sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Dirk Baas
epd-bild/Heike Lyding

als jüngst der ministerielle Vorschlag die Runde machte, Pflege-Auszubildende für Schnelltests in Heimen abzustellen, reagierte die Branche gereizt. Eine gute Ausbildung habe keine Zeitfenster für solche Hilfsdienste, hieß es. Stimmt. Zumal die generalistische Pflegeausbildung noch in den Kinderschuhen steckt. Kaum waren die Startschwierigkeiten beseitigt, da kam Corona - ein Situationsbericht. Noch viel Luft nach oben ist auf einem anderen Feld der Pflegeausbildung, der an den Hochschulen. Pflegeprofessorin Henrikje Stanze berichtet im Interview mit epd sozial über fehlende Absolventen, ein verändertes Berufsprofil für die Pflege und die Nöte der Hochschulen.

Noch immer geht es mit den Corona-Impfungen nur langsam voran. Weil die Impfstoffe fehlen, bleiben viele der 400 Impfzentren weitgehend leer. Doch wo die Spitzen gesetzt werden, sieht man jede erfolgte Immunisierung als Sieg an. So auch im Impfzentrum im norddeutschen Kaltenkirchen, wo sich Sebastian Stoll umgehört hat, was Helfer und Impflinge zu sagen haben.

Für manche Beobachter kam der angekündigte Abschied vom Amt überraschend: Der Missbrauchbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, zieht sich Ende der Legislaturperiode zurück. Im Interview mit dem epd spricht er über seine Beweggründe und blickt auf seine Arbeit zurück. Und er mahnt zugleich, im Kampf gegen sexuelle Gewalt nicht nachzulassen. "Die unabhängige Aufarbeitung kommt nach Jahren beharrlicher Arbeit voran", so Rörig. Doch es bleibe noch viel zu tun, auch für die Kirchen. Für deren Engagement fordert er einen "Ruck".

Pflege- und Sozialverbände sind alarmiert. Sie sehen angesichts der Pläne der Bundesregierung, die Corona-Hilfen im Rettungsschirm zu verändern, die Existenz vieler Pflegeheime in Gefahr. Geld als Erstattung von Pandemie-bedingten Mindereinnahmen soll es nur noch dann geben, wenn diese direkt aus einer behördlichen Auflage oder einer Landesregelung resultiert. Es scheine, als hätte die Regierung vergessen, dass die Pandemie noch nicht vorbei sei, kritisierte DEVAP-Chef Wilfried Wesemann.

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Dirk Baas




sozial-Thema

Pflegeausbildung

Wenn Corona täglich die Einsatzpläne über den Haufen wirft




Auzubildende im im Pflegeheim "Lazarus Haus Berlin" der Hoffnungstaler Stiftung Lobeta
epd-bild/Jürgen Blume
Beim Umbau der Lehrinhalte für die neue generalistische Pflegeausbildung blieb kein Stein auf dem anderen. Eine Kraftanstrengung für die Schulen. Als es nach zäher Vorbereitung endlich losgehen sollte, kam Corona. Das hat Folgen.

Als die Bundesminister Jens Spahn (CDU) und Franziska Giffey (SPD) jüngst vorschlugen, wegen akuter Personalnot Pflege-Azubis für Corona-Schnelltests in Heimen heranzuziehen, reagierte die Branche mit Entsetzen. Eine qualifizierte Ausbildung habe Vorrang vor Hilfsarbeiten in Heimen, lautete der Tenor. Und es fehlte auch nicht an deutlichen Hinweisen auf ein ohnehin arg erschwertes Lernumfeld in Zeiten der Pandemie.

"Seit Beginn der Corona-Pandemie haben sich die Bedingungen in der neuen generalistischen Pflegeausbildung per se erschwert. Der theoretische Unterricht findet digital statt, die Inhalte sind neu und umfassender und auch die Praxisanleitung hat nicht den Rahmen, den sie eigentlich haben müsste", sagt Franz Wagner, Präsidiumsmitglied der Bundespflegekammer und Präsident des Deutschen Pflegerates. Azubis hätten keine Zeit für Aushilfsjobs wie dem Testen von Besuchern, Bewohnern und Personal in Pflegeheimen: "Wir vergraulen unsere Zukunft, indem wir den Nachwuchs heillos überfordern."

Reform steckt noch in den Kinderschuhen

Das neue System der generalistischen Ausbildung steckt noch in den Kinderschuhen, neue und größere Schulverbünde mussten sich finden, die Lehrpläne sind taufrisch, viele neu gewonnene Dozentinnen und Dozenten noch unerfahren - und dann kam Corona. Ziel der seit Januar 2020 geltenden Regelungen ist es, die getrennten Ausbildungsberufe in der Kranken-, Kinderkranken- und Altenpflege in einer generalistischen Schulung zusammenzuführen. Das soll den Beruf vielseitiger und vor allem attraktiver machen, fordert jedoch den Nachwuchs weitaus mehr als in der Vergangenheit.

Carsten Drude, Geschäftsführer der Franziskus Gesundheitsakademie Münster, urteilt, der Start der Generalistik habe bundesweit ganz gut geklappt. Zwar gebe es gelegentlich Verbesserungsbedarf, müsse man beim Curriculum nachjustieren, aber die Schulen hätten die Kurse unter hohem Zeitdruck meist pünktlich zum Laufen gebracht, berichtet Drude, der auch Vorsitzender des Bundesverbandes Lehrende Gesundheits- und Sozialberufe ist.

Das bestätigt auch der Träger Diakoneo in Neuendettelsau. "Die Reform ist aus unserer Sicht gut gestartet", sagt Pressesprecher Markus Wagner. Der diakonische Träger bildet derzeit an sieben Berufsfachschulen für Pflege sowie der kooperierenden Pflegeschule an der Kreisklinik Roth insgesamt 240 Schülerinnen und Schüler aus. "Die Zahlen sind insgesamt stabil, die Klassen ausgelastet", so Wagner.

Aber: "Die Pandemie bleibt eine tägliche Herausforderung", berichtet Drude. Was wirklich Probleme bereite, sei die permanente Umstellung der Einsatzpläne für die Azubis - immer dann, wenn in Pflegeeinrichtungen, Kliniken oder Wohngruppen plötzlich Infektionen auftreten und alle Planungen über den Haufen werfen.

Jeden Tag flexibel reagieren

Dann würden Abteilungen geschlossen oder zusammengelegt, in denen eigentlich Azubis arbeiten sollten. Drude: "Das flexible Reagierenmüssen ist der Knackpunkt." Dann werde telefoniert, bis die Drähte glühten, um andere Einsatzmöglichkeiten zu finden. Azubis würden selbstverständlich aber auch in Bereichen eingesetzt, in denen Infektionen auftreten. "Das sollte nur nicht gleich am ersten Praxistag der Fall sein."

Auch bei Diakoneo ist das Infektionsgeschehen das größte Problem: "In der Praxisbegleitung sind unterschiedliche Regelungen und Öffnungen der praktischen Einsatzorte eine Herausforderung für Schüler und Organisation."

Drude geht davon aus, dass die meisten Schulen die Ausbildungskurse trotz schwieriger Bedingungen regulär zu Ende bringen. Verschobene Abschlussprüfungen werden nach seiner Einschätzung nur Ausnahmen sein. Dennoch gingen die außergewöhnlichen Belastungen an den Azubis nicht spurlos vorüber. Rückmeldungen von den Mitgliedsschulen des Verbandes deuteten auf eine Abbrecherquote von etwa zehn Prozent hin. Aber dieses Phänomen immer kausal mit Corona in Zusammenhang zu bringen, sei problematisch, so Drude. Gescheiterte Ausbildungen habe es schon immer gegeben. Bei Diakoneo heißt es: "Die Anzahl der Auszubildenden, die die Ausbildung während der Probezeit beendet haben, ist gering und liegt im vergleichbaren Rahmen der Vorjahre."

Handfeste Zahlen über frühzeitig beendete Ausbildungen gibt es nicht. Aber es gibt Hinweise über mögliche Gründe: Auszubildende fühlen sich während Corona häufig hilflos und alleingelassen. Sie erleben gestresste Pflegefachpersonen und weniger Anleitung. Vor allem Pflegesituationen mit Patientinnen und Patienten in lebensbedrohlichen Zuständen werden kaum besprochen und reflektiert, so die Ergebnisse einer Umfrage des Diakonischen Bildungszentrums (DBZ) Bergisch Land.

Im Zeitraum zwischen Oktober 2020 und Januar 2021 hat das DBZ 136 Azubis vom ersten bis dritten Ausbildungsjahr gefragt, wie sie ihre praktische Ausbildung während der Pandemie erleben. 94 Azubis beteiligten sich an der Online-Umfrage. 13 Prozent der Befragten gaben an, ihre Praxisanleiter während der Pandemie überhaupt nicht gesehen zu haben. 21 Prozent der Azubis hatten regelmäßigen Kontakt. Im Ergebnis fühlten sich die nur mittelmäßig betreut.

Bei Diakoneo hat man solche Problemanzeigen bislang nicht gehört. Im Gegenteil: Die Rückmeldungen der Auszubildenden seien grundsätzlich positiv. Sie sähen vor allem die Chancen, die ihnen die generalistische Pflegeausbildung biete. Sprecher Wagner: "Die Ausbildung gestaltet sich bislang so, wie es sich die Azubis vorgestellt haben und sie sind sehr zufrieden."

Start nicht überall problemlos geglückt

Befragt man die für den Nachwuchs Verantwortlichen bei den Trägern und in den Schulen über die Ausbildung in Zeiten von Corona, ergibt sich ein ambivalentes Bild. Auch im Caritas Schulzentrum Saarbrücken musste die Leitung auf Corona reagieren, wo im Oktober drei Kurse ihre Ausbildung begonnen haben. Die Bewerberzahlen legten um 80 Prozent zu, berichtet Leiter Björn Metzger in der Zeitschrift "neue caritas". Man habe den Start der Kurse um einen Monat nach hinten verschoben: "Wir wollten die Auszubildenden nicht ohne theoretische Grundkenntnisse in der Praxis einsetzen." Um den Neulingen Präsenzunterricht zu ermöglichen, wurde ein Hygienekonzept erarbeitet, dazu aber auch E-Learning angeboten.

"Die fast zeitgleich mit der Einführung der neuen Pflegeausbildung aufgetretenen Corona-Einschränkungen haben sich sehr negativ auf den Beginn der generalistischen Pflegeausbildung ausgewirkt", berichtet Karin Wolff, die Pädagogische Leitung der St. Hildegard Akademie in Berlin. Das habe bereits bei den Bewerbungen begonnen, die oft nur über Video- oder Telefonkonferenzen erfolgen konnten.

"Aufgrund der Pandemie war der Einsatz auf einigen Stationen, Wohn- oder ambulanten Bereichen gar nicht möglich, um die Gesundheit der Auszubildenden nicht zu gefährden." Folge sei gewesen, dass an anderen Einsatzstellen Auszubildende vermehrt eingesetzt werden mussten - was sich negativ auf die Organisation und die Gestaltung der Praxisanleitungen auswirkte. Problem: "Weil auch in der Schule kaum Präsenzunterricht möglich war, war ein Tausch von Theorie- und Praxiseinsätzen nicht möglich."

Die mit der Pandemie verbundenen Einschränkungen und Verunsicherungen könnten bei den sich abzeichnenden Ausbildungsabbrüchen innerhalb der Probezeit eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben, vermutet Wolff. "Es ist damit zu rechnen, dass statt der kalkulierten 15 Prozent sich eine Abbruchquote von 20 bis 25 Prozent herausstellt."

Nadya Klarmann, Präsidentin der Pflegekammer Niedersachsen, kennt diese oft schweren Belastungen im Ausbildungsalltag. In diesen Zeiten seien die Träger und Schulen besonders in der Pflicht: "Auszubildende sind Lernende. Führungskräfte von Pflegeeinrichtungen und Klinken müssen aufpassen, dass sie ihre Nachwuchskräfte nicht verheizen, indem sie ihnen zu viele Tätigkeiten und zu viel Verantwortung aufbürden." Das gelte auch für die Zukunft - wenn Corona hoffentlich irgendwann Geschichte ist.

Dirk Baas


Pflege

Interview

Expertin: Studium führt zu wissenschaftlichem Blick am Patientenbett




Henrikje Stanze
epd-bild/privat
Die Akademisierung der Pflege kommt voran, wenn auch nur langsam. Henrikje Stanze, Professorin für Pflegewissenschaft in Bremen, erläutert im Interview, warum es diese Form der Professionalisierung braucht und wie die Zusammenarbeit aller Gesundheitsberufe künftig aussehen muss.

Die Bremer Pflegeforscherin Henrikje Stanze fordert einen "wissenschaftlichen Blick am Bett der Patientinnen und Patienten". "Wir brauchen evidenzbasiertes Wissen, denn nur so kann sich die Behandlung und Versorgung von Menschen mit Pflegebedarf entwickeln", sagt die Professorin Henrikje Stanze. Deshalb müssten deutlich mehr Pflegefachkräfte an die Hochschulen. Das werde auch die Zusammenarbeit aller Gesundheitsberufe verändern. Die Fragen an Stanze stellte Dirk Baas.

epd sozial: Frau Professorin Stanze, mit der universitären Ausbildung von Pflegefachleuten ist Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern spät dran. Gibt es dafür eine Erklärung?

Henrikje Stanze: Eine wirklich logische Erklärung gibt es dafür nicht. Es ist einerseits die fehlende Emanzipation der Pflege, wie es beispielsweise in den USA der Fall war. Dort wehrten sich Pflegekräfte dagegen, als bloße Assistenzkräfte der Ärzte behandelt zu werden, und setzten sich aktiv ein, als eigenständige Berufsgruppe mit eigenen Verantwortungsbereichen angesehen zu werden. In Deutschland haben ärztlich organisierte Berufsverbände lange Zeit dafür plädiert, Pflegekräften nicht zu viel Verantwortungsbereiche zuteilwerden zu lassen. Das hat in der Diskussion um die Akademisierung der Pflege häufig sehr zum Ausbremsen weiterer Entwicklungen geführt.

epd: Was könnten weitere Gründe sein?

Stanze: Es liegt der deutschen Kultur etwas inne, sich vorerst beobachtend zurückzulehnen und mal zu schauen, was da die anderen so machen. Zudem beschwert sich unsere Gesellschaft zu wenig, das trifft besonders auf die Pflegekräfte zu. Sie beschweren sich zwar untereinander und gehen vielleicht mal auf eine Demonstration, aber sie sind auch ziemlich schnell demotiviert und gar desillusioniert. Sie werfen schnell das Handtuch, wenn die Aufmerksamkeit für ihre Anliegen nicht gleich sehr hoch ist mit dem einen Versuch, den sie gestartet haben.

epd: Wie erklärt sich das?

Stanze: Die Pflegekräfte selbst sehen, was sie jeden Tag leisten und wie relevant ihr Beruf ist. Aber wenn dann ihre beruflichen Probleme nicht die Aufmerksamkeit in den Medien bekommen und gesellschaftliche Empörung hervorrufen, wie sie beispielsweise Fluggesellschaften bei Streiks erfahren, dann ist das enttäuschend. Dennoch müssen Pflegekräfte am Ball bleiben und lauter werden.

epd: Warum ist es wichtig, auch hierzulande in der Pflege Akademikerinnen und Akademiker zu haben?

Stanze: Das ist wichtig, auch unabhängig vom Faktum des Alterns der Gesellschaft. Wir brauchen evidenzbasiertes Wissen, denn nur so kann sich die Behandlung und Versorgung von Menschen mit Pflegebedarf entwickeln. Wir benötigen einen "wissenschaftlichen Blick am Bett der Patientinnen und Patienten". Das heißt, es müssen Probleme beziehungsweise Forschungsinteressen von den Praktikern selbst erkannt und benannt werden, um einen - bewusst so formuliert - Praxis-Theorietransfer zu gewährleisten.

epd: Wie könnte der in der Praxis aussehen?

Stanze: Pflegefachkräfte müssen beginnen, alltägliche Arbeiten und Routinen kritisch zu hinterfragen und so die pflegerischen Maßnahmen optimieren oder gar neue Wege daraus entwickeln. Auch brauchen wir zu den nicht-akademisch ausgebildeten Pflegekräften die Akademiker, um eine Lücke in der Behandlung und Versorgung von Menschen mit pflegerischem Hilfebedarf zu schließen.

epd: Von Spanierinnen und Spaniern, die in Deutschland in der Pflege arbeiten sollten, weiß man, dass viele sehr schnell das Handtuch geworfen haben. Auch weil sie ganz andere Arbeitsverhältnisse im Pflegealltag vorgefunden haben als sie erwartet haben. Sie sahen sich selbst als überqualifiziert an. Ist das nicht ein Problem, dass auch hierzulande droht?

Stanze: Nein, das denke ich nicht. Es hat ja etwas mit der Solidarisierung des Nachwuchses zu tun. Wir helfen einander gegenseitig und dazu zählt auch, dass sich niemand zu schade sein darf, ein Essenstablett wegzuräumen oder den Müll in einem Zimmer zu entsorgen. Teamarbeit muss gefördert werden. Dabei ist auch zu klären, welche Arbeitsaufgaben die jeweilige Berufsgruppe hat und wer welche Verantwortungsbereiche übernimmt. Dabei ist Kommunikation, Respekt und Anerkennung wichtig.

epd: Was bedeutet das für die Zusammenarbeit der verschiedenen Professionen etwa in einer Klinik?

Stanze: Das führt auf jeden Fall zu ganz anderen Abläufen als bisher. Ärztinnen, Physiotherapeuten, Geburtshelferinnen usw. müssen lernen, im Job mehr miteinander zu sprechen und die Arbeitsschritte wie Zahnräder in einander laufen zu lassen. Da haben wir noch viel Arbeit vor uns.

epd: Lässt sich das in der Ausbildung einüben und besser vorbereiten?

