommt und zu 100 Prozent sicher ist, dass sie die Schwangerschaft nicht fortführen will.
epd: Warum wollen Frauen eine Schwangerschaft abbrechen?
Stöcker: Manche haben schon drei oder vier Kinder. Sie sagen, dass ihre Familienplanung abgeschlossen ist und sie glücklich sind mit den Kindern, die sie haben. Andere kommen mit einem Säugling in die Beratung und sagen, dass es zu früh ist. Die Zahl der Kinder ist aber nicht unbedingt der Grund. Es kann zum Beispiel auch sein, dass eine Beziehung auseinandergegangen ist und die Frau plötzlich alleinerziehend ist. Und wenn schon Kinder im Haus sind, stoßen manche an ihre Grenzen: psychisch und körperlich, aber auch finanziell. Es ist immer vielschichtig. Meistens werden mehrere Gründe genannt.
Bei Frauen, die noch keine Kinder haben, dürften familiäre und partnerschaftliche Probleme öfter eine Rolle spielen. Sie sagen, dass die Beziehung mit ihrem Partner noch nicht gefestigt genug ist, um mit ihm Kinder zu bekommen. Finanzielle Unsicherheiten spielen eine Rolle, zum Beispiel in Ausbildung oder im Studium. Manche sehen sich durch psychische Belastungen und Erkrankungen auch nicht in der Lage, für ein Kind zu sorgen. Vielleicht besteht auch einfach kein Kinderwunsch.
epd: Es klingt widersprüchlich: in Deutschland ist eine Abtreibung dem Gesetz nach rechtswidrig, aber straffrei. Wie ist das zu verstehen?
Stöcker: Es ist grundsätzlich verboten, eine Schwangerschaft abzubrechen. Diese Auffassung hat das Bundesverfassungsgericht im Laufe der Jahrzehnte mehrfach bestätigt. Straffrei bleibt ein Abbruch nach der sogenannten Beratungsregelung: Dafür muss die Frau sich bei einer anerkannten Stelle beraten lassen und einen Nachweis darüber haben, den Beratungsschein. Außerdem dürfen seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sein und der Abbruch muss von einem Arzt durchgeführt werden. Nicht rechtswidrig sind Abbrüche nach einer Sexualstraftat. Auch sie dürfen nur bis zur 12. Woche nach der Empfängnis durchgeführt werden. Und dann gibt es noch Abbrüche mit medizinischer Indikation, die ebenfalls nicht rechtswidrig sind und faktisch auch zeitlich nicht begrenzt.
epd: Welche regionalen Unterschiede gibt es beim Zugang zum Schwangerschaftsabbruch?
Stöcker: Ich spreche für Nordrhein-Westfalen, aber das lässt sich sicher zum Teil auch auf Deutschland übertragen. Noch vergleichsweise gut ist die Versorgung in Köln und Düsseldorf. Aber ich muss relativieren: Nicht alle Einrichtungen machen jeden Tag Abbrüche, bieten alle Methoden bis zum Ende der möglichen Fristen an oder ermöglichen Schwangerschaftsabbrüche mit Kostenübernahme durch die Krankenkasse. Für Selbstzahlerinnen kostet der Abbruch zwischen 350 und 600 Euro. Eine Stadt wie Köln versorgt auch das Umland mit. Das geht bis in die Eifel und ins Bergische Land. In Nordrhein-Westfalen gibt es ländliche Gebiete mit einer ganz schlechten Versorgung, etwa im Sauerland oder am Niederrhein. Das gilt auch für einige Städte und Regionen und anderen Bundesländern.
epd: Welche Hürden gibt es, wenn Praxen von schlecht versorgten Gebieten aus schwer erreichbar sind?
Stöcker: Die Betroffenen haben vielleicht niemanden, dem sie sich anvertrauen können. Niemanden, der sie fährt. Vielleicht gibt es nur einen Bus, der nur zweimal am Tag kommt. Minderjährige haben es noch schwerer, jemanden zu finden, der sie unterstützt. Und wenn die erreichbare Praxis nur eine Methode anbietet, entweder eine OP oder einen medikamentösen Abbruch, ist die Wahlfreiheit der Frauen eingeschränkt. Bei ambulanten Eingriffen mit Narkose wird in der Regel eine Begleitperson verlangt. Ein medikamentöser Abbruch, der in Deutschland in den allermeisten Fällen in Arztpraxen durchgeführt wird, ist oft mit relativ starken Blutungen und Bauchkrämpfen verbunden. Das heißt, die Frauen müssen unter diesen Umständen in öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause fahren. Und vielleicht müssen auch noch kleine Kinder versorgt werden.
epd: Bekommen Sie mit, wie es den Frauen nach dem Abbruch geht?
Stöcker: Den meisten geht es gut und sie sind mit sich im Reinen. Das zeigen auch Untersuchungen. Es ist kein Ereignis, das sie sich noch mal herbeiwünschen. Doch es ist nicht generell so, dass sie es später bereuen oder deswegen psychisch krank werden. Viele verspüren auch Erleichterung. Frauen, die psychisch durch einen Abbruch belastet sind und vielleicht Unterstützung brauchen, gibt es allerdings auch. Sie sind furchtbar traurig, auch wenn sie sagen, dass es die richtige Entscheidung war. Vielleicht, weil sie einen Kinderwunsch hatten und es dann plötzlich eine Trennung gab oder etwas anderes passiert ist. Das sind Trauerprozesse, die die meisten gut bewältigen.
Und es gibt die Frauen, die sich wünschen, sie könnten es rückgängig machen oder sehr damit hadern und zu uns zur Nachberatung kommen. Aber es sind insgesamt wenige. Statistisch wird dabei auch nicht differenziert, ob das Beratungen nach einem späten Schwangerschaftsabbruch sind, also etwa nach einem pränataldiagnostischen Befund, oder ob es Abbrüche nach der Beratungsregelung sind.
epd: Kürzlich hat das Statistische Bundesamt mitgeteilt, dass die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland im zweiten Quartal 2022 um 11,5 Prozent zugenommen hat. Woran könnte das liegen?
Stöcker: Es wäre spekulativ zu sagen, was dahintersteckt. Hinzu kommt, dass neben dieser absoluten Zahl die Quote von Schwangerschaftsabbrüchen je 10.000 Frauen im Alter von 15 bis 50 Jahren fehlt, also der Bezug zu der relevanten Bevölkerungsgruppe. Ist es im Rahmen üblicher Schwankungen?
Wir haben in den letzten Jahren und Monaten viele Krisen erlebt. Hat es etwas mit den Nachwehen von Corona zu tun? Die Pandemie ist zwar noch nicht vorbei, aber lange nicht mehr so schlimm wie vor ein oder zwei Jahren. Warum sollten jetzt deswegen die Abbruchzahlen steigen? Ist es der Krieg in der Ukraine, der die Menschen verunsichert? Sind es die gestiegenen Energiepreise, die alle kalt erwischen? Haben die Betroffenen durch eine Schwangerschaft Existenzängste und Sorge, dass sie mit den Kindern, die sie haben, über die Runden kommen? Oder wird unsicherer verhütet? Verlassen sich zu viele Menschen auf vermeintliche Verhütungs-Apps? Es gibt auch Menschen, die sich sichere Verhütungsmittel nicht leisten können. Sie greifen dann eher auf Methoden zurück, die nicht so sicher sind oder die überhaupt nicht zu ihnen passen. Deshalb fordert pro familia, dass die Kosten für Verhütungsmittel von den Krankenkassen übernommen werden.
Der Sozialpsychiater Professor Dr. Dr. Klaus Dörner ist gestorben. Eines seiner letzten Bücher hieß: „Leben und sterben, wo ich hingehöre“. Er ist in Gütersloh gestorben, wo er lange gelebt und die Psychiatrie menschenfreundlicher gemacht hat.
Geboren am 22. November 1933 in Duisburg hat er in Heidelberg und Berlin studiert. 1960 wurde er zum Dr. med. und 1969 zum Dr. phil. promoviert.
1968 begann er in Hamburg an der psychiatrischen Universitätsklinik und im öffentlichen Gesundheitsdienst als Arzt zu arbeiten. „Nebenbei“ entstand in den Hamburger Jahren, gemeinsam mit Ursula Plog „Irren ist menschlich“, ein richtungsweisendes Lehrbuch, das inzwischen seine 24. Auflage erlebt. Hier lässt sich nachlesen, wie es gelingen kann, sich selbst auf den anderen zu verstehen und mit Respekt auf Augenhöhe mit Menschen in Krisen umzugehen.
1980 wurde er - inzwischen habilitiert - zum leitenden Arzt der Westfälischen Klinik in Gütersloh berufen. In Hamburg wollte man ihn nicht als Chefarzt: „Ich war ein rotes Tuch für alle anständigen Hanseaten“ - so sagte er es selbst einmal.
Die wechselvolle Geschichte der Gütersloher Anstalt, insbesondere ihre aktive Beteiligung an der Ausmerzung allen abweichenden, störenden und kostenverursachenden Verhaltens, an der „Endlösung der sozialen Frage“, die kannte Klaus Dörner damals wahrscheinlich nur in groben Zügen. Dass wir sie heute so genau kennen, das ist wesentlich sein Verdienst.
