Berlin (epd). Tim Vogt (Name geändert) hat bereits für viele Lieferdienste gearbeitet. „Ich war insgesamt fünf Jahre für Deliveroo, Lieferando und Gorillas tätig.“ Eines hätten alle gemeinsam: „Sie wollen rasant wachsen.“ Das Wohl der Mitarbeiter bleibe dabei oft auf der Strecke, sagt der Kurier.
Auf seinem Twitteraccount schreibt er unter dem Namen „Ausgeliefert“ über seine Erfahrungen. Vogt möchte anonym bleiben, weil er Konsequenzen am Arbeitsplatz befürchtet. „Einige meiner Kolleginnen und Kollegen haben ebenfalls bei Twitter über ihre schlechten Arbeitsbedingungen berichtet. Sie haben Abmahnungen erhalten, da man ihre Namen mit ihren Accounts in Verbindung gebracht hat“, erklärt er.
Der Masterstudent hat einen Minijob beim Bestelldienst Lieferando. Nach seinem Bachelorabschluss hatte er eine Zeitlang Vollzeit als Kurier gearbeitet, um Geld für seine weitere akademische Ausbildung anzusparen.
„Wir Kuriere mussten in den letzten Jahren sehr viel einklagen und um unsere Rechte kämpfen“, sagt der 25-Jährige. Es gebe viele Grauzonen. „Die Rucksäcke sind sehr schwer. Eigentlich dürften sie nur höchstens zehn Kilogramm betragen“, sagt er. Daran werde sich nicht immer gehalten. „Ich kenne keinen einzigen Kurier, der nicht unter Rückenschmerzen leidet.“
„Ich habe mehr als 10.000 Lieferungen für Lieferando, Gorillas und Co. ausgetragen. Egal, ob bei Schnee, Regen oder Hitze“, sagt Vogt. Dabei werde ihm und vielen seiner Kollegen häufig nicht einmal die Grundausstattung gestellt. „Wir mussten uns Regenkleidung, Fahrräder und Diensthelme einklagen.“ Er schätzt, 90 Prozent aller Kuriere fangen mit ihrem eigenen Fahrrad an. „Das wäre so, als müsste ein Bauarbeiter seinen eigenen Betonmischer auf die Baustelle mitbringen.“
Nora Walraph, Pressesprecherin von Lieferando, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd) hingegen: „Wir stellen unseren Fahrerinnen und Fahrern ein rund 20-teiliges Equipment.“ Dieses umfasse die Basisausstattung wie Helm, Rucksack, Jacken, Handyhalterung und -hülle sowie eine zusätzliche Winterausstattung mit Thermokleidung.
Wer sein privates Rad nutzt, erhalte eine Verschleißpauschale zur Instandhaltung seines Fahrrads, auch bei überwiegend privater Nutzung. Zu Diensthandys inklusive zugehöriger Reparatur- und Versicherungsservices erzielte Lieferando kürzlich eine Einigung mit dem Betriebsrat. „Mit dieser Lösung sind wir der erste Lieferdienst, der seinen Fahrerinnen und Fahrern Diensthandys zur Verfügung stellt.“ Die Nutzung eigener Handys kompensiere Lieferando mit einer stündlichen Pauschale.
Berliner Lieferando-Kuriere haben in der Tat einen Durchbruch erzielt: Am 8. August wählten sie einen Betriebsrat. Für Andreas Splanemann, Pressesprecher der Gewerkschaft ver.di in Berlin-Brandenburg, geht es dabei „zunächst einmal um die Einhaltung geltender Gesetze und Vorschriften“. Dies zu überwachen, sei klassische Aufgabe von Betriebsräten.
Laut ver.di-Sprecher Splanermann sind bei Lieferdiensten „sehr oft Personen tätig, die noch nicht lange in Deutschland sind, kein oder wenig Deutsch sprechen und keine Erfahrung mit den Mitbestimmungsrechten und der hiesigen Rechtslage haben“. Das bestätigt auch Vogt: „Viele Kuriere kommen aus armen Ländern wie Argentinien. Diese lassen sich leicht ausbeuten und stehen nicht für ihre Rechte ein.“
Aus Sicht von ver.di liegt es auch in der Verantwortung der Kundinnen und Kunden der Lieferdienste, sich zu informieren, wen sie mit ihren Bestellungen unterstützen und was für ein System hinter der Firma stecke. Laut der Verbrauchs- und Medienanalyse VuMa haben in Deutschland im vergangenen Jahr mehr als acht Millionen Menschen mehrmals im Monat Essen bei einem Lieferservice bestellt.