Stanze: Ja, das ist ein Grund, weswegen die Hochschule Bremen - wie auch ein paar andere Hochschulen - einen Gesundheitscampus aufbauen. Studierende von Gesundheitsberufen sollen schon im Grundstudium beziehungsweise Weiterbildungsstudiengängen Module zusammen absolvieren. Ärztinnen, Pflegefachkräfte, Physiotherapeutinnen und Geburtshelfer, um nur einige Berufsgruppen zu nennen, lernen gemeinsam, um die jeweiligen Aufgabenfelder besser kennenzulernen und die Zusammenarbeit aktiv zu gestalten. So ist gewährleistet, mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen mitzuhalten und gemeinsam für Patienten und Angehörige die beste Versorgung und Betreuung zu sichern.

epd: Viele Expertinnen und Experten sagen, wenn Hochqualifizierte in der Pflege eingesetzt werden sollen, müssen sich die Arbeitsinhalte und vor allem die Arbeitsteilung mit den Ärzten grundlegend verändern. Ist das so?

Stanze: Grundlegend nicht. Ich bin der Meinung, dass beide Berufsgruppen den gemeinsamen Unterstützungsbedarf konkret herausarbeiten und formulieren müssen. Entweder die Pflegekraft kann die Verantwortung übernehmen und dafür dann auch geradestehen oder eben nicht. Delegierte Aufgaben von Ärztinnen an Pflegekräften - das ist wieder eine assistierte Arbeit und die Pflegekraft führt sie aus, ohne selbst nach Ideen und Vorstellungen gefragt worden zu sein. Wieso darf eine Pflegekraft selbstständig keine Paracetamol oder Ibuprofen ausgeben, wenn sie akademisch dafür ausgebildet wurde? Akademisch ausgebildete Pflegekräfte können eigene Pflegediagnosen erstellen und ein umfassenderes Bild von Patienten liefern - und versiert die Behandlung und Versorgung mitgestalten. Das führt zu schnelleren und effizienteren Heilungsprozessen, wie es in Amerika, aber auch in skandinavischen Ländern gezeigt wird.

epd: Und außerhalb von Kliniken?

Stanze: Auch Aufgaben im ambulanten Bereich könnten akademisch ausgebildete Pflegekräfte übernehmen, die Hausärzte sehr unterstützen würden. Beispielsweise im Rahmen von Gesprächen zur Vorausschauenden Versorgungsplanung (Stichwort Patientenverfügung), aber auch bei der professionellen Symptomeinschätzung und dem daraus folgenden Behandlungsbedarf. Akademisch ausgebildete Pflegekräfte könnten eine Zwischeninstanz bilden und Hausärzte wirksam entlasten.

epd: Blicken wir auf die Studieninhalte und Ziele. Für welche Tätigkeiten im Speziellen wird wie universitär qualifiziert und gibt es unterschiedliche Ansätze an den Hochschulen oder ein einheitliches Curriculum?

Stanze: Die Antwort fällt schwer, doch versuche ich es. Mit den primärqualifizierenden Studiengängen ist es möglich, Pflege Vollzeit zu studieren, so wie es auch im Ausland üblich ist. Die abzuleistenden Theorie- und Praxisstunden, um ein in Deutschland staatlich anerkanntes Examen als Pflegefachfrau oder -mann - wie durch die übliche Berufsausbildung - zu erhalten, ist bei allen Hochschulen gleich im Angebot, so dass sowohl ein Bachelor-Abschluss als auch das Staatsexamen erworben wird. Anders gestalten die Hochschulen jedoch die Länge des Studiums und die zu erlangenden Credit-Points.

epd: Wie machen Sie es in Bremen?

Stanze: Die Hochschule Bremen geht einen deutschlandweiten Sonderweg, denn es muss im Studium ein Auslandsemester absolviert werden und das Studium ist acht Semester lang, um den Bachelor of Science zu erwerben. Dadurch werden 240 Credit-Points erworben und somit ist alles erfüllt, dass der Abschluss an der Hochschule Bremen international anerkannt wird. Das haben nicht alle Hochschulen, denn das Studium ist mitunter kürzer und Absolventen haben dann weniger Credit-Points erfüllt.

epd: Wie ist das zu bewerten?

Stanze: Das ist eine sinnvolle Lösung, denn nicht alle Studentinnen und Studenten haben das Ziel, später eine volle Anerkennung auf dem internationalen Arbeitsmarkt zu bekommen. Den Studieninteressierten ist es womöglich willkommen, auf ein Auslandsemester zu verzichten und eben Zeit zu sparen. Curricular gestalten die Hochschulen ihre Modulhandbücher zum einen anhand der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Pflegeberufe und fügen zusätzlich noch weitere, meist wissenschaftlich geprägt, Inhalte mit ein, die dann die jeweiligen Experten der Hochschule selbst gestalten. Das ist bei allen Studiengängen so.

epd: Das Duale Studium ist ebenfalls möglich?

Stanze: Ja. Das war damals eine Regelung, um den Vorgaben der von Deutschland unterzeichneten Bologna-Erklärung nachzukommen. Damit erhält die Ausbildung der Pflege in Deutschland, die im europäischen Vergleich mit der nicht-akademischen Ausbildung einen Sonderweg geht, eine akademische Zusatzqualifikation. Das hat sich bedingt gut durchgesetzt, denn diese dualen Studiengänge laufen parallel zur Ausbildung und enden ebenfalls mit einem zusätzlichen Bachelor-Abschluss. Allerdings befähigen diese Studienabschlüsse überwiegend zu beruflichen Karrieren, die nicht mehr am Patientenbett in der direkten Pflegepraxis stattfinden. Meist sind es Abschlüsse im Bereich Pflegemanagement, -pädagogik oder -wissenschaft und haben mit dem alltäglichen Pflegeberuf nur noch entfernt etwas zu tun. Sie sind keine akademisch ausgebildeten Pflegekräfte im direkten Patienten-, Klienten-, Bewohnerkontakt mehr.

epd: Ist das ein Problem?

Stanze: Ja, das ist nur teilweise zielführend. Die Lösung der dualen Studiengänge wurde deshalb bereits begrenzt, und somit ist davon auszugehen, dass diese Studiengänge bis 2030 auslaufen werden und durch die primärqualifizierenden Studiengänge abgelöst werden. Deren Einführung der primärqualifizierenden war lange überfällig, so dass wir nun endlich international angeglichen sind und das wird Auswirkungen auf Verantwortungsbereiche, Bezahlungen und Karriereoptionen für Pflegekräfte und die Weiterentwicklung des Pflegeberufes an sich haben.

epd: Alle Welt beklagt den Pflegenotstand, es fehlt flächendeckend an Fachkräften. Welchen Beitrag zum Kampf gegen diesen Notstand kann die Uni-Ausbildung hier leisten? Und sehen Sie ein Problem, dass es irgendwann zu viele Akademikerinnen in der Pflege gibt und nach wie vor zu wenige klassisch ausgebildete Fachkräfte?

Stanze: Nein, es wird immer mehr "klassisch ausgebildete" als akademisch ausgebildete Pflegekräfte in Deutschland geben. Die Pflege hat eigene therapeutische Felder und die gilt es mehr hervorzuheben und die eigenen Arbeitsbereiche mehr in den Fokus zu nehmen. Wir müssen versuchen, einen Qualifikations-Mix herstellen, um eine Mischung aus ausgebildeten und akademisierten Pflegekräfte am Patientenbett zu bekommen. Nach der bisherigen Erfahrung gewinnt man so junge Menschen dazu, die unbedingt studieren möchten und sonst womöglich in einem anderen Bereich gelandet wären. Es geht um Nachwuchs, der bereit ist, wissenschaftlich zu denken und sich mit den erfahrenen Praktikern auszutauschen. Der Deutsche Wissenschaftsrat hat bereits 2012 die Empfehlung ausgesprochen, dass mindestens zehn Prozent aller Pflegenden an deutschen Kliniken studiert haben sollten. Davon sind wir immer noch weit entfernt. Das ist aber nicht als Konkurrenz, sondern als Erweiterung der klassischen Pflege zu sehen. Und wir bekommen mehr Anerkennung und Attraktivität des Pflegeberufes und wirken der Deprofessionalisierung und dem Pflegenotstand entgegen.

epd: Gibt es Zahlen, wie viele Studierende derzeit an den Hochschulen sind und wie ist der Trend? Reichen die Kapazitäten aus?

Stanze: Es noch zu früh, um das adäquat beantworten zu können, vor allem mit Blick auf die primär qualifizierenden Studiengängen. Der Wissenschaftsrat hatte seinerzeit zehn Prozent Pflege-Akademiker empfohlen. Heute sind wir noch nicht einmal bei fünf Prozent.

epd: Jetzt ist der Start der Generalisierung in der Pflegeausbildung gemacht. Viele Auszubildende werden nach ihrem Abschluss auch an die Hochschulen wollen. Ist das bei den Reformen bedacht worden und was sind die formalen Voraussetzungen, ein Pflegestudium aufzunehmen?

Stanze: Jein! Noch gibt es die dualen Studienangebote, die interessierte Personen mit einem staatlichen Examen zur Pflegefachfrau oder Pflegefachmann anschließend zusätzlich belegen können. Auch gibt es die Möglichkeit, sich durch die bereits erfolgreich absolvierte Berufsausbildung, Credit-Points anrechnen zu lassen. Damit habe ich dann ein bis zwei Semester gespart in den primärqualifizierenden Studiengängen, doch der Rest muss trotzdem an der Hochschule geleistet werden. An der Hochschule Bremen arbeiten wir zurzeit mit Nachdruck an einem Masterstudiengang, das heißt, wir wollen die Möglichkeit bieten, sich nach dem Grundstudium fachlich weiter zu spezialisieren. Pflegefachkräfte sollen hier durch einen Quereinstieg die Möglichkeit bekommen, einen Bachelor-Abschluss nachzuholen, um sich für den Masterstudiengang zu qualifizieren. Auch gibt es die Möglichkeit einzelne Module zu belegen und dann ein Weiterbildungszertifikat zu erhalten. Informationen dazu wollen wir im Laufe des Jahres 2021 auf der Homepage veröffentlichen.




sozial-Politik

Corona

Jede Impfung ein Sieg




Der 89-jährige Otto Fritze im Impfzentrum in Kaltenkirchen
epd-bild/Sebastian Stoll
Nur zögerlich kommen die Corona-Impfungen in Deutschland voran, es fehlt an Impfstoff. In den mehr als 400 Impfzentren in Deutschland sieht man trotzdem jede Impfung als Sieg an - wie im norddeutschen Kaltenkirchen.

Kirsten Meyer-Memitzidis kennt jeden Arbeitsschritt ganz genau: Erst werden die Fläschchen mit dem Biontech-Impfstoff aus dem Kühlschrank genommen, dann müssen sie eine halbe Stunde in Ruhe auftauen. Dann schwenkt sie jedes Fläschchen, genau zehnmal, fügt 1,8 Milliliter Natriumchlorid hinzu - und schwenkt es wieder zehnmal. Dann zieht sie die Spritzen auf, sechs Stück pro Ampulle. Es sind einfache Schritte, aber sehr verantwortungsvolle - denn wenn die 55-Jährige einen Fehler macht, ist der Impfstoff nicht mehr zu gebrauchen. "Ich mache das so sensibel wie möglich. Ich habe sogar schon davon geträumt, wie ich Impfdosen aufgezogen habe."

Kirsten Meyer-Memitzidis arbeitet als Medizinische Fachangestellte im Impfzentrum Kaltenkirchen in Schleswig-Holstein. Der Ort liegt etwas nördlich der Hamburger Stadtgrenze. In einer leerstehenden, ehemaligen Produktionshalle für Kühlaggregate hat man hier Anfang Januar eines von mehr als 400 Impfzentren in Deutschland eröffnet. Seitdem geht es hier, wie überall im Land, darum, möglichst schnell viele Menschen gegen Covid-19 zu impfen - und es geht um fehlenden Impfstoff.

Durch einen Rundkurs zur Spritze

Heute ist hier Zweitimpftag. "Jeder, der kommt, war also schon mal hier und kennt sich aus. Deswegen gehen wir davon aus, dass es recht schnell geht", sagt Tabea Ketzner, Impfzentrenkoordinatorin beim Landkreis. Es gibt ein festgeschriebenes Prozedere: Wer kommt, muss durch eine Art Rundkurs, er beginnt mit der Anmeldung und Fiebermessen am Eingang, das erledigen mehrere Bundeswehrsoldaten. Anschließend geht es in einen Warteraum, dort läuft ein Info-Film.

Wenn sie dran sind, werden die Impflinge auf fünf sogenannte Impflinien verteilt, dort heißt es wieder: warten, bis einen ein Arzt zum Vorgespräch abholt. Dafür gibt es einen eigenen Raum - die eigentliche Impfung erfolgt wieder einen Raum weiter. Am Ende werden die Geimpften in einen weiteren Warteraum geführt. Hier sollen sie 15 Minuten warten, ob sich Nebenwirkungen einstellen - wer eine Vorerkrankung hat, bleibt sogar 30 Minuten.

98 Impfungen statt 640 möglichen

Es ist genau geplant, 80 Menschen könnte man hier pro Stunde impfen, bei einer Öffnungszeit von acht Stunden also 640 am Tag. Heute aber werden es nur 98 sein, es sind deswegen auch nur zwei Impflinien geöffnet. Und statt den ganzen Tag hat man auch nur nachmittags geöffnet. Es ist dieselbe Frage wie auch sonst in ganz Deutschland, die sich die Mitarbeiter stellen und die sich dem Beobachter aufdrängt: Was nützen all die vielen, noch unausgelasteten Impfzentren, wenn es so wenig Impfstoff gibt?

Auslastung wird bald steigen

Guido Reisewitz ist optimistisch: "Ich rechne damit, dass wir das hier sehr bald hochfahren können." Reisewitz, 48 Jahre, ist koordinierender Arzt für den Kreis Segeberg. Er impft nicht selbst, sondern ist unter anderem verantwortlich für das Hygienekonzept des Zentrums, und er erstellt die Dienstpläne für die Helferinnen und Helfer. "Ich habe 130 Kollegen, die ständig nachfragen, wann sie hier endlich einen Dienst anbieten können. Die sind heiß", sagt er.

Das Impfzentrum sei in kürzester Zeit gewachsen, viele Leute aus unterschiedlichsten Richtungen seien zusammengewürfelt worden. "Ich komme sehr gerne her. Es ist Wahnsinn, wie herzlich und liebevoll alle miteinander umgehen." Und ja, er glaube, dass es bald besser werde mit der Impfstoffversorgung.

Otto Fritze muss sich diese Frage nicht mehr stellen: Ein kurzer Stich nur und der 89 Jahre alte Rentner hat auch die zweite Impfung hinter sich. Für ihn persönlich ist Corona kein Thema mehr. "Ich habe im letzten Jahr sehr viele lange Spaziergänge gemacht. Mehr war ja kaum möglich", sagt er. Jetzt kann er wieder am Leben teilnehmen.

Sebastian Stoll


Corona

Interview

Graumann: Keine Änderung der Impfreihenfolge für bestimmte Berufe




Sigrid Graumann
epd-bild/Christian Ditsch
In der Debatte über das mögliche Vorziehen von Corona-Impfungen bei Lehrern, Kita-Personal und Hausärzten hat die Bochumer Ethik-Professorin Sigrid Graumann die geltende Impfverordnung verteidigt.

Sigrid Graumann, Rektorin der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, hält die bestehende Impfreihenfolge für richtig. Jede Veränderung zugunsten bestimmter Berufsgruppen führe unausweichlich dazu, dass Mitglieder vulnerabler Gruppen länger auf die Immunisierung warten müssten: "Das ist die bittere Wahrheit." Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Lehrer, Kita-Kräfte, Hausärzte, sie alle wollen schneller geimpft werden als das bisher in der Impfverordnung vorgesehen ist. Wie ist das zu bewerten?

Sigrid Graumann: Die Kriterien, die der Priorisierung für die Covid-19-Impfungen zugrunde liegen, sind ethisch gut begründet. Dabei geht es aus individualethischer Sicht um den Schutz von Leben und Gesundheit besonders verletzlicher Personen und aus sozialethischer Sicht die möglichst rasche Entlastung des Gesundheitswesens durch die Senkung der Hospitalisierungs- und Sterberaten. Deshalb wurden für die Priorisierungsregeln in erster Linie das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf, das bedingt durch das Alter oder Vorerkrankungen erhöht sein kann, und das Infektionsrisiko, das bedingt durch die Lebenssituation oder die berufliche Tätigkeit erhöht sein kann, berücksichtigt. Wenn nun einzelne Gruppen darauf drängen in der Impfreihenfolge früher berücksichtigt zu werden, müssen zwangsläufig andere, die bislang aus guten ethischen Gründen höher priorisiert sind, länger auf die Impfung warten. Das ist ungerecht und kann Leben kosten.

epd: Aber ist das nicht auch nachvollziehbar, wenn man mögliche Gefährdungslagen betrachtet. Wenn jetzt Kitas und Schulen wieder öffnen sollen und dort eben auch Infektionen drohen?

Graumann: Der Wunsch von Lehrerinnen und Erziehern möglichst früh geimpft zu werden, ist nachvollziehbar. Das Infektionsrisiko, das sie tragen, wurde bei der Impfreihenfolge berücksichtigt. Lehrer und Erzieherinnen sind in der Impfreihenfolge wegen ihres höheren Infektionsrisikos vor anderen Berufsgruppen vorgesehen. Dabei wurde von geöffneten Schulen und Kitas ausgegangen. Aber, wie gesagt, wenn die einen früher dran sind, müssen die anderen länger warten. Das ist die bittere Wahrheit.

epd: Was wären die konkreten Folgen einer solchen Änderung?