Aber eines wusste Klaus Dörner schon damals sehr genau: Psychisch kranke Menschen - und chronisch kranke Menschen zumal - sind eine extrem gefährdete Gruppe, wenn das Geld knapp wird und sich die Priorität von der mühsamen und teuren Sorge um den einzelnen Menschen unbemerkt wegbewegt hin zur Glorifizierung eines übergeordneten Fortschrittsglaubens, z. B. dem Volksganzen, z. B. der Sicherheit.
In seiner Studie „Bürger und Irre“ von 1969 hatte Dörner erstmals dargelegt, wie gefährlich die Institutionalisierung der „Unvernünftigen“, der „Irren“ und damit ihr Verschwinden aus der Öffentlichkeit ist. Er wurde treibende Kraft der Reformbewegung und Mitgründer der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie.
Seine historisch fundierten Einsichten haben seine tiefe Skepsis gegen die dauerhafte Unterbringung von chronisch psychisch kranken Menschen in zentralistischen Institutionen begründet. Und so hat er in seiner Zeit als leitender Arzt der Westfälischen Klinik in Gütersloh zwischen 1980 und 1996 bewiesen, dass die Dauerhospitalisierung chronisch psychisch kranker Menschen unsinnig und menschenfeindlich ist und sämtlichen sogenannten „Langzeitpatienten“ der Gütersloher Klinik ein freies Leben in ihrer Heimatgemeinde ermöglicht. Diese konsequente Deinstitutionalisierung hat damals viele gegen ihn aufgebracht: Die Entlassung von Patienteninnen und Patienten, die lange in der Klinik untergebracht waren, die waren mit Arbeitsplatzverlusten und mit Erlösausfällen verbunden.
Sein Wissen, wie leicht psychisch kranke Menschen ausgegrenzt, entrechtet, dem Hungertod preisgegeben und schließlich aktiv getötet wurden, war wesentliches Motiv für seinen Kampf um Entschädigung der Opfer der deutschen Psychiatrie. Sie war auch tragender Beweggrund für seine Bitten um Vergebung und die vorgelebte Versöhnung mit polnischen Psychiatrieopfern. Er war Mitinitiator der „Deutsch-Polnischen Gesellschaft für seelische Gesundheit“. Hartnäckig und mit viel Geschick gelang es ihm, dass der Nürnberger Ärzteprozess von 1946/47 vollständig dokumentiert wurde und er 2001 - gemeinsam mit Angelika Ebbinghaus - den Sammelband „Vernichten und Heilen - Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen“ herausgeben konnte.
Von 1986 bis 1996 war Klaus Dörner der erste Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke.
Die wohl schwierigste Zeit seines Berufslebens hat Klaus Dörner in den Jahren 1990/91 erlebt. Er musste erfahren, dass in der eigenen Gütersloher Klinik ein Helfer schutzbefohlene Patientinnen und Patienten getötet hatte. Dörner ist selbstkritisch mit eigenen Fehlern umgegangen und hat die Öffentlichkeit nicht gescheut. Das hat nicht allen gefallen.
Im November 1996 ging Klaus Dörner in den Ruhestand. Sein Abschiedssymposium war mit seinem wohl bedeutendsten Leitsatz überschrieben: „Mit den Schwächsten beginnen“ - zum Menschenbild der Psychiatrie.
Nach seiner Emeritierung verreiste Klaus Dörner mit seiner Frau nach Australien - für drei Monate. Und er nahm die Bibel mit. Weitere Reisen nach Down Under folgten.
Es sind noch eine ganze Reihe von Büchern entstanden, so „Der gute Arzt“ oder „Helfensbedürftig - Heimfrei ins Dienstleistungsjahrhundert“, um nur einige zu nennen. So lange es seine Gesundheit zuließ - am Ende war er von einer Demenz befallen - hat Klaus Dörner viele von ihm sogenannte „Missionsreisen“ unternommen und geworben für alternative Wohnformen für Ältere und Hilfsbedürftige. Ab 2003 war er für einige Jahre Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages und machte hier psychisch kranke Menschen zum Thema.
Die Entpflichtung der Gemeinden vom unmittelbaren Menschendienst, die Vermarktung der Diakonie, die hat er sehr kritisch betrachtet und das Fundament jeder funktionierenden Gemeinde, die Einheit von Menschen- und Gottesdienst vorgelebt. Gottesdienst ohne Menschendienst verliert die Erde und Menschendienst ohne Gottesdienst verliert den Himmel - davon war er überzeugt.
Nun ist Klaus Dörner in Gütersloh gestorben. Bei „Daheim“, einem Verein, der individuelle Pflege für Gütersloher Bürgerinnen und Bürger leistet mit ambulanten Diensten, Gästezimmern, Hausgemeinschaften und betreuten Seniorenwohnungen. Das Konzept hat ihm gefallen, den Verein hat er unterstützt.
Als ich Klaus Dörner - eine Woche vor seinem Tod - das letzte Mal sah, da wurde überdeutlich, wie untrennbar ein würdiges Ende mit würdiger Fürsorge verknüpft ist. Der Schrei nach Sterbehilfe und assistiertem Suizid würde leiser, wenn es viele solcher Orte gäbe.
Klaus Dörner hat gelebt und ist gestorben, wo er hingehört.
Straßburg (epd). Eine große Mehrheit im Europäischen Parlament fordert ein EU-Zentrum, das die Mitgliedstaaten beim Ziel der Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung unterstützt. Langfristig solle es eigene Gesetzesvorschläge einbringen können, sagte Berichterstatterin Katrin Langensiepen (Grüne) am 4. Oktober in Straßburg. Die Grünen-Politikerin ist selbst eine der wenigen Abgeordneten mit einer Behinderung im EU-Parlament. „Perspektivisch möchten wir, dass aus dem Zentrum eine langfristige Agentur wird, die auch Legislativvorschläge machen kann und echte Ressource bekommt, um Mitgliedstaaten zu unterstützen“, erklärte Langensiepen.
Die Mitgliedsstaaten müssten dafür sorgen, dass die Barrierefreiheit von Personen mit Handicap auf allen Ebenen durchgängig berücksichtigt werde, in öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln sowie in den Bereichen Gesundheit und Bildung. So solle die Mobilität und Integration von Menschen mit Behinderungen verbessert werden, heißt es in dem Bericht zum Zentrum „Accessible EU“. 611 Abgeordnete stimmten für den Bericht, neun enthielten sich, drei stimmten dagegen.
Im Juni hatte die EU ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland und 23 andere Mitgliedstaaten eingeleitet. Damit forderte die Kommission die Regierungen auf, den europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit in nationales Recht umzusetzen.
Laut Bericht des EU-Parlaments sind mehr als 87 Millionen Menschen in der Union von irgendeiner Form von Behinderung betroffen. Auch müsse berücksichtigt werden, dass die Gesellschaft insgesamt aufgrund der demografischen Entwicklung altere.
Straßburg (epd). Eine Mehrheit im Europäischen Parlament fordert die EU-Kommission auf, arme und sozial ausgegrenzte Roma-Siedlungen in der EU bis 2030 schrittweise aufzulösen und die Bewohner zu integrieren. Die Abgeordneten kritisierten einen „Mangel an angemessenen, getrennten Wohnungen, sauberem Trinkwasser, Elektrizität, Abwasser- und Abfallbehandlung“ in diesen Siedlungen, wie sie am 5. Oktober in Straßburg erklärten.
Roma sind die größte ethnische Minderheit in Europa. Laut einer Erhebung der EU befinden sich 63 Prozent der Roma weder in Beschäftigung noch in Bildung oder Ausbildung. Der EU-Durchschnitt liegt bei zwölf Prozent. 80 Prozent der Roma leben unterhalb der Armutsgrenze ihres Landes.
Um die prekäre Situation vieler Roma zu verbessern, hat das EU-Parlament eine Reihe weiterer Empfehlungen angenommen. Dazu gehört, EU-Mittel gezielter einzusetzen, die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt der Bemühungen zu stellen und Angehörige der Minderheit selbst bei der sozialen Eingliederung mehr zu beteiligen.
Rom (epd). Nach den Wahlsiegen der rechtsnationalistischen Parteien in Italien erwartet der Migrationsforscher Christopher Hein eine Verschärfung der italienischen Flüchtlingspolitik, aber keine große Konfrontation mit der EU. „Meloni ist nicht Salvini“, sagte der Professor vom Politikwissenschaftlichen Institut der Libera Università Internazionale degli Studi Sociali (LUISS) in Rom dem Evangelischen Pressedienst (epd). Italien hänge finanziell von der EU ab. Giorgia Meloni, Parteichefin der Fratelli d'Italia, habe ein Interesse daran, ihren Nimbus als Neofaschistin abzustreifen und werde vorsichtig sein in Hinsicht auf eine Politik, die Grundwerten der EU zuwiderläuft.
Bei den Wahlen am 25. September hatte ein Bündnis der rechten Parteien Fratelli d'Italia, Lega und Forza Italia die Mehrheit der Parlamentssitze in Italien gewonnen. In den Jahren 2018 und 2019 war die Lega an einer Regierung beteiligt gewesen. Damals hatte Lega-Chef Matteo Salvini als Innenminister die Arbeit von Hilfsorganisationen, die im Mittelmeer Flüchtlinge retten, massiv behindert.
Auch Meloni habe für den Fall ihres Wahlsiegs wiederholt von einer „Seeblockade“ gesprochen, sagte Hein: „Diese Sprache ist ein klarer Hinweis auf die Richtung, in die die zukünftige Migrations- und Asylpolitik gehen wird.“ Er erwarte die erneute Diffamierung von Hilfsorganisationen als Schlepper und Profiteure des Flüchtlingselends. Außerdem könne die neue Regierung in Italien verstärkt mit Libyen und Tunesien bei der Rückführung von Flüchtlingen kooperieren und die Menschenrechtsverletzungen insbesondere in Libyen schönreden.
Das Thema Asyl habe im Wahlkampf zwar keine große Rolle gespielt, sagte Hein, aber die Menschen in Italien seien durch die Corona- und die Energiekrise verunsichert, daher habe das „Wir Italiener zuerst“ der rechten Parteien verfangen. Andere EU-Staaten könnten durch freiwillige Aufnahmen von Flüchtlingen den Druck der öffentlichen Meinung in Italien reduzieren, schlug der Politologe vor. Seit Anfang August gebe es bereits so eine Aufnahme auf freiwilliger Basis, an der sich formal 22 Staaten beteiligen. Bislang hätten aber nur Deutschland und Frankreich zusammen rund 6.500 Asylsuchende aus fünf Mittelmeer-Anrainerstaaten aufgenommen.
Berlin (epd). Der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, hat das ergebnislose Treffen von Bund und Ländern zur Finanzierung des Abwehrschirms gegen die Energiekrise als enttäuschend bezeichnet. Lilie forderte am 5. Oktober in Berlin: „Wir brauchen ein klares Signal politischer Handlungsfähigkeit. Dies gilt besonders für Einkommensarme.“ Menschen in einer bedrohlichen finanziellen Lage könnten nicht bis zum kommenden Jahr auf Entlastungen warten, erklärte Lilie.
Auch die gemeinnützigen Einrichtungen der Diakonie, vom Pflegeheim bis zur Schuldnerberatung, bräuchten direkte Hilfen bei den Energiekosten, um nicht in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu geraten, sagte Lilie. Die Diakonie fordert für Menschen in der Grundsicherung, Wohngeldempfänger, Kinder und bedürftige Rentnerinnen und Rentner übergangsweise eine monatliche Sofortzahlung von 100 Euro. Damit würden nach Angaben des evangelischen Wohlfahrtsverbandes die nach Einkommen unteren 20 Prozent der Haushalte wirksam entlastet. Diese Haushalte geben nahezu zwei Drittel ihres Einkommens für Wohnen und Essen aus und sind von den Preissteigerungen am stärksten betroffen.
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) reagierte am 5. Oktober „mit Fassungslosigkeit und Enttäuschung auf die Beschlussunfähigkeit“ der Bund-Länder-Runde. Das Schwarze-Peter-Spiel führe zu einer inakzeptablen Hängepartie für die Bürgerinnen und Bürger, die gesamte Wirtschaft und für die Krankenhäuser.
„Man kann dieses Nicht-Ergebnis nur als Scheitern bezeichnen. Mit der Frage, wie wir die immensen Kosten der galoppierenden Inflation ausgleichen sollen, werden wir weiterhin alleingelassen, und so steigt die Gefahr von Insolvenzen von Woche zu Woche“, beklagte DKG-Vorstandsvorsitzender Gerald Gaß.
Die DKG erwarte vom Bundesgesundheitsministerium „umgehend einen konkreten Vorschlag, wie die wirtschaftliche Lage der Krankenhäuser stabilisiert werden kann“. Der Verweis auf die Regierungskommission zur Gaspreisbremse zeige die Handlungsunfähigkeit und Hilflosigkeit der Regierung. „Die Kommission zur Gaspreisbremse hat weder den Auftrag noch die Kompetenz, eine Antwort auf diese Frage zu geben“, erklärte Gaß.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die Regierungschefinnen und -chefs der Länder hatten bei ihren Beratungen am 4. Oktober noch keine Einigung darüber erzielt, wie die Kosten für die von der Bundesregierung geplanten Entlastungen in der Energiekrise verteilt werden sollen. Die Beratungen sollen bei der nächsten regulären Ministerpräsidentenkonferenz vom 19. bis 21. Oktober in Hannover weitergehen, zu der dann auch wieder Kanzler Scholz erwartet wird.
Berlin (epd). Christine Vogler (52), Präsidentin des Deutschen Pflegerats, dringt auf tiefgreifende Veränderungen. „Die Pflege muss weg aus dieser Ecke eines angeblichen Assistenzberufs“, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd). Mit ihr sprach Bettina Markmeyer.
epd sozial: Wie würden Sie die Situation in der Pflege beschreiben?
Vogler: Noch haben wir die Zügel in der Hand. Es ist ein bisschen wie in der Klimapolitik. Wenn wir jetzt nicht tiefgreifende Veränderungen erreichen, dann werden wir in allen Versorgungsbereichen keine professionelle Pflege mehr für die Menschen in Deutschland haben. Wir werden hier und da ein bisschen Verwahrung haben, hier und da ein bisschen Versorgung - aber kaum noch Pflege, die unserem Berufsverständnis und internationalen Standards gerecht wird.
epd: Was muss dafür passieren?
Vogler: Die Pflege muss weg aus dieser Ecke eines angeblichen Assistenzberufs: Wir lernen einen Beruf, können ihn aber nicht ausüben! Wir müssen im Gesundheitswesen endlich über unsere eigene Arbeit mitbestimmen können.
Wir brauchen mehr Befugnisse und bessere Arbeitsbedingungen: Wir sind es, die beispielsweise die Wundversorgung leisten und auch verantworten wollen. Wir müssen die Heilmittel verschreiben können. Vor allem aber brauchen wir mehr Personal!
Bildlich gesprochen: In der Pflege schrauben wir immer nur schnell ein Rad ans Auto, und dann müssen wir schon wieder woanders hin. In einer Autowerkstatt wäre das undenkbar. Die Gesellschaft und die Politik geben sich aber mit diesem einen Rad zufrieden. Warum?
epd: Was würde die Attraktivität des Berufs erhöhen und für mehr Personal sorgen, abgesehen von einer besseren Bezahlung?
Vogler: Klare Karrierewege von der Pflegehilfe bis zum Masterstudium. Wir müssen einem jungen Menschen sagen können, was er oder sie in der Pflege werden kann. Das ist heute nicht möglich.
epd: Wo ist die Personalnot denn größer, im Krankenhaus oder in der Altenpflege?
Vogler: Wir schätzen, dass uns in den Kliniken rund 20.000 Pflegekräfte fehlen und in der ambulanten Pflege und Langzeitversorgung ungefähr 65.000 bis 70.000. Rund 80 Prozent der Pflegebedürftigen werden ambulant betreut - deswegen ist der Mangel überall gleich.
Aber in der ambulanten Pflege ist die Personalnot prekärer als in einer Klinik oder einem Pflegeheim, weil es keine Kolleginnen gibt, die die Löcher stopfen. Da ist dann einfach niemand mehr, der oder die zu einem Pflegebedürftigen nach Hause kommt: Wenn keiner da ist, wer soll es machen?
epd: Bleiben wir einen Moment bei den pflegenden Angehörigen, die ja den größten Teil der Langzeitpflege leisten. Sollen sie einen Lohn bekommen?
Vogler: Wir müssen viele Wege gleichzeitig gehen, um die Pflege zu sichern. Es ist aus meiner Sicht absolut überlegenswert zu sagen: Wenn wir keine professionell Pflegenden haben, aber verantwortliche Angehörige, die das tun, dann müssen wir diese unterstützen - etwa mit Schulungen - und sie dann auch bezahlen. In Österreich, im Burgenland, wird das derzeit ausprobiert. Das sollten wir uns unbedingt angucken.
epd: Mehr Lohn, bessere Pflege, mehr Personal, das kostet Geld. Wie steht der Pflegerat zu Beitragserhöhungen für die Pflegeversicherung?
Vogler: Pflege wird uns mehr kosten, und daher wird die Gesellschaft mehr für die Pflege bezahlen müssen. Aber: Es muss dafür gesorgt werden, dass das Geld im System bleibt und nicht abfließt. Es gibt Investoren, die in Pflegeheime und Kliniken investieren, um hohe Gewinne zu erzielen - der Gesundheitssektor lässt sich hier massiv abschöpfen. Die Personaleinsparungen der letzten Jahrzehnte haben uns das deutlich gezeigt.
Wenn hingegen gesichert ist, dass das Geld aus der Pflegeversicherung bei der pflegerischen Versorgung ankommt, dann würde, so glaube ich, die Bevölkerung auch Beitragserhöhungen akzeptieren. Wenn sie aber sieht, dass schlechte Versorgung stattfindet, obwohl viel Geld ins System geht, entsteht Unmut.
Stuttgart (epd). „Tamara ist ein rundum stimmiges Paket. Das beste Geschenk, das ich kriegen konnte“, sagt Antje Röske über ihre Tochter. „Mama ist ehrgeizig und unterstützt mich. Ich lerne ganz viel dazu. Sie ist immer für mich da und ich für sie,“ sagt Tamara Röske, die mit Down-Syndrom geboren wurde. „Wir sind ein gutes Gespann“, sind sich die beiden Frauen einig.