Graumann: Stellen Sie sich eine junge Lehrerin ohne Vorerkrankung vor, die bei einer Infektion voraussichtlich einen milden Krankheitsverlauf hat. Soll sie wirklich vor einer älteren Verkäuferin geimpft werden, die ein vergleichbares Infektionsrisiko aber ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf hat?

epd: Gibt es eine Lösung für dieses Dilemma? Ist das womöglich noch mal ein Thema für den Ethikrat?

Graumann: Das Dilemma entsteht durch die Knappheit des Impfstoffs. Der Ethikrat hat sich eingebracht damit, ethische Kriterien für die Priorisierung mit Blick auf ebendiese Knappheit zu formulieren. Der richtige Umgang mit dem Dilemma ist nun, diese Kriterien konsequent anzuwenden. Das aber ist nicht die Aufgabe des Ethikrats, sondern des Gesundheitsministeriums und der Ständigen Impfkommission. Ich glaube daher nicht, dass wir das Thema im Ethikrat noch einmal aufgreifen.



Corona

Nida-Rümelin: Impfverordnung wird derzeit unterlaufen



Der Philosoph und Risikoethiker Julian Nida-Rümelin (66) fordert mit Blick auf den Ablauf der deutschen Impfkampagne eine konsequente Orientierung am Risiko einzelner Bevölkerungsgruppen. "Ich habe mich sehr dafür eingesetzt, dass in Deutschland die Impfstrategie nach dem Risiko ausgerichtet wird", sagte Nida-Rümelin dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Wahrscheinlichkeit, dass ein 80-Jähriger an Covid-19 sterbe, sei rund 1.000 Mal so hoch wie das Risiko einer 30-jährigen Krankenschwester. Die Regelung werde jetzt de facto unterlaufen, indem dann doch nicht diejenigen mit dem höchsten Risiko geimpft würden. Die Orientierung der Impfstrategie am Morbiditäts- und Mortalitäts-Risiko müsse jetzt konsequent umgesetzt werden.

Nida-Rümelin sagte, er frage sich, wie es überhaupt dazu kommen könne, dass Einzelne sich beim Impfen vordrängeln könnten. In den vergangenen Tagen berichteten verschiedene Medien über Fälle, in denen etwa Politiker vorab geimpft worden waren.

Verwunderung über "erratischen" Ablauf

"Ich wundere mich über den erratischen Ablauf der Impfkampagne", sagte der ehemalige Kulturstaatsminister der Bundesregierung. Der Bundesgesundheitsminister habe die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission und der Wissenschaftsakademie Leopoldina in der Impfverordnung mit wenigen Modifikationen übernommen. Was in der Verordnung stehe, müsse auch so umgesetzt werden.

Der Philosoph sagte mit Blick auf die Sars-CoV2-Mutationen, dass in der Berichterstattung über die Mutanten die Gefährlichkeit oft mit der Infektiosität verwechselt werde. "Wenn man in die Geschichte der Epidemien schaut, bedeuten Mutationen nicht unbedingt mehr Gefahr. Die Mutationen, die sich durchsetzen, sind zwar in der Regel infektiöser, werden aber oft mit der Zeit harmloser", sagte er.

Er sei anders als Fürsprecher von Zero-Covid der Auffassung, dass die Gesellschaft lernen müsse, mit Covid-19 zu leben. "Ziel der Bekämpfung ist nicht die Herdenimmunität, sondern die Gefährlichkeit so abzusenken, dass sie erträglich wird", betonte Nida-Rümelin. Das gehe mittels Impfungen der Risikogruppen parallel zur Immunisierung nach einer durchgemachten Erkrankung. Nur Inselstaaten hätten es bislang geschafft, Covid-Fälle auf null zu drücken. Deutschland sei aber keine Insel und sollte auch nicht versuchen, mittels massiven Grenzkontrollen eine zu werden.

Franziska Hein


Corona

Heimstiftung: Zu geringe Quoten trotz Zweitimpfung



Die Stuttgarter Heimstiftung fordert eine Strategie des Landes Baden-Württemberg, wie die Impfquoten von Pflegeheimbewohnern noch deutlich erhöht werden können. Zwar wolle Minister Manne Lucha (Grüne) das Ziel der vollständigen Zweitimpfung aller Einrichtungen im Land bis Mitte März erreicht haben. "Es ist aber ein großer Fehler zu glauben, dass damit die nötige Impfquote erreicht wird", heißt es in einer Mitteilung des diakonischen Trägers vom 15. Februar. Denn es gebe zahlreiche Bewohner und Mitarbeitende, die aus verschiedenen Gründen nicht geimpft werden. Und es gebe viele Bewohner, die neu aufgenommen werden und dann nicht geimpft sind.

Es brauche eine nachhaltige Strategie, wie die Mobilen Impfteams (MIT) alle Einrichtungen mit vulnerablen Personen so oft und so lange anfahren, bis die Hausärzte die Nachimpfungen übernehmen können, so die Heimstiftung. "Es reicht nicht, wenn sie nur einmalig zur Erst- und Zweitimpfung kommen", betonte Hauptgeschäftsführer Bernhard Schneider. Derzeit seien es erst 13 Prozent, die die Zweitimpfung erhalten hätten. Die derzeitige Impfstrategie sei so löchtig wie ein schweizer Käse.

Erst 22 Prozent der Bewohner abschließend geimpft

Bei der Evangelischen Heimstiftung als größtem Träger in Baden-Württemberg haben den Angaben nach Mitte Februar 22 Prozent der Bewohner die Zweitimpfung erhalten und 57 Prozent die erste Spritze. Bei den Mitarbeitenden sind die Zahlen geringer: 32 Prozent haben die erste und nur zwölf Prozent die zweite Spritze.

Es sei völlig unrealistisch, die Heime mit der bisherigen Impfstrategie irgendwann "durchgeimpft" zu haben und sie damit sicher wären. Oftmals könnten Bewohner aufgrund einer früheren Infektion nicht geimpft werden. In nicht wenigen Fällen ist trotz Voranmeldung der Impfstoff so knapp, dass impfwillige Mitarbeitende oder Bewohner im Betreuten Wohnen oder in der Tagespflege nicht geimpft werden. Und in vielen Heimen gibt es laut Heimstiftung aktuell Leerstände, die möglichst zeitnah mit pflegebedürftigen Menschen nachbelegt werden, die nicht geimpft sind.

90-Prozent-Quote eher die Ausnahme

Es sei ein Fehler zu glauben, dass nach der Zweitimpfung ein Impfschutz mit einer Impfquote von 90 Prozent erreicht sei. "Das dürfte eher die Ausnahme sein", so Schneider.

Die Lücke könne erst geschlossen werden, wenn der richtige Impfstoff in genügender Menge zur Verfügung steht und auch die Hausärzte die Nachimpfungen erledigen. Es brauche eine proaktive Impfstrategie, in der MIT auch zum dritten, vierten und fünften Termin in die Heime kommen, sofern Bedarf bestehe.



Corona

Britische Virus-Mutation verbreitet sich schnell




Jens Spahn
epd-bild/Christian Ditsch
Wie eine Hydra mit nachwachsenden Köpfen: Das Coronavirus hat Varianten entwickelt, in Deutschland ist die britische auf dem Vormarsch. Die EU spricht von einem möglichen "Paradigmenwechsel". Experten warnen unterdessen vor zu großen Hoffnungen auf die versprochenen flächendeckenden Schnelltests.

Die britische Mutation des Coronavirus verbreitet sich auch in Deutschland schnell. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte am 17. Februar in Berlin, inzwischen seien 22 Prozent der Neuansteckungen Infektionen mit der britischen Virus-Variante. Vor zwei Wochen seien es noch sechs Prozent gewesen. Unterdessen stellte die EU-Kommission neue Maßnahmen gegen Virus-Varianten vor.

Spahn zufolge verdoppelt sich ungefähr jede Woche der Anteil der Mutation an der Gesamtzahl der Ansteckungen. Die britische Variante könnte auch in Deutschland bald die dominierende werden, sagte er. Die südafrikanische Variante des Coronavirus ist demnach zufolge für 1,5 Prozent der Infektionen verantwortlich. Mit Blick auf die Verbreitung der Varianten warnte der Gesundheitsminister: "Wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir den Lockdown verlassen." Die Erfolge dürften nicht verspielt werden. Obwohl sich die Varianten weiter verbreiteten, steckten sich insgesamt weniger Menschen an.

Brüssel schiebt neue Gegenmaßnahmen an

In Brüssel hat die EU-Kommission zusätzliche Maßnahmen gegen neue Varianten vorgeschlagen und dabei auch Notfallzulassungen für Impfstoffe ins Gespräch gebracht. Neue Varianten entstünden schnell, warnte Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Die Verbreitung der zunächst in Großbritannien, Südafrika und Brasilien identifizierten Varianten könne einen "Paradigmenwechsel" im Kampf gegen Corona darstellen, hieß es in einer Kommissionsmitteilung. Denn die Varianten seien stärker ansteckend "und in einigen Fällen wurden sie mit einer potenziell erhöhten Schwere der Erkrankung in Verbindung gebracht".

Daher will die Kommission zum Beispiel die Entwicklung spezieller Tests für Varianten und die Genomsequenzierung mit mindestens 75 Millionen Euro bezuschussen. Zudem rief sie ein 21 Länder umfassendes Netzwerk für klinische Tests ins Leben. Das Netzwerk soll die Zusammenarbeit und den Datenaustausch für Tests von Corona-Impfstoffen und Corona-Medikamenten erleichtern. Ein weiterer Schwerpunkt sei die Erforschung von Impfungen für Kinder und junge Leute.

Impfstoffzulassung soll beschleunigt erfolgen

Mit Blick auf die Zulassung von Impfstoffen richtet die Kommission den Blick auf das Prozedere für Grippe-Impfstoffe. Die neuen Varianten der Influenza machen regelmäßig neue Impfstoffe nötig, deren Zulassung schneller geht als bei völlig neuen Präparaten. Auch für an neue Varianten angepasste Corona-Impfstoffe soll es der Behörde zufolge eine "beschleunigte Zulassung" geben.

Darüber hinaus bringt die Kommission eine "neue Kategorie der Notfallzulassung von Impfstoffen auf EU-Ebene mit geteilter Haftung unter den Mitgliedsstaaten" ins Gespräch. Bisher gab es in der EU keine Notfallzulassungen für Corona-Impfstoffe. Stattdessen wurde auf reguläre sogenannte bedingte Marktzulassungen gesetzt. Ein weiterer Punkt der vorgestellten und vorgeschlagenen Maßnahmen sind bessere Vorbereitungen für die Impfstoffproduktion.

Probleme bei Schnelltests erwartet

Derweil warnen Kommunen und Mediziner warnen vor falschen Erwartungen der Bevölkerung an kostenlose Corona-Schnelltests, die Spahn angekündigt hat. Die Menschen sollten nicht glauben, "ab 1. März stünden überall für alle die Schnelltests in großer Zahl zur Verfügung", sagte der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, am 18. Februar den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Aus dem Impfstart haben wir gelernt, dass Organisation und Beschaffung sowie Verteilung für viele Millionen Menschen gleichzeitig eine Mammutaufgabe darstellt."

Landsberg forderte ein stufenweises Vorgehen. "Wenn die Tests noch nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind, ist es sinnvoll, sich zunächst auf Kitas und Schulen zu konzentrieren", sagte er. "Auch der Einsatz von mobilen Teams, die die Schnelltests in Schulen und Kitas kurzfristig umsetzen, kann ein richtiger Ansatz sein." Landsberg mahnte zugleich eine schnelle Zulassung der Eigentests an.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte zuvor angekündigt, dass sich ab Anfang März alle Bürgerinnen und Bürger in Testzentren oder Apotheken von geschultem Personal mit kostenlosen Schnelltests auf das Corona-Virus testen lassen können.

Weitere Strategie fehlt

Auch bei den Medizinern im öffentlichen Gesundheitsdienst stößt die Einführung flächendeckender Schnelltests auf Vorbehalte. "Es bringt bei der Pandemie-Bekämpfung nichts, einfach nur viele kostenlose Tests anzubieten", sagte die Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, Ute Teichert. Sie verlangte "eine Strategie und klare Regeln".

Für Patientenschützer Eugen Brysch kommt es jetzt darauf an, dass diese Angebote millionenfach täglich im gesamten Bundesgebiet zur Verfügung stehen. "Überfällig ist eine Zertifizierung durch unabhängige Referenzlabore", sagte der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz dem epd. Der Bundesgesundheitsminister müsse dafür sorgen, dass nur geprüfte Schnelltests aus Steuermitteln bezahlt werden.

Bettina Markmeyer, Phillipp Saure, Markus Jantzer


Corona

Homeoffice-Pflicht: Behörden setzen auf Gespräche statt Bußgelder




Mutter mit Kind am Computer im Homeoffice
epd-bild/Tim Wegner
Seit drei Wochen müssen Arbeitgeber ihren Beschäftigten das Arbeiten von zu Hause aus ermöglichen. Bei Kontrollen zur SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung setzen die Bundesländer auf Dialog mit den Firmen.

Die Arbeitsschutzbehörden sind zunehmend damit befasst, möglichen Verstößen gegen die Verpflichtung der Arbeitgeber zu Homeoffice-Angeboten nachzugehen. Zunächst wird meist das Gespräch gesucht, ohne dass ein Bußgeld fällig wird, wie Anfragen des Evangelischen Pressedienstes (epd) in den Bundesländern ergaben. Rund ein Viertel der Erwerbstätigen arbeitet laut einer Umfrage der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung im aktuellen Corona-Lockdown zu Hause.

Demnach gaben 24 Prozent an, Ende Januar vorwiegend oder ausschließlich im Homeoffice gearbeitet zu haben. Nachdem Appelle der Politik zu Beginn der zweiten Pandemiewelle im Herbst nicht bei allen Arbeitgebern gefruchtet hatten, wurden diese am 27. Januar mit der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung dazu verpflichtet, das Arbeiten von zu Hause aus anzubieten, wenn dem keine zwingenden betrieblichen Gründe entgegenstehen.

Keine Bußgelder verhängt

In Thüringen gab es seitdem 90 Kontrollen in Betrieben. Dabei seien neun Verstöße aufgedeckt worden, bei denen keine Arbeit von zu Hause ermöglicht wurde, obwohl die Tätigkeiten dies zugelassen hätten, sagte am 16. Ferbruar eine Sprecherin des Sozialministeriums. In keinem dieser Fälle seien Maßnahmen angeordnet worden, aus denen sich bisher ein Bußgeldtatbestand ergeben könnte. Die Behörde habe die festgestellten Mängel beim Arbeitgeber schriftlich und unter Fristsetzung beanstandet. Zusätzlich seien die Firmen in einem Beratungsgespräch auf die Vorschriften hingewiesen worden.

Beim Berliner Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit gingen binnen drei Wochen etwa 75 Beschwerden ein. Das rheinland-pfälzische Sozialministerium teilte mit, es gebe zu der Verordnung vereinzelte Anfragen und Beschwerden. Vonseiten der Arbeitnehmer werde zumeist bemängelt, dass die Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz unzureichend seien oder dass der eigene Arbeitsplatz Homeoffice-tauglich sei, der Arbeitgeber dies aber anders sähe. Bei Konflikten suchten die Behörden das Gespräch mit allen Beteiligten. "Die Arbeitsschutzaufsicht zeichnet sich durch einen dialogorientierten Vollzug aus", sagte ein Ministeriumssprecher.

Noch keine konkreten Aussagen in Hessen

Hessen will bis zum 15. März 1.000 Betriebe daraufhin überprüfen, ob zwingende betriebliche Gründe, die dem Homeoffice entgegenstehen, vom Arbeitgeber nachvollziehbar dargestellt werden. Zum Stand der Überprüfungen seien drei Wochen nach Inkrafttreten der Verordnung noch keine Aussagen möglich, hieß es aus dem Sozialministerium in Wiesbaden. In Nordrhein-Westfalen sind laut Arbeitsministerium in den ersten beiden Tagen nach Inkrafttreten der Arbeitsschutzverordnung Ende Januar rund 70 Beschwerden eingegangen, in den acht Tagen davor etwa 100 Anfragen.

Laut Hans-Böckler-Stiftung betrug der Homeoffice-Anteil während der ersten Corona-Welle im April vergangenen Jahres 27 Prozent gegenüber 24 Prozent aktuell. Am Ende des vergangenen Jahres sah es hingegen anders aus: Lediglich 14 Prozent waren im November laut Erhebung im Homeoffice und 17 Prozent im Dezember. Die wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Stiftung, Bettina Kohlrausch, sagte im Rückblick auf diese "irritierend niedrige Quote", dass erst der öffentliche Druck und schließlich die Verordnung zum Homeoffice zu mehr mobiler Arbeit geführt hätten.

Maßnahmen der Regierung wirken

Rund ein Drittel der Befragten, die aktuell zu Hause arbeiten, gab in der Umfrage an, dass die Beschlüsse der Bundesregierung ein Grund für ihren Wechsel ins Homeoffice gewesen seien. Häufig, weil ihr Arbeitgeber dann erst Heimarbeit ermöglicht habe, zum Teil jedoch wohl auch, weil sie selbst nun konsequenter zu Hause arbeiten.

Bei der sogenannten Erwerbspersonenbefragung wurden den Angaben zufolge Ende Januar mehr als 6.200 Erwerbstätige und Arbeitsuchende online befragt. Zuvor gab es diese Interviews bereits im April, im Juni und im November 2020. Die Befragten bildeten die Erwerbstätigen in Deutschland im Hinblick auf die Merkmale Geschlecht, Alter, Bildung und Bundesland repräsentativ ab.