Mit ihrer Lebensfreude und Power sind die Stuttgarterinnen zu Mutmacherinnen geworden, an denen sich ablesen lässt, dass es sich lohnt, Träume zu verfolgen, nicht aufzugeben, anderen freundlich und herzlich zu begegnen, notfalls auch mal Klartext zu reden und die Schönheit des Lebens zu genießen.
In die Freude über die Geburt ihres ersten Kindes im Januar 1996 mischten sich bei Antje Röske Traurigkeit und Sorge. Die Diagnose Down-Syndrom traf die 26-Jährige unvorbereitet. Doch bald war sie entschlossen: „Ich habe da eine Aufgabe gestellt bekommen, und die werde ich jetzt anpacken.“ Für sie war klar, Tamara, wie auch ihren jüngeren Bruder, der mit einer Körperbehinderung zu kämpfen hatte, „ganz normal“ zu erziehen und so weit wie möglich selbstständig werden zu lassen - unabhängig von der Meinung anderer.
Heute ist Tamara selbst 26 Jahre alt und hat es weit gebracht. „Alles Üben und Lernen und die vielen Therapien haben sich ausbezahlt“, freut sich ihre Mutter. Nach Abschluss der sonderpädagogischen Helene-Schoettle-Schule mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung kann sie lesen und schreiben, findet sich im Alltag wie im öffentlichen Nahverkehr gut zurecht und hat einen Beruf als Lageristin bei einem Bademoden- und Wärmeexperten, den sie gerne ausübt.
Als Model und Schauspielerin ist sie inzwischen so bekannt, dass es einen Wikipedia-Eintrag über sie gibt. In den Sozialen Medien, die ihre Mutter als Ghostwriterin bedient, hat die junge Frau 2.500 Follower bei Facebook und mehr als 15.000 bei Instagram.
Dennoch bleibt Tamara genügend Zeit für Hobbys. Sie bekommt Einzelunterricht in Klarinette, spielt in zwei Orchestern und möchte nun noch Saxophon erlernen. Auch Reiten, Schwimmen und Leichtathletik machen ihr Freude. Bei den Special Olympics in Berlin holte sie diesen Sommer zweimal Silber.
Tamaras Talent zum Modeln entdeckte die Stuttgarter Fotografin Conny Wenk. Diese porträtierte 2008 in „Außergewöhnlich - Väterglück“ Papas mit ihren Down-Syndrom-Kindern - auch Tamara mit ihrem Vater Klaus. 2010 initiierte Wenk ein Shooting in Paris mit Einzelporträts der damals 14-Jährigen. Unter dem Titel „The girl with the freckles“ entstand ein Kunstfotografiebuch. Weitere Aufnahmen fanden 2016 in Rom statt.
Inzwischen wurde die junge Frau auch von zahlreichen anderen Fotografen, Firmen oder Friseurinnen entdeckt. Sie stand für die Designer Hugo Boss und Victoria Beckham vor der Kamera, ebenso für die Marken Adidas, Blutsgeschwister, Invisible oder das Unterwäschelabel Sugar Shape.
2017 trat sie in „Die Toten vom Bodensee - Abgrundtief“ erstmals mit einer kleinen Rolle als Filmschauspielerin auf. Dann nahm Tamara Röske an einem Casting für „Fack yu Göhte 3“ teil und spielte an der Seite von Elyas M'Barek. Bei „Kreuzfahrt ins Glück“ übernahm sie 2020 eine größere Rolle und stand neben Florian Silbereisen auf dem Traumschiff.
Bei den Dreharbeiten wird Tamara stets von ihrer Mutter begleitet und unterstützt. Das Erlernen der Texte ist für die Frau mit Down-Syndrom eine größere Herausforderung als für die anderen Schauspieler. Antje Röske kommt entgegen, dass sie in ihrem Beruf als Geschäftsleitungsassistentin teilweise auch von unterwegs arbeiten kann. Die Münchner Agentur Walcher managt die Aufträge.
Bei allem Spaß an der Arbeit und vielen Freunden und Fans, die die junge Frau hat - auch hässliche Kommentare und abwertende Blicke gibt es, die sich an ihrer Behinderung festmachen. „Das beachte ich nicht“, sagt sie schlicht, „ich mache einfach mein Ding.“
Ein neuer Lebensabschnitt ist in Sicht: Bald wird die lebensfrohe Frau ihr Cannstatter Elternhaus verlassen und gemeinsam mit ihrer besten Freundin und weiteren jungen Leuten eine von der Diakonie betreute Wohngemeinschaft im Stuttgarter Norden beziehen.
Hamburg (epd). Wenn Britta Hake den kleinen Kiosk in der Hamburger U-Bahnhaltestelle Emilienstraße öffnet, dann nicht, um Zeitungen zu verkaufen. Sie ist eine von gut zehn Ehrenamtlichen, die montags bis freitags im Zuhörkiosk für Passanten ansprechbar sind. Ob Glücksmomente, Liebeskummer oder große Lebensnöte - alle finden hier ein offenes Ohr, anonym und kostenlos.
Die Idee zu dem Projekt hatte Christoph Busch. Der Autor suchte ein Schreibbüro, als er das Schild „Zu vermieten“ an dem kleinen Kiosk in der U-Bahnhaltestelle entdeckte. Um nebenbei auch „Stoff zu sammeln“ hängte er ein Plakat auf: „Ich höre zu“. „Dann sind die Leute gekommen, weil sie ganz begeistert waren. Und ich bin nicht mehr zum Schreiben gekommen, sondern habe nur noch zugehört“, erzählt Busch.
Die Besucherinnen und Besucher des Zuhörkiosks seien unterschiedlich, sagt dessen Gründer. „Das geht los mit 16, wenn die Abiturfragen kommen“, aber es kämen auch 90-Jährige, die ihre Lebensgeschichte erzählen. Die Begegnungen seien immer etwas Besonderes, denn er kenne die Menschen nicht. „Wir wissen nichts, es ist jedes Mal eine Überraschung.“
Schon ein halbes Jahr nach der Eröffnung des Zuhörkiosks war Busch klar, dass das Bedürfnis der Menschen zu reden groß ist. Bei ihnen im Kiosk sei das einerseits leicht, weil es anonym ist, und andererseits, „weil die Leute uns nicht wiedersehen müssen“, glaubt Busch. Auch er selbst war begeistert vom Eintauchen in das Leben fremder Menschen. Doch für einen allein wurde es zu viel, weshalb es seit Mitte 2019 eine Gruppe von ehrenamtlichen Zuhörenden gibt. Sie nennen sich „Die Ohren“.
Seit 2019 gehört Britta Hake dazu. Auch für sie sind die Begegnungen immer etwas Besonderes, „wichtig ist einfach nur Raum zu geben“. Gespräche mit neuen Kunden beginnt sie deswegen immer mit der Frage: „Wie geht es dir?“.
Am häufigsten spreche sie über Geschichten aus der Kindheit. Dabei falle ihr immer wieder auf, „dass das große Auswirkungen auf die heutige Zeit hat“, berichtet Hake.
In sehr schwierigen Fällen vermitteln „Die Ohren“ weiter. Es gebe eine Liste mit Kontakten, so Hake. Sie selbst habe einmal den Kältebus gerufen, als eine wohnungslose Frau Rat suchte. Das sei der praktische Teil, die Hilfe für Menschen in Not, so Hake.
Ob es bald einen Zuhörkiosk in Schleswig-Holstein geben wird, darüber tauscht Christoph Busch sich gerade mit Monika Backof aus. Ein Gespräch in der Bahn habe sie auf die Idee gebracht. Eine junge Frau hatte ihrem offenbar fremden Sitznachbarn aufgeregt von ihren Problemen erzählt. Als der Mann ausgestiegen war, habe sie ihr Handy genommen, jemanden angerufen und dieser Person am anderen Ende der Leitung erzählt: 'Stell dir mal vor, der hat mir einfach zugehört'", erinnert sich Backof an die überraschte Frau.
Dass Menschen nicht mehr so einfach jemanden finden, der nur zuhört, darin sind sich Hake und Busch einig. Häufig gehe es bei den Gesprächen im Zuhörkiosk nämlich nicht um Beratung oder Lösungsvorschläge, sondern um die Möglichkeit, die eigene Geschichte zu erzählen. Oft gehe es Menschen besser, „weil sie Worte für das finden müssen, was ihnen im Kopf rumspukt“, so Busch. Zuhören sei für ihn ebenso grundlegend wie Essen und Trinken.
Berlin (epd). Die seit Oktober 2018 bestehende Clearingstelle für nicht krankenversicherte Menschen der Berliner Stadtmission hat seitdem Tausende Menschen beraten oder Bescheinigungen zur Kostenübernahme medizinischer Behandlungen ausgestellt. Allein zwischen Januar und Juli dieses Jahres hätten mehr als 2.800 Klientinnen und Klienten die Einrichtung aufgesucht, sagte Berlins Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) am 30. September in Berlin anlässlich des vierjährigen Bestehens der Clearingstelle.
In den ersten zweieinhalb Jahren ihres Bestehens zählte die Stelle bis Juli 2021 knapp 10.000 Kontakte. Im ganzen Jahr 2021 ließen sich 1.069 Menschen aus 125 Ländern beraten, davon waren fast zwei Drittel (62 Prozent) wohnungs- und obdachlos. Insgesamt wurden mehr als 2.000 Kostenübernahmen ausgestellt. Dafür kooperiert die Clearingstelle mit 50 Berliner Hausarztpraxen und sechs Krankenhäusern.