Mey Dudin


Sterbehilfe

Theologieprofessoren kritisieren Gesetzentwürfe zur Suizidassistenz



Ein Jahr ist es her, dass das Bundesverfassungsgericht das Verbot geschäftsmäßiger Hilfe bei der Selbsttötung gekippt hat. Die bisherigen Reaktionen der Politik halten die evangelischen Theologen Anselm und Dabrock für unzureichend.

Die evangelischen Theologieprofessoren Reiner Anselm und Peter Dabrock werfen der Politik in der Debatte um Sterbehilfe Einfallslosigkeit vor. "Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber eindeutig vorgegeben, auch Schutzkonzepte aufzunehmen. Davon findet sich in den bisher vorliegenden Gesetzentwürfen kein Wort", sagte der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Dabrock, in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Anselm empfindet "die bisherigen Vorschläge zur Ausgestaltung des assistierten Suizids als höchst irritierend".

In dem Doppelinterview führte Anselm aus, der gesamte Bereich eines Konzepts für den Schutz des Lebens im Sinn einer umfassenden Suizidprophylaxe fehle bisher in den politischen Vorschlägen. Ebenso vermisst der Münchner Theologe "Bemühungen um Regeln, mit deren Hilfe bestimmt werden könnte, wann eine Entscheidung eben nicht freiverantwortlich ist".

Vor rund einem Jahr, am 26. Februar 2020, hatte das Bundesverfassungsgericht das Verbot geschäftsmäßiger Hilfe bei der Selbsttötung aus dem Jahr 2015 gekippt. Nach Ansicht der Richter umfasst das Recht auf selbstbestimmtes Sterben die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, und erlaubt dabei auch die Hilfe Dritter. Damit scheiterte der Versuch der Politik, die Arbeit von Sterbehilfeorganisationen zu unterbinden.

Bundestag debattiert Neuregelung

Im Bundestag wird nun über eine mögliche Neuregelung debattiert. Zwei Gruppen von Abgeordneten legten kürzlich Entwürfe vor, die beide im Kern eine Beratung vorsehen sowie eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes, um Ärzten zu erlauben, tödlich wirkende Medikamente zu verschreiben.

Anselm und Dabrock gehen die Vorschläge nicht weit genug. Sie verlangen ein stärkeres Augenmerk auf Suizidprophylaxe und Sterbebegleitung. In der innerevangelischen Debatte darüber, inwieweit in kirchlichen Einrichtungen ein assistierter Suizid möglich sein sollte, setzen die Professoren unterschiedliche Akzente. Als Mitautor eines Zeitungsbeitrages vom Januar, an dem neben anderen auch Diakoniepräsident Ulrich Lilie mitgeschrieben hat, gilt Anselm als Vertreter einer Position, wonach Sterbewilligen auch in diakonischen Einrichtungen der Wunsch nach Suizidbeihilfe nicht verwehrt werden darf und dafür Regeln aufgestellt werden sollten. Dabrock ist skeptisch und warnt davor, die Tür zu einem Regelangebot aufzustoßen.

Fachkräfte und Mediziner einbeziehen

Anselm warb im epd-Gespräch dafür, Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte sowie andere Betreuende stärker in die Debatte einzubeziehen. "Im Augenblick läuft die notwendige Diskussion in erster Linie auf einer Funktionärsebene ab", sagte er. Wichtig sei, dass es keine Vorverurteilungen gibt, dass keine neuen Tabuisierungen aufgebaut werden. "Mit Sorge beobachte ich deshalb Tendenzen in der katholischen Kirche zu einer neuen Tabuisierung und Stigmatisierung, das ist definitiv der falsche Weg", sagte er.

Dabrock sagte: "Wir müssen insgesamt die vierte Lebensphase des Menschen stärker und systematisch in den Blick nehmen." Die Wahrnehmung werde bestimmt von dem Bild der aktiven Alten, die mit dem Wohnmobil durch Europa fahren. "Zu wenig beachtet wird jedoch die letzte, finale Wegstrecke, es mangelt uns an Hoffnungsbildern für diese vierte Phase", sagte der Ethiker.

Roland Gertz, Achim Schmid


Missbrauch

Rörig: "Bekämpfung sexueller Gewalt braucht politische Rückendeckung"




Johannes-Wilhelm Rörig
epd-bild/Heike Lyding
Der Missbrauchbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, gibt am Ende der Legislaturperiode sein Amt vorzeitig auf. Für manche Beobachter kam der Schritt überraschend. Die unabhängige Aufarbeitung komme nach Jahren beharrlicher Arbeit voran, sagt Rörig im Interview mit dem epd. Dennoch bleibe viel zu tun, auch von den Kirchen. Von ihnen fordert er einen "Ruck".

Nach rund zehn Jahren im Amt will sich der unabhängige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, von der Aufgabe zurückziehen. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) spricht er über die Beweggründe, das bisher Erreichte und darüber, was im Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu tun bleibt. Die Fragen stellten Corinna Buschow und Bettina Markmeyer.

epd sozial: Herr Rörig, beim Thema Missbrauch ist die katholische Kirche erneut in den Schlagzeilen. Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hält ein Gutachten über den Umgang der Bistumsverantwortlichen mit Missbrauchsfällen zurück. Wie bewerten Sie das?

Johannes-Wilhelm Rörig: Ich hoffe sehr, dass die Stolpersteine, die momentan im Erzbistum Köln auf dem Weg hin zu einer unabhängigen Aufarbeitung liegen, jetzt schnell beiseite geräumt werden. Der Prozess zur Einrichtung unabhängiger Aufarbeitungskommissionen, der in vielen Diözesen - und auch in Köln - bereits gestartet ist, darf nicht weiter beeinträchtigt werden. Das Erzbistum sollte zügig Transparenz sicherstellen, wie es die "Gemeinsame Erklärung" vorsieht, die Bischof Ackermann und ich im vergangenen Jahr unterzeichnet haben. Wichtig ist, dass die Gutachten, um die sich der Streit in Köln dreht, der künftigen Kommission für ihre wichtige Arbeit uneingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.

epd: Glauben Sie persönlich, dass Bischof Woelki zu dieser Aufarbeitung bereit ist?

Rörig: Das kann ich nicht einschätzen. Ich hatte noch nie ein persönliches Gespräch mit ihm, auch nicht, als ich 2018 in Fulda an der Vollversammlung der Bischofskonferenz teilgenommen und mit einigen Bischöfen selbst gesprochen habe. Was ich zu Köln sagen kann: Dort fühlen sich die Betroffenen instrumentalisiert. Für eine transparente Aufarbeitung ist das nicht förderlich. Umso mehr wünsche ich den Betroffenen und allen, die sich für die Aufarbeitung engagieren, bald eine Lösung mit verbindlichen Zusagen und verlässlicher Umsetzung.

epd: Sie haben auf die Erklärung über Kriterien für eine unabhängige Aufarbeitung verwiesen. Wie passen diese Zusagen der Kirche und die Ereignisse in Köln zusammen?

Rörig: Man muss die komplexen Prozesse auseinanderhalten: Das eine sind Aufarbeitungsvorhaben, die die Bistümer bereits vor Unterzeichnung dieser "Gemeinsamen Erklärung" angestoßen haben. Dazu gehört auch das Kölner Gutachten. Das andere ist die Frage, wie die Bistümer ihre Selbstverpflichtung umsetzen, unabhängige Aufarbeitungskommissionen einzusetzen. In diesem Punkt fühle ich mich mit den Ansprechpartnern in Köln auf gutem Weg.

epd: Das heißt, elf Jahre nach Aufdeckung der Missbrauchsskandale bewegt sich immerhin etwas?

Rörig: Es bewegt sich einiges in Richtung unabhängiger Aufarbeitung. Gleichzeitig kann ich Betroffene verstehen, die sagen, es geht viel zu langsam und nicht konsequent genug. Ich empfehle wirklich allen katholischen und evangelischen Kirchenleuten, sich einen starken Ruck für die Aufarbeitung zu geben.

epd: Mit der evangelischen Kirche (EKD) gibt es noch keine Vereinbarung über Kriterien zur Aufarbeitung. Gibt es Fortschritte?

Rörig: Im Sommer haben wir mit dem Beauftragtenrat der EKD aufgetretene Missverständnisse ausgeräumt. Ende dieses Monats gibt es ein weiteres Treffen. Ich hoffe, dass wir die Erklärung dann gemeinsam abschließen können.

epd: Die evangelische Kirche verweist darauf, dass die Landeskirchen bereits Kommissionen haben und eine Studie zu Risikofaktoren angestoßen wurde. Ist das nicht schon etwas?

Rörig: Die Kommissionen der Landeskirchen befassen sich vor allem mit den Anerkennungszahlungen. Unabhängige Aufarbeitungskommissionen, wie wir sie vorsehen, müssen aber den Fragen nachgehen, wo vertuscht wurde, wer Verantwortung hatte, wo Missbrauch nicht unterbunden und wie mit Betroffenen umgegangen wurde. Das ist etwas anderes als das Forschungsvorhaben im Auftrag der EKD, das unter anderem nach den begünstigenden Faktoren für Missbrauch in evangelischen Kontexten fragt.

epd: Sie agieren als Missbrauchsbeauftragter immer diplomatisch. Man könnte verstehen, wenn Ihnen auch einmal der Kragen platzt. Wie schaffen Sie es, so geduldig zu bleiben?

Rörig: Ich nehme eine Mittlerrolle ein als Unabhängiger Beauftragter. Mich treibt der Wunsch an, Leid zu verhindern und Leid zu lindern und ich will, dass diejenigen, die Leid verhindern und lindern können, kontinuierlich das maximal Mögliche tun. Oft schöpfe ich dabei aus meiner früheren Tätigkeit als Arbeitsrichter. Auch wenn der Vergleich inhaltlich hinkt: Systematisch ist es ähnlich, was den Ausgleich zwischen Schwächeren und Stärkeren betrifft.

epd: Warum haben Sie sich entschlossen, Ihr Amt vorzeitig aufzugeben?

Rörig: Ich hatte bereits 2019 überlegt, ob ich in eine dritte Amtszeit gehen soll. Damals gab es aber noch zu viele offene Baustellen, wie die Berufung des Betroffenenrates und die noch ungeklärten Strukturen einer unabhängigen Aufarbeitung in den Kirchen.

epd: Sie fordern, das Amt des Missbrauchsbeauftragten gesetzlich zu verankern. Was bedeutet das?

Rörig: Das Amt braucht eine Aufwertung und ein stärkeres Fundament, gesetzlich zugewiesene Aufgaben und eine durch ein Gesetz gesicherte Unabhängigkeit. Zudem sollte das Parlament vorsehen, dass die oder der Missbrauchsbeauftragte dem Bundestag und der Bundesregierung regelmäßig berichten muss und dass eine dauerhafte, fachliche Kooperation mit den Ländern stattfindet.

epd: Wo sehen Sie nach zehn Jahren Arbeit Ihre Erfolge?

Rörig: Wir haben es mit einem kleinen, aber starken Team geschafft, dass das Thema Missbrauch von der Bundespolitik nicht mehr leicht beiseitegeschoben werden kann. Das war nicht einfach. Die Politik will mit dem Thema möglichst wenig zu tun haben. Sie reagiert zwar auf Skandale wie in Staufen oder Lügde - ein breites, dauerhaftes Engagement gegen Missbrauch ist aber alles andere als selbstverständlich. Wichtig ist mir, dass in den letzten neun Jahren der schwierige Spagat zwischen Betroffenen-Interessen und der Handlungsbereitschaft von Politik und etwa den Kirchen zu Fortschritten geführt hat.

epd: Worin sehen Sie die größte Aufgabe für Ihre Nachfolgerin oder ihren Nachfolger?

Rörig: Meine Nachfolge muss ihre Agenda selbst setzen. Ich drücke die Daumen für eine gesetzliche Grundlage und dass es möglichst viele Landesmissbrauchsbeauftragte gibt. Die Länder haben mit ihren Zuständigkeiten für Polizei, Justiz, Jugend, Bildung und Gesundheit im Kampf gegen Missbrauch den goldenen Schlüssel in der Hand.

epd: Sie haben als Beauftragter mehrfach die Probleme mit den Ländern angesprochen. Es gibt kaum Missbrauchsbeauftragte, bei den Schulgesetzen wünschen Sie sich mehr Tempo, in den Hilfsfonds zahlen nur drei Länder ein. Warum können es sich so viele Bundesländer leisten, Missbrauchsopfern die kalte Schulter zu zeigen?

Rörig: Es irritiert mich immer wieder, dass oft nur dann reagiert wird, wenn es Skandalfälle gibt. Die Politik macht sich den Kampf gegen sexuellen Missbrauch als vorrangiges Thema bis heute nicht zu eigen. Die Bekämpfung sexueller Gewalt braucht aber volle politische Rückendeckung. Die Parteien sind programmatisch sehr unterschiedlich aufgestellt: Die Grünen in Baden-Württemberg etwa und Rheinland-Pfalz sind recht weit. Leider sehe ich in aktuellen Entwürfen von Wahlprogrammen zu Landtagswahlen viel zu wenig zum Thema. Wirklich überrascht bin ich, dass im Entwurf der Berliner SPD bisher gar nichts zum Kampf gegen sexuellen Missbrauch steht. Ich hatte gerade hier, wo Franziska Giffey SPD-Spitzenkandidatin ist, eine hohe Erwartung. Aber es kann ja noch nachgebessert werden und ich unterstütze gerne.

epd: Ihre Sorge war groß, dass Kinder während der Corona-Pandemie vermehrt Opfer von sexueller Gewalt werden. Haben Sie inzwischen konkrete Hinweise?

Rörig: Vieles deutet darauf hin. Die Zahlen von Europol zum Beispiel zeigen, dass das sogenannte Cybergrooming, also das Anbahnen von sexuellen Kontakten zu Minderjährigen, zunimmt. Kinder, die Missbrauch in der Familie oder online erleben, haben im Lockdown kaum Möglichkeiten des Austauschs, zum Beispiel mit Lehrkräften oder Freunden. Kitas und Schulen sind die zentralen Orte, an denen das Leid der Kinder gesehen werden kann. Experten sagen mir, dass wir nach dem Lockdown einen riesigen Bedarf an Beratung, Unterstützung und Therapien haben werden. Es wird eine Welle von traumatisierten Kindern und Jugendlichen erwartet. Darauf müssen wir vorbereitet sein.



Arbeit

Forscher empfehlen dauerhafte Erleichterungen für Hartz-IV-Bezieher



Die in der Corona-Krise gewährten Erleichterungen für Hartz-IV-Bezieher könnten einer Studie zufolge auch nach der Pandemie sinnvoll bleiben. Zu diesem Ergebnis kommt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin in einer am 12. Februar vorgestellten Untersuchung, in der die Wirkungen der befristeten Sonderregeln untersucht wurden. Die neuen Regelungen gelten zunächst bis zum Jahresende. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat jedoch einen Gesetzesvorschlag gemacht, mit dem der Zugang zu den staatlichen Leistungen dauerhaft erleichtert werden soll.

Um in der Corona-Krise schnelle Hilfen für Langzeitarbeitslose zu ermöglichen und gleichzeitig die Jobcenter zu entlasten, wurden die Angemessenheitsprüfung zu den Unterkunftskosten und die Vermögensprüfung abgeschafft sowie auf Sanktionen bei Verstößen gegen Hartz-IV-Auflagen verzichtet. Die DIW-Studie zeigt, dass die Akzeptanz der Wohnkosten "in tatsächlicher Höhe" dem Staat nur geringe Mehraufwendungen verursachen würde - "bei gleichzeitig großem Nutzen", wie es in der Studie heißt.

Höheres Schonvermögen ebenfalls sinnvoll

Auch eine Erhöhung des Schonvermögens für Hartz-IV-Bezieher hätte insgesamt positive Folgen. Nach Ansicht der Forscher könnte dies dazu führen, dass die Zahl der Menschen, die trotz berechtigtem Anspruch auf die staatliche Leistung verzichten, sinkt. Denn: "Viele fürchten vor allem die Offenlegung ihrer Finanzen und scheuen sich daher, Hartz IV zu beantragen, obwohl es ihnen zustünde."

Für eine gänzliche Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen würde hingegen die Akzeptanz, auch der betroffenen Leistungsempfänger, fehlen. Dies zeigten Befragungen. In der Corona-Krise wurde die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2019, Sanktionen für Hartz-IV-Bezieher deutlich abzumildern, umgesetzt.



Altersvorsorge

FDP stellt Modell einer "Aktienrente" nach schwedischen Vorbild vor



Die FDP will einen Teil der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung in Einzahlungen in einen unabhängigen und öffentlich kontrollierten Aktienfonds umwandeln. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Christian Dürr sagte am 16. Februar in Berlin bei der Vorstellung des FDP-Modells einer "Aktienrente", diese könne, kombiniert mit einer starken Fachkräfte-Einwanderung nach Deutschland, langfristig für stabile Rentenbeiträge, ein nicht weiter sinkendes Rentenniveau und die Einhaltung der Schuldenbremse sorgen.

Die Politik müsse eine Antwort geben auf die Probleme einer alternden Gesellschaft, sagte Dürr. Es dürfe nicht zu einem Dauerkonflikt kommen zwischen den Jüngeren, die für die Renten aufkommen müssen und den Älteren, die stabile Renten erwarten, erklärte Dürr: "Ich halte das für eine der größten Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt."

Teil der Beiträge fließt in Aktien

Die FDP orientiert sich mit ihrem Vorschlag am schwedischen Modell, wonach ein Teil des Rentenbeitrags von in Deutschland derzeit 18,6 Prozent des Bruttoeinkommens - die FDP schlägt zwei Prozent vor - in den Aktienfonds eingezahlt werden muss. Um Arbeitnehmer kurz vor dem Renteneintritt vor Kursverlusten zu schützen, die auf ihre Aktienrente durchschlagen würden, soll es wie in Schweden einen Mechanismus zur Umschichtung der risikoärmere Anlagen geben, wenn die Rente näher rückt.

Dürr und der arbeitsmarkt- und rentenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Johannes Vogel, die das Konzept gemeinsam vorstellten, beriefen sich für die langfristig stabilisierenden Effekte einer verpflichtenden Aktienrente auf Berechnungen des Bochumer Finanzwissenschaftlers Martin Werding. Danach würden sich die öffentlichen Schulden trotz eines zeitweilig höheren Bundeszuschusses zur Rentenversicherung in den kommenden 20 Jahren verringern und das Renteniveau von 2030 an stabilisieren.




sozial-Branche

Corona

Pflegeeinrichtungen beklagen Lücken im verlängerten Schutzschirm




Pflegerin schiebt Heimbewohner im Rollstuhl zurück ins Zimmer
epd-bild/Jürgen Blume
Pflegeheime sollen künftig nicht mehr alle finanziellen Einbußen durch Corona ersetzt bekommen. Das sieht ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor. Die Verbände fordern Korrekturen, andernfalls sei bei der anhaltenden Pandemie die Existenz vieler Heime bedroht.

Pflege- und Sozialverbände warnen davor, mit einer Gesetzesreform die wirtschaftliche Lage der Pflegeeinrichtungen in Zeiten von Corona zu gefährden. Die Bundespflegekammer wies am 12. Februar darauf hin, der von der Koalition vorgelegte Gesetzentwurf zur "Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite" bedrohe die Existenz vieler Träger. Die Kammer sprach sich zum Tag der ersten Lesung im Bundestag dafür aus, die enthaltenen Einschränkungen bei der Verlängerung des Schutzschirmes zurückzunehmen.

Nach den bisherigen Regelungen aus dem März 2020 sowie durch das Infektionsschutzgesetz aus dem November 2020 wären diese am 31. März ausgelaufen. Nun sollen die Regelungen jeweils für drei Monate durch den Bundestag verlängert werden. Demnach sollen nicht mehr alle Corona-bedingten Mindereinnahmen ausgeglichen werden, sondern Geld gibt es nur noch dann, wenn diese direkt aus einer behördlichen Auflage oder einer Landesregelung resultiert. Doch Anordungen der Behörden, so vermuten die Fachleute, werden wegen des zurückgehenden Infektionsgeschehens sinken - aber die stark eingeschränkte Auslastung werde auf Wochen oder Monate bleiben.

Hilfe dringend weiter nötig

Der Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW), Ulrich Lilie, sagte am 11. Februar, die Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege seien dringend auf die weitere Unterstützung der staatlichen Rettungsschirme angewiesen. Durch die jetzt geplanten Neuregelungen würde die Finanzierung vieler Pflegeheime gefährdet, weil Mindereinnahmen nur noch aufgrund von behördlichen Anordnungen oder landesrechtlichen Verordnungen geltend gemacht werden könnten. "Damit stellt der Gesetzentwurf in der jetzigen Form die Existenz der am härtesten durch Corona- Ausbrüche getroffenen Pflegeheime infrage."

Außerdem reiche eine Verlängerung der Sonderregelungen im um drei Monate über den 31. März hinaus bei weitem nicht aus. Lilie: "Der Schutzschirm für die Pflege muss die Finanzierung der Einrichtungen mindestens bis zum Jahresende gewährleisten."

Fristen sollten bis Dezember verlängert werden

Gleiches gelte für das Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG). "Denn bisher ist in keiner Weise absehbar, wie sich die Pandemie im Laufe des Jahres entwickelt und ob wir im Herbst 2021 wieder in die frühere Normalität zurückkommen", kritisierte der Verbandschef. Als Auffanghilfe für die sozialen Dienstleister habe sich das Gesetz bewährt. "Es wäre fatal, dieses wichtige Instrument jetzt zu früh aus der Hand zu legen. Eine Verlängerung bis zum Jahresende ist auch hier die einzige vernünftige Lösung." Der Bundestag müsse die Fristen in den Gesetzentwürfen "dringend an die Realität anzupassen, um schwere Schäden von der sozialen Infrastruktur abzuwenden."

Auch der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) forderte Nachbesserungen am Gesetz. "Bisher konnten die Pflegeeinrichtungen sich voll und ganz auf Pflege, Betreuung und Infektionsschutz unter erschwerten Bedingungen konzentrieren, ohne auch noch Angst vor der wirtschaftlichen Katastrophe haben zu müssen", so Präsident Bernd Meurer. Der von der Bundesregierung beschlossene Gesetzentwurf zur "Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen" siehe jedoch deutliche Änderungen vor. "Statt die dringend notwendige Sicherung der unverzichtbaren pflegerischen Infrastruktur soll sie ab dem 1. April hohen und nicht refinanzierbaren Risiken ausgesetzt werden." Es drohe die Gefahr, dass dann keine Unterstützung aus dem Rettungsschirm Pflege mehr in Anspruch genommen werden könne.

Leerstände von bis zu 30 Prozent

Meurer verwies auf Pandemie-bedingte Leerstände in den Einrichtungen von bis zu 30 Prozent. Selbst die jüngsten Berichte über Infektionen auch bei erfolgter Impfung hätten nicht dazu geführt, dass der Rettungsschirm Pflege unverändert über den März hinaus verlängert werden soll.

"Viele Pflegeeinrichtungen müssen schon jetzt deutliche Verluste unverschuldet in Kauf nehmen, weil diese im Rettungsschirm nicht berücksichtigt wurden. Für Ausfälle bei den Investitionskosten gab es nie einen Ersatz", so Meurer weiter. Wenn jetzt die Unterstützung nur noch für Folgen behördlicher Anordnungen gewährt werden soll, werde dringend benötigte pflegerische Infrastruktur in ihrer Existenz bedroht. Ausgerechnet Pflegeeinrichtungen dürfen nicht wirtschaftlich den Folgen der Pandemie zum Opfer fallen.

"Regelungen streichen"

Patricia Drube, Präsidiumsmitglied der Bundespflegekammer sowie Präsidentin der Pflegeberufekammer Schleswig-Holstein: "Wir fordern, diese Regelung zu streichen und weisen darauf hin, dass auch weiterhin Mindereinnahmen entstehen, wenn beispielsweise eine (Teil)Schließung von Einrichtungen oder Teilen von Einrichtungen vom Gesundheitsamt aufgehoben werden". Denn die Belegung könne allenfalls schrittweise wieder normalisiert werden. Auch Mindereinnahmen, die darauf zurückzuführen seien, dass Personalausfälle - Corona-bedingt oder wegen der seit einem Jahr dauerhaft hohen Belastungssituation - gesteuert werden müssen, führten zu Mindereinnahmen. Das müsse weiter vom Fiskus ausgeglichen werden Nach anfänglichem Applaus drohe nun den Pflegeeinrichtungen der wirtschaftliche Ruin.

Der Deutsche Evangelische Verband für Altenarbeit und Pflege (DEVAP) ging ebenfalls auf Distanz zu den Plänen. "Bisher fühlten sich unsere Einrichtungen durch den bestehenden Schutzschirm für die Pflege weitestgehend gut unterstützt", sagte Vorsitzender Wilfried Wesemann: "Nun fürchten unsere Einrichtungen, sollten die geplanten Regelungen so umgesetzt werden, um ihre Existenz."

Es scheine, als hätte die Bundesregierung genau da, wo der Schutz am dringendsten gewährleistet sein muss, vergessen, dass die Pandemie noch nicht vorbei sei, kritisierte Wesemann. "Während der Lockdown immer weiter verlängert wird, sollen die Pflegeeinrichtungen, um finanziell bestehen zu können, zum Normalbetrieb zurückkehren. Das ist im höchsten Maße widersprüchlich."

Normalität ist auf Monate nicht in Sicht

An eine Normalität ist aus Sicht des DEVAP in den kommenden Wochen und Monaten nicht zu denken. Wie sich die pandemische Lage entwickele, sei noch viel zu unsicher, die Nachfrage nach Pflegeplätzen aufgrund von Ängsten und finanziellen Engpässen durch Kurzarbeit der Angehörigen stark zurückgegangen. Die Rückkehr zu einer normalen Auslastung werde noch lange dauern.

"Sollte der Gesetzentwurf so umgesetzt werden, wäre das für unsere Pflegeheime eine Hiobsbotschaft", sagte Matthias Ewelt, Vorstand von Stadtmission Nürnberg und Diakonie Erlangen. Bisher könnten durch den bestehenden Rettungsschirm immerhin ein Großteil der finanziellen Folgen der Pandemie in den Pflegeeinrichtungen aufgefangen werden. Und dennoch bleibe die Belastung enorm: "Schon bisher verbleibt auch beim Träger ein Teil der finanziellen Lasten aus der Pandemie. Die Personaldecken sind seit jeher dünn. Nicht nur mit Blick auf immer wieder auftretende Quarantänefälle ebenso wie die kontinuierlich notwendigen und gleichzeitig aufwändigen Test- und Hygienemaßnahmen brauchen wir auch künftig jeden Mitarbeiter und dafür ausreichend Geld im System."

Dirk Baas


Corona

Verband: Heimbewohner wegen Pflegemängeln entschädigen



Der BIVA-Pflegeschutzbund fordert eine finanzielle Entschädigung für Heimbewohner, die wegen Corona unter schlechter Versorgung zu leiden haben. "Viele Heimbewohner erhalten seit der Corona-Beschränkungen nicht mehr die vollen Leistungen. Versorgungs- und Pflegemängel häufen sich", heißt es in einer Mitteilung des Verbandes vom 12. Februar. Er fordert eine pauschale Erstattung von mindestens zehn Prozent der monatlich gezahlten Eigenanteile.

Dabei gehe es nicht um die per Gesetz auferlegten Kontaktbeschränkungen, unter denen die Bewohner gelitten haben und teilweise noch leiden. "Sondern es geht um Einbußen, die durch mangelhafte Versorgung im Betreuungs- und Pflegealltag in den Heimen entstanden sind." Verursacht seien diese Mängel etwa durch akute Krankheitsausfälle des Personals.

Klage über gravierende Pflegemängel

Vor allem zu Beginn der Pandemie habe es gravierende Probleme in den Heimen in der Betreuung und Versorgung, wie es eigene Umfragen belegten: Das Anreichen von Getränken unterbleibe, die Zimmer würden nur unregelmäßig gereinigt und sogar die Grundpflege und Lagerung erfolgen unzureichend. "In vielen Einrichtungen leiden die Menschen unter spürbarer Vernachlässigung."

Das sei nicht länger hinnehmbar, betont der Verband: "Die Leistungen, für die sie laut Vertrag bezahlen, werden nur in verminderter Form erfüllt." Über zweitausend Euro zahlen Pflegebedürftige monatlich durchschnittlich aus eigener Tasche für die Heimpflege. "Auf entsprechende Pflege- und Betreuungsleistungen haben sie einen vertragsmäßigen Anspruch", sagte Manfred Stegger, Vorsitzender des Schutzbundes. Die Pflegekassen seien gesetzlich verpflichtet, bei mangelhafter Pflegeleistung für die Bewohner Minderung zu verlangen, die an die Betroffenen auszuschütten sei.



Corona

Prämie für Mitarbeiter in Kirche und Diakonie gefordert



Der Verband kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Bayern (vkm) fordert eine Corona-Prämie für die gut 90.000 bayerischen Beschäftigten in Kirche und Diakonie. Man werde sich bei der nächsten Sitzung der arbeitsrechtlichen Kommision für Landeskirche und Diakonie für eine solche Prämie einsetzen, teilte der vkm am 16. Februar in Augsburg mit. Alternativ seien auch Ersatzleistungen möglich, etwa freie Tage.

Die erschwerten Bedingungen für die Mitarbeiter hätten "zeitliche und inhaltliche Formen angenommen, die nicht absehbar waren", heißt es in der Mitteilung. Die Beschäftigten seien einem "wachsenden Anforderungs- und oft hohem Gefährdungspotential" ausgesetzt, etwa in Kindertagesstätten oder in der Pflege.

Gegen eine "Zweiklassengesellschaft" der Träger

Einzelne große diakonische Dienstgeber hätten zwar schon freiwillige Zahlungen geleistet. Es dürfe jedoch keine "Zweiklassengesellschaft" geben zwischen Trägern, die sich eine Prämie leisten und "solchen, die sich verweigern", so der vkm.

Nach Auffassung des Verbands drohe Kirche und Diakonie ein Imageschaden. So würden von anderen Arbeitgebern in denselben Tätigkeitsfeldern durchaus Prämien gezahlt. Daher dürfe auch in der kirchlich-diakonischen Dienstgemeinschaft die Wertschätzung der Mitarbeiter "nicht auf die lange Bank geschoben werden".

Die Bundesregierung hatte Ende des vergangenen Jahres die Möglichkeit verlängert, Beschäftigten eine Corona-Prämie auszuzahlen. Die Sonderzahlung kann bis 30. Juni 2021 gewährt werden und ist bis zu einem Betrag von 1.500 Euro steuer- und sozialversicherungsfrei.



Quartierszentren

Mit Hilfen ganz nah dran am Menschen




Hausaufgabenhilfe im Stadtteilladen in Bremervörde
epd-bild/Dieter Sell
Selten war ihre Arbeit so gefragt wie jetzt während der Corona-Krise. Kleine soziale Projekte wie Stadtteilläden und Quartierszentren organisieren trotz Beschränkungen weiterhin Hilfe - vor Ort. Der Bedarf ist groß.

Es ist ein unscheinbarer Flachbau mit großen Fenstern, die den Blick auf einen bunten Innenraum freigeben. Der Platz ist knapp, nur 65 Quadratmeter, voll mit farbenfrohen Stühlen und Tischen, in Regalen liegen Bücher und Spiele. Über der Eingangstür der ehemaligen Sparkassen-Filiale steht in großen Buchstaben "Stadtteilladen", darunter "Kinder und Familien stärken". Der Satz ist Programm. Hier am Mittelkamp im niedersächsischen Bremervörde schlägt das Herz eines Quartiers, das in den 1960er und 1970er Jahren als Baugebiet "Neues Feld" entstand und mittlerweile als sozialer Brennpunkt gilt.

Sozialer Brennpunkt oder "Problemviertel": Das sind Begriffe, die Pastor Volker Rosenfeld nicht gerne hört. "Ein Stadtteil mit Entwicklungsbedarf und Chancen", nennt der evangelische Theologe das Umfeld des Ladens, den er 2014 gegründet hat. Das Zentrum ist ein Beispiel für viele ähnliche Projekte in ganz Deutschland, eine genaue Zahl ist nicht bekannt. Doch Initiativen wie der Leuschnertreff in Emden, die Kindertafel in Lüneburg, "NahE" in Freiburg, das Projekt "Jedes Kind braucht einen Engel" in Osnabrück oder das "Comenius"-Nachbarschaftszentrum in Ludwigshafen verbindet eines: Sie arbeiten für die Bedürfnisse der Menschen im Kiez. Ganz nah dran.

Weiter offene Türen

Auch in Corona-Zeiten hält Almut Schmidt, pädagogische Leiterin des Stadtteilladens in Bremervörde, die Türen auf. Sie hilft bei Anträgen, sucht für Familien nach größeren Wohnungen und zahlt gelegentlich aus Spenden einen Einkauf, wenn Kühlschrank und Portemonnaie leer sind. Bei alldem setzt sie auf die Zusammenarbeit mit Behörden, Diakonie und Schulen. "Gruppenangebote kann es leider nicht geben", sagt sie, "aber wir bieten weiter Hausaufgabenhilfe an, genauso wie Beratungen und Einzelfallhilfen."

Das ist dringend nötig, denn Kinder wie die elfjährige Maryam, die mit ihrer Familie 2015 aus Syrien nach Deutschland gekommen ist, drohen im Homeschooling abgehängt zu werden. "Die Kinder müssen sich alles alleine erarbeiten, Geräte fehlen und sie haben zu Hause kein ruhiges Plätzchen, wo sie arbeiten können - das erlebe ich in vielen Familien", sagt Almut Schmidt. So unterstützt die Diakonin gerade viel über WhatsApp und vergibt jeweils einstündige Termine im Laden, um Hausaufgaben zu begleiten.

Hausaufgabenhilfe in Kleinstrunde

"Erst mal eine Runde Hände waschen", ruft sie gleich nach einer fröhlichen Begrüßung Maryam zu, die diesmal mit ihren Biologie-Hausaufgaben gekommen ist. Es geht um das Skelett: Wo ist das Schlüsselbein, der Oberarmknochen, die Kniescheibe, wozu ist die Wirbelsäule gut?

"Wenn ich etwas falsch mache, hilft mir Almut", sagt Maryam. Die Fünftklässlerin freut sich über Unterstützung. Aber am liebsten, sagt sie, würde sie zur Schule gehen, was gerade aufgrund der Corona-Beschränkungen nicht geht.

Das Neue Feld wurde in einer Zeit der Wohnungsknappheit errichtet und von Alt-Bremervördern anfangs als "Känguruviertel" denunziert ("da wohnen Leute, die wollen große Sprünge machen und haben nichts im Beutel"). Mittlerweile leben hier viele Eingewanderte oder ihre Kinder und Enkel. Trister Geschosswohnungsbau, mächtig in die Jahre gekommen.

Auch viele Alleinerziehende und Ältere seien hier zu Hause, erläutert Bremervördes Erste Stadträtin Silke Fricke. In diesen Nachbarschaften habe der Stadtteilladen mit seinen Hilfs- und Beratungsangeboten eine zentrale Funktion. Er wirke präventiv, stabilisiere die sozialen Verhältnisse im Quartier.