Zu 86 Prozent waren die Klientinnen und Klienten Drittstaatler und EU-Bürger und-Bürgerinnen, der Anteil deutscher Staatsbürger ging deutlich zurück, sagte Clearingstellen-Leiterin Louise Zwirner. Knapp 90 Prozent der Ratsuchenden hätten beim Erstgespräch keine oder unklare Versicherungsverhältnisse gehabt. Insgesamt suchten mehr Männer als Frauen die Stelle auf.
Wegen der großen Nachfrage ist das Team um Zwirner von drei auf heute 18 Mitarbeitende angewachsen. Sie sprechen insgesamt neun Sprachen, darunter Englisch, Italienisch, Russisch, Rumänisch oder Bulgarisch.
Gesundheitssenatorin Gote sprach von einer wichtigen niedrigschwelligen Anlaufstelle für Menschen, die bisher keinen Zugang zur gesundheitlichen Regelversorgung haben. Die Clearingstelle sei nicht nur in „Berlin einmalig“, sondern auch bundesweit modellhaft.
Dabei ist Gote bewusst, dass die Einrichtung deutlich mehr Geld braucht. Die derzeit mit jährlich 2,6 Millionen Euro vom Senat finanzierte Einrichtung musste in diesem Sommer vorübergehend die Kostenübernahme von medizinischen Behandlungen aussetzen, weil das Budget bereits nach einem halben Jahr aufgebraucht war. In der Folge stellte der Senat weitere 670.000 Euro zur Verfügung. „Wir wissen aber nicht, ob das Geld bis zum Jahresende reichen wird“, räumte Gote ein.
Deshalb will sie bei den nächsten Haushaltsberatungen für mehr Mittel für die Clearingstelle werben. „Ich bin überzeugt, dass die Abgeordneten das genauso sehen und im nächsten Haushalt mehr Geld dafür einstellen werden“, sagte sie.
Die Clearingstelle steht allen Bedürftigen ohne geklärten Versicherungsschutz zur Verfügung, auch EU-Ausländern und Migranten aus Drittstaaten. Sie werden von dem 18-köpfigen Team beraten oder bekommen eine Bescheinigung für die Kostenübernahme von medizinischen Behandlungen. Der Umfang der Kostenübernahme liegt nach Angaben von Clearingstellenleiterin Louise Zwirner mittlerweile jährlich bei etwa 1,5 Millionen Euro und damit deutlich über der Hälfte des Budgets.
Berlin (epd). Die Gewerkschaft ver.di beklagt eine massive Zunahme der Arbeitsbelastung im Rettungsdienst. Eine am 4. Oktober vorgestellte Untersuchung belege, dass sich die Arbeitsverdichtung seit Beginn der Corona-Krise nochmals deutlich verschärft habe. 39 Prozent der Befragten gaben an, sie würden sofort den Beruf wechseln, falls sie die Gelegenheit dazu bekämen.
„Das muss alle aufrütteln. Arbeitgeber und politisch Verantwortliche müssen dringend reagieren“, sagte Sylvia Bühler vom Bundesvorstand der Gewerkschaft. Die Umfrage, an der sich rund 7.000 Beschäftigte beteiligt haben, belege gravierende Probleme bei Arbeitszeiten, Arbeitsintensität, körperlichen sowie psychischen Belastungen.
Fast alle Befragten berichten nach den Angaben von Problemen, Beruf und Privatleben unter einen Hut zu bekommen. „Nimmt man die überlangen und ungünstigen Arbeitszeiten, die physische Anstrengung und Übergriffe hinzu, verwundert es nicht, dass die Arbeit im Rettungsdienst als wenig attraktiv wahrgenommen wird“, so Bühler. „Dass sich die Bedingungen im Rettungsdienst schnellstens verbessern, ist daher für alle wichtig.“ Schon jetzt fänden sich nicht mehr genug Menschen, die den Beruf ausüben wollten.
Laut Befragung können 61 Prozent der Beschäftigten ihre gesetzlich vorgeschriebenen Pausen häufig oder sehr häufig nicht oder nicht vollständig nehmen. Von den über 55-Jährigen geht fast die Hälfte auch krank zur Arbeit. 84 Prozent gehen davon aus, unter den derzeitigen Bedingungen nicht bis zum Rentenalter durchzuhalten.
Eine wichtige Maßnahme, um den Rettungsdienst wieder attraktiver zu machen, sieht Bühler in der Verkürzung der Arbeitszeiten. So habe ver.di im Reformtarifvertrag des Deutschen Roten Kreuzes erreicht, dass die Wochenarbeitszeit (inklusive Bereitschaftsdienst) von 48 auf 45 Stunden reduziert wurde. „Auch beim öffentlichen Rettungsdienst muss endlich Schluss sein mit diesen überlangen Arbeitszeiten“, forderte Bühler.
Hannover (epd). Die Wohlfahrtsverbände in Niedersachsen kritisieren die Auswirkungen des neuen Infektionsschutzgesetzes auf die Arbeit in Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Der Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Marco Brunotte, kritisierte in Hannover, die seit 1. Oktober geltenden strengeren Regeln in den Werkstätten, wie eine deutliche Verschärfung der Maskenpflicht sowie der Testpflicht.
Michael Korden bemängelte als Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Arbeit, Bildung und Teilhabe, die neuen Regelungen seien in vielen Bereichen nicht zumutbar und in der aktuellen Lage unverhältnismäßig. Bisherige Hygienekonzepte hätten sich dagegen bewährt. „Denn Menschen mit Behinderung, die in einer Werkstatt arbeiten, gehören nicht grundsätzlich zum vulnerablen Personenkreis.“
Die Kritik der Verbände richtet sich vor allem gegen eine Verschärfung der Maskenpflicht. Danach müssten alle Mitarbeitenden mit und ohne Behinderung in Werkstätten dauerhaft an ihren Arbeitsplätzen eine FFP2-Maske tragen. Es sei dann nicht mehr möglich, die Masken trotz Einhalten von Abstandsregelungen abzusetzen. „Die neuen Maßnahmen sind strenger als alle bisherigen Regelungen seit Beginn der Pandemie und bilden in keiner Weise die wesentlichen Veränderungen durch den gegebenen hohen Impfstatus aller hier tätigen Personen ab“, sagte Korden.
Die Regelungen zur Testpflicht benachteiligten zum Beispiel Werkstätten mit gastronomischen Angeboten, Ladenlokalen und anderen Arbeitsbereichen mit Kundenverkehr, so die Verbände. Denn auch die Besucher müssten sich testen lassen. Brunotte betonte: „Es ist traurig, dass in Politik und Verwaltung nach fast drei Jahren Pandemie noch immer ein undifferenziertes Bild der zunehmend inklusiv ausgerichteten Angebote zur Förderung und Assistenz von Menschen mit Behinderung vorherrscht.“
Die Verbände forderten eine sofortige Anpassung der gesetzlichen Regelungen und damit eine Gleichstellung der Menschen mit Behinderungen, die in einer Werkstatt arbeiten.
München (epd). Der Vorstandssprecher der Diakonie München und Oberbayern muss seinen Posten räumen. Der Aufsichtsrat habe den 58-jährigen Pfarrer „mit sofortiger Wirkung abberufen“, teilte ein Sprecher des Gremiums am 5. Oktober mit. Grund dafür seien „eindeutiges Fehlverhalten und Versäumnisse“ des Vorstandssprechers bei der internen Aufarbeitung einer gemeldeten Übergriffigkeit.
„Dieses Verhalten, was wir sehr bedauern, entspricht nicht den Werten der Diakonie wie Respekt, Offenheit und Transparenz sowie einer auf Vertrauen basierenden Unternehmenskultur“, sagte der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende Peter Gleue. Der Aufsichtsrat hatte am 4. Oktober in einer außerordentlichen Sitzung über die Ergebnisse des Abschlussberichts einer Kanzlei beraten, die den Fall seit Anfang August geprüft hatte.
Mitte September dieses Jahres waren erstmals Vorwürfe wegen „verbaler und körperlicher Grenzüberschreitung“ gegen den Vorstandssprecher öffentlich geworden. Bereits im Herbst 2021 hatte sich eine Mitarbeiterin der Münchner Diakonie an die Meldestelle „Aktiv gegen Missbrauch“ der bayerischen evangelischen Landeskirche und an das Pendant der Diakonie Bayern gewandt.
Im November 2021 meldete die Fachstelle den Vorfall nach Informationen des Evangelischen Pressedienstes (epd) an den Aufsichtsratsvorsitzenden der Münchner Diakonie. Erst Ende Juli 2022 aber tagte das gesamte Gremium und beauftragte eine externe Kanzlei damit, die Vorwürfe zu prüfen. Die Mitarbeiterin war schon im Januar dieses Jahres „auf eigenen Wunsch“ freigestellt worden.
Berlin (epd). Zwei neue kostenlose Bücher der Deutschen Krebsgesellschaft und der Bundesvereinigung Lebenshilfe informieren in Leichter Sprache über Krebsvorsorge und Behandlung der Krankheit. Das Besondere sei, dass die Themen als Bildergeschichten aufbereitet und in Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderung entstanden seien, heißt es in einer Mitteilung vom 4. Oktober. „Damit wollen wir helfen, Ängste abzubauen und die Vorsorgesituation für alle Menschen in Deutschland zu verbessern“, sagte der Präsident der Krebsgesellschaft, Thomas Seufferlein.
Hintergrund der Initiative sei, dass Menschen mit geistiger Behinderung Maßnahmen zur Krebsfrüherkennung viel seltener in Anspruch nähmen als Menschen ohne Beeinträchtigung. Den Angaben zufolge sind die Bücher für den professionellen Kontext und auch für den privaten Gebrauch gedacht. Die Texte und Zeichnungen entstanden in Zusammenarbeit mit Menschen mit geistiger Beeinträchtigung.
„Uns war besonders wichtig, die Geschichten an der Lebenswirklichkeit der Menschen zu orientieren“, erklärte Jeanne Nicklas-Faust, Bundesgeschäftsführerin der Lebenshilfe. „Wir leisten damit einen Beitrag zur Teilhabe in Gesundheitsfragen. Denn nur wer verständliche Informationen bekommt, kann selbst Entscheidungen treffen.“
Mainz (epd). Arbeitgeber dürfen nur in engen Grenzen Informationen über frühere Beschäftigte an andere Arbeitgeber weitergeben. Die Information ist nur erlaubt, wenn diese sich auf Leistung und Verhalten während der Arbeit im Betrieb bezieht und das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschäftigten nicht in unzulässiger Weise beeinträchtigt wird, entschied das Landesarbeitsgericht (LAG) Rheinland-Pfalz in Mainz in einem kürzlich veröffentlichten Urteil vom 5. Juli.
Im konkreten Fall war die Klägerin ab dem 15. Februar 2021 als Leitende Fachkraft Gesundheitswesen für den Geschäftsbereich Alltagspaten beschäftigt. Dabei ging es um Dienstleistungen im Rahmen der Alltagsbegleitung kranker Menschen. Die Frau kündigte das Arbeitsverhältnis bereits zum 31. Mai 2021.
Im Guten ging die Beschäftigte mit ihrem Arbeitgeber nicht auseinander. Nach der fristgemäßen Kündigung wollte der Arbeitgeber die Frau schneller loswerden. Er focht mit Anwaltsschreiben den Arbeitsvertrag an und kündigte ihr fristlos. Dies begründete er mit angeblich falschen Angaben bei ihrer Bewerbung und weiteren behaupteten Pflichtverletzungen.
Als die Frau am 1. Juni 2021 eine neue Stelle als Gesundheits-Fachkraft antrat, legte der frühere Arbeitgeber nach. Gleich am ersten Arbeitstag meldete sich der frühere Chef der Frau von sich aus bei dem neuen Arbeitgeber, um diesen vor der Beschäftigten zu warnen.
So habe die Fachkraft bei dem früheren Bewerbungsgespräch gelogen. Sie habe sich aus einer angeblich laufenden Anstellung heraus beworben, obwohl ihre vorausgehende Beschäftigung bereits beendet gewesen sei. Auch sei sie nicht in der Lage gewesen, selbst einen Dienstplan für die Alltagspaten zu erstellen. Vielmehr habe ihr dabei ihr Ehemann geholfen. Damit habe sie vertrauliche Daten an einen Dritten weitergegeben. Dies stelle einen schweren Datenschutzverstoß dar.
Zudem habe sie die Alltagspaten angewiesen, auch Pflegeleistungen zu erbringen, obwohl sie dafür nicht qualifiziert gewesen seien. Sie habe etwa „das Füttern eines Patienten mit einer Banane angeordnet“, obwohl dieser unter Schluckbeschwerden gelitten habe. Dies sei als ein „potenziell lebensbedrohliches Arbeitsverhalten“ zu werten. Sie habe außerdem ohne sachlichen Grund Termine mit Neu-Interessenten verschoben, so dass diese abgesprungen seien. Dadurch seien Einnahmeverluste entstanden. Auch sei sie während der Arbeitszeit ohne Erlaubnis mehrfach privaten Tätigkeiten nachgegangen.
Die Fachkraft zog daraufhin vor Gericht und wollte per Unterlassungsklage erreichen, dass ihr früherer Arbeitgeber die „ehrenrührigen Äußerungen“ gegenüber ihrem neuen Arbeitgeber unterlässt.
Das LAG urteilte, dass die Klägerin von ihrem früheren Arbeitgeber in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt worden sei und ein Unterlassungsanspruch bestehe. Dieses Recht „schützt den Arbeitnehmer nicht nur vor einer zu weitgehenden Kontrolle und Ausforschung seiner Persönlichkeit, sondern umfasst ebenfalls den Schutz vor der Offenlegung personenbezogener Daten, und zwar auch solcher, von denen der Arbeitgeber in zulässiger Weise Kenntnis erlangt hat“.
In engen Grenzen dürfe ein Arbeitgeber allerdings Auskünfte auch gegen den Willen des Arbeitnehmers an andere Arbeitgeber erteilen. „Die Auskünfte, zu denen der Arbeitgeber berechtigt ist, betreffen nur Leistung und Verhalten des Arbeitnehmers während des Arbeitsverhältnisses“, so das LAG mit Verweis auf ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 18. Dezember 1984 (Az.: 3 AZR 389/83). Allerdings müsse die Auskunftserteilung auch verhältnismäßig sein und mit dem Recht der Arbeitnehmerin auf informationelle Selbstbestimmung abgewogen werden. Dieses sei hier verletzt worden.
Die Äußerung, dass die Klägerin während des Bewerbungsgesprächs unwahre Angaben im Lebenslauf tätigte, sei schon nicht zulässig, da es sich nicht „um ein Verhalten oder eine Leistung im Rahmen des Arbeitsverhältnisses“, sondern vorher, bei Anbahnung desselben gehandelt habe. Selbst wenn die Äußerung als wahr unterstellt werde, sei auch gar nicht ersichtlich, ob die Klägerin bei dem neuen Arbeitgeber ebenfalls falsche Angaben gemacht habe.
Dass der Ehemann bei der Erstellung der Dienstpläne mitgewirkt habe, könnte zwar als datenschutz-rechtlich problematisch an gesehen werden. Ein überwiegendes Interesse des früheren Arbeitgebers, diese Information an den neuen Arbeitgeber weiterzugeben, bestehe aber nicht. Denn es gebe keine Anhaltspunkte für ein künftiges Fehlverhalten.
Dass die Klägerin nicht qualifizierte Mitarbeiter angewiesen hat, Pflegedienstleistungen und nicht nur eine Alltagsbegleitung gegenüber einem Patienten mit Schluckbeschwerden zu erbringen, rechtfertige ebenfalls nicht die Unterrichtung des neuen Arbeitgebers. Weder habe die Frau aus niederen Motiven gehandelt, noch sei der Patient zu Schaden gekommen.
Umgekehrt hatte der Geschäftsführer des früheren Arbeitgebers seinerseits wohl nicht nur lautere Gründe für seinen Anruf beim Folge-Arbeitgeber, betonte das LAG. Vielmehr entstehe der Eindruck, dass der Geschäftsführer „zumindest auch“ der Klägerin schaden wollte. „Für ein derartiges Ansinnen besteht kein berechtigtes Interesse“, heißt es abschließend in dem Mainzer Urteil.
Az.: 6 Sa 54/22
Karlsruhe (epd). Mieterinnen und Mieter können bei selbst verursachten Schäden an der Wohnung während der laufenden Mietzeit nicht auf Verjährung hoffen. Erst nach Rückgabe der Wohnung an den Vermieter hat der Eigentümer sechs Monate Zeit, mögliche Ansprüche zu prüfen, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in einem am 5. Oktober veröffentlichten Urteil. Danach tritt die Verjährung ein, so die Karlsruher Richter.
Im verhandelten Fall hatte ein Ehepaar 1981 in Berlin eine Wohnung im vierten Obergeschoss gemietet. Kurz nach dem Einzug ließen sie im Badezimmer Fliesen mit einem Abfluss verlegen. Allerdings wurde unterhalb der Fliesen keine Dichtung erstellt. Zwischenzeitlich starb der Ehemann.
2016 trat plötzlich floss bei den Nachbarn im Geschoss darunter schwallartig Wasser von ihrer Badezimmerdecke. Die Schadensaufnahme ergab, dass wegen der fehlenden Fliesenabdichtung die Feuchtigkeit aus der darüberliegenden Wohnung mehrere Deckenbalken beschädigt hatte. Die Decke war einsturzgeschädigt.
Die Vermieter verlangten von der Mieterin und den Erben ihres Mannes Schadensersatz in Höhe von knapp 38.000 Euro. Die Rollstuhlfahrerin habe während der vergangenen 20 Jahre regelmäßig außerhalb der Badewanne geduscht und wegen der unzureichenden Abdichtung des Bodens den Schaden verursacht, lautete die Begründung. Die Frau meinte dagegen, dass der Anspruch verjährt sei. Der Flieseneinbau sei über 30 Jahre her. Das Landgericht Berlin stimmte dem zu.
Doch der BGH hob diese Entscheidung jetzt auf. Die Verjährungsfrist von 30 Jahren nach der Pflichtverletzung, hier dem mangelhaften Flieseneinbau, greife nicht. Im Mietrecht habe der Gesetzgeber eine Sonderregelung geschaffen. Danach beginne die Verjährungsfrist erst ab Rückgabe der Mietwohnung zu laufen. Der Vermieter habe dann sechs Monate Zeit, Ansprüche geltend zu machen.