Fördergelder gibt es, aber immer nur befristet

Derzeit fördern deshalb unter anderen die Stadt und die Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte in Niedersachsen das Projekt. Aber Geld gibt es immer nur befristet - wieder ein Punkt, der bei vielen Initiativen dieser Art in ganz Deutschland gleich ist und der vor allem Unsicherheit bedeutet. Daran ändern auch die mancherorts eingesetzten Mittel etwa der Städtebauförderung aus dem Programm "Sozialer Zusammenhalt" wenig. So wirbt in Bremervörde Geschäftsführer Volker Rosenfeld immer wieder bei Institutionen und Stiftungen für den Stadtteilladen, bisher mit Erfolg.

"Solche Projekte können nur in guter Zusammenarbeit mit anderen Akteuren gelingen und etwas bewegen", sagt Jörg Stoffregen, Sprecher des Bundesnetzwerkes für Gemeinwesendiakonie und Quartiersentwicklung. So funktioniere auch der Stadtteilladen in Bremervörde, hat er beobachtet und ist des Lobes voll: "Super, wie die sich auf den Weg gemacht haben."

Normalerweise gehen viele Ehrenamtliche im Laden ein und aus, wird gekocht, gebastelt, geklönt, gibt es Gruppenausflüge und Nachbarschaftsfeste. Doch normal ist gerade wenig, Corona verunsichert viele Menschen. "Das ändert sich wieder", sagt Leiterin Almut Schmidt, sie blickt hoffnungsvoll in die Zukunft. Und ja, sie wisse, dass sich die prekäre Situation im Neuen Feld durch den Laden nicht grundsätzlich ändern lasse: "Aber ich kann etwas voranbringen, positive Momente schaffen, einen sicheren Ort der Begegnung anbieten."

Dieter Sell


Kriminalität

Interview

"Ein Straftatbestand, der in der Diakonie Entsetzen auslöst"




Christian Heine-Göttelmann
Diakonie RWL/Hans-Jürgen Bauer
Der Chef der Diakonie RWL, Christian Heine-Göttelmann, spricht im epd-Interview über den Umgang mit den Vorwürfen gegen den Wittekindshof. Es geht um mögliche Freiheitsberaubung, denn es soll freiheitsentziehende Maßnahmen ohne richterlich Anordnung gegeben haben. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen 145 Beschuldigte.

Der Theologische Vorstand der Diakonie RWL, Christian Heine-Göttelmann, unterstreicht mit Blick auf die Anschuldigungen von Freiheitsberaubung in der diakonischen Stiftung Wittekindshof, dass es in der Betreuung keine freiheitsentziehende Maßnahmen ohne richterlichen Beschluss geben dürfe. Sollten sich die Vorwürfe bewahrheiten, sei das ein Straftatbestand, sagte Heine-Göttelmann dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Fragen stellte Holger Spierig.

epd sozial: Wie geht die Diakonie RWL mit den Vorwürfen gegen den Wittekindshof um?

Christian Heine-Göttelmann: Zum laufenden Verfahren der Staatsanwaltschaft können wir uns nicht äußern, weil wir genau wie der Wittekindshof auch selbst keine Einsicht in die Ermittlungsakten haben. Es existiert ein Verdacht auf Körperverletzung und Freiheitsentzug ohne richterlichen Beschluss. Das wäre ein Straftatbestand und löst bei allen Verantwortlichen in der Diakonie Entsetzen aus. Unter diesem Verdacht stehen sowohl ehemalige Mitarbeitende des Wittekindshofes als auch externe Fachkräfte wie Ärzte und gesetzliche Betreuer. Das Verfahren müssen wir allerdings abwarten. Der Verdacht löst bei uns allerdings einen erneuten Versuch der Weiterentwicklung des Handlungsfeldes mit allen Beteiligten aus.

epd: Gibt es anlässlich der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen Mitarbeiter einer diakonischen Einrichtung besondere Vorgaben für Träger unter dem Dach der Diakonie, um ähnliche Vorfälle von vornherein auszuschließen?

Heine-Göttelmann: Unsere Mitglieder sind eigenständig und agieren unabhängig. Die Diakonie RWL ist kein Aufsichtsorgan über die Mitglieder. Wir als Landesverband unterstützen, beraten und helfen bei Bedarf bei der Erarbeitung von Konzepten. Dennoch gelten überall gesetzliche Standards, die eingehalten werden müssen.

epd: Was bedeutet das konkret?

Heine-Göttelmann: Für jedes Konzept gilt: Die Gesetzeslage, insbesondere das Wohn- und Teilhabegesetz, ist eindeutig. Die dortigen Anforderungen sind einzuhalten. Das wird von der Behörde für das Wohn- und Teilhabegesetz (WTG) regelmäßig überprüft. Die jeweiligen Konzepte der Einrichtungen müssen sicherstellen, dass freiheitsentziehende Maßnahmen oder freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie fixieren, isolieren oder sogenannte Time-out-Räume wo immer möglich vermieden werden.

epd: Was ist in den Einrichtungen nötig, um freiheitsentziehende Maßnahmen ohne einen richterlichen Beschluss zu verhindern?

Heine-Göttelmann: Sollten sich die Anschuldigungen bewahrheiten, handelt es sich nicht um eine bloße "Unterlassung", sondern um eine Straftat. Das muss ich so klar sagen. Fixieren, Festhalten und Einschließen dürfen auch bei einer richterlichen Genehmigung nur die äußersten Mittel sein, um eine akute Selbstgefährdung der Menschen zu verhindern. Bei möglichen Fremdgefährdungen, also zum Beispiel wenn ein Klient eine Fachkraft angreift, kann das Festhalten als kurzfristige Reaktion angewandt werden. Es darf aber niemals eine planvolle Maßnahme sein. Und auch hier gilt: Die rechtlichen Vorgaben dürfen nicht ignoriert werden.

epd: Was bedeutet das mit Blick auf die Beschäftigten in diesem Bereich?

Heine-Göttelmann: Für die Unterstützung von Menschen mit außergewöhnlichem Assistenzbedarf brauchen wir spezialisierte Fachkräfte. Sie müssen ausreichend sensibilisiert sein, um auf Eskalationen und drohende Gefährdungslagen frühzeitig reagieren zu können. Genauso wichtig ist es, dass die Mitarbeitenden regelmäßig geschult und fortgebildet werden. Alternative Handlungsmuster und der klar strukturierte Umgang müssen regelmäßig geschult und erprobt werden. Rechtlich fundierte Kenntnisse sind eine elementare Grundlage. Jede Fachkraft muss sich stets im Klaren darüber sein, was erlaubt ist und was nicht - auch in einer Ausnahmesituation. Die Arbeitgeber müssen regelmäßige Fort- und Weiterbildungen zur Gewaltprävention anbieten.

epd: Was muss beachtet werden, wenn freiheitsentziehende Maßnahmen nötig werden, um zu verhindern, dass ein Bewohner sich selbst oder andere verletzt?

Heine-Göttelmann: Freiheitsentziehende Maßnahmen sind das letzte Mittel der Wahl. Allerdings lassen sich bei Menschen mit außergewöhnlichen Hilfebedarfen, die ihre Wut und Frustrationen nur schwer regulieren können, diese Maßnahmen nicht immer vermeiden. Kommt es zu einer solchen Ausnahmesituation, sind dabei alle rechtlichen Vorgaben wie das Einholen einer richterlichen Genehmigung streng einzuhalten. Nicht nur in der Diakonie, sondern überall. Wir müssen uns bewusstmachen: Die Klientinnen und Klienten befinden sich in einem Machtgefälle. Auch wenn die Arbeit herausfordernd ist, so tragen wir die Verantwortung aus fachlicher, rechtlicher und auch aus ethischer Sicht, diese Maßnahmen so gut wie möglich zu vermeiden.

epd: Müssten auch die Kostenträger mehr Geld in die Hand nehmen, um schwierigere Betreuungsbereiche besser zu finanzieren?

Heine-Göttelmann: Absolut. Die Qualitätsstandards können nur umgesetzt werden, wenn die notwendigen finanziellen Mittel von den Leistungsträgern bewilligt werden. Dabei geht es um die regelmäßigen Weiterbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen. Fachlich hoch qualifiziertes Personal - und das in ausreichender Anzahl - kostet. Menschen mit außergewöhnlichem Hilfebedarf benötigen außergewöhnliche Expertise und auch mehr personelle Ressourcen. Das ist kostenintensiv, vor allem, wenn es wie im Gesetz gefordert stärker teilhabeorientiert, also im Sozialraum und unter Beteiligung der Betroffenen selbst gedacht wird. Im Bereich der heilpädagogischen Intensivbetreuung ist die Belastung hoch. Dort werden Menschen unterstützt, die eine geistige Behinderung haben und zugleich unter schweren psychischen Erkrankungen leiden, die sich oft in einer geringen Impulskontrolle und gewalttätigem Verhalten äußern. Darüber sprechen wir zu selten. Wir wollen das ändern. Es muss das Ziel sein, die Politik dazu zu bewegen, die Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine teilhabeorientierte Betreuung dieser Menschen braucht.



Pflege

Initiative plädiert für Systemwechsel in der Pflege



Gute Pflege ist teuer und immer weniger Menschen in Deutschland können sie sich leisten. Die Initiative Pro-Pflegereform setzt sich für einen Systemwechsel in der Pflege ein und fordert die Politik zum Handeln auf. Die Fachleute werben für die Trennung von ambulanter und stationärer Pflege - auch aus Kostengründen.

Die Pflegekosten steigen stetig. Deshalb fordert die Initiative Pro-Pflegereform einen grundlegenden Systemwechsel. Der Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung, Bernhard Schneider, forderte am 16. Februar in Stuttgart bei einer Veranstaltung der Initiative Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) auf, "zu liefern".

Am 4. November 2020 hatte das Gesundheitsministerium ein Eckpunktepapier vorgelegt, das unter anderem eine Deckelung des Eigenanteils an den Kosten für die stationäre Pflege bei 700 Euro über drei Jahre vorsieht. Außerdem sollten danach die Länder bei den Investitionskosten der Heime einen Anteil von 100 Euro übernehmen.

Mit ihrem Appell erhöht die Initiative den Druck auf die Politik, schnellstmöglich einen "Neustart Pflege" einzuleiten. Die 2016 gegründete Initiative Pro-Pflegereform setzt sich für eine Neustrukturierung und Neufinanzierung der Pflege ein. Nach ihren Vorstellungen soll es keine Trennung von stationärer und ambulanter Pflege mehr geben.

Bündnis vereint über 120 Unternehmen

Der Initiative gehören nach eigenen Angaben mehr als 120 Pflegunternehmen sowie über 60 Verbände und Organisationen an. Zu den Mitgliedern und Unterstützern zählen unter anderen die Evangelische Heimstiftung mit Sitz in Stuttgart, das Wohlfahrtswerk Baden-Württemberg, die Evangelische Altenheimat und das Evangelische Johanneswerk.

Ohne eine Reform würden die steigenden Pflegekosten immer mehr alte Menschen in die Sozialhilfe treiben, sagte Bernhard Schneider. Die 1994 eingeführte Pflegeversicherung decke die Kosten für die Pflege bei weitem nicht mehr ab. Der Eigenanteil an den Kosten für die stationäre Pflege, der neben Pflege und Betreuung auch einen Investitionskostenanteil, Kosten für Unterkunft und Verpflegung sowie eine Ausbildungszulage enthält, sei für viele Menschen unerschwinglich geworden.

Steigende Eigenanteile werden unbezahlbar

Der Eigenanteil ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich hoch, im Bundesdurchschnitt liegt er bei 2.068 Euro pro Monat. Mit 2.405 Euro ist Pflege in Baden-Württemberg hinter Nordrhein-Westfalen bundesweit am zweitteuersten. Grund für die seit 2016 kontinuierlich steigenden Kosten sind unter anderem neue Personalschlüssel und die tariflich festgelegten Personalkosten.

Lediglich ein Drittel der Pflegeheimbewohner sei in der Lage, die Pflegekosten aus ihrem laufenden Einkommen zu bezahlen, legte Professor Heinz Rothgang von der SOCIUM Universität Bremen dar. "Das heißt, 60 Prozent müssen auf Restvermögen, Immobilienvermögen und am Ende auf Sozialhilfe zurückgreifen", sagte Rothgang.

Lob für erste Vorschläge des Ministers

Rothgang ist Autor zweier Gutachten zur Alternativen Ausgestaltung der Pflegeversicherung. Er rechnete aus, dass die Umsetzung der Reformvorschläge des Gesundheitsministeriums die Sozialhilfequote um zehn Prozent absenken würde, sie ohne Reform jedoch um 45 Prozent ansteigen werde. "Jens Spahns Vorschläge sind in Bezug auf die Sozialhilfequote wie eine Brandmauer", sagte Rothgang.

Hochrechnungen zeigten, dass langfristig auch die ostdeutschen Bundesländer von einer Deckelung des Eigenanteils profitieren würden, sagte Rothgang mit Blick auf die steigenden Personalkosten. Weil die Personalkosten dort noch nicht so hoch sind, hatten diese Bundesländer die Obergrenze zuletzt als für sie nutzlos kritisiert.

Diesen Einwand sieht Schneider durch die Gutachten von Heinz Rothgang widerlegt. "Die Vorschläge von Jens Spahn sind ein Schritt in die richtige Richtung", sagte er. Das Eckpunktepapier des Bundesgesundheitsministeriums bedeute einen Systemwechsel innerhalb der Pflege. Es verlagere die zukünftigen Kosten zur Qualitätssicherung von den Pflegebedürftigen auf alle Versicherten und mache so Eigenanteile kalkulierbar.

Bei dem zurzeit ebenfalls diskutierten Vorschlag einer relativen, prozentualen Deckelung des Eigenanteils sei das nicht der Fall, so Rothgang. Mittel- oder Langfristig würden die Eigenanteile und somit auch die Sozialhilfekosten bei diesem Modell wieder ansteigen, prognostizierte der Gesundheitsökonom.

Er hoffe, dass die Bundesregierung den Referentenentwurf für ihren "Sockel-Spitze-Tausch" bei der Pflege noch vor dem Eintritt in den Wahlkampf vorlege, sagte Schneider. Der Zeitpunkt sei nie günstiger gewesen als jetzt, denn es gebe zurzeit die Chance auf einen "parteiübergreifenden Kompromiss".

Susanne Lohse


Pflege

Wenn Fachkräfte nicht bis zur Rente durchhalten



Auf bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege dringt der Landesgeschäftsführer der Barmer Krankenkasse in Baden-Württemberg, Winfried Plötze. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) äußert sich Plötze besorgt über die überdurchschnittlichen Ausfälle von Mitarbeitern durch Krankheit oder Frühverrentung. Es müssten unbedingt mehr Menschen für den Pflegeberuf gewonnen und länger als heute auch im Beruf gehalten werden, sagte er.

Laut dem Barmer-Pflegereport waren im Südwesten in den Jahren 2016 bis 2018 durchschnittlich 7,7 Prozent der Hilfskräfte und 6,3 Prozent der Fachkräfte in der Altenpflege krankgeschrieben. Im Landesdurchschnitt aller Berufgsgruppen lag die Krankenquote nur bei 4,2 Prozent. Ähnlich die Beobachtung bei der Frühverrentung: Von 1.000 Fachkräften in der Altenpflege gingen 3,9 vorzeitig in den Ruhestand - der Durchschnitt aller Berufsgruppen lag bei 2,3. "Offenbar ist der Pflegeberuf so kraftraubend, dass viele nicht bis zur Rente durchhalten", heißt es in dem Report.

Höhere Bezahlung gefordert

Barmer-Chef Plötze wirbt für eine bessere Entlohnung der Mitarbeiter in der Pflege. "Gute Pflege muss gut bezahlt werden", sagte er. Für die Pflegenden sollten einheitliche Tarifverträge gelten, um ein Mindestniveau der Bezahlung zu gewährleisten. Dafür müssten allerdings manche private Anbieter erst gewonnen werden.

Die Finanzierung höherer Löhne in der Pflege hält Plötze für möglich. Die Sozialkassen stünden zwar unter enormem Druck, doch dürfe die Corona-Krise eine bessere Entlohnung nicht verhindern. Einsparpotenzial sieht der Landesgeschäftsführer dagegen bei unnötigen Doppeluntersuchungen von Patienten - "dafür schmeißen wir viel Geld raus."

Pflegekräften mehr Eigenverantwortung geben

Häufige Krankenhausaufenthalte von Heimbewohnern könnten nach Plötzes Einschätzung eingedämmt werden, wenn das Pflegepersonal wie in anderen Ländern mehr eigenverantwortlich tun dürfte - etwa das Setzen von Spritzen oder das Versorgen von Wunden. Momentan müsse vielerorts dazu immer ein Arzt herbeigerufen werden oder der Patient in die Klinik eingewiesen werden.

Das Problem könnte sich in den nächsten Jahren aufgrund der Demografie verschärfen, weil künftig voraussichtlich weniger Ärzte zur Verfügung stünden, befürchtet der Kassen-Chef.

Positiv sieht Plötze, dass 93 Prozent der Mitarbeiter in der Pflege ihren Job als sinnvoll betrachten. Von den Beschäftigten in anderen Berufen sagten das nur 67 Prozent. Nun komme es darauf an, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und beispielsweise dafür zu sorgen, dass die Zahl der Patienten pro Pflegekraft gesenkt wird. Sinnvoll sind seiner Meinung nach auch mehr Angebote, die die persönliche Resilienz der Mitarbeiter fördern.