Er müsse sich „ungestört ein umfassendes Bild von etwaigen Mängeln, Veränderungen und Verschlechterungen“ der Mietsache machen können. Das setze die freie Verfügung über die Wohnung nach dem Auszug der Mieter voraus, so das Gericht.
In diesem Fall sei die Wohnung aber noch nicht zurückgegeben und der Schaden somit auch noch nicht verjährt. Das Landgericht soll nun prüfen, inwieweit ein Schadenersatzanspruch besteht, und ob gegebenenfalls der Gebäudeversicherer für den Schaden einspringen muss.
Az.: VIII ZHR 132/20
Hannover (epd). Ein einmal im Arbeitszeugnis vom Arbeitgeber ausgesprochener Dank für die geleistete Arbeit und die „guten Wünsche für die Zukunft“ dürfen bei einer Zeugniskorrektur nicht wieder verschwinden. Auch wenn der Arbeitgeber zu einer Dankesformel im Arbeitszeugnis nicht verpflichtet werden kann, ist er an die einmal abgegebene Schlussformel gebunden, stellte das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen in einem kürzlich veröffentlichten Urteil vom 12. Juli klar. Die Hannoveraner ließen die Revision zum Bundesarbeitsgericht zu.
Vor Gericht war eine frühere Persönliche Assistentin der Geschäftsführung einer Fitnessstudiokette gezogen. Mit Beschäftigungsende erhielt sie von ihrem Chef ein sehr gutes Arbeitszeugnis. Darin hieß es: „Frau A. verlässt unser Unternehmen auf eigenen Wunsch. Wir danken ihr für ihre wertvolle Mitarbeit und bedauern es, sie als Mitarbeiterin zu verlieren. Für ihren weiteren Berufs- und Lebensweg wünschen wir ihr alles Gute und auch weiterhin viel Erfolg.“
Die Frau verlangte jedoch Nachbesserungen bei der Bewertung ihres Arbeits- und Sozialverhaltens. Doch auch die vom Arbeitgeber durchgeführte Korrektur stellte sie nicht zufrieden. Per Anwaltsschreiben verlangte sie eine nochmalige Nachbesserung.
Der Arbeitgeber gab nach, ließ aber in der zweiten Korrektur nun die Dankes-, Bedauerns- und Wunschformel weg. Die Arbeitnehmerin meinte, dass der Arbeitgeber an die einmal gegebene Schlussformel im Arbeitszeugnis gebunden sei. Offenbar habe der Arbeitgeber sie wegen der Streitigkeiten um das Zeugnis auf diese Weise maßregeln wollen.
Der Arbeitgeber führte an, dass im Laufe der Auseinandersetzung sich sein subjektives Empfinden, den Dank und die guten Wünschen zu äußern, geändert habe. Er verwies auf ein Urteil des BAG vom 11. Dezember 2012 (Az.: 9 AZR 227/11). Danach müsse sich ein Arbeitgeber nicht für die geleistete Arbeit bedanken oder dem Beschäftigten alles Gute wünschen.
Dies gelte hier aber nicht, urteilte das LAG. Denn der Arbeitgeber habe bereits in der ersten Zeugnisversion die Schlussformel formuliert. Er sei nicht befugt, vom Arbeitnehmer nicht beanstandete Teile des Zeugnisses grundlos über die zu Recht verlangten Berichtigungen hinaus zu ändern. Dies gelte auch für die Dankes-, Bedauerns- und Wunschformel. Ob der Arbeitgeber noch die zuvor ausgedrückten Empfindungen noch hegt, sei „ohne Bedeutung“. Nur weil die Arbeitnehmerin von ihrem Recht auf Zeugniskorrektur Gebrauch gemacht habe, habe der Arbeitgeber sie mit dem Weglassen der Formel im Arbeitszeugnis in unzulässiger Weise maßregeln wollen, rügte das LAG.
Az.: 10 Sa 1217/21
Lüneburg (epd). Ein sozialtherapeutisches Zentrum ist in einem allgemeinen Wohngebiet erlaubt. Dem Bau steht auch nicht entgegen, dass in der Einrichtung Menschen mit einer Neigung zur Selbstgefährdung untergebracht werden sollen, entschied das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) in Lüneburg in einem am 26. September bekanntgegebenen Beschluss.
Damit kann ein sozialtherapeutisches Zentrum in einem allgemeinen Wohngebiet der südwestnieder-sächsischen Gemeinde Bad Eilsen gebaut werden. In der Einrichtung sollen 41 Bewohnerinnen und Bewohner untergebracht werden. 17 Plätze davon sind für Menschen vorbehalten, die aufgrund einer seelischen oder geistigen Behinderung oder Erkrankung ein selbstgefährdendes Verhalten an den Tag legen können.
Eine Anwohnerin wollte den Bau gerichtlich stoppen. Solch eine Einrichtung, in der auch Menschen mit selbstgefährdenden Verhalten untergebracht werden, sei in einem allgemeinen Wohngebiet unzulässig. Sie fürchtete zudem Lärmbelästigungen und eine Gefahr für andere.
Doch „der Wunsch, von einem Aufenthalt von Menschen mit seelischen oder geistigen Behinderungen in unmittelbarer Umgebung des eigenen Grundstücks verschont zu bleiben, hat keine baurechtliche Relevanz“, stellte das OVG klar. Ein solcher Wunsch sei vielmehr „mit dem Gebot der Achtung der Menschenwürde unvereinbar“.
Ein sozialtherapeutisches Zentrum diene der Unterbringung von Menschen mit Behinderungen. Es sei „als Anlage für soziale Zwecke in einem allgemeinen Wohngebiet allgemein zulässig“. Dass es hier auch um Menschen gehe, die aufgrund eines betreuungsgerichtlichen Gerichtsbeschlusses in die Einrichtung kommen, ändere daran nichts. Auch dann stehe „die Fürsorge für die Menschen und deren Wohl im Vordergrund“.
Zwar seien Einrichtungen des Justiz- oder Maßregelvollzugs in einem allgemeinen Wohngebiet unzulässig, wenn die dort untergebrachten Menschen Dritte gefährden können. Bei dem im Streit stehenden sozialtherapeutischen Zentrum würden aber nur Menschen mit einer Eigen- und nicht mit einer Fremdgefährdung untergebracht. Von ihnen ausgehende unzumutbare Beeinträchtigungen seien nicht ersichtlich. Die „Lebensäußerungen psychisch erkrankter Bewohner“ seien auch in einem allgemeinen Wohngebiet hinzunehmen. Anderes gelte nur, wenn diese insbesondere nachts ein „unzumutbares Ausmaß“ annehmen, so das OVG
Az.: 1 ME 90/22
Essen (epd). Jobcenter müssen bei einem aus humanitären Gründen erteilten Aufenthaltstitel für eine ausländische Mutter von Anfang an auch Hartz-IV-Leistungen für ihr neugeborenes Kind leisten. Dies hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen in Essen in einem am 28. September bekanntgegebenen rechtskräftigen Urteil entschieden.
Sind Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland weder Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbstständige, noch nach EU-Recht freizügigkeitsberechtigt, können sie nach den gesetzlichen Bestimmungen erst nach einem dreimonatigen Aufenthalt im Bundesgebiet Hartz-IV-Leistungen erhalten. Dies gilt auch für ihre Familienangehörigen.
Damit müssen auch Neugeborene von der Hilfeleistung für drei Monate ausgeschlossen sein, meinte im Streitfall das Jobcenter Köln. Ohne Erfolg hatte die aus Bosnien-Herzegowina stammende Mutter für ihre 2018 auf die Welt gebrachte Tochter ab dem Geburtszeitpunkt Hartz-IV-Leistungen beantragt. Sie selbst und eine weitere Tochter bezogen bereits im Leistungen vom Jobcenter. Die Mutter verfügte über einen aus humanitären Gründen erteilten Aufenthaltstitel.
Das LSG sprach dem neugeborenen Kind ab Geburt existenzsichernde Leistungen vom Jobcenter zu. Zwar sei die Mutter weder Arbeitnehmerin oder Selbstständige, noch sei sie wegen ihrer bosnisch-herzegowinischen Staatsangehörigkeit nach EU-Recht freizügigkeitsberechtigt. Gleiches gelte für das neugeborene Kind als Familienangehörige.
Allerdings gelte der damit einhergehende Leistungsausschluss nicht für Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen in Deutschland aufhalten. Hier habe die Mutter zum Zeitpunkt der Geburt über den entsprechenden Aufenthaltstitel verfügt, so dass der Leistungsausschluss nicht greife. Dies sei auch auf das Neugeborene übertragbar.
Az.: L 12 AS 1323/19
Stuttgart (epd). Frank Stefan ist erneut zum Vorsitzenden des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe (BeB) gewählt worden. Das Votum fiel einstimmig aus. Stefan wird weitere vier Jahre den Verband leiten. Stefan ist Vorstandsvorsitzender der Diakonie Kork und hatte die Leitung 2020 von Uwe Mletzko übernommen.
Frank Stefan gehört dem BeB-Vorstand bereits seit 2010 an. Vor seiner Arbeit für die Diakonie Kork war der Sozialmanager für das Diakonische Werk - Innere Mission - im Kirchenkreis Minden tätig.
Stefan sagte nach der Wiederwahl, es liege viel Arbeit vor dem Verband. Gerade in der Corona-Zeit habe sich gezeigt, „dass Menschen mit Behinderung vielerorts - auch von der Gesetzgebung - eher als pflegebedürftige und schwache Menschen angesehen werden, statt sie in ihren Kompetenzen und Bedürfnissen ernst zu nehmen“. Hier sei noch ein weiter Weg bis zur vollständigen und ungehinderten Teilhabe zu gehen.
Die Delegierten wählten in Stuttgart Mark Weigand, Geschäftsführer der Stiftung Bethel, Bethel.regional in Dortmund, zum stellvertretenden Vorsitzenden. Er löst Jürgen Armbruster ab, der das Amt seit 2000 innehatte und für eine Wiederwahl nicht mehr zur Verfügung stand. Außerdem gehören dem Vorstand an: Nadja Abuchater-Bier (Evangelische Heimstiftung Pfalz), Christiane Caldow (Diakoniewerk Duisburg), Christian Geyer, (Bathildisheim), Tina Mäueler, (Oberlinhaus Lebenswelten gGmbH), Elke Ronneberger (Diakoniewerk Kloster Dobbertin gGmbH) und Thorsten Tillner, (Rotenburger Werke der Inneren Mission gGmbH).
Der BeB vertritt nach eigenen Angaben bundesweit mehr als 600 evangelische Einrichtungen, Dienste und Initiativen der Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie.
Cornelia Piekarski ist als Direktorin aus den Diensten des Caritasverbandes für das Bistum Magdeburg ausgeschieden. Im Dezember 2022 wird sie Vorstandsmitglied des Caritasverbandes für das Erzbistum Berlin und dort unter anderem Ressort „Fachpolitik und Innovation“ übernehmen. Piekarski, studierte Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin, war seit Januar 2020 Diözesan-Caritasdirektorin in Magdeburg. Zuvor war sie über ein Jahrzehnt als Bereichs- und Einrichtungsleitung bei der Caritas Kinder- und Jugendhilfe gGmbH tätig, weitere zwölf Jahre als Geschäftsführerin des Albert-Schweizer-Kinderdorfes Berlin.
Anne Baaske verlässt als Geschäftsführerin den AWO Landesverband Brandenburg zum Jahreswechsel. Sie begründete ihre Entscheidung damit, dass ordnungsgemäße Prüfmaßnahmen in AWO Kreisverbänden seit Frühjahr 2021 blockiert und verhindert würden. Es sei außerdem versucht worden, Compliance-Überprüfungen zu beeinflussen. Das sei nicht akzeptabel. „Für mich ist die wertegebundene AWO - auch auf Bundesebene - heute leider nicht mehr erkennbar. Wenn diese nicht mehr den Mut, die Durchsetzungskraft und den Willen hat, sich an den eigenen Regularien zu orientieren, dann kann dies nicht mehr meine AWO sein“, erklärte Baaske.
Barbara Stamm ist tot. Die CSU-Politikerin ist nach langer Krankheit am 5. Oktober im Alter von 77 Jahren gestorben. Sie war von 1994 bis 2001 bayerische Sozial- und Gesundheitsministerin im Kabinett von Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU). Stamm war außerdem die erste Frau an der Spitze des Landtags, dem sie insgesamt 42 Jahre lang angehörte. Daneben engagierte sich Stamm in zahlreichen ehrenamtlichen Funktionen für das Allgemeinwohl wie etwa als Vorsitzende der Lebenshilfe Bayern.
Stephan Reimers (78), Theologe und früherer Diakoniechef, leitet die Untersuchung über das Arbeitsklima beim NDR. In einer internen Prüfung wurde festgestellt, dass das Redaktionsklima des Senders von mangelnder Kommunikation und fehlendem Vertrauen geprägt sei. Reimers war von 1999 bis 2009 Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union. Von 1992 bis 1999 war er Mitglied im NDR-Rundfunkrat. Als Leiter des Diakonischen Werkes in Hamburg startete er 1993 die Obdachlosenzeitung „Hinz & Kunzt“, ein Jahr später die Hamburger Tafel für Bedürftige. NDR-Intendant Joachim Knuth sagte, Reimers habe bereits mehrfach bewiesen, dass er unabhängig sei und die nötige kritische Distanz habe. Der Aufarbeitungsprozess sei auf drei Monate ausgelegt, so dass mit einem Bericht im ersten Quartal 2023 zu rechnen sei. Reimers werde mit einem Team aus internen und externen Prozessmanagern arbeiten, hieß es.
Ursel Wolfgramm ist als Vorstandsvorsitzende des Paritätischen Baden-Württemberg in den Ruhestand verabschiedet worden. Sie übte dieses Amt seit sieben Jahre aus. Bis eine sozialpolitische Vorständin ihr Amt antritt, wird Ulf Hartmann, Vorstand für Finanzen und Mitgliederberatung, den Verband alleine führen. Dem Verband sind in Baden-Württemberg mehr als 900 selbständige Mitgliedsorganisationen mit insgesamt rund 2.000 sozialen Diensten und Einrichtungen angeschlossen sowie rund 40.000 freiwillig Engagierte.
Gerold Abrahamczik (63) ist erneut zum Sprecher im Beirat der Angehörigen im Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) gewählt worden. Er übt diese Tätigkeit bereits seit acht Jahren aus. Dem Gremium gehören sieben Vertreterinnen und Vertreter an. Abrahamczik sagte nach der Wahl: „Die Herausforderungen in der Eingliederungshilfe sind immens. Vorrangig appellieren wir an die Bundesregierung, dafür Sorge zu tragen, dass die Betreuung und Begleitung unserer Kinder und Angehörigen durch die explodierenden Energiepreise nicht gefährdet wird.“ Zudem fordere man eine umgehende Berücksichtigung der Einrichtungen der Behindertenhilfe bei den diversen Schutzschirmen und Entlastungspaketen.
Martin Georgi bleibt Vorsitzender des Deutschen Fundraising Verbands (DFRV). Er wurde auf der Mitgliederversammlung am 27. September einstimmig mit wenigen Enthaltungen wiedergewählt. Heike Kraack-Tichy ist nun stellvertretende Vorsitzende und Duda Zeco wurde zur Beisitzerin gewählt. Georgi ist Organisationsberater und war unter anderem Vorstand der Aktion Mensch, Direktor der Christoffel-Blindenmission und Geschäftsführer von Amnesty International Deutschland.
Stefan Aust (44) ist neuer Interims-Hauptgeschäftsführer der Knappschaftskrankenhaus Bottrop GmbH und der Bergmannsheil und Kinderklinik Buer GmbH. Er übernimmt die Aufgaben von André Schumann, der sich künftig neuen beruflichen Herausforderungen widmen wird. Aust ist in den beiden Kliniken kein Unbekannter, da er seit mehreren Jahren für die Knappschaft Kliniken arbeitet. Seit 2018 leitet er als Hauptgeschäftsführer das Klinikum Westfalen mit seinen vier Standorten in Dortmund, Kamen und Lünen.
Wolfgang Denia (71) hat für sein langjähriges ehrenamtliches soziales Engagement in der evangelischen Kirche und der Diakonie das goldene Kronenkreuz der Diakonie erhalten. Der frühere Landesbezirksleiter der Gewerkschaft ver.di in Niedersachsen engagierte sich unter anderem mehr als 40 Jahre lang im Vorstand und Verwaltungsrat des Vereins „ReGenesa“, der sich für Frauengesundheit einsetzt. Der kirchliche Verein „ReGenesa“ mit Sitz in Hannover widmet sich seit 1947 der Gesundheitsfürsorge von Frauen, Müttern und Kindern. Er bietet Kuren für Mütter und Frauen in zwei Kurkliniken an der Nordsee an. Zudem betreibt er eine Einrichtung für Familienerholung auf der Insel Spiekeroog. Denia war von 2001 bis 2007 ver.di-Landeschef in Niedersachsen.
Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, das zu beachten.
18.10.:
Online-Seminar „Partizipation umsetzen - Gestaltung von Partizipationsprozessen in Organisationen der Eingliederungshilfe“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0172/301 28 19
19.10.:
Online-Seminar „Blended Counseling - ein Beratungsmodell mit niedrigschwelligen Zugangsmöglichkeiten zu Ratsuchenden“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/2001700
November
2.11. Hannover:
Fachtag: Wohlfahrt queer gedacht und queer gemacht
des Lesen- und Schwulenverbandes
Tel.: 030/78954778
3.-4.11.:
Online-Fortbildung „Keine Krise mit der Krise - Hilfreich bleiben auch in Ausnahmesituationen“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 030/48837-495
9.11. Berlin:
Seminar „Vergütungssatzverhandlungen in der Eingliederungshilfe“
der Unternehmensberatung Solidaris
Tel.: 02203/8997-0
22.-23.11.:
Online-Seminar: „Datenschutzmanagementsysteme in sozialen Einrichtungen“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/2001700
28.-29.11. Berlin:
Fortbildung „Das operative Geschäft: Steuerung und Controlling in der Eingliederungshilfe“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 030/48837-495
29.- 30.11. Netphen:
Seminar „... und die Jugendlichen, die zu uns kommen, werden immer schwieriger“
Tel.: 030 26309-139