Marcus Mockler


Spenden

In der Corona-Pandemie fließt mehr Geld



Wie viele Spenden die Deutschen jedes Jahr an Organisationen geben, kann letztlich nur geschätzt werden. Die alljährliche "Bilanz des Helfens" des Deutschen Spenderates bietet aber gute Hinweise und nennt auch konkrete Zahlen.

Die Menschen in Deutschland haben im vergangenen Jahr etwa 5,4 Milliarden Euro an gemeinnützige Organisationen gespendet. Das sind rund 260 Millionen Euro mehr als 2019, wie der Deutsche Spendenrat am 16. Februar in Berlin mitteilte. Es ist das zweitbeste Ergebnis seit Beginn der Erhebung im Jahr 2005. Gegenüber 2019 ist es ein Anstieg um 5,1 Prozent. Zugleich ging die Anzahl der Spenderinnen und Spender um eine halbe Million zurück (minus 2,6 Prozent).

Bei der Vorstellung der Studie "Bilanz des Helfens" erklärte der Geschäftsführer des Deutschen Spendenrates, Max Mälzer, den positiven Trend unter anderem mit den fehlenden Konsumausgaben durch den Lockdown. Dadurch hätten manche Haushalte mehr Geld zur Verfügung. Auffällig sei, dass sich die Spendenbereitschaft parallel zu den Infektionszahlen und Lockdown-Maßnahmen in den jeweiligen Monaten entwickelte.

10.000 Personen werden befragt

Das Marktforschungsinstitut GfK in Nürnberg untersucht jährlich im Auftrag des Spendenrates das Spendenverhalten der Deutschen. Die Analyse basiert auf einer regelmäßigen repräsentativen Stichprobe von 10.000 deutschen Teilnehmern ab zehn Jahren. Nicht enthalten sind etwa Erbschaften, Unternehmensspenden sowie Spenden an politische Parteien und Organisationen.

Nach wie vor spendet die Generation 70plus demnach am meisten. Ihr Anteil am Gesamtspendenvolumen stieg von 40,8 Prozent auf 43,8 Prozent. Zugelegt hat auch in dieser Altersgruppe das durchschnittliche Spendenvolumen von 344 auf 402 Euro pro Spender. Zugleich verzeichnet die Generation 70plus den deutlichsten Rückgang an Spendern.

Durchschnittliche Spenden stiegen um drei Euro

Die durchschnittliche Spende betrug 2020 genau 40 Euro, drei Euro mehr als im Vorjahr. Die durchschnittliche Spendenhäufigkeit pro Spender blieb mit sieben dagegen gleich. Beide Faktoren seien "maßgebliche Garanten für das deutlich steigende Gesamtspendenvolumen", sagte Bianca Corcoran-Schliemann von der GfK.

Demnach haben im vergangenen Jahr rund 19 Millionen Menschen Geld an gemeinnützige Organisationen oder Kirchen gespendet, etwa 28,5 Prozent der relevanten Bevölkerung ab zehn Jahren. Im Vergleich zum Vorjahr waren das etwa eine halbe Million Menschen weniger.

Drei Viertel der Spenden (75,6 Prozent) flossen in die humanitäre Hilfe. Dabei steigerte die Not- und Katastrophenhilfe ihren Anteil am Gesamtspendenvolumen um drei Prozentpunkte auf knapp 18 Prozent. Auch Tierschutz sowie Kultur- und Denkmalpflege legten deutlich zu. Die Spenden für Sportvereine gingen dagegen merklich zurück. Der pandemiebedingte Rückgang der Kollekten drückte auch auf die Einnahmen der kirchlichen Hilfsorganisationen (minus 3,7 Prozentpunkte). Ihr Spendenanteil im Bereich humanitäre Hilfe lag 2020 bei 23,6 Prozent.

Insgesamt konnten konfessionelle Organisationen bei den Spenden aber geringfügig zulegen. Ihr Anteil wuchs um 0,5 Prozentpunkte auf 23,4 Prozent. Dabei legten katholische Organisationen um ein Prozentpunkt zu, während evangelische Organisationen einen leicht sinkenden Anteil am Gesamtmarkt verbuchen mussten (minus 0,5 Prozentpunkte). Die Top 25 nicht konfessioneller Organisationen konnten den positiven Trend der Vorjahre nicht fortsetzen. Ihr Anteil am Gesamtspendenaufkommen sank von 30,1 Prozent (2019) auf 27,5 Prozent (2020).

Lukas Philippi



sozial-Recht

Kirchengerichtshof

Meinungsäußerung von MAV-Mitglied kein Grund für Kündigung




Der Kirchengerichtshof hat die Rechte der MAV gestärkt.
epd-bild/Heike Lyding
MAV-Mitglieder müssen ihre Meinung sagen können. Die Bemerkung, dass ein Streit um eine Entlassung ohne Zustimmung der MAV der Einrichtung richtig viel Geld kosten solle, ist kein Kündigungsgrund, entschied der Kirchengerichtshof.

Die Dienststellenleitung einer diakonischen Einrichtung muss provozierende Meinungsäußerungen von Mitgliedern der Mitarbeitervertretung aushalten können. Die Bemerkung, dass "es richtig viel Geld kosten" müsse, damit die Einrichtungsleitung lerne, keine Beschäftigten ohne Zustimmung der Mitarbeitervertretung (MAV) zu entlassen, ist selbst kein Grund für eine fristlose Kündigung, entschied der Kirchengerichtshof (KGH) der Evangelischen Kirche in Deutschland in einem am 5. Februar veröffentlichten Beschluss.

In weiteren Beschlüssen entschieden die Hannoveraner Richter, dass die Schwerbehindertenvertretung einer Klinik kein generelles Leserecht der Dienstplan-Software Clinic Planer hat und der Dienstgeber bei Streitigkeiten mit der MAV über Arbeitszeiten in der Pflege eine Einigungsstelle anrufen muss.

Im Kündigungsstreit ging es um einen Werkstatt-Gruppenleiter behinderter Menschen, der auch MAV-Mitglied ist. Der Arbeitgeber verlangte von der MAV die Zustimmung zu einer fristlosen Kündigung. Er habe einem Mitarbeiter, der von der Einrichtung einen Schreibtisch gekauft hatte, eine der Einrichtung gehörende Rolle Verpackungsmaterial im Wert von rund 66 Euro für den Transport überlassen. In einer SMS an den Kollegen habe er geschrieben, ob es deshalb "dumme Fragen" von der Dienstellenleitung gegeben habe. Die Verpackungsabgabe könne als Diebstahl ausgelegt werden, schrieb er selbst.

Vorwurf des Diebstahls

Die Leitung verdächtigte ihn daraufhin tatsächlich des Diebstahls. Vorgesetzte habe er zudem als "dumm" tituliert. Auch habe das MAV-Mitglied in einer weiteren Bemerkung die vorsätzliche Schädigung der Einrichtung in Kauf genommen.

Hintergrund war der Vorwurf, dass das kaufmännische Vorstandsmitglied H. eine Kündigung ohne Zustimmung der MAV ausgesprochen haben soll. Daraufhin hatte der Gruppenleiter erklärt, dass "es richtig viel kosten müsse, damit die H. das endlich lernt und nie wieder versucht". Die MAV lehnte die Zustimmung zur fristlosen Kündigung ihres Mitglieds ab.

Vor dem KGH hatte der Arbeitgeber keinen Erfolg. Zwar könne bei einem Diebstahlsverdacht eine Kündigung gerechtfertigt sein. Hier sei der Sachverhalt aber nicht richtig aufgeklärt worden, hieß es. So stehe etwa im Raum, dass das Material sowieso beschädigt war. Für eine Verdachtskündigung müsse das aufgeklärt und die MAV über die Tatsachen unterrichtet werden.

Gericht sah zulässige Meinungsäußerung

Die Bemerkung, dass Streitigkeiten wegen einer unterbliebenen Beteiligung der MAV "richtig viel Geld kosten" müssten, sei eine zulässige Meinungsäußerung und könne keine Kündigung begründen. Gleiches gelte für die Äußerung hinsichtlich der "dummen Fragen". Das sei nicht beleidigend.

Im zweiten Verfahren ging es um die Schwerbehindertenvertretung (SBV) einer diakonischen Klinik. Für die Dienstplanung wird die Software Clinic Planer genutzt. Die MAV der Klinik, in der rund 4.500 Mitarbeiter, darunter 250 schwerbehinderten Menschen, beschäftigt sind, kann in das Dienstplanprogramm einsehen. Dieses Leserecht beanspruchte auch die Vertrauensperson der SBV.

Kein Leserecht

Doch ein generelles Leserecht in das Programm stehe der SBV nicht zu, entschied der KGH. Zwar müsse "die SBV über die Dienstpläne aller Abteilungen informiert werden, in denen schwerbehinderte Mitarbeitende beschäftigt" sind. Nur so könne sie prüfen, ob Rechte der Behinderten verletzt werden. Ein Anspruch der SBV, auf Einräumung von Leserechten bestehe aber nicht. Der Dienstgeber sei frei darin, wie er die Informationen erteilt. Selbst in mündlicher Form sei das möglich.

Im dritten Verfahren ging es um geänderte Arbeitszeiten von Pflegekräften in einer diakonischen Einrichtung in Westfalen. Weil die MAV sich nicht mit dem Arbeitgeber einigen konnte, verlangte sie, dass eine Einigungsstelle den Streit klären sollte. Der Arbeitgeber verwies darauf, dass es diese bislang nicht gebe. Er wollte das Kirchengericht direkt anrufen.

Erst Einigungsstelle, dann Kirchengericht

Doch nach dem Mitarbeitervertretungsgesetz ist bei Streitigkeiten etwa über einen Schichtplan "ausschließlich die Einigungsstelle und nicht das Kirchengericht" zuständig, entschied der KGH. Gebe es keine Einigungsstelle, müsse diese per Dienstvereinbarung oder auf Antrag der MAV oder der Dienststellenleitung gebildet werden. Erst wenn die Einigungsstelle den Streit nicht beilegen kann, könne sie das Kirchengericht anrufen. Im konkreten Fall wurde die Beschwerde der MAV wegen formaler Fehler allerdings zurückgewiesen.

Az.: I-0124/11-2020 (fristlose Kündigung MAV-Mitglied)

Az.: II-0124/26-2020 (Schwerbehindertenvertretung)

Az.: II-0124/30-2020 (Einigungsstelle)

Frank Leth


Landessozialgericht

Höhere Sozialleistungen für geflüchtete Roma



Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat die Ansprüche auf Sozialleistungen von nach Deutschland geflüchteten Roma gestärkt. In einem Eilverfahren verpflichtete es den Landkreis Hildesheim, den Antragstellern erheblich höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu gewähren. Die Entscheidung wurde am 15. Februar bekannt.

Das Gericht wies eine Beschwerde des Landkreises gegen einen Beschluss des Sozialgerichts zurück. Dieses hatte den Kreis verpflichtet, einer sechsköpfigen Roma-Familie aus dem Kosovo ungekürzte Sozialleistungen zu gewähren und ihr Zugang zum gesetzlichen Krankenversicherungssystem zu ermöglichen.

Problem des Identitätsnachweises

Die Familie hatte seit Jahren ihre Identität nicht nachweisen können, da ihre Staatsangehörigkeit durch das Kosovo, Serbien und Nord-Mazedonien nicht bestätigt wurde. Der Landkreis verweigerte den Klägern seit 2015 die Zahlung der üblichen Sozialleistungen mit der Begründung, sie hätten keine Pässe vorgelegt und ihre Staatsangehörigkeit nicht nachgewiesen.

Aus Sicht des Landessozialgerichts ließ sich ein Nichtmitwirken der Familie bei der Beschaffung von Identitätspapieren aber nicht feststellen. Das Gericht verwies auch auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Personen aus dem Kosovo, wonach viele im Kosovo lebende Roma dort nicht registriert seien.

Az.: L 8 AY 118/20 B ER



Landessozialgericht

Vereinfachte Hartz-IV-Vermögensprüfung nicht so einfach



Die Bundesagentur für Arbeit hat es sich bei den vereinfachten Hartz-IV-Anträgen im Zuge der Corona-Pandemie zu einfach gemacht. Wie das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen in Celle in einem am 8. Februar bekanntgegebenen Beschluss entschied, entspricht die von der Behörde festgelegte pauschale Grenze von 60.000 Euro, ab der das Vermögen von Hartz-IV-Antragstellern erst geprüft werden soll, nicht den gesetzlichen Vorgaben. Dennoch könne hier die antragstellende Juristin kein Arbeitslosengeld II beanspruchen, befand das Gericht.

Damit Soloselbstständige und Kleinstunternehmer, die in der Pandemie in Not geraten sind, leichter Arbeitslosengeld II erhalten können, hatte der Gesetzgeber ein vereinfachtes Antragsverfahren vorgesehen. Danach soll das Jobcenter nur bei "erheblichem Vermögen" das Eigentum der Antragsteller prüfen und gegebenenfalls auf das Arbeitslosengeld II mindernd anrechnen. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) bestimmte daraufhin, dass ab einer Grenze von 60.000 Euro ein "erhebliches Vermögen" vorliegt.

Juristin zog vor Gericht

Im Streitfall lag eine Juristin aus dem Raum Hannover mit einem Vermögen von 59.900 Euro genau um 100 Euro unter dieser festgelegten Grenze. Kurz vor ihrem Hartz-IV-Antrag hatte sie zweimal jeweils 2.000 Euro noch abgehoben. Ihren vereinfachter Arbeitslosengeld-II-Antrag lehnte das Jobcenter ab.

Auch vor dem LSG hatte sie nun mit ihrer Klage keinen Erfolg. Ob die 60.000 Euro-Grenze über- oder unterschritten wurde, darauf komme es nicht an, befanden die Richter. Denn der von der BA festgelegte pauschale Freibetrag sei ohnehin "nicht gesetzeskonform".

"Erhebliches Vermögen" liege vor, wenn "für jedermann offenkundig ist, dass die Gewährung existenzsichernder Leistungen nicht gerechtfertigt ist". So könne etwa auch ein Betriebsvermögen von mehr als 60.000 Euro unbedenklich sein, während im Falle der Frau das allgemeine Schonvermögen maßgeblich sei, das für alle Hartz-IV-Empfänger gelte.

Az.: L 7 AS 5/21 B ER



Landesarbeitsgericht

Koch darf nach Kirchenaustritt weiter in evangelischer Kita kochen



Ein Koch muss für seine Arbeit in einer evangelischen Kita nicht evangelisch sein. Das hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg in Stuttgart am 10. Februar entscheiden und die fristlose Kündigung eines Kochs wegen dessen Kirchenaustritts damit für unwirksam erklärt.

Arbeitgeber ist die Evangelische Gesamtkirchengemeinde Stuttgart. In der Landeshauptstadt betreibt sie etwa 51 Kindertageseinrichtungen. 1.900 Kinder werden dort den Angaben nach betreut. Der Kläger ist seit 1995 als Koch in einer Kita beschäftigt.

Arbeitgeber: Verstoß gegen Loyalitätspflicht

Als er im Juni 2019 aus der evangelischen Landeskirche austrat, hatte das für ihn arbeitsrechtliche Konsequenzen. Der kirchliche Arbeitgeber wertete den Austritt als schwerwiegenden Verstoß gegen die vertraglichen Loyaltitätspflichten und kündigte dem Mann fristlos. Er verwies darauf, dass sein Handeln und Verständnis schließlich vom besonderen Bild der christlichen Dienstgemeinschaft geprägt sei.

Der Koch wehrte sich vor Gericht gegen die Entlassung. Er habe mit den Kindern kaum Kontakt und gebe nur Getränke an sie aus. Mit dem Personal bespreche er nur alle zwei Wochen organisatorische Fragen, so seine Argumentation.

Ebenso wie das Arbeitsgericht Stuttgart erklärte nun auch das LAG die Kündigung für unwirksam. Die Loyalitätserwartung des kirchlichen Arbeitgebers, dass der Koch nicht aus der evangelischen Kirche austrete, stelle "keine wesentliche und berechtigte Anforderung an die persönliche Eignung des Klägers dar".

Az.: 4 Sa 27/20



Sozialgerichte

Unterschiedliche Urteile zur FFP2-Kostenerstattung für Bedürftige



Mittellose Menschen müssen für ihren Infektionsschutz FFP2-Masken tragen können. Das stelle einen "unabweisbaren Hygienebedarf" und damit im jeweiligen Einzelfall einen Mehrbedarf für Arbeitslosengeld-II-Bezieher dar, den die Jobcenter sicherzustellen haben, entschied das Sozialgericht Karlsruhe mit Beschluss vom 11. Februar. Das Sozialgericht München wies dagegen in einer am 15. Februar veröffentlichten Entscheidung den Antrag eines Sozialhilfebeziehers auf höhere Sozialleistungen wegen des erforderlichen Kaufs von FFP2-Masken ab. Der Maskenkauf könne aus dem regulären Sozialhilfesatz finanziert werden.

Im Karlsruher Verfahren hatte ein Hartz-IV-Bezieher bei seinem Jobcenter zusätzliches Geld für den Kauf von FFP2-Masken geltend gemacht. Die an vielen öffentlichen Orten vorgeschriebenen Masken könnten vom regulären Arbeitslosengeld II nicht finanziert werden, lautete seine Argumentation.

129 Euro zusätzlich bewilligt

Das Sozialgericht stimmte dem zu und sprach dem Mann bis zum Sommeranfang am 21. Juni monatlich 20 FFP2-Masken zusätzlich zum Regelsatz als Sachleistung oder alternativ monatlich 129 Euro zum eigenen Kauf der Masken zu. Denn ohne die Masken seien Hartz-IV-Bezieher "in ihrem Grundrecht auf sozialer Teilhabe in unverhältnismäßiger Weise beschränkt".

Im Münchener Fall muss dagegen ein schwerbehinderter Sozialhilfebezieher die FFP2-Masken aus seiner regulären Sozialhilfe bezahlen. Auch er hatte einen höheren Regelbedarf wegen des verpflichtenden Tragens von FFP2-Masken beansprucht. Monatlich brauche er mindestens zwölf Masken. Er legte ein Online-Angebot von 5,99 Euro pro FFP2-Maske vor und rechnete mit 78,88 Euro pro Monat an zusätzlichen Kosten.

Gericht: Masken billig einzukaufen

Dieser Rechnung folgte das Münchener Gericht nicht. Zwar habe der Antragsteller einen Monatsbedarf von zwölf Masken. Allerdings gebe es im Online-Handel schon für nur einen Euro eine FFP2-Maske. Pro Monat fielen damit zwölf Euro an Kosten an.

"Das ist kein Fehlbetrag, der eine aktuelle Notlage verursacht", so das Gericht. Diese Mehraufwendungen könnten durch Minderausgaben in anderen Bedarfsbereichen ausgeglichen werden, zumal einige Bedarfe wegen der Pandemie teilweise weggefallen sind, etwa im Bereich Freizeit, Unterhaltung und Kultur.

Mittlerweile können Hartz-IV-Bezieher nach der neuen Coronavirus-Schutzmasken-Verordnung zwischen dem 16. Februar und dem 6. März zehn FFP2-Masken kostenlos in den Apotheken erhalten. Ab Mai 2021 ist zudem ein einmaliger Corona-Zuschlag für Bedürftige wie Sozialhilfe- und Arbeitslosengeld-II-Bezieher in Höhe von 150 Euro geplant. Der soll die finanziellen Belastungen während der Corona-Pandemie abmildern.

Az.: S 12 AS 213/21 ER (Sozialgericht Karlsruhe)

Az.: S 46 SO 29/21 ER (Sozialgericht München)



Verwaltungsgericht

Chemotherapie kein Grund für sofortige Corona-Impfung



Krebskranke können wegen einer bevorstehenden Chemotherapie und einer damit einhergehenden Schwächung ihrer Immunabwehr keine sofortige Corona-Impfung verlangen. Die Rangfolge der Impfungen sei grundsätzlich nicht zu beanstanden, entschied am 10. Februar der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) in München.

Im Streitfall ging es um einen krebskranken, unter 80-jährigen Mann, bei dem eine Chemotherapie beginnen sollte. Weil das zu einer Schwächung der körpereigenen Immunabwehr führt, fürchtete er, dass eine Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus sich beim ihm lebensgefährlich auswirken könnte. Er hatte daher vergeblich versucht, eine sofortige Impfung zu erhalten.

Mit seinem Eilantrag wollte er den Anspruch auf die Impfung gerichtlich durchsetzen. Der VGH wies ihn jedoch ab. Nach der Coronavirus-Impfverordnung gehöre der Antragsteller zu einer Gruppe mit hoher, nicht aber mit höchster Priorität. Es sei nicht zu beanstanden, wenn die Verordnung damit den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission folgt.

Ausnahmen, von der Impfreihenfolge abzuweichen, sehe die Verordnung nur mit dem Ziel einer effizienteren Organisation der Impfungen vor oder wenn Impfstoff sonst ungenutzt weggeworfen werden müsste. Eine Höherstufung des Antragstellers in die höchste Priorisierungsstufe sei grundsätzlich auch im Einzelfall nicht mehr möglich, so das Gericht.

So enthalte die Verordnung bereits detaillierte Reglungen für Personen, bei denen das Risiko für einen schweren oder gar tödlichen Verlauf sehr groß sei. Vor diesem Hintergrund sei der Antragsteller auch „kein atypischer Einzelfall“. Auch aus den Grundrechten ergebe sich kein unmittelbarer Anspruch auf eine Impfung.

Az.: 20 CE 21.321



Verwaltungsgericht

Verordnung zum Freihalten von Covid-Betten in Kliniken gekippt



Notfallkliniken dürfen nicht per Verordnung zum Freihalten von Klinikbetten für mögliche Covid-Patienten gezwungen werden. Für diesen Eingriff in die Grundrechte fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage, entschied das Verwaltungsgericht Berlin in zwei am 12. Februar bekanntgegebenen Beschlüssen zu den entsprechenden Berliner Vorgaben.

Die Senatsverwaltung für Gesundheit hatte am 26. Januar eine Krankenhaus-Covid-19-Verordnung erlassen. Danach müssen Kliniken bestimmte Ressourcen für Covid-Patienten freihalten. In Notfallkrankenhäusern besteht sogar ein generelles Behandlungsverbot für nicht dringlende Operationen. Die Verordnung stützte sich auf das Infektionsschutzgesetz.

Zwei Notfallkliniken klagten gegen Verordnung

Zwei Trägerinnen von Notfallkrankenhäusern beantragten wegen der Einschränkungen ihres Betriebes einstweiligen Rechtsschutz. Ihnen drohten neben Einnahmeausfällen auch ein Reputationsverlust durch die Abweisung von möglichen Patienten.

Das Verwaltungsgericht Berlin hielt das Verbot nicht dringlicher Behandlungen in Notfallkrankenhäusern für rechtswidrig. Im Hauptsacheverfahren würde sich das Behandlungsverbot "mit hoher Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig und nichtig erweisen".

Ermächtigungszweck fehlt

Die Senatsverwaltung hatte die Verordnung mit dem Infektionsschutzgesetz begründet. Das erlaube "Schutzmaßnahmen und damit auch den Erlass entsprechender Rechtsverordnungen allein zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten". Die hier angestrebte Sicherstellung ausreichender Kapazitäten für die Behandlung von Covid-19-Patienten sei "von diesem Ermächtigungszweck nicht mehr gedeckt", entschieden die Richter. Das Verbot nicht dringlicher Behandlungen in Notfallkliniken hätte daher einer neuen Gesetzesgrundlage bedurft.

Das Land kann gegen diese Eilbeschlüsse noch Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg einlegen.

Az.: 14 L 18/21 und 14 L 20/21



Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Arzt hätte Sterbehilfe-Vorwürfe besser prüfen müssen



Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Klage eines deutschen Arztes abgewiesen, der wegen angeblicher Sterbehilfe-Fälle in einem Liechtensteiner Krankenhaus die Staatsanwaltschaft verständigt hatte und deshalb entlassen worden war. Das von dem Mann ins Feld geführte Recht auf Meinungsfreiheit sei nicht unzulässig verletzt worden, erklärte der Straßburger EGMR am 16. Februar. Denn der Mediziner habe seine später als falsch erwiesenen Angaben, die Folgen für den Ruf des Krankenhauses und seiner Kollegen hatten, nicht genügend geprüft.

Der Arzt aus Kassel war laut EGMR von Mitte 2013 an als stellvertretender Chefarzt für Innere Medizin in der Klinik in Liechtenstein beschäftigt und geriet dort an Informationen über vier Todesfälle nach der Verabreichung von Morphinen durch einen Kollegen oder eine Kollegin, wie der EGMR mitteilte.

Staatsanwaltschaft informiert

Der Arzt vermutete aktive Sterbehilfe und wandte sich im September 2014 an die Staatsanwaltschaft. Diese ermittelte unter anderem wegen des Verdachts der Tötung auf Verlangen und der Beihilfe zum Suizid. Liechtensteiner Zeitungen und Radio berichteten laut Gericht mehrfach über die Untersuchungen, die später eingestellt wurden. Der Deutsche wurde einige Wochen nach seiner Anzeige entlassen, da er sich nicht an die internen Beschwerdewege des Krankenhauses gehalten habe.

Der EGMR urteilte nun, dass der Arzt zwar aus ehrenhaften Motiven gehandelt habe. Der EGMR ging auch nicht davon aus, dass er unbedingt interne Beschwerdewege hätte beschreiten müssen. Er befand aber, dass der Mediziner seine Informationen angesichts der Schwere der Anschuldigung besser hätte prüfen müssen. Der Eingriff in seine Meinungsfreiheit durch die Kündigung sei daher verhältnismäßig.

Az.: 23922/19




sozial-Köpfe

Verbände

Wissing wird Geschäftsführer bei donum vitae




Hubert Wissing
epd-bild/FFB by C.E.
Bei donum vitae gibt es einen Wechsel in der Geschäftsführung in Bonn: Hubert Wissing tritt bei dem katholischen Verein zur Schwangerschaftskonfliktberatung im April die Nachfolge von Andrea Redding an, die zu IN VIA nach Köln geht.

Hubert Wissing (47) wird zum 1. April neuer Bundesgeschäftsführer von donum vitae. Der Kultur- und Sozialwissenschaftler kommt beruflich und ehrenamtlich aus der katholischen Verbandsarbeit: Mehrere Jahre war er als Referent im Kolpingwerk Deutschland tätig und von 2010 bis 2020 Abteilungsleiter für das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) in Bonn. Sein Schwerpunkt lag hier auf politischen und ethischen Grundsatzfragen.

Während dieser Zeit war er die Kontaktperson des ZdK-Generalsekretariats zu Bundesvorstand und Bundesgeschäftsstelle von donum vitae und hat als ständiger Gast an den Sitzungen des Bundesvorstandes teilgenommen. "Wir freuen uns sehr, dass wir mit Hubert Wissing ein bekanntes Gesicht und einen in unseren Themen und Anliegen sehr erfahrenen Menschen für die Bundesgeschäftsführung gewinnen konnten", sagt Olaf Tyllack, Bundesvorsitzender von donum vitae.

Auch auf der Arbeitsebene bestand in den vergangenen Jahren reger Kontakt: So hat Wissing mit den Mitarbeitenden der Bundesgeschäftsstelle von donum vitae bereits zu verschiedenen Themen und Anliegen intensiv zusammengearbeitet.

Wissing folgt auf Andrea Redding, die den Verband und die Bundesgeschäftsstelle über ein Jahrzehnt mitgeprägt und weiterentwickelt hat. Sie wird Vorstandssprecherin bei IN VIA Köln.

donum vitae bietet bundesweit an mehr als 200 Orten Schwangerschafts- und Schwangerschaftskonfliktberatung an. Die Konfliktberatung dient, wie es der Gesetzgeber vorsieht, dem Schutz des ungeborenen Lebens, ist ergebnisoffen und auf Wunsch anonym. Neben Beratung in allen Fragen und Problemen im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft bietet donum vitae Sexualpädagogik und Präventionsarbeit, Online-Beratung, psychosoziale Beratung im Kontext von Pränataldiagnostik sowie bei unerfülltem Kinderwunsch an und vermittelt konkrete Hilfe und Unterstützung. Die rund 350 Beraterinnen und Berater von donum vitae werden von mehr als 1.000 ehrenamtlich Engagierten in 14 Bundesländern unterstützt.



Weitere Personalien



Markus Köhler, Organisationsberater, zieht zeitlich befristet in den Vorstand der Stadtmission Nürnberg ein. Der Diakon wurde zum 16. Februar berufen. Er soll das bisherige Vorstandsduo aus Matthias Ewelt und Gabi Rubenbauer übergangsweise im Management des diakonischen Verbundes unterstützen. Grund für die personelle Aufstockung sei die Bewältigung der Coronapandemie und ihrer Folgen. Köhler wird er in der Stadtmission ausgewählte Projekte vorantreiben, die schwerpunktmäßig einer effektiven Aufstellung und Stärkung der internen Leitungsebene dienen und den laufenden Organisationsentwicklungsprozess im Verbund voranbringen. Er war bis 1996 in leitender Position in verschiedenen Aufgabenfeldern der Evangelischen Landeskirche tätig. Nach mehreren Zusatzausbildungen im Bereich Organisationsentwicklung, Coaching und Führungskräfteentwicklung wechselte er dann in die freie Wirtschaft und ist seit 2010 arbeitet selbständiger Berater. Er ist Mitglied der Rummelsberger Diakonenbrüderschaft. Im Verbund von Stadtmission Nürnberg und Diakonie Erlangen sind rund 1.900 hauptamtliche Mitarbeitende und etwa 500 Ehrenamtliche beschäftigt.

Ulrike Menzel (56), Theologin, ist neue Vorsitzende des Diakonischen Rates im Diakonischen Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Die Vorständin der Samariteranstalten Fürstenwalde ist - coronabedingt in einem schriftlichen Umlaufverfahren - in das Aufsichtsgremium gewählt worden. Die ehemalige Superintendentin des Kirchenkreises Cottbus löst Johannes Feldmann, den früheren theologischen Vorstand der Stiftung Evangelisches Diakoniewerk Königin Elisabeth, ab. Zu den für die neue fünfjährige Amtszeit gewählten Ratsmitgliedern gehören unter anderem der kaufmännische Vorstand des Diakonissenhauses Berlin Teltow Lehnin, Lutz Ausserfeld sowie Constanze Schlecht, Vorstandsoberin beim Evangelischen Diakonieverein Berlin-Zehlendorf, Torsten Silberbach, Vorstandsvorsitzender der Stephanus-Stiftung, und Andrea Wagner-Pinggéra, theologische Geschäftsführerin der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal.

Jens Thomsen, Ulrich Schulte und Axel Scherff übernehmen die Funktion der Kern-Geschäftsführung der Solidaris Unternehmensgruppemit Sitz in Köln. Die Gesellschafter und Management-Struktur wird neu ausgerichtet, was möglich wird, weil Rüdiger Fuchs, Sprecher der Geschäftsleitung, sein berufliches Engagement zum Jahreswechsel nach fast 40-jähriger Tätigkeit aufgab. Dessen Aufgaben übernehmen nun Wirtschaftsprüferund Steuerberater Jens Thomsen, der die Sprecher-Funktion wahrnimmt, Steuerberater Ulrich Schulte sowie Rechtsanwalt Axel Scherff, ein promovierter Jurist. Gemeinsam mit dem erweiterten Geschäftsleitungskreis übernehmen sie die operative Gesamtverantwortung. Insgesamt halten nun 29 Partnerinnen und Partner als Gesellschafter Geschäftsanteile an der Unternehmensgruppe. Die 1932 gegründete Solidaris Unternehmensgruppe bietet Trägern und Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens sowie der freien Wohlfahrtspflege Leistungen wie Wirtschaftsprüfung, Steuer- und Rechtsberatung sowie Unternehmens- und IT-Beratung.

Sebastian Koch, Redakteur beim Mannheimer Morgen, erhält den Journalistenpreis der Caritas in Baden-Württemberg. Er wird geehrt für seinen Podcast "Ppppodcast - Der Podcast von Stotternden für Stotternde". Die Auszeichnung ist mit 3.000 Euro dotiert, die beiden zweiten Preise sind mit jeweils 1.500 Euro verbunden. In seinem Podcast beschäftigt sich Koch, der selbst stark stottert, mit Fragen die Stotternde bewegen. Der Initiator breche selbstbewusst gängige Klischees auf, unter denen Stotterer in der gesellschaftlichen Wahrnehmung oft zu leiden haben, erklärte die Jury. Die beiden zweiten Preise gingen an Jens Sitarek vom Hohenloher Tagblatt für seine Reportage "Die Odyssee des Amir Khoja" und an die Filmemacherin Jenni Rieger für die SWR-Fernsehdokumentation "Ey, Herr Stober! Ein Lehrer kämpft um jedes Kind". Eine "Lobende Erwähnung" bekam die Radiojournalistin Nela Fichtner für ihre SWR2-Hörfunk-Reportage "Schwierige Aufarbeitung - das Trauma ehemaliger Verschickungskinder".




sozial-Termine

Veranstaltungen bis März



Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, dies zu beachten.

Februar

24.2.:

Online-Fortbildung: "Die Herausforderungen und Chancen für die Führungskraft bei der Realisierung der Selbststeuerung"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-488

März

1.-3.3. Witten:

Seminar "Arbeitsrecht für Führungskräfte in sozialen Einrichtungen

Rechtliche Sicherheit im Umgang mit Mitarbeitenden"

der Paritätischen Akademie NRW

Tel.: 0202/2822247

4.-10.3.:

Online-Kurs: "Meetings per Video oder Telefon moderieren: online miteinander im Kontakt sein und effektiv arbeiten"

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

9.3.:

Online-Seminar: "Der digitale Jugendclub Chancen und Potenziale für die Jugendarbeit"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828227

9.3.:

Online-Seminar "Wichtige Kennzahlen für ambulante Pflegedienste in der Krise - und danach"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

9.-10.3.:

Online-Seminar: "Die Schnittstelle Eingliederungshilfe - Pflege gestalten"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172/301 28 19

11.3.:

Online-Kurs: "Führen auf Distanz - Wie Teamarbeit online gelingen kann"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828227

16.-18.3.:

Online-Fortbildung "Streetwork: Aufsuchen statt Abwarten"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-488

18.3.:

Online-Seminar: "IT-Strategie für Verbände (4.0)"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

18.3. Köln:

Seminar "Fachlichkeit und Wirtschaftlichkeit in Zeiten des BTHG - (k)ein Widerspruch?!"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

22.3.:

Online-Kurs: "Praktischer Datenschutz und IT-Sicherheit für kleinere Organisationen"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

22.3.:

Online-Fortbildung: "Flucht und Behinderung - Rechtliche Möglichkeiten in der Flüchtlings- und Behindertenhilfe"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-488

22.-23.3.:

Online-Seminar: "Datenschutz in sozialen Einrichtungen"

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/2001700

22.-24.3.:

Online-Kurs: "Erfolgreiche Lobbyarbeit im politischen Raum"

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

23.-24.3.:

Online-Schulung "Das deutsche Asyl- und Aufenthaltsrecht"

der AWO-Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139

23.-25.3.:

Online-Fortbildung: "Psychisch kranke Wohnungslose zwischen den Hilfesystemen - Aspekte bedarfsgerechter Hilfen"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172/301 28 19

24.-25.3.:

Online-Seminar: "Team auf Distanz - Team in Balance"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139